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Das Zeitalter des Kometen #20: Lennox und der Preis des Überlebens

©2020 128 Seiten

Zusammenfassung


Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Tim Lennox ist von einem riesigen Reptil entführt worden und hängt hilflos in den Klauen des Monsters, das zu einem fest Ziel zu fliegen scheint. Doch dann landet er unversehens im Maul eines Wals. Gleichzeitig befindet sich Marrela an Bord eines Zeppelins, auf der Suche nach Lennox. Gesteuert wird der Zeppelin von Kaio, einem Cyborg, der bemüht ist zu helfen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Lennox und der Preis des Überlebens

Copyright

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Lennox und der Preis des Überlebens

Das Zeitalter des Kometen #20

von Jo Zybell

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 128 Taschenbuchseiten.

 

Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …

Tim Lennox ist von einem riesigen Reptil entführt worden und hängt hilflos in den Klauen des Monsters, das zu einem fest Ziel zu fliegen scheint. Doch dann landet er unversehens im Maul eines Wals. Gleichzeitig befindet sich Marrela an Bord eines Zeppelins, auf der Suche nach Lennox. Gesteuert wird der Zeppelin von Kaio, einem Cyborg, der bemüht ist zu helfen.

 

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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1

Der Himmel war so schwarz, jeden Farbton des Sees löschte er aus. Das schwarze Wasser brodelte, der Katamaran stieg dem Schwarz des Himmels entgegen, fiel in die Schwärze des Sees zurück, stieg wieder hinauf, stürzte wieder hinab, und Cyleste fragte sich, woher das Licht stammte, das die Schaumkronen auf den Wogen weiß aufscheinen ließ; so weiß wie ein Iglu schimmerte in den seltenen Stunden, wenn die Sonne durchbrach, oder so weiß wie die Fellmäntel ihrer beiden Töchter, die zwischen ihren Beinen kauerten.

Sie waren zu siebt, suchten Halt am Segelmast, an den Paddelholmen, an den Bordkanten des Katamarans, an den Riemen entlang seiner Innenwand, und jeder beobachtete den schwarzen Berg, der inmitten weißen Schaums und hunderttausend weißer Blasen durch Wellenkämme und -täler pflügte. Nicht irgendwo hin, sondern direkt auf sie zu.

Ein Wal.

Sein Atem stieg als schaumige Säule aus Wasser und Gischt in den schwarzen Himmel, und die Mädchen wimmerten und klammerten sich an den Schenkeln ihrer Mutter fest. »Keine Angst«, sagte Cyleste. »Keine Angst …«

Sonst sprach niemand etwas, kein Wort sagten die sieben Eisherrscher im Katamaran; schon seit sie das erste Mal in der Ferne die Wasserfontäne des Wales gesichtet hatten, nicht; hielten sich nur fest, und überließen ihre Körper dem wilden Tanz des Katamarans auf der kochenden See.

Der Sturm riss an ihren Haaren und Fellmänteln. Ihre runden, rötlichen Gesichter waren feucht von der Gischt und so glatt und ausdruckslos wie die Eisschollen, die um diese Jahreszeit auf dem See trieben. Ihre Augen waren Schlitze und spähten nach dem herannahenden Walrücken, als gäbe es sonst nichts auf der Welt.

Keiner weinte, keiner schrie, keiner drängte sich an den anderen, nein – ihre Haltung, ihre Mimik und Gesten verrieten nicht die geringste Spur von Angst. Dabei schwand die Distanz zwischen Katamaran und Wal mit jedem Atemzug, und der gewaltige Rücken des Tieres wuchs und wuchs.

Elyshee, die weißhaarige Alte auf der Ruderbank neben Cyleste, schlug der Jüngeren auf den Rücken. »Geh!« Mit ausgestrecktem Arm wies sie zum Bug des Katamarans. Die Männer vor ihnen auf den Paddelbänken rückten zur Seite, um Cyleste den Weg frei zu machen; die Mädchen weinten und wollten ihre Mutter nicht freigeben.

Elyshee griff erst nach dem älteren, dann nach dem kleineren Mädchen. Als wären sie so leicht wie eine Handvoll Schnee, zog sie die Kinder hoch und drückte sie an sich. Die alte Elyshee war ihre Großmutter.

Noch drei Speerwürfe war der Walrücken entfernt. Rechts und links von ihm teilte sich das Wasser, ein Delfis und ein Orgara schossen aus dem See, rissen einen Schweif aus Wasser und Schaum hinter sich her, flogen in hohem Bogen durch die Luft, und bohrten sich kopfüber wieder in die Fluten.

Jetzt ging ein Ruck durch die Eisherrscher, wie ein Mann schrien sie, aber es war kein Aufschrei der Panik: Wie Staunen klang es, ja, fast wie Bewunderung.

Der Kranz aus Wasser und Schaum, den die gewaltige Schwanzflosse des schwarz-weiß gescheckten Orgaras aufgepeitscht hatte, war noch nicht zusammengebrochen, da sprang der Delfis ein zweites Mal aus dem See, und während er für einen Augenblick wie schwerelos über den Zenit seiner Bogenbahn schwebte, stieß er ein schnatterndes Meckern aus, laut und hart, so dass man es trotz des Sturmes und des Tosens der Wellen deutlich hören konnte; wie das Kichern eines betrunkenen Jägers klang es.

»Jaou, jaou!«, riefen einige Männer, andere lachten; Elyshee verzog ihr Pergamentgesicht zu einem vergnügten Grinsen, das ältere Mädchen in ihren Armen klatschte in die Hände, und das jüngere riss Augen und Mund auf.

Die beiden Männer auf der vorderen Paddelbank, Nyoto und Ikoreis, griffen hinter sich und zogen Cyleste über die Bank. Auf den Knien rutschte sie zum Bug, hielt sich dort an den zusammenlaufenden Bordkanten fest und blickte dem immer weiter wachsenden Berg entgegen.

Er schob eine breite Bugwelle vor sich her, wurde langsamer, und plötzlich tauchte sein zerklüfteter und tausendfach zerfurchter Schädel aus den Fluten auf. Wasser schäumte und strömte zu beiden Seiten an ihm hinunter, sein riesiges Maul öffnete sich, groß genug, um den Katamaran samt Besatzung zu verschlingen.

Cyleste richtete sich auf, und begann zu singen.

 

 

2

»Was war das für ein Wesen?« Marrela kniete neben Kaios Sitz auf dem Boden und stützte sich auf ihr Schwert. »Bei Wudan, Kaio!« Die vielen Lichter, Schalter, Displays vor ihr auf der Mittelkonsole machten ihr Angst. »Was für eine Bestie war das bloß?« Sie schrie die Frage heraus, gequält von der Sorge um ihren Gefährten Tinnox.

Der Cyborg aber schien sie gar nicht zu hören. Seine Finger flogen über Tastaturen und Schalter, seine Rechte riss an der Steuersäule, sein Kopf flog hin und her, auf und ab, sein schwarzer Zopf peitschte um seine Schultern. Es war, als wollte er alles gleichzeitig im Blick behalten: Die Kontrollinstrumente über ihm, die Displays auf der Mittelkonsole, den rauchenden Vulkan im rechten Gondelfenster, die zerstörte Stadt unter dem linken Fenster, und den nur noch daumennagelgroßen Punkt am nordöstlichen Horizont. Der Cyborg mochte noch so oft durch das Frontfenster spähen: Der Punkt wurde kleiner und kleiner.

»Bei Wudan, Kaio! Siehst du ihn noch? Warum antwortest du nicht?« Marrela versuchte sich am Schwert hochzuziehen, doch der Schwindel zwang sie augenblicklich wieder in die Knie. Der Schwindel und die Angst: Sie fürchtete sich vor dem Blick aus dem Gondelfenster, ekelte sich geradezu davor, wollte nicht in die Tiefe schauen müssen, nicht in die Lava, nicht in das Feuer und schon gar nicht auf die Bestie, die ihren Geliebten davon trug.

»Bitte, Kaio, bitte sag etwas!« Sie schloss die Augen, atmete gegen die Übelkeit an, unterdrückte das Bedürfnis zu schreien, zu schluchzen, sich zu übergeben. »Solche Kreaturen …« Sie schüttelte sich. »Solche Kreaturen kenne ich nur aus den Erzählungen des Göttersprechers!« Sie blickte zu Kaio hoch. »Siehst du es noch? Holen wir es ein?«

»Ruhe, verdammt noch mal!«, herrschte Kaio sie an. Und dann etwas leiser, als täte es ihm leid: »Ja! Ich sehe es noch! Irgendein Reptil, irgend eine Flugechse! Was weiß denn ich? Es hat Tinnox gepackt, ja! Sieh der Wahrheit ins Auge, Frau! Es hat ihn gepackt, und es ist schneller als wir!«

Er schlug auf Knöpfe und Schalter, riss an der Steuersäule, stach mit den Zeigefingern auf der Navigationstastatur herum. »Ich muss dieses Ding zum Fliegen bringen! Dieses vor-apokalyptische Fluggerät! Ich muss es erst einmal in der Luft halten! Frag mich, was du willst, wenn ich es auf Kurs gebracht habe! So lange aber schweig!«

»Nein, nein …« Marrela wimmerte und würgte. »Bitte, Wudan, bitte … mach, dass es ihn nicht tötet, bitte, bitte …«

Kaio blickte auf sie hinunter. »Setzt dich hin, schnall dich an!« Glatt und hart war seine Miene. Seine dunklen Schlitzaugen funkelten.

»Bitte, mach dass die Bestie ihn nicht tötet!« Marrela Schultern zuckten, sie bog den Kopf in den Nacken und weinte laut.

»Hinsetzen und anschnallen, verdammt noch mal!« Kaios Hand schloss sich um ihren Oberarm. Er riss sie hoch, drängte sie in den Copilotensessel, beugte sich über sie und schnallte sie an. Seine Geste, seine Stimme, seine harte Miene – alles an ihm signalisierte, dass er jetzt keinen Widerspruch duldete.

»Ich weiß nicht, ob ich das verdammte Ding in der Luft halten kann, kapierst du das, Frau? Ruhe brauche ich, Ruhe!« Wieder konzentrierte er sich auf Instrumente und Kontrollanzeigen.

Marrelas Kopf schlug mit der Schläfe gegen das Gondelfenster, sie riss die Augen auf: Über ihr, fast zum Greifen nahe der rote Rumpf des Fluggeräts, geformt wie das in die Länge gezogene Ei eines Eluus, oder nein, wie die viel zu dicke Keule eines Riesen. »Was ist das? Bei Wudan, was ist das?«

»Ein Luftschiff.« Kaio zog die Steuersäule zu sich, das Gerät gewann an Höhe. »Zeppelin NT 08 steht außen auf seinem Rumpf; ich kenn‘ die Bedeutung dieser Bezeichnung nicht.«

»Wieso fliegt das?« Marrela sah nach hinten, das rote Riesenei über ihnen schien kein Ende zu nehmen. Sicher hatte sie es bei der Flucht auf die Glaskuppel beiläufig registriert, aber irgendwie doch nicht wahrgenommen.

»Gas.« Der Cyborg ließ die Säule los, belauerte die Instrumente, ließ die Hand über den Armaturen schweben, rieb Daumen- und Zeigefingerkuppe gegeneinander. »Das Gas hält es in der Luft, Propellermotoren treiben es an.« Seine Hand stieß auf eine Reihe von Schaltern nieder. »Und jetzt gib endlich Ruhe!«

Marrelas Augen lösten sich von dem roten Rumpf des Fluggeräts, sie blickte zum Horizont. Überall schwarze Rauchschleier, viele hundert Speerwürfe entfernt verhüllten sie den Himmel und den größten Teil des Vulkankegels. Und zwischen all dem Rauch glühte es rot. Lava zog sich in breitem Strom über das Eis, floss in Glutseen zusammen. Tief grub sich der qualmende Strom in die weiße Einöde ein. Wasser kochte und verdampfte.

Sie presste die Stirn ans kühle Material des Fensters. Nie zuvor hatte sie ein ähnliches Naturschauspiel gesehen: Seen und Ströme aus brodelnder Glut, schwarzer Rauch und weißer Wasserdampf darüber, Wasserblasen an seinen Rändern, und überall bröckelndes Eis.

Die Stadt konnte sie aus ihrer Perspektive nicht sehen – oder das, was von ihr übrig geblieben sein mochte. Deren brennende Überreste lagen unter dem Luftschiff und auf Kaios Seite.

Marrela schloss die Augen, ihr Kopf fiel gegen das Nackenpolster. Ganz hinten auf ihrer Zunge brannte das Verlangen nach Wasser. Warum nur habe ich immer solchen Durst? Ein Spiralnebel aus Bildern wirbelte durch ihr Hirn: Die zerfallenen Gebäude der Stadt – Tinnox hatte sie »Mayo«, und Kaio eine »Biosphäre« genannt – die Attrappen von Häusern, die merkwürdigen Menschen dort unten – sie nannten ihre Stadt »Citysphere 01« – die Glaskuppel darüber, und auf ihr dieses eigenartige Luftschiff.

Und immer wieder Tinnox …

Zuletzt hatte Marrela ihren geliebten Gefährten vom höchsten Punkt der durchbrochenen Glaskuppel an einem Seil über der zerstörten Stadt hängen sehen; über einem schnell steigende Lavasee, dessen Glut die Menschen und Wohnstätten der Eisoase verschlang. Und plötzlich, wie ein Phantom aus Orguudos finsteren Tiefen, die Bestie! Eine Echse, ein Vogel, ein fliegendes Seeungeheuer – Wudan allein mochte wissen, was es gewesen war.

Es packte Tinnox, durchstieß die Kuppel der Eisoase, und schwang sich durch Qualm und Wasserdampf in den Himmel.

»Es kam aus dem Vulkan«, sagte Marrela. »es muss mit der Lava aus dem Vulkan gekommen sein …«

Ausgeschlossen, wollte Kaio sagen, keine Bioform kann in Lava existieren, wollte er sagen, doch beides schluckte er hinunter. Erstens hatte er den rauchenden, grünschwarzen Schuppenpanzer der gut zwölf Meter langen Kreatur mit eigenen Augen gesehen, genau wie die Lava, die von seinem schnabelartigen Kopf tropfte und an den Spitzen seiner sicher fünfundzwanzig Meter durchmessenden Flughaut glühte; und zweitens wusste er von Kleinstlebewesen, die sich in kochenden Geysiren fortpflanzen konnten. Oder falsch: Die sich nur und ausschließlich in kochenden Geysiren fortpflanzen konnten.

Gar nichts sagte er also, hämmerte in die Tastatur, um die drei Motoren unter dem Heck des gasgefüllten Rumpfes endlich, endlich in die Richtung zu schwenken, die er sich vorstellte.

Ein thermophiles Flugreptil, dachte er, wie kann das sein? Ich habe soviel gehört, soviel gelernt, warum habe ich dergleichen noch nie gehört?

»Es wird Tinnox töten, stimmt‘s?« Marrela Stimme brach. »Es wird ihn fressen, es wird ihn zerreißen …« Sie flüsterte nur noch. »Bitte, Wudan, bitte …« Hinter einem Tränenschleier verschwamm der schrumpfende Punkt am Horizont Richtung Sonnenaufgang.

Auch Kaio spähte durchs Frontfenster. Kein Zweifel: Die Bestie und ihr Opfer entfernten sich rascher, als der Zeppelin Fahrt gewann. Ein Blick auf die Kontrollinstrumente: Zweitausenddreihundert Meter zeigte der Höhenmesser bereits, aber der Balken des digitalen Geschwindigkeitsmessers zitterte immer noch bei fünfundfünfzig Stundenkilometer. Viel zu langsam, bei meinen Vorfahren, viel zu langsam!

Ein Blick auf den Radardisplay beruhigte Kaio wenigstens vorübergehend: Auf ihm würde die Echse noch eine Zeitlang zu sehen sein.

»Schneller, wir brauchen mehr Stoff!« Kaio sprach mit sich selbst, tippte dabei in die Tastatur, legte diesen oder jenen Schalter um, bis ihm ein Display signalisierte, dass die Stellung der drei Motoren endlich optimal synchronisiert war. »Schneller verdammt noch mal!« Die Balken in der Geschwindigkeitsanzeige kroch über die Sechzig hinaus und der Siebzig entgegen.

Der Punkt am Horizont verschwand. »Wir holen es nicht ein …« Marrela flüsterte. »Und selbst wenn – Tinnox ist verloren …«

Kaio hörte das Flehen um Widerspruch in ihrer Stimme. Er zog es vor zu schweigen.

 

3

Den Kopf in den Nacken gebogen und mit weit offenem Mund stieß Cyleste langgezogene hohe Töne aus. Ihre feine Stimme schraubte sich in eine Höhe, die Nyoto und Ikoreis und einige andere Männer schon als schmerzhaft empfanden. Ihr Gesang schwoll an und ab, tanzte über dem Heulen des Sturms und dem Rauschen des Wassers, ging plötzlich in Glucksen und Trällern über, perlte die Tonleiter hinauf und hinab, um dann wieder kristallklar zwischen zwei, drei Tönen hin und her zu schwingen.

Es war ein Tirilieren, ein Zwitschern, Pfeifen und Summen, das die Männer als überirdisch empfanden, ja, als göttlich. Obwohl er manchmal glaubte, jemand würde ihm mit feinen Gräten die Trommelfelle durchstechen, konnte Nyoto nicht widerstehen: Er musste einfach von Zeit zu Zeit die Hände von den Ohren nehmen, um Cylestes Gesang zu lauschen.

Genauso Ikoreis und die anderen Männer: Sie hörten den Wind durch die Knochenösen der Jagdzeltriemen pfeifen, sie hörten das Flehen des Seeadlerjungen nach Futter und Wärme, das Ächzen der Bootsplanken bei schwerer See, das Schweigen der Sterne in klarer Nacht, das Splittern des Eises im Frühling, und das lautlose Klingen der Schneeflocken, wenn sie nah aneinander vorbeischwebten, sich berührten und ineinander verhakten, während sie auf die Igludächer fielen.

Auch der Wal schien zu lauschen.

Es war Finnilosh, das Haupt der Potter; bis auf die Mädchen, die zum ersten Mal an einer Versammlung teilnahmen, kannten ihn alle an Bord des Katamarans. Den mächtigen, zerklüfteten Schädel aus dem Wasser gereckt, mit der Schwanzflosse nur noch behutsam wedelnd, beäugte er die singende Cyleste. Er bewegte sich kaum noch voran, trieb nur in den abflauenden Wogen dahin, so dass er bald seitlich des Katamarans vorbeigleiten würde.

Ein paar Speerlängen neben ihm wölbte sich der schwarz-weiße Rücken des Orgaras aus den Fluten, viel kleiner als Finnilosh, und doch so ungeheuer groß. Oshavan hieß dieser Wal – am langen Einriss seiner schwertartigen Rückenflosse hatte Elyshee ihn schon während seines Sprungs erkannt. Auch er hob den stumpfen Schädel knapp über der Wasseroberfläche und lauschte dem Gesang der kleinen Frau am Bug des Katamarans.

Und fast in Reichweite von Cyleste, seitlich des Bugs, stand der spitze Kopf des Delfis im schwarzen Wasser. Ein sehr junger Delfis – Elyshee kannte ihn nur flüchtig. Vermutlich ein Sohn des alten Ylish, des Oberspielers der Eisherrscher. Seine schnabelartige Nase zuckte manchmal nach vorn, als wollte er nicken, und sein Maul war leicht geöffnet, so dass man die Reihen seiner spitzen, dreieckigen Zähne sehen konnte.

»Sie erzählt ihnen von dem milden Winter und den vier Neugeborenen, die ihn überlebt haben«, sagte Elyshee.

Über Jahrzehnte war sie die Hauptsängerin der Eisherrscher gewesen. Doch seit fünf Wintern machte ihre alte Stimme nicht mehr mit. Aber natürlich verstand sie die Bedeutung des Gesangs ihrer Tochter und übersetzte ihn.

»Sie bedankt sich für die Verstorbenen, die sie uns vor dem Winter überlassen haben, und für die Hilfe während des Jagdzugs entlang der Eisgrenze.«

Mit geschlossenen Augen konzentrierte Elyshee sich auf die Töne, die ihre Tochter ausstieß, und ihre Enkelinnen und die Männer hingen jetzt an ihren Lippen.

»Sie erzählt, wie friedlich Koren in den immerwährenden Sonnentag eingegangen ist, und dass die Ayritzen zwei Kinder und eine Sängerin verschleppt und wahrscheinlich gefressen haben.«

Die Versammlung mit den Seeherrschern – ein über Hunderte von Schneeschmelzen gewachsenes Ritual: Die jeweilige Hauptsängerin erzählte – sang – all die großen und kleinen Ereignisse, die das Leben der Eisherrscher während der zurückliegenden Monde bestimmt hatten. Danach sangen – erzählten – die Abgesandten der Seeherrscher von den Wechselfällen des Lebens ihrer Sippen und Rassen.

Zwei Versammlungen in zwölf Monden gehörten zum Jahresrhythmus der Eisherrscher wie die beiden Jagdzüge, das Sonnenfest und der Tag der Hochzeiten: Eine Versammlung kurz vor dem Winter, eine nach der Schneeschmelze. Wenn Not oder unvorhergesehene Ereignisse es erforderlich machten, konnte jeder der Bündnispartner eine Sonderversammlung einberufen.

Cyleste schilderte Korens Tod und richtete die letzten Grüße des großen Jägers an seinen Freund Finnilosh aus. Sie berichtete von der neuen Route zur Nordmeerküste, die ihr Volk gefunden, vom Zurückweichen der Eisgrenze, die einige Jäger beobachtet hatten, von den noch immer gleichmäßig sprudelnden heißen Quellen, vom Sonnenfest, von den Hochzeiten und den schwangeren Frauen, und von der beunruhigenden, schon seit drei Schneeschmelzen anhaltenden Wanderung des gemeinsamen Feindes: Immer mehr Ayritzen machten sich auf den Weg von der Nordmeerküste zu den Sandbänken am Westende des Sees.

Ohne ihren Gesang zu unterbrechen, drehte die junge Eisherrscherin sich irgendwann um und deutete auf ihre Töchter und die beiden Männer auf der vorderen Paddelbank.

»Sie sagt ihnen, dass wir die Mädchen in der Kunst des Gesangs unterrichten und stellt ihnen ihre Väter vor«, übersetzte Elyshee. Ikoreis und Nyoto hoben die Köpfe und lächelten. Der Stolz trieb ihnen noch mehr Röte in die Gesichter.

Cyleste verstummte, und nun begannen Finnilosh und der junge Delfis zu singen. Es war so, dass der Gesang der Potter besonders hohe Töne beinhaltete, die ein menschliches Ohr nicht wahrnehmen konnte. Außerdem pflegten die Potter eine sehr einfache Sprache – komplizierte, ja abstrakte Inhalte, konnte ihr Gesang nur ungenügend zum Ausdruck bringen. Aus diesem Grund übersetzte und ergänzte häufig ein Delfis – oder ein Spieler, wie sie auch genannt wurden – den Gesang der anderen Seeherrscher.

Elyshee richtete sich auf und ließ die Kinder los. »Hört«, flüsterte sie. »Hört gut zu!« Eine Symphonie aus Pfiffen, Klicklauten, feinsten, langgezogenen Tönen, flötendem Vibrato und dunklem Knurren erfüllte die Luft.

Elyshee griff hinter sich an den Segelmast und zog sich hoch. Der Katamaran schwankte auf den Wogen, und der feuchte Wind zerrte das Weißhaar der Alten aus der Fellkapuze. Sie übersetzte nicht, ihr altes Gehör nahm auch die besonders hohen Töne des jungen Spielers nur noch undeutlich oder gar nicht mehr wahr, doch die Bruchstücke, die sie verstand, trieben das Lächeln aus ihrem Gesicht. Ihre Mundwinkel sanken nach unten, finster wurde ihre Miene.

Der Delfis und der Potter sangen nicht lange, neun oder zehn Atemzüge lang vielleicht. Das war ganz und gar unüblich und verstieß sogar gegen das Ritual. Cyleste drehte sich langsam um, so langsam, dass Nyoto den Atem anhielt. Bleich war die Mutter seiner jüngsten Tochter plötzlich, und ihre Augen noch schmaler als sonst.

»Finniloshs Gefährtin Hanulesh ist den Ayritzen in die Falle gegangen«, sagte sie. »Und mit ihr drei Junge und Gilesh, die Gefährtin seines ältesten Sohnes.«

Cyleste ließ sich von den Knien auf ihr Gesäß sinken. Kraftlos lehnte sie gegen den Bug des Katamarans. Ihre Arme hingen über die Bordkante, schlaff, als gehörten sie nicht mehr zu ihrem Körper. Ein paar Atemzüge lang hörte man nur das Rauschen der Wogen und das Heulen des Sturms. Traurig und erschöpft betrachtete die Sängerin ihre Töchter.

»Wo?« Heiser bellte Elyshee die Frage heraus.

»Tausende von Speerwürfen Richtung Sonnenuntergang bei den Sandbänken. Finniloshs ältester Sohn Potterosh hat sich auf den Weg gemacht, um zu retten, was zu retten ist. Finnilosh fürchtet nun auch um sein Leben …«

Jeder an Bord des Katamarans wusste, was sie den Verbündeten schuldig waren; sogar die beiden kleinen Mädchen wussten es schon. Die Eisherrscher konnten nicht leben ohne die Seeherrscher, und die Seeherrscher wären längst ausgestorben ohne die Eisherrscher. Man schuldete einander das Leben, nicht weniger.

Elyshee suchte die Blicke Nyotos und Ikoreis. Beide nickten. Am Segelmast entlang ließ die Alte sich auf die Paddelbank gleiten. »Sag ihnen, wir schicken unsere besten Jäger zu den Sandbänken.«

 

4

Eine peinliche Geschichte eigentlich, aber plötzlich war er mittendrin.

Das Glas in seiner Hand hätte gar nicht wirklicher sein können; der Barhocker nicht, auf dem er saß, die Theke nicht, auf die er sich stützte, die verdammten Schmerzen an Rücken und Taille nicht, der bärtige, schweinsäugige Wirt nicht, die Frau am anderen Ende der Theke nicht, und die Betrunkenen rechts und links von ihm auch nicht; und schon gar nicht die Musik.

Steinzeitrock, wie seine Mutter ihn liebte, Stairway to Heaven von Robert Led und Jimmy Zeppelin – nein, warte: Plant the Page, oder? Keine Ahnung mehr, aber den Titel würde er sein Leben lang nicht vergessen.

Die Frau spielte mit einer Strähne ihrer langen Locken, wiegte die Hüften im sich allmählich entfesselnden Rhythmus der Musik, drehte sich, neigte den Kopf und schickte ihr Lächeln auf die Reise zum anderen Ende der Theke – zu ihm. Heiß durchrieselte es ihn; dabei war ihm sowieso schon viel zu heiß.

»Letzte Runde«, sagte Malcolm und sah ihn dabei an. Er nickte und fragte sich, warum gewisse Frauen – nicht die Hässlichsten zumeist – ständig mit ihren Haaren spielen mussten. Liz tat das nie.

Und er fragte sich, warum es so abscheulich heiß war, und woher dieser Scheißschmerz um seine Taille stammen mochte.

Malcolm, der Wirt, stellte das Bier vor ihn hin, die Betrunkenen glotzten von der Seite, und die Frau hatte endlich ihr Haar losgelassen, drehte und wiegte sich schneller und wilder, so dass die schwarzen Locken im Kreis wirbelten und um ihre halb entblößten Schultern peitschten.

Zwei, drei Mädchen fielen ihm ein, mit denen er vor ein paar Leben etwas gehabt hatte. Frauen, die auch mit ihrem Haar zu spielen pflegten. Komische Angewohnheit … Vielleicht Langeweile oder Verlegenheit? Oder beides? Klar, das musste es sein: Langeweile und Verlegenheit.

Liz langweilte sich nie, und wenn es ihm je gelungen sein sollte, sie in Verlegenheit zu bringen, konnte er sich nicht daran erinnern.

Er griff nach dem Glas, setzte es an die Lippen und trank. Das Bier war brühwarm, ganz im Ernst: Es schmeckte abscheulich.

Zorn stieg wie eine heiße Säule hinter seinem Brustbein hoch; und zugleich erfüllte ihn eine unbestimmte Furcht. Langsam, ganz langsam begriff er, dass irgendetwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. Die Geschichte stimmte nicht – niemals hatte er in Malcolm‘s Potomac Island brühwarmes Bier getrunken, niemals!

Doch komisch, abgesehen vom warmen Bier stimmte alles: Der bärtige Malcolm trug seine braune Lederschürze, die Lieblingsmusik seiner Mutter toste aus den ohrmuschelförmigen Boxen neben der Spiegelbar, die Blicke der Tänzerin meinten eindeutig ihn, und die verhangenen Augen der Betrunkenen rechts und links ebenfalls.

Auch das Datum auf dem Kalender in den Händen der nackten Meerjungfrau zwischen dem Südpol der Theke und dem Vorhang vor dem Toilettengang stimmte: 11. November 2005.

Der Tag, an dem Timothy Lennox entschied, die Versetzung nach Germany anzunehmen.

Es war gegen Ende der Religionskriege, einer der ersten dienstfreien Abende seit Langem – der Kommandeur hatte die Alarmbereitschaft herabgesetzt. Malcolm‘s Potomac Island gehörte zu den wenigen Kneipen in der Nähe der Andrew Air Force Base, die man auch als Offizier betreten konnte, ohne seinen guten Ruf gleich aufs Spiel zu setzen.

Neben dem Bierglas lag sein Handy. Selbstverständlich musste er erreichbar sein, und selbstverständlich musste er auf Alkohol verzichten. Hatte er tatsächlich Bier getrunken damals?

Gut möglich, er trank ja oft ein paar Bier, wenn Liz ihm eine Szene machte. Und sie hatte ihm eine Szene gemacht – Heiliger Jesus! – und was für eine!

Himmel! Warum ist mir so heiß?

An Rücken und Taille spürte er die Hitze am deutlichsten. Er wand sich, drückte das Kreuz durch, tastete nach seiner Hüfte, und seine Hand zuckte zurück, als hätte sie ein heiße Herdplatte berührt.

Rechts neben ihm fiel ein Barhocker um, und als er den Kopf wandte, war der Platz an der Theke rechts neben ihm leer. Der Mann, der ihn eben noch mehr oder weniger aufrecht beansprucht hatte, lag jetzt quer über dem Barhocker auf dem Boden und glotzte aus roten Augen zu ihm hoch. Niemand kümmerte sich darum, Malcolm nicht, die Tänzerin nicht, und die anderen Betrunkenen sowieso nicht.

Warum bloß waren fast alle Leute betrunken heute Abend? Seit dem verdammten Bürgerkrieg – ja, so nannte sein Vater das, und er nannte es auch so: Bürgerkrieg – also seit dem Beginn der Kämpfe soffen die Leute mehr als früher, noch mehr, jedenfalls wollte ihm das so scheinen.

Genau: Auch das hatte er damals gedacht, als der Mann neben ihm zu Boden ging. Also stimmte die Geschichte doch! Aber warum war das Bier dann warm? Warum war es dann überhaupt so unerträglich heiß? 11. November, behauptete der Kalender doch, und nicht 11. August!

Allerdings hatte Liz ihm wirklich eine Szene gemacht; weil er nach Berlin gehen wollte nämlich; und weil sie nicht daran dachte, ihren Job nicht aufzugeben. Himmel noch mal – diese eigensinnigen Weiber!

Die Schmerzen, diese brennenden Schmerzen an Taille und Rücken – stimmten die wenigstens? Hatte er damals wirklich Schmerzen gehabt?

Nun ja, und dann begann der peinliche Teil der Geschichte. »Darf ich kassieren, Tim?«, sagte Malcolm. »Dreizehn Dollar und sechzig Cent.«

Tim öffnete seine Brieftasche, und fand weiter nichts als einen Bußgeldbescheid und ein Kondom (das trug er tatsächlich immer bei sich, weil Liz und er sich manchmal im Auto liebten, und überhaupt wollte er diesbezüglich nichts riskieren). Er starrte in die Leere seiner Brieftasche und glaubte es nicht.

»Was ist los, Tim – Geld vergessen?«

Genauso war es gewesen, die Geschichte stimmte also doch.

Aber dann schloss Tim die Augen, und gleichzeitig öffnete jemand in seinem benebelten Hirn die Augen: Er sah einen Himmel voller Rauch, und er spürte den Schmerz so deutlich, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen. Über sich nahm er ein eigenartiges Rauschen war, und unter sich sah er Eis, Eis, Eis …

Unmöglich, ausgeschlossen, ich träume im Stehen!

Sofort riss er die Augen wieder auf – und blickte in Malcolms unerbittliche Miene. »Dann wirst du fliegen müssen, Tim«, sagte Malcolm.

Er deutete zu einem der großen Fenster, die zur Straße zeigten, und zwar zum mittleren. Tims Blick folgte seinem ausgestrecktem Arm – da stand ein Hochhaus auf der anderen Straßenseite, erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum und mindestens sechzig Stockwerke hoch.

Nie und nimmer stand in der Nähe der Andrew Air Force Base ein derart hohes Gebäude! Von da an stimmte überhaupt nichts mehr in der Geschichte.

Die Musik verstummte von einem Augenblick zum anderen; bis auf ein paar Kerzen, deren Standort Tim nicht bestimmen konnte, erlosch das Licht; und der Kerl neben ihm auf dem Boden packte die runde Sitzfläche des Barhockers und rammte ihm die Beine des Möbelstück gegen den Bauch. So gezielt, dass die Hockerbeine seine Hüften und seine Taille einklemmten – Himmel, tat das weh!

Auf einmal hingen sie alle um ihn und über ihm: Die Betrunkenen, Malcolm und die Tänzerin. Alles andere als schön sah die Frau plötzlich aus – die Augen schmal, der Mund viereckig, das Haar wie Stachelborsten vom Schädel abstehend, spreizte sie die Finger über seinem Gesicht, und ihre angeklebten Nägel erinnerten ihn plötzlich an die Fänge eines Greifen, eines Falken oder eines Seeadlers.

Ruck-zuck ging alles, ja, wie ein Video, das man im Play-Modus vor- oder zurückspulte, rauschten Bilder und Eindrücke an ihm vorbei: Schmerzen, gehässige Gesichter, Fäuste, der Geschmack des Fußbodens auf seiner Zunge, Hitze, Rauschen, Atemnot – und schon fand er sich mitten auf der Straße.

Sie schleiften ihn ins Hochhaus, in den Aufzug, aus dem Aufzug heraus und aufs Dach. Hände aus Eisen packten ihn, knochige Hände eines Riesen, und er schwebte über der Straße. Sie war ein von Lichtern begrenzter dunkler Strich tief unter ihm, und Autos glitten über sie, die hätten genauso gut Glühwürmchen sein können, aber er wusste, dass es Autos waren, und dass der Weg zu ihnen hinunter verflucht lang und verflucht kurz zugleich war.

»Alles klar, Tim«, hörte er Malcolms Stimme aus dem Off sagen. »Du kannst nicht zahlen, also fliegst du.« Und dann flog er.

Er schloss die Augen, weil die Panik seinen Verstand ausschaltete, weil der Schmerz brannte, weil ihm übel wurde, und kaum hatte er sie geschlossen, riss etwas in ihm sie wieder auf. Und was sah er? Keine Straße, keine Lichter, keine Autos, nein: Er sah weiter nichts als Eis; eine schier unendliche Wüste aus Eis …

Gern hätte er die Augen wieder geschlossen, Himmel noch mal, wie gern! Aber es ging nicht: Er musste das Eis anstarren, er musste! Tief unter ihm glitt es dahin, tiefer als nur sechzig oder siebzig Stockwerke! Und der Schmerz um Hüfte und Rücken überfiel ihn mit solcher Heftigkeit, dass seine Gesichtsmuskulatur sich verkrampfte. Nichts konnte er schließen: Nicht die Augen, nicht den Mund.

Selbst die Schließmuskeln drohten seiner Kontrolle zu entwischen, denn als er nach oben blickte, sah er es – das Reptil.

Seinen flachen, fischartigen Schädel; seinen langgestreckten, spindelförmigen Körper; seine Hinterläufe wie junge Bäume unter dem flach auslaufenden Schwanz zusammengelegt; die pulsierenden Muskelgeflechte über seinem halbkugelförmigen Brustkorb und um seinen gewölbten Bauch. Und alles, sogar die Läufe, von grün-schwarzen, rautenförmigen Schuppenplatten bedeckt, an Brust, Bauch und Schenkeln groß wie Dachziegel, an der Kehle und unter dem Schädel nicht größer, als Brillengläser.

Ich träume, dachte er. Das hier ist der Traum, die Kneipe die Wirklichkeit …

Von Malcolm‘s Potomac Island trennten ihn lächerliche fünfhundertdreizehn Jahre, von dieser schuppigen Bestie fünfhundertdreizehn Ewigkeiten! Er spürte, dass der Gedanke so wenig stimmte wie das brühwarme Bier an der Theke eben. Doch mit der verzweifelten Verbissenheit eines Ertrinkenden versuchte er sich daran festzuhalten.

Aber die Schwingen – diese riesigen von hundert Venen oder Aststrünken durchzogenen Lederplanen, die da zu beiden Seiten auf und ab wippten! Oberhalb des schuppigen Bauches wuchsen sie aus der Brustmuskulatur des ganz und gar unwirklichen Wesen heraus. Wie sie das Rauschen der Brandung am Strand des untergegangenen Santa Monica nachäfften!

Das ist nicht wahr, dachte Tim, und er war vollkommen überzeugt von der Richtigkeit seiner Gedanken, das ist ein Albtraum – die Geschichte ist wahr! Malcolm hat vollkommen Recht: Ich kann nicht zahlen, also muss ich fliegen.

Doch diese unerträgliche Hitze! Die Klauen der Albtraumbestie brannten sie in seinen Rücken und seine Taille. Der mächtige Schuppenleib strahlte sie ab, als wäre er ein Hochofen, in dem Stahl gekocht würde. Tim spürte, dass er schweißnass war.

Er versuchte sich zu erinnern: Da war ein Luftschiff, da waren Kaio und Marrela und jene Bewohner der Biosphäre im Eis. Da war ein Loch in der Glaskuppel, Lava brodelte in der Tiefe, und da gab es einen Kampf …

Und einen Filmriss, wie es schien – undeutlich nur sah Tim die brennende Stadt, die brodelnde Lava – über der er aus irgend einem Grund schwebte, und plötzlich die Umrisse des Unglaublichen. War es aus dem Lavasee aufgetaucht? Ausgeschlossen!

Das hier ist der Traum, dachte Tim, die Kneipe ist die Wirklichkeit.

Er schloss die Augen, um wieder am 11. November 2005 in Malcolm‘s Potomac Island aufzuwachen. Oder wenigstens auf dem Hochhaus über der dunklen Straße.

Seine Schmerzen waren es schließlich, die ihn lehrten, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden – der brennende Schmerz am Rücken und an der Taille. Die Klauen der Vorderläufe hielten ihn dort fest. Sie waren so wirklich wie das Eis, wie der rauchverhangene Himmel im Westen, wie die Bestie selbst, und wie seine Angst.

Tim begann zu schreien!

 

5

Die Dunkelheit war allgegenwärtig. Nirgendwo Licht, nirgendwo Schatten, nirgendwo eine Spur von Dämmerung – vollkommene Finsternis überall.

Das tonnenschwere Geflecht seiner Muskulatur streckte sich, zog sich zusammen, streckte sich, bebte, pulsierte; eine Explosion von Kraft war sein Körper, ein Konzentrat von Wille und Wut, das sich im Stoßrhythmus seiner Schwanzflosse entlud.

So bohrte er sich in die Finsternis, weiter und weiter, pflügte durch Querströmungen, schoss durch Algenwälder, schraubte sich durch Wolken aufgewirbelten Schlamms, riss Orkane aus Wirbeln, Fischen, Pflanzen und Schaum hinter sich her; weiter, immer weiter.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (eBook)
9783738940329
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Mai)
Schlagworte
überlebens kometen lennox preis zeitalter
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Titel: Das Zeitalter des Kometen #20: Lennox und der Preis des Überlebens