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Das Zeitalter des Kometen #18: Lennox und der Herr der Erde

©2020 129 Seiten

Zusammenfassung


Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Jacob Blythe sucht einen Weg, seinem großen Ziel näher zu kommen. Er hält sich für den Herrn der Welt, nur weiß der Rest der Menschheit noch nichts davon. Blythe gelingt es, mit Merlin Roots auf dessen Schaufelraddampfer nach Amerika zu gelangen. Aber auch hier gibt es niemanden, der seine Weltherrschaftsphantasien für bare Münze nimmt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Lennox und der Herr der Erde

Copyright

1

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Lennox und der Herr der Erde

Das Zeitalter des Kometen #18

von Jo Zybell

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 129 Taschenbuchseiten.

 

Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …

Jacob Blythe sucht einen Weg, seinem großen Ziel näher zu kommen. Er hält sich für den Herrn der Welt, nur weiß der Rest der Menschheit noch nichts davon. Blythe gelingt es, mit Merlin Roots auf dessen Schaufelraddampfer nach Amerika zu gelangen. Aber auch hier gibt es niemanden, der seine Weltherrschaftsphantasien für bare Münze nimmt.

 

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

© COVER LUDGER OTTEN

© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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1

Kalskroona, Dezember 2516

Plötzlich und unerwartet donnerte und grollte es hinter ihm. Bebte die Erde? Brach das Eis?

Er fuhr herum; alle fuhren sie herum. Ein Schatten flog aus dem Dunst mitten unter sie: groß, weißgrau, pelzig. Ein gewaltiges Tier – es fauchte und brüllte! Er schlug lang hin. Sein Gewehr schlitterte davon. Das Tier stürzte sich auf einen seiner Begleiter. Ein Sprung nur, und die schwarz vermummte, dürre Gestalt versank unter den Pranken der Bestie im Schnee.

Aufstehen! Weg hier!

Und dann Schreie, entsetzliche Schreie!

Sie gellten durch die Morgendämmerung, stachen in seine Trommelfelle, füllten sein Hirn aus.

Weg hier, nur weg!

Er rannte. Wohin? Gleichgültig. Nur weg von diesem Tier, von dieser Bestie, diesem weiß-pelzigen Monstrum! Rennen, rennen – sein Körper schien nie etwas anderes gelernt zu haben.

Er stolperte, stürzte erneut, riss sich an einem Fels die Hand auf. Blut spritzte, der Sender entglitt seiner Hand – egal, nur weg hier! Er sprang wieder auf, rannte weiter. Ins Wasser, durch die Brandung, den Strand entlang, bloß nicht hinauf in die Dünung, wo der Schnee hüfthoch lag! Wo keine schnelle Flucht mehr möglich war, wo er stecken bleiben und eine leichte Beute des Izeekepirs werden würde.

Über die Schulter sah er zurück. Einer seiner Gefährten zappelte im Rachen des Eisbär-Mutanten. Die Bestie schleuderte ihn hin und her. Wie er schrie! Wie er sich in den spitzen Fängen wand! Auf den zweiten schwarz Vermummten hatte sie ihre Vorderpranken gesetzt – er rührte sich nicht mehr.

Seine anderen beiden Begleiter aber rannten hinter ihm. Der letzte, vielleicht dreißig Schritte entfernt, hinkte. Doch er hielt noch sein Gewehr in den Händen – als Einziger!

»Schieß doch!«, brüllte Jacob Blythe. »Schieß, verdammter Hohlkopf!«

Der Vermummte drehte sich um, legte das Gewehr an. Blythe rannte weiter. Dicht hinter sich hörte er den vierten Nosfera keuchen. In weiten Sprüngen spurtete er durch die flache Brandung. Eiskaltes Wasser drang ihm durch die Hosenbeine, spritzte auf Hände und Gesicht. Gleichgültig! Weiter, immer nur weiter!

Warum hörte er nicht endlich den Schuss?

Ladehemmung! Das Gewehr ist nass geworden, oder …

Wieder ein Blick zurück. Fast dreihundert Meter trennten sie jetzt von der Bestie. Sie stemmte sich mit den Vorderläufen in den Schnee, schleuderte ihren stumpfen Schädel hin und her, riss ganze Teile aus dem Leichnam zwischen ihren Fängen und verschlang sie.

Der Nosfera kniete im Wasser, schwankte, zielte auf das Tier, hantierte an seinem Gewehr herum, zielte erneut.

Das Biest wird ihn packen; er ist der Nächste. Nach ihm erst wir … wenn es dann noch Hunger hat …

Jähe Hoffnung loderte in Blythe auf. Sein Verstand begann wieder zu arbeiten. Sein letzter Gefährte hielt sich immer noch dicht hinter ihm. Angst verzerrte sein Mumiengesicht zu einer Fratze des Entsetzens. Angst presste ihm ein Wimmern und Stöhnen aus der Kehle und trieb ihn vorwärts. Er rannte an Blythe vorbei.

In diesem Augenblick hallte ein Schuss durch die Morgendämmerung. Professor Dr. Blythe blickte zurück. Der Schütze lag rücklings in der Brandung. Der Rückstoß hatte ihn umgeworfen. »Idiot! Dämliche Rosinenvisage!«, wütete Blythe.

Der Izeekepir mit seiner Beute in den Fängen warf sich herum, beäugte das schwarze Bündel, das sich in der Brandung wälzte, und schleuderte den zerfetzten Leichnam weit von sich. Donnerndes Gebrüll ertönte. Die Bestie pflügte durch den Schnee, galoppierte durch die Brandung. Wasserfontänen spritzten rechts und links von ihr hoch.

Der Nosfera versuchte sich auf das Gewehr zu stützen, wollte sich aus dem Wasser stemmen. Doch er strauchelte, fiel zurück, versank unter einer Woge, schrie, prustete, ruderte mit beiden Armen. Er war verloren, und er wusste es. Schon war der Pelzgigant über ihm. Er brüllte; seine Reißzähne schlugen in den Hals des Nosfera. Dessen Geschrei erstarb, als seine Knochen brachen.

Schon wieder Zeit gewonnen, dachte Blythe. Vielleicht hat er jetzt genug, vielleicht ist er jetzt satt.

Eine vergebliche Hoffnung. Hätte die Beste nur ihren Hunger stillen wollen, hätten ihr zwei oder drei Menschen gereicht. Sie wollte töten!

Der letzte überlebende Nosfera rannte schon zwanzig Schritte vor ihm durch die Brandung. Eine Idee blitzte in Blythes Hirn auf. Er wandte sich der Küste zu und verließ das Wasser. Das dünne Ufereis brach unter seinen Sohlen. Er erreichte die Schneedecke, versank fast bis zu den Knien.

Hinauf auf die Dünung! Das Tier mochte schnell, stark und unberechenbar sein – aber zwei Fährten auf einmal konnte es nicht verfolgen. Und im Zweifelsfall wurde es die leichtere Beute wählen.

Keuchend erreichte er die Spitze der flachen Schneehügel. Sein Kombi klebte ihm schwer und nass am Körper. Kälte kroch in seine Muskulatur. Wie schwer seine Beine sich anfühlten, fast leblos!

Er sah zurück. Der Eisbär-Mutant war noch immer mit dem Leichnam in der Brandung beschäftigt. Seine Schnauze stieß ins Wasser, riss an der Beute, tauchte mit Fleisch- und Stofffetzen zwischen den Fängen wieder auf.

Und der letzte seiner Begleiter? Vielleicht zweihundert Schritte entfernt stand er. Ja, er stand da und blickte zurück, anstatt weiter zu rennen.

»Lauf doch, Idiot!« Die Chancen standen vielleicht sechzig zu vierzig, dass die Bestie nicht ihn, sondern den schwarz Vermummten verfolgen würde. Doch Blythes Rechnung ging nicht auf: Der Nosfera entdeckte Blythe oberhalb der Schneedünen, und statt weiter entlang der Brandung zu laufen, verließ er das Wasser und stapfte durch den Schnee in seine Richtung.

»Verdammter Hohlkopf!« Alles Gezeter nützte nichts: Die Bestie hob den Kopf, ließ von ihrem letzten Opfer ab und galoppierte durch Brandung und Schnee dem Vermummten hinterher.

»Shit!« Blythe drehte sich um und sprang den Schneehang hinab.

 

 

2

Atlantischer Ozean, 49° Nord, 28° West Oktober 2517

»… ich sehe Schnee, höre, wie er unter Stiefelsohlen knirscht, ich spüre Angst und auch Hoffnung … Er glaubt nicht wirklich an sein Ende …«

Die Frau murmelte leise vor sich hin. Unter den Planken des Kajütenbodens stampfte die Maschine, das Schaufelrad an Steuerbord quietschte, und das Schaufelrad an Backbord knarrte – Merlin musste sich konzentrieren, um jedes Wort zu verstehen. Wenigstens sprach sie einwandfreies Meerakanisch. Satz für Satz tippte er in die Tastatur seines kleinen Computers.

»… jetzt ein Schrei, bei Wudan, was für ein Geschrei! Die Schritte werden schneller. Angst; er sieht Spuren im Schnee, Spuren von Menschen, darunter seine eigenen …«

Die Frau kniete auf Merlins Lager. Die Handflächen gegen Wangen und Schläfen gepresst, bohrte sie die Stirn zwischen ihre Knie. Meistens jedenfalls. Manchmal schnellte ihr Oberkörper nach oben, dann legte sie den Kopf in den Nacken und riss den Mund auf. Manchmal richtete sie sich auch nur halb auf, wiegte ihren Oberkörper wie in Trance hin und her und biss sich auf die Unterlippe.

Das gefiel Merlin, denn es erinnerte ihn an so viele Stunden, in denen er mit ihr geschlafen hatte. Ja, bei solchen Gelegenheiten bewegte sie sich ähnlich, nur trug sie dann keinen weißen Pelz und auch keinen dunkelbraunen Wildlederanzug wie jetzt.

»… er denkt an ein Haus, er rennt und rennt … nein, kein Haus, eine Höhle …« Ihr Rücken wölbte sich, sie zog die Schultern hoch und schüttelte sich. »… nein, auch keine Höhle – ein Bunker, ja, ich sehe unterirdische Räume, Monitore, einen Sarkophag, grüne Kristallsplitter … dort will er hin, in den Bunker …«

Nur eine Holzwand trennte die Telepathin und den Mann, dessen Geist sie belauschte. Merlin hatte dafür gesorgt, dass man seinem rätselhaften Passagier die Nachbarkabine zugewiesen hatte. Jacob Blythes Bett stand direkt an der Wand. Von Zeit zu Zeit, wenn die Telepathin unter der Flut der Bilder und Gedanken verstummte, konnte Merlin den Mann trotz des Maschinenlärms und der Schaufelräder schnarchen hören. Karyaana hatte ihm ein Psychopharmakon ins Bier geträufelt. Das Tor zum Labyrinth seiner Erinnerungen stand weit offen.

Karyaana richtete sich auf. »Da ist ein Mann!«, rief sie. »Blond, groß, jünger als er selbst – er kann fliegen!« Das lange graue Haar klebte ihr in der Stirn, am Hals, in den Mundwinkeln. Ihr bronzefarbenes Gesicht glänzte von Schweiß. Merlin sah, dass ihre Hände zitterten. Den Fremden zu belauschen strengte sie an. Seit fast einer Stunde kniete sie schon hier auf Merlins Koje.

»… er spielt eine wichtige Rolle in seinem Leben; ich glaube, er sucht den jüngeren Mann … und er hasst ihn, abgrundtief …ich sehe, wie er ihn würgt, wie er ihn tritt, auf ihn einprügelt … o Wudan, dieser Hass! Jetzt wacht er auf …«

»Wie heißt der Blonde?«

»Ich konnte es nicht genau erlauschen.« Karyaana lehnte sich mit Schulter und Kopf gegen die Kajütenwand und schloss die Augen. »Locks? Oder Lennox?« Sie war erschöpft.

»Ja, Lennox. Ein Mann, der fliegen kann.« Merlin hörte die Koje in der Nachbarkajüte knarren, dann Schritte, dann öffnete sich eine Tür.

»Ruh dich aus.« Merlin speicherte seinen Text und stand auf. »Ich weiß nicht, wie lange das Mittel noch wirkt.« Er küsste Karyaana auf die Stirn, drückte sie auf die Koje und zog ein Fell über sie. »Wenn er wieder schläft, versuchen wir es noch einmal. Ich will wissen, woher er kommt und wohin er will.« Er ging zur Kajütentür. »Ich schau mal nach ihm.«

Angeblich stammte der Mann von den britanischen Inseln, und angeblich war er auf der Suche nach seinen Kindern, die mit einem Luftkissenboot über den Atlantik nach Westen gefahren waren. Merlin kannte Luftkissenboote nur aus den Datenbanken des Pentagon und der Lokiraaburg. Er neigte dazu, dem Professor zu glauben. Gleichzeitig warnte ihn aber eine innere Stimme, darin allzu eilfertig zu sein. Da war es gut, dass er mit Hilfe Karyaanas und des Neuromorphans dem Fremden in die Karten schauen konnte.

Er schloss die Kajütentür hinter sich und stieg die schmale Stiege zum Außendeck hinauf. Es war kalt, eiskalt. Die Luft roch nach Holzfeuer und Meer.

Ein Mann namens Lennox, der fliegen kann … warum denkt er nicht an seine Kinder, die angeblich Richtung Meeraka unterwegs sind?

Das Quietschen und Knarren der Schaufelräder und das Rauschen des aufgewühlten Wassers waren lauter hier draußen, dafür klang das Stampfen der Maschine gedämpfter. Matter Lichtschein warf den Schatten der oberen Balustrade auf die Stufen. Sie bewegten sich, denn die Öllampen an den Unterständen der vorderen Deckaufbauten pendelten im Wind hin und her.

Die Stufen waren feucht, teilweise sogar mit Raureif überzogen. Merlin hielt sich am kalten Geländer fest, während er hinauf aufs Oberdeck ging.

Der Mann stand an der Reling und pinkelte ins Meer. Er schwankte. Sein weißer Pelz flatterte im Wind. Merlin lehnte gegen die Balustrade und beobachtete ihn.

Blythe drehte sich um, während er die Hose schloss. »Was für ein Gesöff geben Sie ihren Kretins da zu trinken, Roots?« Er raffte den weißen Pelz um seinen dürren Körper zusammen. Die Arme vor der Brust verschränkt, wankte er auf Merlin zu. »Kein Wunder, dass die Burschen in jedes Feuer rennen – ich fühl mich, als hätte ich einen Mahlstrom im Schädel!« Er sprach laut, um sich trotz des Rauschens und Knarrens verständlich zu machen.

»Tut mir Leid, Sir.« Auch Merlin hob die Stimme. »Das Zeug ist gewöhnungsbedürftig. Aber es macht satt, und es betäubt Schmerzen und Kälte. Wir nennen es Bier.«

Der seltsame Mann – er schätzte es, mit »Professor« angesprochen zu werden – blieb vor Merlin stehen. Nur die Balustrade trennte sie. Er hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest. »Bier … nun ja, alles hat sich also nicht verändert«, murmelte er wie zu sich selbst.

Der Wind riss an seinem blonden Haarzöpfchen. Mit linkischen Bewegungen zerrte er die Kapuze des Pelzes über seinen knochigen Schädel, bis ihm der Rachen des Izeekepirs tief in die Stirn rutschte und der ausgestopfte Schädel Merlin anglotzte.

Blythe schwankte wie die Öllampen an den Unterständen. Die Droge, ein Mohn-Derivat mit neuroleptischer Komponente, beeinträchtige auch seine Motorik. Das war der Grund, warum Merlin ihm aufs Oberdeck gefolgt war. Er wollte nicht, dass der Professor über Bord ging. Jedenfalls nicht, bevor er ihm sein Geheimnis entlockt hatte.

»Was treiben Sie eigentlich hier mitten in der Nacht, Roots?« Misstrauisch musterten die durch eine Schilddrüsenüberfunktion hervorquellenden Augen den schwarzen Merlin. »Warum schlafen Sie nicht?«

»Ich hörte Ihre Kajütentür und Ihre Schritte auf der Treppe. Es ist nicht ungefährlich, sich bei Dunkelheit an Deck zu bewegen. Die Planken sind glatt.«

Blythe winkte ab. »Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« Er ging um die Balustrade herum und schob sich an Merlin vorbei auf die Treppe. »Nicht um mich, und so lange ich bei Ihnen bin, auch nicht um sich selbst.« Behutsam tastete er sich am Geländer entlang Stufe um Stufe hinab. »Die Vorsehung hat noch viel vor mit mir, wissen Sie?«

Das war es, was Merlin von Anfang an faszinierte hatte an diesem Mann: diese atemberaubende Selbstsicherheit, diese selbstverständliche und über jeden Zweifel erhabene Art zu reden, sich zu bewegen, seine Umgebung zu taxieren. Das war es, was Merlin sofort beeindruckt hatte, als er ihm zum ersten Mal begegnete. Die Schlächter hatten dem Professor vor etwas weniger als zwei Monaten den Weg zur Lokiraaburg gewiesen, und statt vor Angst zu zittern, wollte er ihren Herrn sprechen und hatte verlangt, dass man ihm die Festung zeigte.

Anfangs dachte Merlin, das unterwürfige Verhalten der Schlächter Blythe gegenüber rührte daher, dass er die gleiche Sprache wie die meerakanische Besatzung der Lokiraaburg sprach. Gut, das mochte eine Rolle spielen – der eigentliche Grund ihrer Ehrfurcht aber war die Aura des Unbedingten, die den Professor umgab: Das überirdische Flackern in seinen Glupschaugen, die Gesten und die Stimme, die Widerspruch nicht einmal denkbar erscheinen ließen.

Merlin vermutete, dass die Schlächter den Professor für einen Sohn der Götter hielten. So wie sie auch ihn und die anderen Meerakaner in der Basis für Göttersöhne hielten. Blythe selbst – daran zweifelte Merlin keinen Augenblick – hielt sich auf alle Fälle für etwas ganz Besonderes. Vielleicht war er das sogar. Vielleicht war er auch einfach nur übergeschnappt. Merlin würde es herausfinden.

Die Hand schon an der Klinke, drehte Blythe sich noch einmal um und sah zu ihm hinauf. »Morgen sind wir eine Woche unterwegs!« Er rief gegen das Rauschen und Rattern an. »Noch vier Wochen bis zum amerikanischen Kontinent, das haben Sie doch gesagt, oder?«

Merlin nickte. »Wenn nichts dazwischen kommt.«

Er wunderte sich einmal mehr, weil Blythe den antiken Namen für Meeraka benutzte. Kein Mensch redete so, schon seit zwei Jahrhunderten nicht mehr. Die ältesten Quellen, die »Amerika«, statt »Meeraka« schrieben, und »amerikanisch« statt »meerakanisch«, stammten aus der Regierungszeit des Präsidenten Christopher Iron Roots. Die ältesten Quellen jedenfalls, die Merlin bekannt waren. Aber als Historiker hatte er einen sehr präzisen Überblick über die Quellenlage.

Blythe am unteren Treppenabsatz schüttelte den Kopf. »Fast vierzig Tage …« Er schüttelte den Kopf. »Fast vierzig Tage, nur um eine Leiche auf die andere Seite des Großen Teiches zu schaffen …« Blythe kicherte und drückte die Tür auf. »Ihr seid mir schon ein ulkiges Völkchen.« Die Tür fiel ins Schloss.

Großer Teich! Auch einer dieser altertümlichen Begriffe, die der Fremde benutzte. Merlin sah hinauf zur Kommandobrücke auf den Deckaufbauten. Licht fiel aus den Fenstern des Ruderhauses. Dort oben hatten sie den Sarg mit der eingefrorenen Leiche befestigt, auf dem Ruderhaus, unter dem Mast mit dem Ausguck.

Natürlich gab es noch andere Gründe für die Reise als nur die Leiche. Sogenannte offizielle Gründe, und – für Merlin – sehr persönliche Gründe. Warum sollte man sie einem Mann auf die Nase binden, von dem man nur wusste, dass er aus Britana kam und nach Meeraka wollte?

Einzelne Schneeflocken schwebten aus dem Nachthimmel; der Wind hatte sich gelegt.

Täuschte Merlin sich oder schaukelte der kleine Dampfer nicht mehr so stark wie vor einer Stunde noch? Er stieg die Treppe hinunter und ging zurück in seine Kajüte.

Karyaana kniete wieder auf der Koje. Die Ellenbogen auf die Oberschenkel und den Kopf zwischen die Hände gestützt, öffnete sie kurz die Augen, als Merlin die Tür hinter sich schloss. »Er ahnt, dass wir ihm etwas in das Bier getan haben«, flüsterte sie. »Er traut dir nicht und glaubt auch nicht, dass wir nur wegen der Toten nach Meeraka fahren.«

»Liegt er wieder im Bett?« Merlin zog eine Zigarre aus dem schwarzen Fellmantel, den er über seiner Thermokombi trug. Ein uralter Mantel, eine Leihgabe seines Vorgängers. Karyaana nickte. Er zündete sich seine Zigarre an, langte nach einer der großen Muscheln im Regal und stellte sie als Aschenbecher neben seinen Rechner. »Was beschäftigt ihn?«

»Der blonde Mann, der fliegen kann. Lennox. Er sucht ihn seit vielen Monaten.«

Merlin setzte sich auf die Bank vor dem Tisch und zog die Tastatur heran. »Seinetwegen will er nach Meeraka. Von wegen Kinder! Rache treibt ihn, sonst nichts. Wie langweilig!« Er blies den Rauch gegen das kaum buchdeckelgroße Display. Sein schwarzes Gesicht wirkte plötzlich hart und ernst. Er schwankte zwischen Enttäuschung und Neugierde.

»Ich glaube, auch alles andere, was er uns erzählt hat, ist gelogen.« Er sah zu Karyaana hinüber. Sie kauerte in den Fellen und lauschte. »Worum kreisen seine Gedanken jetzt?«

»Um einen Mann mit hellem, fast weißen Haar und eine Frau. Sie sieht aus wie eine Frau meines Volkes. Sie war seine Gefangene. Er hatte ihr ein Gerät unter die Haut genäht – ein Gerät, mit dem er ihr Schmerzen zufügten konnte, ohne sie zu berühren, selbst aus großer Entfernung …«

»Der Professor oder der Weißhaarige?«

»Der Professor. In Britana. Der Weißhaarige hat sie befreit. Sie sind nach Kalskroona geflohen, der Herr der Welt hat sie verfolgt. Er hasst auch dieses Paar …«

»Der Herr der Welt?« Merlin hatte sich die Zigarre zwischen die Zähne geklemmt und tippte Karyaanas Worte in seinen mobilen Rechner. »Wer soll das sein?«

»So nennt sich der Professor in Gedanken selbst. Das Paar hat ihn in eine Falle gelockt; ich kann nicht erkennen, in welche … es hängt mit dem Izeekepir zusammen. Jetzt schläft er gleich ein … er springt durch den Schnee … hört seinen Begleiter weit hinter sich schreien und die Bestie brüllen. Er sieht die Konturen der Ruinen über dem Bunker … Jetzt steigt er hinunter… schiebt ein schweres Tor zu …«

 

 

3

Kalskroona, Dezember 2516

Ruhig bleiben, ganz ruhig. Essen, nachdenken, essen, ruhig bleiben, essen! Einen braunen Riegel nach dem anderen schob sich Jacob Blythe in den Mund. Kaum ließ er sich Zeit zum Kauen. Der herbe Brei in Mund und Hals war seine Zuflucht vor dem Scharren und Knurren auf der anderen Seite des Schotts.

Kalter Schweiß klebte ihm auf der Stirn. Er zitterte, sein Herz raste, die dreckigen Leuchten an der Decke verschwammen vor seinen Augen. Genauso die zerstörten Monitore, Tastaturen, Schaltkonsolen, die Möbel, die Metallschränke, das Schott. Er war vollkommen unterzuckert; verdammte Schilddrüse! Sein Stoffwechsel war ein 8-Zylinder-Motor bei durchgetretenem Gaspedal und im Leerlauf. Er hätte drei Steaks und eine Schüssel Himbeerpudding in sich hinein schlingen können.

Ihm war heiß, so unglaublich heiß. Und hinter dem Schott tobte das Pelzvieh. Blythe konnte den Eisbär-Mutanten – oder was auch immer die Bestie sein mochte – nicht sehen, aber er hörte ihn fauchen und knurren, hörte das Schaben seiner Pranken auf dem Metall der Tür und im Beton des Bodens vor der Tür.

Er zog den nächsten Riegel aus der Brusttasche seiner Pilotenkombi, den fünften, und riss das Papier ab.

Seine Gedanken ordneten sich. Er biss in das braune Zeug. Es bestand aus Trockenbeeren, geriebenen Nüssen, Honig und Fett. Fett von Wisaaun, wie sie die Wildschweine in dieser verdrehten Zeit nannten. Seine Handlanger hatten es nach seinen Anweisungen zubereitet, in Riegel gegossen und getrocknet. Seine Handlanger, die Nosfera. Wenn er sich nicht irrte, waren sie tot, alle, hatten sich erschießen oder fressen lassen, diese hirnlosen Blutsauger. Selbst Schuld.

»Was denn, was denn – das kann einen wie mich nicht aus der Bahn werfen, o nein! Nicht mich!«

Er kaute die trockene Kalorienbombe, lauschte, hielt von Zeit zu Zeit inne, um seinem langsamer werdenden Herzschlag zu lauschen und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Nichts und niemand kann mich stoppen! Ich werde dieses Mistvieh in den Orkus jagen! Und ich werde dich finden, Lennox! Ich werde dich finden und erledigen, Commander Timothy Lennox!«

Er hatte die Trümmer von einem der Tische gewischt und hockte nun mit gekreuzten Beinen in Splittern und Staub, vor sich zwei aus vielen Einzelteilen zusammengeflickte Gewehre. Dieser Bunker musste einmal von Leuten bewohnt worden sein, die sich auf Waffentechnik verstanden hatten. Ein halbes Dutzend solcher Eigenbauten hatte er unter dem Gerumpel in Schränken und Stauräumen gefunden. Dazu Munition. Alle hatte er ausprobiert – diese zwei dort vor seinen Knien funktionierten.

Der Eisbär-Mutant brüllte. Es krachte, das Schott zitterte. Wahrscheinlich warf sich das Biest von außen dagegen. »Weißt du nicht, wer ich bin?«, schrie Blythe. »Der Herr der Welt bin ich! Also auch dein Herr! Du wirst es noch kapieren ! Das schwör ich dir!«

Er schluckte die letzten Krümel der Trockennahrung herunter. Jetzt ein Schluck Wasser, o Gott, nur ein einziger Schluck Wasser! Der Spurt, der Stress, und die Unterzuckerung hatten ihn eine Menge Flüssigkeit gekostet. Jetzt ein Schluck Wasser, das wär‘s!

An sich sollte Wasser in dieser Winteridylle mit Bestie und Temperaturen unter Null nicht das Problem sein: Ein paar Meter über ihm lag der Schnee kniehoch, Neuschnee sogar. Ein Feuerzeug steckte in seinem Lederrucksack, eine Blechtasse ebenfalls, und Brennmaterial würde sich finden. Nur: Das blutdurstige Raubtier trennte ihn von der Welt außerhalb des Bunkers. Also auch von Schnee und Eis. Und damit von Flüssigkeit.

»Nicht mehr lange.« Er dachte nach. »Ich finde eine Lösung. Schließlich bin ich Professor Dr. Jacob Blythe, der Herr der Welt!«

Das war der alles entscheidende Punkt, der Schnittpunkt seines geistigen Koordinatensystems, wenn man so wollte: Er war, der er war, und er lebte.

»Und ich werde weiter leben.« Er atmete tief ein und schrie seine Überzeugung hinaus. »Ich werde leben, und du wirst sterben, Mistvieh!«

Drei Tage ohne Flüssigkeit, erträglich für einen normalen Menschen. Zwei Tage die Höchstgrenze für den Herrn der Welt, dessen Schilddrüse kochte, dessen Stoffwechsel wie ein Motor mit Vollgas lief. Höchstens zwei Tage!

»In spätestens achtundvierzig Stunden hab ich Wasser.« Ausgestreckter Arm und Zeigefinger stachen Richtung Schott. »In achtundvierzig Stunden bist du erledigt!«

Er klopfte sämtliche Taschen ab, die seiner schwarzen Lederkutte und die seiner Pilotenkombi. Jeden Nahrungsriegel, den er ertastete, zog er hervor. Dreizehn Riegel häuften sich schließlich zwischen seinen Beinen.

Auch seinen Lederrucksack leerte er aus: Kombiwerkzeuge, ein Instrumentenset, Medikamente, Lampe, Feuerzeug, Blechnapf, und so weiter. Und noch einmal acht Riegel. Machte insgesamt zweiundzwanzig. Damit konnte sein Stoffwechsel drei Tage lang arbeiten, notfalls auch vier. Wenn er Wasser hatte.

»Achtundvierzig Stunden also. Denk nach, Professor, denk ganz ruhig nach …«

Warum nicht den einfachsten Weg? Eine Barrikade aus Trümmern und Tischen vor dem Schott errichten, bis in Brusthöhe etwa, dann den Schalter umlegen, warten bis das Biest seinen Schädel durch den entstehenden Spalt steckte, und – Peng!

Aber langsam, vielleicht gab es noch eine bessere Möglichkeit. Nachdenken, nachdenken, nachdenken.

Die wesentlichen Fakten waren klar: Die Vorsehung hatte ihn dem Rachen dieses Monstrums entrissen, und nichts und niemand würde ihn aufhalten, und noch mindestens siebenundvierzig Stunden Zeit.

An welchem Punkt hatte die Sache begonnen schief zu laufen? Genau an diesem Punkt, das spürte er mit jeder Faser seines aufgepeitschten Körpers, lag der Schlüssel zu einer noch besseren Lösung.

Die Frau.

Diese Schlampe Marrela.

Ihr hatte er das Kombigerät aus Peilsender und Elektroschocker unter die Haut verpflanzt. Der Albino hatte sie befreit. Verfluchter Dieb! In seinem Hubschrauber hatte er das Weib hierher an den Arsch der Welt geflogen!

»Und das Biest spielte verrückt, als ich den Impulsgeber drückte. Warum?« Er starrte auf den Haufen Nahrungsriegel zwischen seinen Schenkeln, als wäre darunter die Antwort verborgen. »Ich drück den Knopf, und das Biest fängt an zu toben …«

Auch jetzt tobte es. Brüllte, warf sich von außen gegen das Schott und bearbeitete das Metall mit Krallen und Zähnen. Es gierte nach ihm.

Blythes Lider verengten sich; die plötzliche Erkenntnis verdunkelte sein Gesicht. Der Albino – er musste dem Pelzvieh die Strompeitsche unter das Fell gesetzt haben!

»Du Mistkerl!«, flüsterte Blythe. »Du hast mich mit meiner eigenen Waffe bekämpft!« Er verfluchte sich, weil er so kopflos geflohen war, und weil er den Impulsgeber unterwegs verloren hatte.

»Kühl bleiben, Professor.« Er sah sich um. »Ganz kühl bleiben. Liegt nicht in jedem Fehler eine Chance?«

Er fingerte sein Kombiwerkzeug aus dem Rucksack und kletterte vom Tisch. Systematisch begann er die Trümmer und Schränke zu durchsuchen, stand sinnierend vor Armaturen und Schaltkonsolen, schraubte Verblendungen von Funkempfängern und alten Rechnern auf.

Stunden vergingen. Das Gebrüll und Gescharre auf der anderen Seite des Schotts hatte nachgelassen. Manchmal presste Blythe sein Ohr gegen das kalte Metall. Dann hörte er die schnaubenden Atemzüge des Tieres. Es wartete. Wartete auf ihn. Auf sein Fleisch, auf sein Blut.

»Warte du nur.« Blythe blickte auf seine Uhr. »In spätestens fünfunddreißig Stunden komme ich hinaus zu dir.«

Auf dem Tisch im Eingangsbereich des Bunkers häuften sich Schaltelemente, Schrauben, Drähte, Einzelteile zweier Mikroskope, Kondensatoren, Magnetspulen, Widerstände, Zielfernrohre und sogar ein fast leerer Trilithium-Kristall. Ein Konglomerat von Möglichkeiten neben den Gewehren und den Nahrungsriegeln. Drei davon schlang Blythe hinunter, bevor er sich an die eigentliche Arbeit machte.

Sechs Stunden später hatte er einen funktionstüchtigen Sender zusammengebaut. Mit ein paar Schrauben befestigte er das Gewirr aus Schaltelementen und Chips in der Verkleidung einer Computermaus. Sein Mund war trocken, der Durst meldete sich. Er widerstand der Versuchung, noch weitere Nahrungsriegel in sich hineinzustopfen.

Das Gerät in der Rechten stellte er sich vor das Schott und lauschte den Atemzügen der Bestie. Schlief sie? O ja, sie schlief tief und fest. Nicht mehr lange!

Er druckte die linke Taste der Maus, um einen elektromagnetischen Impuls auszulösen. Und war enttäuscht, als keinerlei Gebrüll das gleichmäßige Schnauben auf der anderen Seite des Schotts unterbrach. Nicht einmal die Atemfrequenz des Eisbär-Mutanten veränderte sich.

Zurück an den Tisch, weitermachen. Er arbeitete konzentriert, integrierte einen weiteren Chip in die Schaltfläche, verfeinerte den Ampere-Regler, erweiterte die Frequenzwahl. Drei Stunden später der nächste Versuch.

Hinter dem Schott der gleichmäßige Atem des Tieres. Es schlief noch immer. Ideale Versuchsbedingungen. Er stellte sein Gerät auf die niedrigste Impulsstufe und drückte auf die Taste. Das Schnaufen auf der anderen Seite des Schotts verstummte. Knurren und Fauchen erklangen stattdessen.

»Wir kommen uns näher, mein pelziger Untertan!« Blythe kicherte. Hoch mit dem Regler auf Stufe drei und wieder die Taste gedrückt! Das Tier schrie auf. »Recht so! Brüll für den Herrn der Welt, den Genius der neuen Zeit!« Er schob den Regler auf Stufe fünf, die vorletzte Stufe, und hielt die Taste sekundenlang gedrückt. Lautes Brüllen erhob sich; das Schott erbebte unter den Anläufen des zentnerschweren Körpers.

Blythe lachte. »Der erste Schritt wäre getan!« Er kletterte auf seinen Tisch, nahm inmitten von Bauteilen, Okularen, Drähten und Waffen Platz und schälte sich einen Nahrungsriegel aus der Verpackung. Ein Blick auf die Uhr: noch mindestens zweiunddreißig Stunden Zeit.

»Aber warum soll mich der Durst länger quälen? Hab ich das nötig?« Während er aß, traktierte er das Raubtier mit Stromstößen. Draußen vor dem Schott brüllte und fauchte die Bestie. Der Riegel schmeckte so trocken, dass Blythe nur die Hälfte davon herunterwürgte.

Er schob den Regler auf Stufe sechs. In 30-Sekunden-Intervallen drückte er die Taste. Zum Schluss hielt er sie fast eine Minute lang fest. Das Gebrüll draußen vor dem Schott ging erst in jämmerliches Jaulen, dann in Gewimmer, dann in Winseln und Röcheln über.

Blythe ließ sich vom Tisch gleiten und nahm den Sender in die Linke. Mit der Rechten legte er das leichteste und handlichste der Gewehre an. Er wankte, als er zum Schott ging. Ein Weilchen lauschte er noch dem Gewinsel auf der anderen Seite. Es war kaum noch wahrnehmbar. Und das gefiel ihm. Er erhöhte Taktfrequenz und Ampere bis zum Anschlag, drückte aber die Maustaste nicht, sondern öffnete das Schott.

Das matte Licht aus dem Bunker sickerte in die Dunkelheit des großen Vorraums. Betonsäulen, Feuerstellen, Geröll überall. Die Bestie lag an der Leiter unter dem Einstieg. Tageslicht fiel durch den quadratischen Schacht in der Decke auf einen weißen, zuckenden Pelzhaufen.

Gewehr und Impulsgeber auf sie gerichtet, näherte sich Blythe der waidwunden Kreatur. Ihr Schädel lag in einer blutigen Schleimpfütze mit Knochenteilen und Fleischfetzen ihrer letzten Mahlzeit. Die Zunge hing geschwollen und violett zwischen den Reißzähnen, die Augen waren weit aus den Höhlen getreten. Sie hechelte.

»Willkommen im Kreis der Erleuchteten«, höhnte Blythe.

Er ging zurück in den Bunker, stöberte in Stauräumen und Truhen herum, durchwühlte Schränke und Regale. Mit einer Rolle Kupferdraht und einem Knäuel Gummiband kehrte er zu dem Izeekepir zurück. Das Tier verdrehte die Augen nach ihm, zuckte mit den Pranken, versuchte den Schädel zu heben, ließ ihn aber kraftlos in die Pfütze seines Erbrochenen klatschen.

Blythe fesselte Vorder- und Hinterläufe mit Kupferdraht und verschnürte die Schnauze mit dem Gummiband. Mit der Drahtzange seines Kombiwerkzeugs knipste er der Bestie anschließend die Krallenspitzen ihrer Pranken ab. Danach stieg er die Leiter hinauf ins Freie.

Es war inzwischen Nacht geworden. Und kalt war es. Gefrorenes Quecksilber schien ihm durch Kehle und Luftröhre zu sickern, als er tief einatmete. Die Schneefläche zwischen den Ruinen erinnerte ihn an das Rollfeld der Air Base in Berlin Köpenick. Ein halbes Jahrtausend her. Bäuchlings warf er sich in das nasskalte Pulver und aß Schnee.

Stunden später kramte er in dem Wust aus Einzelteilen auf dem Tisch vor dem Schott. Eine Idee krallte sich in sein Hirn. Den Eisbär-Mutanten töten? Sicher, für den Herrn der Welt war das ein Leichtes. Aber er wollte mehr! Viel mehr! Vielleicht lag ja noch ein langer Weg vor ihm. Und vielleicht hatte dieser Schweinehund von Albino sich längst sein Luftkissenboot, die Twilight of the Gods unter den Nagel gerissen, dieser lächerliche Parzival-Verschnitt mit seinem weißen Köter!

»Elender Mistbock!« Blythe hasste ihn. Zu gern hätte er seinen Namen gewusst.

»Wenn du mein Schiff anrührst, wenn du es wagst …«

Vor ihm lagen die Einzelteile der Mikroskope und des Feldstechers – Fassungen, Linsen, Objektive. Jede Linse probierte er aus, kombinierte einzelne Gläser miteinander, sah hindurch. Dabei trat er jedes Mal ein paar Schritte vom Tisch zurück bis in den Vorraum mit den Betonsäulen hinaus und richtete sein Glas auf den Haufen der elf verbliebenen Nahrungsriegel. Nach vielen Versuchen war er endlich zufrieden: Die Nahrungsriegel auf dem Tisch türmten sich vor seinem Auge auf wie ein Gebirge aus braunem Fels.

»Perfekt!«

Die Bestie an der Leiter unter dem Einstieg knurrte schon wieder. Knurrte, fauchte, warf den Schädel hin und her und versuchte sich auf den Rücken zu wälzen. Blythe setzte die Linsenkombination ab und richtete den Impulsgeber auf das Tier. »Du wirst die Welt mit neuen Augen sehen!« Er drückte auf die Taste, der Pelzhaufen bebte, winselte, bäumte sich auf.

»Mit einem neuen Auge, um es präziser auszudrücken!«

Er schloss das Schott, schob in einer Ecke ein paar Decken und Felle zusammen, die er im Vorraum gefunden hatte, und schlief etwa drei Stunden lang. Anschließend holte er Schnee von der Erdoberfläche und sah sich im Vorraum um. Er fand ein Gefäß mit getrockneten Beeren und unter Eisbrocken in einem Erdloch einen Korb voller gefrorener Fische.

»Prächtig, prächtig!« Er lachte meckernd, während er seinen Fund in den Bunker schleppte. »Wie einst um Elia, kümmert sich der Engel des Herrn um mich! Wie einst Mose und die Kinder Israel verpflegen die himmlischen Heerscharen den Herrn der Welt!« Auf der Schwelle des Schotts wandte er sich nach dem gebrochenen Tier um.

»Und du sollst der feurige Streitwagen sein, auf dem ich durch Wüste und Meer presche!« Er breitete ein paar Fische auf der zerstörten Instrumentenkonsole aus, um sie aufzutauen. Dann schmolz er Schnee, aß drei Riegel Trockennahrung und trank Wasser. Danach wickelte er die Linse in einen Lederfetzen, schnitt auf beiden Seiten ein kreisrundes Lederstück heraus, so dass über eine uhrglasgroße Fläche kein Leder mehr die Linse bedeckte. Zum Schluss kramte er einen starken Nylonfaden und eine chirurgische Nadel aus seinem Rucksack. Damit nähte er das kleine Lederkissen über das rechte Auge des Izeekepirs.

Er musste der Mutation ein paar Mal die Höchstdosis an Strom geben, um ihn ruhig zu halten. Ganz zuletzt stach er dem Tier das linke Auge aus. Es winselte erbärmlich, war aber viel zu geschwächt, um nennenswerten Widerstand leisten zu können.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (eBook)
9783738939699
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
erde herr kometen lennox zeitalter
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Titel: Das Zeitalter des Kometen #18: Lennox und der Herr der Erde