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Der Geisterfalke: Mitternachtsthriller

140 Seiten

Zusammenfassung

Carem Holbrucks lauschte im Halbschlaf dem rauschenden Wind, der sich in den Außenwänden der roh gezimmerten Hütte verfing und die Balken manchmal zum Knarren brachte. Sie lächelte, denn dieses Geräusch mochte sie - neben dem meist noch mächtiger erscheinenden Rauschen der Bäume, die bis nahe an der Hütte standen. Es war für sie wie jene Musik, die sie niemals persönlich gehört hatte - zumindest nicht mit ihren beiden Ohren -, die sie nur aus ihren Träumen kannte. Es schärfte ihre besonderen Sinne, die sie vor allen anderen in der Puritaner-Gemeinde sorgsam geheim hielt, weil sie davon überzeugt war, daß man sie sonst zur Außenseiterin machen würde, mit schlimmen Folgen, wie zu befürchten war.

Sie lächelte beinahe überirdisch, und die Musik des Windes verwob mit einem beginnenden Traum, in dem sich Carem Holbrucks mit nackten Füßen und nur mit ihrem Nachthemdchen bekleidet über die Felder ihrer Eltern laufen sah, unermüdlich, dem Wind die Stirn bietend, ihr Lachen von ihm hinweg tragen lassend, eigentlich mehr schwebend als laufend.

Ein häßliches Geräusch klang auf, das ganz und gar nicht passen wollte, weder zum Rauschen des Windes um die Hütte und in den Baumwipfeln, noch zu ihrem Traum. Carem schreckte auf und blinzelte verwirrt.

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© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Der Geisterfalke: Mitternachtsthriller

Carol East

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Carem Holbrucks lauschte im Halbschlaf dem rauschenden Wind, der sich in den Außenwänden der roh gezimmerten Hütte verfing und die Balken manchmal zum Knarren brachte. Sie lächelte, denn dieses Geräusch mochte sie - neben dem meist noch mächtiger erscheinenden Rauschen der Bäume, die bis nahe an der Hütte standen. Es war für sie wie jene Musik, die sie niemals persönlich gehört hatte - zumindest nicht mit ihren beiden Ohren -, die sie nur aus ihren Träumen kannte. Es schärfte ihre besonderen Sinne, die sie vor allen anderen in der Puritaner-Gemeinde sorgsam geheim hielt, weil sie davon überzeugt war, daß man sie sonst zur Außenseiterin machen würde, mit schlimmen Folgen, wie zu befürchten war.

Sie lächelte beinahe überirdisch, und die Musik des Windes verwob mit einem beginnenden Traum, in dem sich Carem Holbrucks mit nackten Füßen und nur mit ihrem Nachthemdchen bekleidet über die Felder ihrer Eltern laufen sah, unermüdlich, dem Wind die Stirn bietend, ihr Lachen von ihm hinweg tragen lassend, eigentlich mehr schwebend als laufend.

Ein häßliches Geräusch klang auf, das ganz und gar nicht passen wollte, weder zum Rauschen des Windes um die Hütte und in den Baumwipfeln, noch zu ihrem Traum. Carem schreckte auf und blinzelte verwirrt.

Ihr Vater stand in der jetzt geöffneten Tür. Das Knarren in den Türangeln war das häßliche Geräusch gewesen, das Carem geweckt hatte. Ihr Vater war ein verhärmter Mann, dem man ansah, daß er schwerste Feldarbeit gewöhnt war. Er roch ein wenig nach den Pferden, die ihm dabei halfen und die eigentlich mehr zottigen Monstern aus grauer Vorzeit ähnelten als richtigen Pferden. Aber Carem hatte noch nie "normale" Pferde gesehen, zumindest nicht mit ihren eigenen beiden Augen. Ansonsten jedoch, in ihren Träumen... Aber sie hätte dies nie und nimmer zugegeben, vor allem nicht gegenüber ihrem gestrengen Vater.

"Was treibst du da?" knurrte er sie an, und das klang eher nach dem Knurren eines gereizten Wolfes als nach der Stimme eines liebenden Vaters.

Carem duckte sich unwillkürlich, wie unter einem Hieb.

"Nichts, mein Vater!" beteuerte sie mit ziemlich piepsiger Stimme, aus der jegliche Kraft genauso verschwunden war wie jeglicher Mut. Lieber Gott, dachte sie, du hast mir Gaben beschert, die von Vater genauso wie von Mutter nur als Teufelswerk angesehen werden würden. Sie ehren deiner, aber in ihrer eigenen Art und Weise. Dabei frage ich mich oft genug, ob sie wirklich dich meinen, wenn sie zu dir beten, denn sagt man nicht auch von dir, du seist der Gott der Liebe, der Güte, der Toleranz und... der Vergebung? Der Gott jedoch, den meine puritanischen Eltern anbeten...

"Ich habe es doch bemerkt!" herrschte ihr Vater sie an.



*



Ebeneither Holbrucks hatte ihr noch niemals ein sanftes Wort geschenkt. Carem zweifelte ernsthaft daran, daß ihr Vater überhaupt jemals zu sanften Worten fähig gewesen wäre. Er sprach äußerst wenig, und wenn dann doch, dann stets in seiner knappen, rauhen Art, und jetzt war daraus jene Unbeherrschtheit geworden, in die er sich stets steigerte, wenn er bei seiner Tochter verbotenes Tun vermutete.

"Ich schwöre dir, bei allem, was mir heilig ist, mein Vater, ich habe nur hier in meinem Bett gelegen und friedlich geträumt. Sonst war da nichts!"

"Nun lästere nicht auch noch Gott, wenn du deinen armen Vater belügst. Deine Mutter und ich haben von Gott den Auftrag, aus dir eine gläubige Puritanerin zu formen, zur Freude der frommen Gemeinde, der wir angehören, und zum Wohlgefallen Gottes. Aber du bist nichtsnutzig, faul, widerspenstig und gotteslästerlich..."

"Aber ich habe heute das ganze Nordfeld ganz allein bestellt!" begehrte Carem auf. Dabei war wieder mehr Mut in ihrer Stimme.

"...und du widersprichst, ja, du widersetzt dich sogar gegen Vater und Mutter, die dir heilig sein müßten, genauso, wie es schon in den zehn Geboten steht."

Jetzt richtete sich Carem steil im Bett auf. "Ich habe den ganzen Tag über hart gearbeitet, von der Minute an, da es hell wurde, bis zu der Minute, an der es dunkelte. Und ich habe nur zweimal etwas gegessen, bescheidene Mengen, um meinen armen Eltern keine allzu große Last zu sein. Und jetzt habe ich nur geschlafen, um morgen frisch genug sein zu können, um wieder mein Tagewerk zu packen. - Wieso kommst du nun, verbietest mir den nötigen Schlaf und beschimpfst mich auch noch? Wie habe ich das verdient, mein Vater? Das frage ich dich, ich, deine Tochter!"

Jetzt war es heraus. Jetzt war es gesagt. So offen hatte sie gegen ihren Vater noch niemals zuvor rebelliert. Und es war schließlich bei weitem nicht das erste Mal, daß er sie so schreiend ungerecht behandelte, in seinem religiösen Wahn, aus für Carem absolut nicht erkennbarem Grund.

Er war völlig konsterniert und brauchte gewiß eine Minute, um sich soweit davon zu erholen, daß er nähertapsen konnte.

Hinter ihm klang ein gellender Schrei auf. Das war Mutter. Sie wirbelte herein wie eine Furie. Ihr hagerer, verhärmter Körper schüttelte sich wie im Fieber.

"Ja, so ist sie, deine Tochter! Sie bringt nur Schande über uns. Am Ende wird uns die Gemeinde verstoßen - und damit Gott selber. Ich habe es gespürt wie du, Ebeneither, mein Gatte, daß sie ihre Gedanken hinausgeschickt hat, damit sie anstatt ihrer über die Felder tanzen!"

Carem schreckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Ja, auch das war neu. Sie hatten es... gespürt? Dann stimmte es also, daß Gott ihr solche Fähigkeiten mitgegeben hatte, und das war nicht nur einfach Einbildung gewesen? Ja, wäre sie sich dessen doch nur früher so sicher gewesen... Dann wäre sie noch viel vorsichtiger vorgegangen. Sie hätte berücksichtigt, daß sie in den letzten Jahren immer fähiger geworden war - und heute so stark sein konnte wie niemals zuvor. Und deshalb war es nun geschehen: Sie hatte sich endgültig verraten. - Was sollte sie nur tun?

Da riß ihr Vater das Kreuz hoch, das er unter seinem primitiv geschneiderten Sackgewand versteckt gehalten hatte. Seine abgearbeiteten, knorpeligen Hände hielten Carem das Kreuz zitternd ins Gesicht.

"Weiche, Satan!" kreischte er, und seine Stimme klang ganz und gar nicht mehr so rauh und tief wie sonst. Sie schnappte fast über.

Die Mutter stand händeringend daneben. "Sie ist verloren, für immer verloren!" kreischte nun auch sie.

Carem runzelte nur die Stirn. Das Kreuz beeindruckte sie nicht. Wie denn auch? Hatte sie ihre besonderen Gabe denn nicht von Gott persönlich erhalten? Jedenfalls hatte sie noch niemals etwas Böses damit angestellt, und was war denn eigentlich so schlimm daran, wenn sie hier im Bett lag und ihre Gedanken über die Felder tanzen ließ?

Sie schaute ihre Eltern an und sagte ruhig: "Es ist nicht wahr! Ihr habt euch geirrt. Ich bin keine mißratene Tochter, denn ihr habt mich erzogen. Wie könnte es sein, daß ich das bin, wofür ihr mich hier und jetzt haltet? Dann hättet ihr wahrlich versagt, aber das habt ihr nicht! Ich bin schließlich eure Tochter!"

Sie schaute sie ganz eindringlich an, und die beiden wichen vor ihr zurück. Ebeneither Holbrucks ließ das Kreuz sinken.

"Es ist überhaupt nichts geschehen, mein Vater, außer daß du schlecht geträumt hast. Genauso wie du, meine Mutter. Ich bin es nur, Carem, eure Tochter, gottesfürchtig, wie es sich gehört."

Ihre Mutter streckte ihren Arm nach ihr aus. Die Hand flatterte wie eine ängstliche Fledermaus gegen den Wind. Sie brauchte viel Kraft, um näherzuschlurfen, bis ihre flatternde Hand die Schulter von Carem berührte und dort kaum zur Ruhe kam.

Das fühlte sich für Carem so an, als sei es eine harte Skeletthand, kalt wie die einer Toten.

Ja, gewiß, ihr beide seid längst schon tot, eigentlich, im gewissen Sinne. Genauso wie alle anderen der puritanischen Gemeinde. Ihr wißt nichts von der Welt da draußen. Ihr werdet niemals begreifen, daß es dort Autos gibt, Flugzeuge, Fernsehapparate, ja sogar Satelliten im Weltraum, den ihr für den eigentlichen Himmel haltet. Ihr lebt in der puritanischen Gemeinde völlig abgeschnitten wie in einem Reservat. Und auch ich habe dieses winzige Reservat in der Wildnis noch niemals verlassen, und dennoch weiß ich um diese Dinge da draußen. Ich habe sie gesehen, wenn auch nur eher nebulös. Ich habe davon geträumt, und ich wußte während dieser Träume, daß ich von der eigentlichen Wirklichkeit träumte. Eine Wirklichkeit jedenfalls, die wirklicher ist als dieser Alptraum hier, in dem ich dank euch zu leben gezwungen bin. Aber ihr dürft es niemals erfahren, denn ich glaube, ihr würdet sonst eure eigene Tochter umbringen - in eurem wahnsinnigen Religionfanatismus, dem alle Puritaner bis zum Tod verhaftet sind, weil sie fest davon überzeugt sind, ansonsten nicht vor das Angesicht Gottes treten zu dürfen, um dereinst zu ihm in den Himmel einzugehen.



*



Die zweite Hand der Mutter flatterte herbei und berührte die andere Schulter Carems. "Oh, mein Kind", stöhnte Feodora Holbrucks. "Es ist doch nur die Sorge, die wir uns um dich machen." Es klang erstaunlich ruhig. Carem schaute sie überrascht an.

Das verhärmte, wettergegerbte Gesicht von Feodora Holbrucks verzerrte sich zu einem Lächeln. Nein, es war nicht das warme Lächeln einer liebenden Mutter, sondern eigentlich nur eine Grimasse. Puritaner zeigten keine Gefühle, denn Gefühle galten als Sünde. Außer einem Gefühl: dem Gefühl der Demut in Gott, das sich zuweilen bis zur völligen Verzückung steigern durfte. Und so wurde von ihnen auch alles, was außer den Gedanken an Gott so etwas wie Freude hätte in ihnen erzeugen können, verwerflich, widerlich genannt und mußte alsbald im Keim erstickt werden.

Carem wußte das, und sie wußte auch, daß sie ihre Rolle als junge, streng gläubige Puritanerin spielen mußte, weil sie keine andere Wahl hatte.

Sehr ernst, um nicht zu sagen abgeklärt, trotz ihrer erst zwanzig Lebensjahre, wirkte sie jetzt, als sie die Hände hob und damit das Gesicht der Mutter berührte. Nein, dieses Gesicht, das nicht lächeln konnte, sondern anstelle eines Lächelns nur eine Grimasse erzeugte, wirkte nicht abstoßend auf Carem. Denn Carem wußte, daß dies ihre Mutter war, und in der Tat, bei allem, was Vater und Mutter ihr antaten, entsprang ihr Tun nur ihrem Glauben, nicht ihnen selber. Es war ihre Art, ihre Liebe zu ihrer Tochter zu beweisen, indem sie ständig in der Furcht lebten, Carem könnte sich anders entwickeln als zu einer strenggläubigen Puritanerin. Denn als solche nur hätte sie jemals eine Chance, Gott zu begegnen und nicht der ewigen Verdammnis anheim zu fallen. Ja, Carem wußte genau, daß sie es bei allem wirklich gut mit ihr meinten - mit ihr und ihrer jungen Seele. Sie hätten es niemals begreifen können, daß Carem ihren strengen Glauben als schrecklichen Irrtum ansah, diese Gedanken aber lieber geheim hielt.

"Ich werde euch keine Schande machen können, meine liebe Mutter und mein lieber Vater, denn könnte ich bessere Vorbilder haben als euch? Wie könnte ich da jemals anders werden, als es eurem Bestreben entspricht? Ich will und werde Gott gefallen, wie es sich gehört, und es gab niemals etwas anderes, was mein eigenes Bestreben hätte sein können!"

Mutter hörte auf zu zittern, und auch Vater entspannte sich sichtlich. Sie warfen sich einen langen Blick zu, und Mutter richtete sich wieder auf, so hoch, wie es ihr von der harten Arbeit verkrümmter Rücken gerade noch zuließ.

Vater fingerte an dem Kreuz herum, das er immer noch festhielt, als würde er sich jetzt darum schämen, daß er damit gegen seine eigene Tochter angegangen war. Aber das Kreuz hatte keinerlei Wirkung gezeigt, also hatte nichts Böses Macht über Carem.

Es war diese besondere Logik des Puritaners, die ihn endgültig überzeugte, und ohne ein weiteres Wort verließen er und seine Frau die winzige Kammer, in der außer dem Strohsack, aus dem allein Carems Bett bestand, nur eine selbstgezimmerte Truhe stand, mit dem wenigen, was Carem an Kleidern gehörte. Und auch diese waren allesamt selbstgefertigt, mit primitivsten Mitteln, wogegen sogar Werkzeuge aus dem sowohl zeitlich als auch räumlich fernen europäischen Mittelalter modern angemutet hätten.

Carem schaute ihnen minutenlang nach. Es war stockdunkel in dem Raum, denn Vater hatte die brennende Kerze mit nach draußen genommen, aber Carem konnte dennoch so genau sehen, als wäre es hellichter Tag.

Es wurde ihr bewußt, und erschrocken befahl sie sich selber, damit aufzuhören. Wenn ihre Eltern wirklich mitbekommen hatten, wie sie ihre Gedanken über die Felder hatte tanzen lassen, dann konnten sie am Ende vielleicht sogar spüren, daß sie bei Nacht sehen konnte, wie am hellichten Tag?

Sie ließ sich zurücksinken und runzelte nachdenklich ihre hübsche Stirn. Ja, es war das erste Mal gewesen, daß sie zugegeben hatten, etwas von ihrer Gabe zu spüren. Und was war vorher immer gewesen? Hatten sie nie zuvor etwas davon mitbekommen?

Ganz bestimmt haben sie das, sonst hätten sie mich nicht immer so mißtrauisch belauert. Ja, ich weiß ihre Blicke jetzt endlich zu deuten, wenn ich es auch niemals wagen würde, etwa ihre Gedanken lesen zu wollen. Das würden sie ganz bestimmt sogar merken. Nein, sie würden niemals dafür auch nur das geringste Verständnis haben.

Einer inneren Eingebung folgend, verließ sie ihr primitives Bett und huschte lautlos zur Tür. Sie legte lauschend ihr Ohr dagegen. Die Hütte bestand nur aus zwei Räumen. Der größere war Gemeinschaftsraum, Küche und Elternschlafzimmer zugleich.

Carem wagte es nicht, ihre Sinne mit ihrer Gottesgabe zu verstärken, um ihre Eltern zu belauschen. Sie strengte sich an, ohne diese Gabe zu bemühen.

Und sie hörte tatsächlich, daß die beiden sich leise unterhielten.

Nicht leise genug, denn sie verstand: "Du machst dir viel zu viele Gedanken, Ebeneither! Vielleicht haben wir uns tatsächlich geirrt?"

"Ich kann's nicht glauben, daß sie diese Gabe nicht hat. Sie versucht sie nur zu verbergen."

"Ebeneither, bitte, es gibt keinerlei Beweise, und du vergißt, sie ist unsere Tochter."

"Und wenn die anderen in der Gemeinde etwas davon bemerken? Bis jetzt glauben sie, Carem sei völlig unschuldig. Eine fleißige, gottesfürchtige Puritanerin, die niemals..."

"Sei leise, Ebeneither!" warnte die Mutter, "nicht daß sie uns noch hört - oder noch sonst wer."

Eine Minute lang war es ganz ruhig, als lauschten beide gebannt. "Nein, ich spüre nichts. Sie scheint uns nicht belauschen zu wollen."

"Du... spürst nichts, Ebeneither? Ja, willst du es noch immer nicht aufgeben?"

"Aber du hast es doch auch gespürt, daß ihre Gedanken über die Felder tanzten."

"Wir werden beide schlecht geträumt haben, genauso, wie sie es sagte. Warum sollte sie uns etwas vormachen, uns, ihren Eltern? Du beschimpfst sie als aufmüpfig, aber ist sie nicht in Wirklichkeit ganz besonders fleißig? Sie widerspricht doch nur, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt."

"Auch dann hat eine puritanische Tochter nicht zu widersprechen!" trumpfte Ebeneither auf. "Genauso wenig wie eine treue Gattin. Also sei jetzt still, Frau! Wir werden jetzt schlafen. Morgen ist ein harter Tag, und wir sind Gott verpflichtet, diesen Tag ausgeruht zu beginnen. Jedenfalls werde ich auch weiterhin ein besonderes Auge auf Carem werfen. Wenn sie uns etwas vormacht, werde ich... ja, muß ich es herausfinden!"

Es klang wie ein heiliger Schwur, und das war es wahrscheinlich auch.



*



Carem wandte sich von der Tür ab. Sie war völlig aufgewühlt. Die Worte von Vater und Mutter hatten sehr seltsam geklungen. Wie konnten sie überhaupt etwas von ihrer Gabe spüren? Ja, das fragte sie sich immer wieder, wenn auch vergeblich.

Und sie hatte Angst vor der Zukunft, mehr als jemals zuvor.

Wie betäubt wankte sie zu dem winzigen Fenster und versuchte, durch die blinden Scheiben hinauszusehen. Sie bestanden nicht aus dem modernen Glas, das sie aus ihren Träumen kannte. Die Puritaner machten alles selber. Sie hatten niemals auch nur den geringsten Kontakt mit der Außenwelt, versorgten sich selbst in jeglicher Beziehung. Als würde es die Welt dort draußen überhaupt nicht geben, sondern nur ihre eigene, in sich abgeschlossene Welt.

Warum kommt denn niemand, um mich von hier zu befreien? schrien ihre Gedanken. Ein stummer Schrei, der es nicht wagte, ihren Kopf zu verlassen, aber jene Gefühle in ihrem Herzen weckte, gegen die sie sich stets mit aller Macht zur Wehr setzte - und damit gegen das Gesicht eines jungen Mannes, das ihr immer wieder in ihren Träumen begegnete und von dem sie nichts wußte, außer dem einen: Er war kein Puritaner! Er lebte irgendwo dort draußen, in der wahren Welt, in der nicht dieser Religionswahnsinn herrschte, der solche Gefühle als verwerflich, ja, sogar als schwerste Sünde ansah.

Sie betrachtete die Fensterscheibe, und diese verwandelte sich vor ihr in einen Spiegel, den die Puritaner überhaupt nicht kannten. Sie wußten wohl gar nicht, daß es so etwas wie einen Spiegel überhaupt geben könnte und hätten es sicherlich ebenfalls für schreckliches Teufelswerk gehalten.

Carem sah in diesem durch ihre Gabe entstandenen Spiegel sich selbst, in ihrem derben, selbstgefertigten Nachthemd. Sie wußte, wie die jungen Frauen in der wahren Welt da draußen aussahen, welche Kleider sie trugen, daß sie sich schminkten und dies alles... Sie griff sich in die strähnigen, langen Haare, die ihr Vater mit einem scharfkantigen Stein von Zeit zu Zeit kürzte, weil es nach seinen Worten eine Sünde sei, dazu ein Metallwerkzeug zu benutzen, denn diese seien nur zum Fertigen von anderem Werkzeug und Häusern da. Dies alles sei von Gott so gewollt.

Carem bezweifelte das schon sehr lange, auch wenn sie es niemals zugegeben hätte und sogar kaum zu denken wagte.

Sie betrachtete sich von Kopf bis Fuß in diesem virtuellen Spiegel und wußte dabei genau, daß sie auch für die Welt da draußen als schön gegolten hätte, trotz alledem. Aber das erfüllte sie nicht etwa mit Stolz. Nicht einmal mit Freude. Sondern nur noch mehr mit tiefster Trauer, denn Schönheit war genau das, was die Puritaner überhaupt nicht billigen konnten. Sie war so völlig anders als alle anderen.

So anders wie dieser junge Mann, dessen Gesicht jetzt ebenfalls im Spiegel auftauchte, schräg hinter ihr, als stünde er leibhaftig hinter ihr und schicke sich an, seine zärtlichen Arme um sie zu schlingen...

Carem unterdrückte gerade noch einen spitzen Schrei des Entsetzens. Der Spiegel verschwand, als habe er sich einfach in Luft aufgelöst. Sie drehte den Kopf. Da war nichts und niemand. Sie schaute in Richtung Tür, hinter der sie ihre schlafenden Eltern wußte. "Wer bist du, du junger Mann? Gibt es dich überhaupt außer in meinen Träumen? Sind diese Träume so wahr wie die anderen, die mir von der Wirklichkeit außerhalb erzählen? Aber dann wüßte ich doch, wo du zu finden bist? Dann wären meine Gedanken längst zu dir geeilt, um dich zu besuchen...?"

Nein, fügte sie in Gedanken hinzu, das hatte sie noch niemals gekonnt, bei keinem ihrer Träume. Die Träume kamen wie von selber. Sie konnte sie nicht steuern. Nicht einmal, wenn sie nur davon träumte, daß sie über die Felder tanzte. Es geschah einfach. Genauso wie ihr immer das Bild jenes jungen Mannes erschien, meist dann, wann sie es am allerwenigsten wollte, so wie jetzt, und das ihr inzwischen so vertraut war, als sei er ihr Bruder.

Bruder?

Da war wieder dieses Gefühl in ihrem Herzen, das sich auszubreiten versuchte, es sogar bis in den Bauch schaffte, aber dann mit der ganzen Kraft ihrer puritanischen Erziehung wieder zurückgedrängt wurde, bis es erlosch wie eine sterbende Kerzenflamme im eisigen Winterwind.

Bruder? Nein, nun wirklich nicht...

Und trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer gestrengen puritanischen Erziehung: "Wenn ich könnte, würde ich fliehen, einfach aus eurem Leben verschwinden. Dann bräuchte ich wenigstens nicht mehr länger unter diesem Wahnsinn zu leiden - und ihr bräuchtet euch keinerlei Sorgen mehr zu machen. Ihr würdet euch nicht einmal vorstellen können, wo ich mich nach meinem Verschwinden befinde..."

Vielleicht bei jenem... jungen Mann?

Ihre Hände verkrallten sich ineinander vor ihrer bebenden Brust.



*



Sie hatte alles ganz leise ausgesprochen. Ihre Eltern konnten es unmöglich gehört haben. Dennoch schlich sie sicherheitshalber wieder zur Tür und lauschte minutenlang wie gebannt. Es blieb alles ganz ruhig, außer den tiefen, regelmäßigen Atemzügen ihrer inzwischen wieder schlafenden Eltern. Sie waren müde vom harten Tageswerk und hatten den Schlaf verdient. Genauso sicherlich wie Carem, aber diese dachte absolut nicht mehr daran. Sie hatte anderes im Sinn: Erneut wandte sie sich dem Fenster zu und öffnete es.

Ja, fliehen, einfach fliehen! befahl sie sich im stillen.

Sie krümmte sich leicht zum Sprung zusammen, riß die Arme vor und stieß sich einfach ab.

Die Fensteröffnung war so klein, daß sie gerade hindurch paßte. Sie tauchte so gekonnt hindurch, als wäre sie die besonders trainierte Tochter von Zirkusartisten und nicht die Tochter von Puritanern.

Behende kam sie in einer Rolle vorwärts draußen auf. Leicht wie eine Feder landete sie nach der Rolle schließlich auf ihren nackten Füßen. Es interessierte sie gar nicht, daß sie immer noch nur das leichte, wenngleich recht grob geschneiderte Nachthemdchen anhatte. Die Nachtluft, die sie umwehte, war recht kühl, aber die Frische reichte nicht, um sie frösteln zu lassen, denn sie fühlte sich wie im Fieber.

Sie schaute sich um, und ihre Augen vertrieben die Dunkelheit, damit sie jedes Detail erfassen konnten. Nur die Hütte blieb dabei im Dunkeln, weil Carem fürchtete, ihre Eltern könnten sonst wieder etwas von ihrer Gottesgabe spüren.

Sie wandte sich ab, als wäre dieser letzte Blick zurück ein endgültiger Abschied gewesen. Sie hoffte es wenigstens, denn es war nicht das erste Mal, daß sie dieser kleinen Welt zu entfliehen versuchte. Niemand hatte sie jemals daran wirklich gehindert, und dennoch war es ihr bisher nicht ein einziges Mal gelungen.

Auf einmal schlug ihr Herz bis zum Hals. Ja, bisher war jeder Versuch nur von Mißerfolg gekrönt worden. Aber das hieß ja noch lange nicht, daß es so bleiben mußte. Sie würde es auch in dieser Nacht versuchen, und sie wußte ja jetzt definitiv, daß sie noch nie so fähig gewesen war wie jetzt.

Vielleicht hätte sie ja noch warten sollen, bis ihre Fähigkeiten noch mehr gewachsen waren? Aber dafür hatte sie nicht die Geduld. Jetzt erst recht nicht mehr! Sie wollte es wissen, jetzt, in dieser Nacht. Sie sollte die Nacht der Entscheidung werden.

Für immer frei! Keine Puritaner mehr, niemals mehr!

Und ihre Eltern?

Ihr werdet es verkraften. Ich werde einfach aus eurem Leben verschwinden, plötzlicher zwar als ich in euer Leben eingetreten bin, aber dafür umso nachhaltiger. Irgendwo bedauere ich es, trotz alledem. Ihr seid meine Eltern, auch wenn ihr eine recht eigenwillige Art habt, eure Liebe zu mir, eurer Tochter, zu beweisen, aber es ist tatsächlich so eine Art Elternliebe, die ihr mir zuteil habt werden lassen. Und ich liebe auch euch, auf meine ganz eigene Weise, die ihr niemals nachvollziehen könntet. Deshalb habe ich auch noch niemals versucht, euch etwas erklären zu wollen. Ich hätte dabei den Graben des Unverständnisses zwischen uns nur noch mehr vergrößert.

Leichtfüßig lief sie in den Wald, der wie ein natürlich gewachsenes Dreieck bis zur Hütte reichte, die an seiner Spitze stand. Als wollte der Wald ganz besonders auf diese Hütte hinweisen, in der Carem geboren worden und in der sie aufgewachsen war.

Alle Puritaner der Gemeinde wohnten in einer solchen Hütte, weit verteilt in ihrer dennoch klein und überschaubar gebliebenen Welt, ohne jegliche Störungen von außerhalb. Als würde es eine magische Glocke geben, die ihre kleine Welt umspannte und somit hermetisch abriegelte.

Carems Herz schlug auf einmal noch heftiger. Sie spürte jenes Gefühl der Beklemmung schon jetzt, noch weit vor der Grenze zu dem da draußen.

Ja, wie eine Glocke, die alles umspannte und keine Flucht zuließ! Sie hatte diese Erfahrung schon mehrmals gemacht, und sie war auch zu der Überzeugung gelangt, daß deshalb niemals jemand von draußen zu ihnen herein kam, weil diese Glocke nicht nur ein Schutz nach innen, sondern vor allem wahrscheinlich nach außen war.

Undurchdringbar!



*



Nein! entschied sie erneut im stillen und unterdrückte das Flattern ihres Herzens. Prompt verschwanden auch die Schwindel, die erst sanft und dann immer nachdrücklicher nach ihren Sinnen gegriffen hatten, um sie mehr und mehr zu vernebeln. Ohne ihre Gottesgabe hätte sie es nicht geschafft, ihr Herzschlag sogar soweit zu beruhigen, daß er jetzt ganz normal war, eben angepaßt an die körperliche Anstrengung, während sie weiter auf nackten Sohlen durch den Wald lief, geschickt jedem Hindernis ausweichend, behende und leichtfüßig wie ein aufgescheuchtes Reh, das seinen Häschern entfliehen wollte.

Nicht mehr weit! sagten ihr ihre besonderen Sinne. Dann hast du die Grenze erreicht. Und diesmal wirst du sie durchschreiten, wirst du nach draußen gelangen.

Sie war jetzt ganz ruhig, gezwungen dazu, nicht, weil sie sich keine Sorgen mehr machte. Ja, sie hatte vor allem die Sorge, daß ihre Kräfte vielleicht doch nicht ausreichten, die Flucht letztlich zu schaffen.

Sie flog förmlich dahin, durch scheinbar dichtes Unterholz, das immer mehr an Dichte gewann. Die Baumwipfel über ihr bildeten ein schwarzes Dach. Hier unten gab es nicht einmal den geringsten Lichtschimmer, aber mit ihrer Gottesgabe konnte Carem alles haargenau sehen, bis ins kleinste Detail, völlig unbeeinträchtigt.

Das war neu gegenüber allen Malen, da sie die Flucht versucht hatte. Denn jetzt war dieser Grenzbereich fast erreicht, und das hatte ihre Gottesgabe stets enorm geschwächt. Diesmal jedoch gelang diese Schwächung einfach gar nicht. Sie hatte keinerlei Mühe, alles genau zu erkennen und ihren dahinjagenden Körper so perfekt über und um und durch alle Hindernisse zu steuern, als wäre sie eine perfekt durchtrainierte Artistin. Sie hätte dabei sogar sämtliche nur denkbaren Rekorde gebrochen, die jemals von normalen Menschen aufgestellt worden waren.

Normale Menschen? Was war sie eigentlich - mit ihrer Gottesgabe? Die absolute Ausnahme?



*



Der Grenzbereich. Da war er. Sie spürte ihn, wie er eiskalt auf sie einstürmte, als würde sie in einen eisigen Wasserfall tauchen. Es prasselte auf sie nieder, als sie weiterlaufen wollte, und brachte sie zum Stolpern. Sie verlor diese perfekte Kontrolle über ihren Körper, blieb irgendwo mit dem Fuß hängen und fiel der Länge nach hin.

Sekundenlang blieb sie bäuchlings liegen. Ihr Atem ging heftig. Sie lauschte in sich hinein, mit ihrer Gottesgabe. Alles erschien normal, außer dem Schmerz im Fußgelenk. Sie konzentrierte sich darauf, und der Schmerz verging. Sie wußte, daß gleichzeitig auch die Verletzung heilte, in Sekundenschnelle.

Als sie sich ein wenig mühsam aufrichtete und den Blick hob, war sie wieder völlig in Ordnung.

Scheinbar!

Ja, sie selber war schon wieder in Ordnung, aber mit ihrer Gottesgabe stimmte etwas nicht. Sie begann zu flackern wie eine Fackel in zu starkem Wind. Als wäre ihre Gottesgabe von Energien abhängig, die jetzt nicht mehr ungestört zur Verfügung standen.

Sie verglich es mit einem röhrenden Rennwagen, dessen Benzinzufuhr gestört war. Da nutzten sämtliche PS nichts mehr, wenn sie sich nicht mehr entfalten konnten.

Carem stöhnte enttäuscht und richtete sich vollends auf.

Ein wenig gebeugt stand sie schließlich da und versuchte, die Dunkelheit mit ihren Augen zu durchdringen. Das gelang nur noch teilweise - und dabei auch noch unbeständig. Als würde ihre Umgebung von flackerndem Schein beleuchtet, der immer wieder drohte, völlig zu erlöschen.

Sie schaute sich um, und das Flackern verlieh den Bäumen und dem Unterholz scheinbar gespenstisches Eigenleben. Sie schienen sich zu bewegen, und die Bäume schienen sich zu ihr herabzubeugen, um mit dürren Ästchen und Zweigen wie mit Krallenfingern nach ihr zu greifen.

Auch das Unterholz bewegte sich, und Carem hatte die Illusion, das sei nicht mehr der Wind, der allgegenwärtig geblieben war, sondern teuflisches Leben, und das Unterholz bemühe sich, ihre Beine zu packen, um sie festzuhalten.

Sie schrie leise auf. Es war ein heiserer, krächzender Schrei, der es kaum schaffte, über ihre Lippen zu gehen, als schnüre etwas ihre Kehle zu. Mit aller Gewalt unterdrückte sie die schlimme Panik, die hell in ihr aufloderte und übermächtig zu werden drohte. Diese Panik versuchte sie dazu zu zwingen, zurückzufliehen, in die Richtung, aus der sie gekommen war. Aber Carem blieb stehen, tapfer, zitternd, mit zu Fäusten geballten Händen, die Augen unnatürlich geweitet. Und diese Augen richteten sich jetzt in die Richtung, von der sie wußte, daß sie nach draußen führte, nach außerhalb, das sie lediglich aus ihren Träumen kannte, wenn es ihre Gedanken schafften, sämtliche Ketten zu sprengen und in die wahre Welt einzugehen, um neugierig zu erfassen, was dort vor sich ging, und auch, um manchmal die Gedanken von Menschen zu belauschen, die in der wahren Welt lebten.

Sie brauchte unendlich viel Überwindung, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, in diese Richtung, um weiterzufliehen. Nichts war mehr übriggeblieben von jener Leichtfüßigkeit. Sie bewegte sich wie unter einer zentnerschweren Last. Ihr Körper bebte. Sie fror plötzlich, als wäre der Wind jetzt erst eisig kalt, kälter vielleicht sogar als ein Sturm im winterlichen Sibirien.

Dennoch lachte Carem. Es war ein heiseres, krächzendes Lachen, genauso mühsam wie ihr Schrei von vorhin, aber es war ein Lachen, das ihr bittere Tränen in die Augen trieb.

Sie schloß die Augen und sah dadurch auch nicht viel weniger, denn ihre Gottesgabe war fast völlig erloschen und schaffte es längst nicht mehr, die Dunkelheit zu besiegen, die hier vorherrschte.

Sie konzentrierte sich auf ihre nackten Füße, versuchte, wenigstens damit Unebenheiten rechtzeitig zu erkennen, um Hindernissen ausweichen zu können.

Dürre Ästchen und Zweige ritzten ihre Haut. Sie redete sich ein, daß sie nicht nach ihr griffen, sondern daß sie einfach nur da waren, dicht und damit widerspenstig, um sie daran zu hindern, ihre Flucht fortzusetzen.

Sie blieb tapfer, trotz der aufgekratzten Haut und den damit verbundenen brennenden Schmerzen. Die Zweige kratzten auch über ihr Gesicht, verfingen sich in ihren Haaren. Sie ging einfach weiter, selbst wenn ihr dabei die Haare büschelweise ausgerissen wurden. Und Carem weinte dabei still, obwohl sie zwischendurch immer wieder ihr heiseres, krächzendes Lachen ausstieß.

Diesmal werde ich es schaffen! hämmerten derweil die Gedanken in ihrem Kopf. Ich werde es schaffen!



*



Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Gesicht des jungen Mannes auf, den sie noch niemals persönlich gesehen hatte und von dem sie nichts wußte, überhaupt nichts. Auch wenn sie sich noch so sehr bemüht hatte, wann immer er ihr in ihren Träumen begegnet war. Er lächelte sie höchstens still an, sagte aber kaum jemals auch nur ein Wort. So kannte sie weder seinen Namen, noch wo er überhaupt lebte.

Irgendwo halt auf der Welt, auf der wahren Welt, und um auch nur die geringste Chance zu haben, diesem jungen Mann jemals körperlich zu begegnen, der es allein mit seinem Traumbild schaffte, ihr unschuldiges Blut so sehr in Wallung geraten zu lassen, mußte sie es schaffen, die Grenze zu überwinden, nach draußen zu gelangen, die von der übrigen Welt abgeschnittene Puritanergemeinde für immer zu verlassen.

Und dann stieß sie gegen eine regelrechte Wand aus Dickicht. Sie streckte mit geschlossenen Augen die Arme vor, griff in dieses Dickicht hinein und versuchte, es zu teilen, aber sie hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu. Die Schwäche ihres Körpers war gewachsen mit der Schwächung ihrer Gottesgabe, und letztere war jetzt vollends erloschen. Als wäre sie niemals vorhanden gewesen.

Das macht der Grenzbereich! schrien ihre Gedanken, und sie spürte die längst aufgekeimte Resignation, die sich nicht mehr länger unterdrücken ließ. Der Grenzbereich treibt mich zurück, und mit jedem Schritt werde ich schwächer, bis ich nur noch zusammenbreche und keinen einzigen Schritt mehr tun kann. Ich muß zurückkehren, ehe es vollends zu spät ist, sonst bleibe ich hilflos liegen und habe nicht einmal mehr die Kraft zur Rückkehr. Dann werde ich sterben, hilflos, verloren und ohne jemals draußen gewesen zu sein. Welch ein tragisches Ende! Und ich werde mich selber jeglicher Chance beraubt haben, es vielleicht doch noch irgendwann zu schaffen.

Dann, wenn ich noch stärker geworden bin?

Sie zweifelte jetzt daran. Nein, so stark würde sie möglicherweise niemals werden können, um diese Grenze jemals zu schaffen. Ihre Gottesgabe würde dennoch verschwinden, bei aller Stärke, regelrecht hinweggesaugt vom Grenzbereich.

Sie brach wimmernd zusammen. Ihre Hände tasteten umher, als suchten sie etwas, was es nicht geben konnte. Sie spürte deutlich den Weg zurück. Das war das einzige, was der Grenzbereich ihr noch an Wahrnehmungsfähigkeit übrig ließ außer der natürlichen, ach so eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit, die ihr Gott neben der Gottesgabe an rein körperlichen Fähigkeiten mit in die Wiege gegeben hatte.

Stärker wimmernd kroch sie in diese Richtung zurück, wieder weg von der Freiheit, die sie so sehr gelockt hatte, aber die jetzt so unerreichbar geworden war wie niemals zuvor.

Nein, nicht die Freiheit ist unerreichbarer geworden, berichtigte sie sich selbst, sondern die Erkenntnis ist gewachsen, daß diese Freiheit für immer unerreichbar bleiben wird - für mich!

Wimmernd und weinend kroch sie Zentimeter um Zentimeter zurück. Aber dabei spürte sie, wie ihre Kräfte wieder wuchsen. Schon nach wenigen Minuten. Dabei konnte sie doch unmöglich schon eine Strecke zurückgelegt haben, daß es sie in solchem Maße stärken könnte?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783738950205
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
geisterfalke mitternachtsthriller
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Titel: Der Geisterfalke: Mitternachtsthriller