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Das Zeitalter des Kometen #17: Lennox und die Mission im Orbit

©2020 259 Seiten

Zusammenfassung


Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.
In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …
Die letzten Tage der ISS vor dem Einschlag des Kometen Alexander-Jonathan werden zu einem blindwütigen Krieg der Besatzungsmitglieder. Jeder glaubt, ein Patentrezept zum Überleben zu haben. Der letzte Überlebende hinterlässt genaue Aufzeichnungen. Tim Lennox wird vom WCA mit einer kleinen Mannschaft in einem Space Shuttle zur Raumstation geschickt und trifft dort nicht nur auf die traurigen Überreste der verstorbenen Besatzung. Ein heimtückischer Feind hat sich hier ausgebreitet und kennt keine Gnade.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

Lennox und die Mission im Orbit

Copyright

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Lennox und die Mission im Orbit

Das Zeitalter des Kometen #17

von Jo Zybell

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 259 Taschenbuchseiten.

 

Eine kosmische Katastrophe hat die Erde heimgesucht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie einmal war. Die Überlebenden müssen um ihre Existenz kämpfen, bizarre Geschöpfe sind durch die Launen der Evolution entstanden oder von den Sternen gekommen, und das dunkle Zeitalter hat begonnen.

In dieser finsteren Zukunft bricht Timothy Lennox zu einer Odyssee auf …

Die letzten Tage der ISS vor dem Einschlag des Kometen Alexander-Jonathan werden zu einem blindwütigen Krieg der Besatzungsmitglieder. Jeder glaubt, ein Patentrezept zum Überleben zu haben. Der letzte Überlebende hinterlässt genaue Aufzeichnungen. Tim Lennox wird vom WCA mit einer kleinen Mannschaft in einem Space Shuttle zur Raumstation geschickt und trifft dort nicht nur auf die traurigen Überreste der verstorbenen Besatzung. Ein heimtückischer Feind hat sich hier ausgebreitet und kennt keine Gnade.

 

 

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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1

Internationale Raumstation (ISS), 7. Dezember 2011

Auf dem Monitor räumte der diensthabende Ingenieur seinen Sessel. Der Mann verschwand hinter dem rechten Bildrand. Dafür erschien das Gesicht Henry Ikemans, Chef des Kontrollzentrums der NASA.

»Ich – Ich habe Sie nicht verstanden, Commander Bernstein«, sagte er. »Wiederholen Sie – kommen.« Schmal waren die Augen des Astrophysikers.

Hundert Falten furchten seine Stirn, und eine einzelne stand zwischen den grauen Brauen; eine tiefe, steile.

Sean Bernstein senkte den Kopf und blickte auf den Papierbogen zwischen seinen Händen, die schwerelos über den Schenkeln hingen. Er selbst schwebte über einem im Boden verankerten Sitzgestell, auf dem er sich festgegurtet hatte.

»Kontrollzentrum an ISS, bitte wiederholen Sie! Kommen!« Professor Ikemans sonst so gönnerhafte Stimme klang förmlich, ja harsch.

Bernstein blickte zur Seite, zu seinen Kameraden vor dem Modulschott. Winter hielt sich an den Wandgriffen fest, um nicht in den Bereich der Kamera zu geraten. Taurentbeque hing mit gespreizten Beinen im runden Eingangsrahmen des Schotts. Sein linker Arm umklammerte Marsha, und seine Rechte drückte ihr ein Kombimesser gegen die Kehle.

Bernstein wandte sich wieder dem Monitor zu. »Commander Bernstein an Kontrollzentrum, ich wiederhole: Brechen Sie den Countdown für Atlantis II ab, wir wollen nicht abgelöst werden.«

Ikemans Augen wurden noch schmaler. Er neigte den Kopf und drehte ihn gleichzeitig ein wenig zur Seite. Als würde er seinen Augen nicht ganz trauen; oder seinen Ohren. Sein Gesicht näherte sich dem Objektiv der Kamera, bis es den Monitor fast ganz ausfüllte. »Geht‘s dir gut, Sean?« Der Professor sprach jetzt sehr leise und mit belegter Stimme.

Bernstein wich seinem Blick aus. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Taurentbeque Marshas Kopf gegen seine Schulter zog. Die schwarze Haut ihrer Kehle wölbte sich entlang der Klinge. Mund und Augen weit aufgerissen, starrte sie ihn an.

Die Worte auf dem Papier in seiner Hand verschwammen; er atmete tief durch und las zum dritten Mal vor: »Commander Bernstein und Team an Houston: Wir lehnen eine Ablösung vor dem 8. Februar 2012 ab. Unterbrechen Sie den Countdown von Atlantis II. Ende.«

Winter zischte irgendetwas. Mit herrischer Geste bedeutete er ihm, die Verbindung zu unterbrechen. Bernstein gehorchte. Kaum hatte sich das Bild aufgelöst, schrie er los: »Ihr seid ja komplett übergeschnappt!« Er verbarg das Gesicht in seinen Händen. Der Schock saß ihm in allen Knochen. »Das ist Fahnenflucht! Dafür werdet ihr euch vor Gericht verantworten müssen!« Er wusste kaum, was er redete.

Der Deutsche stieß ein bitteres Lachen aus.

»Ich fürchte, es wird keine Gerichte mehr geben, wenn wir im Februar dort unten landen.« Mit einer Kopfbewegung wies er zum Fenster über der Instrumentenwand. »Falls wir überhaupt je wieder dort unten landen können.«

Von der Mitte des oberen Fensterrandes bis zur rechten unteren Ecke zog sich der leicht gekrümmte Horizont der Erde. Sternengefunkel im schwarzen All und die strahlende Mondsichel füllten den größeren Teil des Fensters aus. Die Erdscheibe selbst war dunkel. Seit einer halben Stunde etwa flog die ISS über die Nachtseite des Heimatplaneten.

»Fahnenflucht?« Louis Taurentbeque lachte bitter. »Wir sind keine Soldaten wie ihr beide, Sean – wir sind Wissenschaftler.« Er nahm das Messer von Marshas Kehle. »Keine Militärhierarchie der Welt kann uns zwingen, einen Befehl auszuführen, der uns das Leben kostet.«

»Idiot! Was redest du für einen Bullshit!« Marsha Hunt keuchte und rieb sich den Hals.

»Du hast den Vertrag unterschrieben! Außerdem ist das Transhab-Modul amerikanisches Territorium. Und nach amerikanischem Recht habt ihr eine Meuterei angezettelt …«

»Hör doch auf!« Taurentbeque gab ihr einen Stoß. Über Bernsteins Kopf hinweg trudelte Marsha gegen die Schlafnischen auf der gegenüberliegenden Modulwand. »Unser Leben ist wichtiger als irgendein Gesetz irgendeines Staates!« Der Franzose wurde weder laut, noch klang seine Stimme besonders feindselig.

»Wenn das in eure sturen Soldatenhirne nicht reingeht – euer Problem! Wir haben lange genug versucht, vernünftig mit euch zu reden.«

Bernstein nahm die Hände vom Gesicht.

»Niemals hätte ich euch zugetraut, dass ihr so weit geht, niemals …«

»Betrachte es als Ausnahmezustand«, sagte Winter. »Ein Staat nach dem anderen ruft da unten den Ausnahmezustand aus. Sogar in Europa geht es jetzt schon los.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben auch den Ausnahmezustand ausgerufen, weiter nichts.«

»Ausnahmezustand«, brummte Taurentbeque.

»Gute Idee.«

»Kommt zur Vernunft, Lou.« Der Commander schnallte sich los. »Es reicht, wenn dort unten alles drunter und drüber geht.« Er zeigte auf die Erde. Inzwischen füllte sie mehr als die Hälfte des Fensters aus. »Wir müssen am Zweiundzwanzigsten zurückkehren …«

Er stieß sich ab und landete so nahe vor den beiden Wissenschaftsastronauten, dass er Winters Parfümgeruch –Sandelholz – riechen und die feinen Schweißperlen auf Taurentbeques‘ Stirn erkennen konnte.

»Und wollt ihr in so einer Situation wirklich eure Familien allein lassen?« Er schüttelte den Kopf. »Es könnte das letzte Weihnachtsfest sein, bedenkt doch! Ich jedenfalls werde bei meinen Kindern sein! Zu Weihnachten, und wenn es so weit ist, sowieso!« Bernstein hatte drei Kinder zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Seit sechs Jahren war er Witwer. »Wir müssen zurückkehren, kommt zur Vernunft!«

»Wer freiwillig auf ein sinkendes Schiff zurückgeht, den nenne ich nicht vernünftig.« Hagen Winter drängte sich an Bernstein vorbei. »Den nenne ich verrückt.« Ein Schritt, und er landete neben Marsha vor den Schlafmulden.

»Sei kein Narr, Sean.« Auge in Auge schwebten sich Bernstein und Taurentbeque gegenüber. »Mach mit. Wenn nicht, werde ich dich zwingen. Glaub mir: Ich werde dich zwingen.«

Commander Bernstein musterte den französischen Biologen. Dessen graublaue Augen unter den buschigen blonden Brauen hielten seinem Blick stand. Gelassen, fast ein wenig belustigt wirkten sie.

Taurentbeque war breiter als er selbst und fast einen halben Kopf größer. Ein netter Kerl eigentlich; mit sonnigem Gemüt in der Regel und manchmal etwas abgründigem Humor. Niemals hätte Bernstein eine Neigung zur Gewalttätigkeit hinter der sympathischen Fassade vermutet. Aber der Komet schien selbst angenehme und ausgeglichene Charaktere zu deformieren.

Natürlich wussten sie alle Bescheid. Auch die vier anderen im Zwezda-Modul. Hier oben konnte man jeden Sender empfangen und war zudem unabhängig von Sprachregelungen und Informationspolitik – die ISS verfügte über leistungsstarke Rechner und über eine Verbindung zum Weltraumteleskop Hubble H.

 

 

2

Hagen Winter war Astrophysiker. Einer der besten Europas, sonst hätte er das strenge Auswahlverfahren der NASA nicht durchgestanden. Seine Messergebnisse – von der russischen Crew zweimal überprüft – ließen keinen Zweifel: Am 8. Februar 2012 würde der Komet »Alexander-Jonathan« die Erde rammen.

Dort unten, auf der Oberfläche jener dunklen Scheibe mochte man sich noch mit Rechenspielchen und Glauben an Wunder trösten: eine Wahrscheinlichkeit von knapp zwanzig Prozent, dass er vorbei fliegt; vielleicht ändert er ja doch noch seinen Kurs; vielleicht hat man bei den Berechnungen irgendetwas übersehen, und so weiter. Hier oben glaubte niemand an derartige Trostpflästerchen.

»Gib dir keine Mühe, Sean. Lou meint, was er sagt. Er hat keine Familie dort unten.« Bernstein drehte sich um. Marsha Hunt – eine zartgliedrige Afroamerikanerin, Kommunikations-Technikerin und Pilotin der US Air Force im Rang eines Captains – funkelte den Deutschen an. »Und wenn ich mir Hagen so anschaue, glaube ich kaum, dass es auf der Erde jemanden gibt, der ihn sich zurück wünscht …«

Eine blitzschnelle Bewegung – und der Deutsche umklammerte ihren Körper mit beiden Beinen. Bernstein stieß sich ab, um ihr zur Hilfe zu kommen. Doch Taurentbeque hielt ihn am Shirt fest, und einen Moment später spürte er die Klinge an seinem Hals. »Bleib cool, Sean! Bleib ganz cool!«

Anders als Winter hatte Marsha eine Nahkampfausbildung genossen. Dennoch konnte sie dem bulligen Deutschen mit den auffallend kräftigen Händen und dem langen schwarzen Haar nicht allzu viel entgegensetzen. Er drückte sie in die mittlere Schlafmulde und gurtete sie dort fest.

»Keine Sorge, Sean«, keuchte er. »Wir tun ihr nichts – so lange du spurst.«

»Ihr … ihr Mistkerle!«

Jeder an Bord kannte Sean Bernsteins schwache Stelle: Marsha.

Wochenlang auf engstem Raum zusammenleben und arbeiten – da konnte man einander nichts vormachen. Voll ohnmächtiger Wut musste der Kommandant mit ansehen, wie Winter auf der bewegungsunfähigen Frau kniete und seine rechte Schulter dabei gegen die obere Kante der Schlafmulde presste.

Er fesselte Marsha Hunt mit einer Nylonschnur. Danach löste er die Schlafgurte, zog Marsha aus der Mulde und dann an Bernstein vorbei ins Schott. Der Commander wollte nach dem Ärmel von Marshas orangener Bluse greifen, doch Taurentbeque schob sich vor ihn.

Bernstein verfluchte den Umstand, dass die einzige Handfeuerwaffe an Bord im Kibo versteckt war, dem japanischen Labormodul. Nur er kannte das Geheimfach im mittleren Laborschrank, er und Ragojew, der Kommandant des russisch-japanischen Teams.

Seine Gedanken kreisten um das zweite Team, um die Waffe und um die Rettungsfähre, während sich das Schott hinter Winter und der geliebten Frau schloss. »Wohin bringt er sie?«

»Mach dir keine Gedanken, Sean. Ihr wird nichts geschehen.« Der Franzose sprach, als müsste er einen in Panik Geratenen beruhigen: begütigend und leise. »Hagen hält sie fest, bis wir wissen, wie Houston reagiert. Wir wollen verhindern, dass du dich heimlich mit Ikeman in Verbindung setzt. Wenn du …«

Ein akustisches Signal unterbrach Taurentbeque. Er steckte das Messer ein und schob Bernstein zur Gerätekonsole. Jemand meldete sich jemand über Bordfunk. Der Commander berührte eine Taste. Er wunderte sich, dass der Franzose ihn gewähren ließ. Ein kleiner Monitor flammte auf; Sergej Jarnyszins stoppelbärtiges Gesicht erschien.

»Guten Morgen, Sean.« Jarnyszin trug eine große Hornbrille mit schwarzem Rahmen. Sein kahler Schädel glänzte. Anders als sein Gesicht rasierte er ihn jeden Morgen. »Wir sind so weit. In einer halben Stunde im Columbus-Modul; sagst du Lou Bescheid?«

Das Columbus-Modul war das europäische Labor und Dr. Sergej Jarnyszin – Biochemiker und Spezialist für Mikrobiologie – der Chef-Wissenschaftler der russischen Crew. Er runzelte die Stirn. »Du guckst, als hättest du zum Frühstück versehentlich das Besteck mitgegessen.«

Sean Bernsteins Blick flog zwischen Taurentbeque und dem Monitor hin und her. Der Franzose stand nur da und belauerte ihn. Er machte keine Anstalten, die Kommunikation mit dem russischen Modul abzubrechen oder zu beeinflussen. Und der Russe…

Ein böser Verdacht beschlich den Commander.

»Meuterei, Serge. Lou und Hagen wollen nicht zurückfliegen…« Er berichtete, was vorgefallen war. Der Russe hörte zu und verzog keine Miene. »Sie wollen Houston zwingen, den Countdown für Atlantis II abzubrechen.«

»Das gehört nicht zu meinem Verantwortungsbereich«, sagte Jarnyszin schließlich. »Warte einen Augenblick. Ich wecke Anatol. Er hat sich eben in die Schlafmulde verzogen.«

Jarnyszin schob sich aus dem Kamerabereich. Ein paar Minuten verstrichen. Sean Bernstein starrte auf den Bildschirm: ein leerer Sitz, dahinter ein stationäres Fahrrad mit einem gewaltigen Armaturenkasten auf dem Lenker, wie sie es auch hier im amerikanischen Wohnmodul zum Muskeltraining benutzten; und vor dem Muskeltrainer der mehr als mannshohe Kunststoffquader, der die Elektrolyse-Apparatur für die Wasserspaltung enthielt. Und die ganze Zeit Taurentbeques lauernder Blick von der Seite.

Endlich tauchte ein Mittdreißiger mit blondem Bürstenhaarschnitt und quadratischem Schädel im Bildschirmbereich auf – Oberstleutnant Anatol Ragojew, der militärische Leiter des russisch-japanischen Teams. Zusammen mit dem Japaner Taro Yakumori und dem Deutschen Hagen Winter hatte er seine Dienstschicht vor einer Stunde beendet. An Bord der ISS war Ragojew Commander Bernsteins Stellvertreter.

Der russische Offizier griff nach den Armlehnen und zog sich auf den leeren Sessel hinunter. Sein Gesicht war müde und vollkommen ausdruckslos.

»Was soll das, Anatol?«, blaffte Bernstein den Russen an.

»Ich weiß Bescheid«, sagte der. »Houston hat sich über unsere Bodenstation mit uns in Verbindung gesetzt. Ich hab Anweisung, mich nicht einzumischen.«

»Was hast du?« So ruckartig bewegte sich Bernstein, dass er fast bis zu den Beleuchtungsleisten hinaufschwebte. Er erwischte einen der vielen Wandbügel und hielt sich fest. »Ihr steckt alle unter einer Decke, ihr Mistkerle!«

Ragojews Miene blieb ausdruckslos. »Unsere Ablösung steht erst im April nächsten Jahres an. Ich habe Order, die Sache als ein amerikanisches Problem zu betrachten. In einer halben Stunde sind Serge und Oshi im Columbus-Modul. Die Pilzkulturen warten.« Der Bildschirm wurde schwarz.

Bernstein schnaubte. Mit der flachen Hand schlug er auf die Fläche neben der Tastatur.

»Ihr habt euch abgesprochen«, zischte er. »Im Zwezda-Modul wussten sie schon Bescheid, bevor Houston sie informiert hat.« Wut trieb ihm das Blut ins Gesicht. »Eine gottverdammte Meuterei ist das!«

Auf der Fensterfläche füllte die Erde inzwischen den gesamten Bildschirm aus. Von rechts schob sich eine schmale Lichtsichel in die dunkle Scheibe. Die Sonne ging auf. Nichts Besonderes hier oben, alle anderthalb Stunden tat sie das.

Taurentbeque lächelte. Fast sah es aus, als hätte er Mitleid mit seinem Kommandanten.

»Glaubst du im Ernst, wir würden so ein Unternehmen starten, ohne uns Rückdeckung zu verschaffen, Sean?«

 

 

3

Cape Canaveral, ehem. US-Bundesstaat Florida, Dezember 2517

Kopfschmerzen. Morgens, mittags, abends Kopfschmerzen.

In letzter Zeit weckten ihn die Schmerzen sogar mitten in der Nacht. Sie vergällten ihm das Leben. Das Essen, das Dach über dem Kopf, das leidlich warme Bett, den Anblick dieser leckeren Offizierin – alles vergällten ihm diese verdammten Schmerzen.

Nur das schöne schwarzweiße Gerät nicht, an dem er seit Wochen herumbastelte; den herrlichen Metallvogel, den er zum Fliegen bringen würde. Wie ein Schmerzmittel wirkte der Vogel auf ihn.

Philipp Hollyday strich sich das lange Haar aus der Stirn und betrachtete das vordere Fahrgestell. Äußerlich wies das Material keinerlei Defekt auf. Seine Hände glitten über den Teleskop-Stoßdämpfer und über den Reifen. Nichts zu finden, was ihn beunruhigen müsste.

Merkwürdig – immer wenn er an dem Fluggerät arbeitete, waren die Kopfschmerzen wie weggeblasen. Immer wenn Phil Hollyday sich selbst vergaß und dem zweiten Ich in seinem Hirn das Kommando überließ. Diesem verdammten implantierten Gedächtnis. Er nannte dieses zweite Ich »Mac«.

Das Geräusch seiner Schritte verlor sich in der Halle. Eine Halle, so groß, dass er die Gesichter der Posten an den Innenschotten nicht erkennen konnte. Und von der lautstarken Auseinandersetzung zwischen Melanie und den beiden Posten am Außenschott, oben auf der Rampe, verstand er kein Wort. Melanie!

So sprach er sie nur in Gedanken an. Wenn er mit ihr redete – das ließ sich glücklicherweise nicht vermeiden –, nannte er sie selbstverständlich »Captain Chambers«. Und sie nannte ihn »Professor Mulroney«.

Nur einmal hatte sie »Dave« zu ihm gesagt.

Nachdem er ihr die Geheimnisse der Kommandokapsel erklärt hatte. Die Geheimnisse, die er selbst nicht begriff. Aber Mac begriff sie. Jedenfalls war es das erste Mal, dass sie allein miteinander gewesen waren, Melanie und er. Danke, Dave, hatte sie gesagt, als sie nebeneinander das prächtige Fluggerät verlassen hatten und die Gangway in die Halle hinunter gestiegen waren. Danke, Dave.

Direkt glücklich war er darüber nicht gewesen. Nein – glücklich würde er sein, wenn sie ihn eines Tages »Phil« nannte. Aber der Tag würde nicht kommen. Wenn sie oder irgendjemand hier in den Überresten von Cape Canaveral erfuhr, dass er nicht der war, für den er sich ausgab, sondern ein Rebell, würde er den Anblick dieser reizenden Weltrat-Agentin mit dem rotbraunen Haar nicht einmal mehr von Weitem genießen können.

Phil Hollyday schritt langsam um sein vollendetes Werk herum. Oder nein, eigentlich nicht um sein Werk – um das Werk des Anderen, dessen Stimme ihm ständig zwischen seine eigenen Gedanken funkte. Worte, die er nicht dachte; Worte, die ihm niemals über die Lippen gekommen wären; Worte manchmal, deren Sinn er nicht verstand. Es gab Zeiten, da blubberten sie ihm praktisch ununterbrochen aus sämtlichen Hirnwindungen. Und wenn er sich dagegen zur Wehr setzte, wenn er Platz schaffen wollte für seine eigenen Gedanken und Worte: Kopfschmerzen. Es war zum Heulen.

Jetzt zum Beispiel: Er lief um das Fluggerät herum – die Stimme nannte es »Raumfähre« und »Prototyp« – und Mac, diese Nervensäge, raunte: Sie bringt dich um den Verstand, hab ich Recht?

»Leck mich«, zischte Hollyday. Und prompt: Kopfschmerzen.

Sei froh, dass du mich hast. Wenn dein Verstand flöten geht, hast du immer noch meinen. Mir gefällt sie nämlich nicht.

Hollyday ballte die Fäuste und stampfte auf den Hallenboden auf. »Leck mich am Arsch, Mac!« Rasende Kopfschmerzen.

»Is was, Doc?«

Hollyday blickte nach oben. Diese Stimme stammte nicht aus seinem Schädel, sie kam von der Plattform auf der Gangway über ihm. Dort, vor der Luke zum Cockpit der Raumfähre hockte ein Sergeant hinter einem schweren Maschinengewehr. Ein unflätiger schwarzer Bursche, der ständig auf einer Zigarre herumkaute oder sich während eines Gesprächs ungeniert im Schritt kratzte. Sogar wenn Melanie dabei war. »Waranty« hieß er, oder »Laramy«?

Für den Burschen da oben immer noch »Professor Mulroney«, sagte die Stimme in seinem Hirn.

»Für Sie immer noch Professor Mulroney!«, blaffte Hollyday zur Gangway hinauf. Die Kopfschmerzen ließen augenblicklich nach.

»Sorry.« Der MG-Schütze über ihm nahm die Zigarre aus dem Mund grinste verlegen.

»Stimmt irgendwas nicht, Professor?«

Hollyday verkniff sich einen Fluch. Manchmal bereute er bitter, sich auf diesen Job eingelassen zu haben. Sicher: Die machtgeilen Vertreter des Weltrats hatten seine Familie auf dem Gewissen. Sicher: Der Kampf gegen den Weltrat war ihm zum Lebensinhalt geworden, und er würde keinen Augenblick zögern, sich selbst zu opfern, wenn er diese Krake tödlich treffen konnte. Aber sich dafür gleich eine fremde Persönlichkeit ins Hirn setzen lassen?

Hollyday seufzte, zog sich die Brille von der Nase – Fensterglas, denn er war nicht kurzsichtig wie der echte Mulroney – und putzte sie mit dem Saum des Leinenhemds, der ihm aus der Hose hing.

Niemals werden die Running Men dir das vergessen, hatte Mr. Darker zu ihm gesagt. Wenn wir den Weltrat erledigt haben – und wir werden ihn erledigen – dann wird dein Name in den Geschichtsbüchern stehen. Genau das hatte der Rebellenchef gesagt.

Hollyday trat gegen den rechten Reifen des hinteren Fahrwerks. »Leck mich, ich hätt‘s nicht tun sollen.« Er setzte die Brille auf und blickte zurück und zur Gangway hinauf. Der schwarze Rüpel hinter dem Maschinengewehr hatte nichts gehört. Jedenfalls tat er so. Die Kopfschmerzen wurden wieder heftiger.

Niemand hat dich gezwungen, sagte die Stimme in seinem Kopf. Wahrscheinlich warst du einfach zu blöd, um die Folgen auch nur annähernd einschätzen zu können. Kein vernünftiger Mensch lässt sich freiwillig das Bewusstsein eines Anderen einpflanzen!

»Gib endlich Ruhe, Mac.« Vielleicht hatte die Stimme Recht, vielleicht auch nicht … Natürlich hab ich Recht!

Schon wieder diese verdammten Kopfschmerzen! Hollyday ging zum zweiten Rad des hinteren Fahrwerks. Er dachte an die Stunde, in der das Wasservieh zwischen ihm und Mac gesessen hatte, der sogenannte Fischartige. Unter Dr. Ryans Leitung hatte das Monster Macs Bewusstsein in sein Gehirn übertragen – Hollyday wusste nicht, wie. Jedenfalls lief er jetzt mit zwei Bewusstseinsinhalten herum. Mit seinem eigenen und mit der Erinnerung, der Biografie, dem Wissen und dem Gefühlsleben eines Mannes, der verflucht klug war, der alles Unmögliche wusste, und der zu allem Überfluss auch noch aus einer anderen Zeit stammte. Absurd, völlig absurd! Konnte es sein, dass er das alles einfach nur träumte?

Nun gut, Schwamm drüber. Er hatte sich darauf eingelassen und basta. Es gab keinen Weg zurück.

Hollyday ging in die Hocke und begutachtete das zweite Rad des hinteren Fahrwerks.

Während der Simulation hatte ein rotes Kontroll-Licht auf der Armaturenkonsole eine Störung signalisiert.

Die Hydraulikpumpe, schätze ich, sagte Macs Stimme in seinem Schädel. Vielleicht auch einfach Materialermüdung. Vergiss nicht, dass der Vogel über fünfhundert Jahre alt ist. Wir sollten noch einmal das Check-up-Programm starten.

Hollyday nickte. Die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Er stand auf und setzte seinen Kontrollgang fort.

Komisch; auch während der Simulation – einen echten Flug konnte er ohne Piloten nicht durchführen – hatte er seine Kopfschmerzen vergessen. Überhaupt: Immer wenn er sich ganz auf Mac in seinem Schädel einließ, ging es ihm gut. Vielleicht sollte er seine eigene Identität einfach aufgeben. Warum eigentlich nicht?

Melanie würde es vermutlich gefallen. Melanie …

Er fragte sich sowieso, wie er Mac je wieder loswerden sollte. Darüber hatten sie nie geredet, damals, als Mr. Darker und Dr. Ryan ihn gefragt hatte. Und wer wusste denn, ob Dr. Ryan überhaupt noch am Leben war? Ganze sieben Nasen zählten die Running Men noch! Mit ihm, Hollyday, acht.

Acht Rebellen gegen den Weltrat. Scheiß Spiel!

Nach der Inspektion wollte er die Gangway hinaufsteigen. Eine Menge Arbeit am Bordcomputer wartete auf ihn. Oder nein, nicht auf ihn – auf Mac. »Auf Mac oder mich halt«, Hollyday winkte ab. »Ach, scheiß drauf!«

Von oben grinste ihm der Afro entgegen. Der Rauch seiner Zigarre stieg dem Hallendach entgegen. Präsident Hymes, der persönlich nach Cape Canaveral gekommen war, um die Instandsetzung zu überwachen, hatte strengste Order gegeben, den Prototypen rund um die Uhr zu bewachen.

Hauptsächlich wegen der »Söhne des Himmels«. Ständig hatten diese Sektierer, die Cape Canaveral Jahrhunderte lang gehütet hatten, bis der Weltrat sie vertrieb, angegriffen.

Bis Hollyday sich mit einem Boten der Himmelssöhne heimlich getroffen und es ihnen verboten hatte. Er konnte das. Diese durchgeknallten Barbaren hielten ihn nämlich für eine Art Gott. Wirklich wahr. Aber das war eine andere Geschichte.

Das Laser-Phasen-Gewehr, das der Afro hielt, zeigte auf ihn. Ein blödes Gefühl. »Professor Mulroney!« Er blieb stehen und lauschte. Eine Frauenstimme echote aus allen Ecken der Riesenhalle. Hollyday drehte sich um. »Dave! Kommen Sie, schnell!« Oben an der Rampe winkte Melanie. Ihm wurde warm ums Herz.

Süße Melanie!

Süße Feindin, funkte Mac dazwischen. Während Hollyday die schmale Stiege neben der Rampe hinaufkletterte, sah er die Gestalt der Offizierin durch das offene Schott nach draußen huschen.

Die schwerbewaffneten Wachen am Außenschott grüßten ihn respektvoll. Hollyday trat ins Freie. Feuchtwarme Luft schlug ihm entgegen. In Waashton war es kälter um diese Jahreszeit, wesentlich kälter sogar. Das Klima in Floydaa – Mac nannte das Land »Florida« – machte Hollyday nichts aus. Seine Leute, die Pales, hausten in den Sumpfwäldern dieser Gegend. Er war gewissermaßen hier groß geworden.

Melanie stand zehn Schritte vor dem Schott auf der Startbahn. Himmel, was war das für eine Schufterei gewesen, bis sie die Piste wieder in einen brauchbaren Zustand gebracht hatten! Wochen und Monate hatten sie gerodet und Löcher geflickt! Die Raumfähre würde starten und landen wie ein Flugzeug – behauptete Mac.

Mit einem Feldstecher beobachtete Melanie Chambers den Himmel. Eine hochgewachsene Frau mit langen rotbraunen Locken und schmalem Gesicht. Jede ihrer Bewegungen, jedes Wort, jeder Blick verriet ihre Weiblichkeit. Nicht einmal die Uniform konnte sie kaschieren.

Ein Fluggerät näherte sich dem Komplex aus von der Natur zurückeroberten Ruinen und wenigen noch benutzten Gebäuden. Während Hollyday vor Staunen der Mund aufklappte ob des fliegenden Dings, wurde Mac mit Neugierde und freudiger Aufregung erfüllt.

»Wer kommt da, Captain Chambers?« Hollyday trat neben Melanie. So dicht, dass er die Wärme ihres Körpers zu spüren glaubte.

»Sehen Sie selbst, Professor.« Sie reichte ihm das Glas.

Es war ein futuristisches Fluggerät, etwa fünfzehn Meter lang, mit kurzen Heckflügeln und darin integrierten eckigen Antriebsdüsen. Wie ein Gleiter aus einem Science-Fiction-Film! Macs wachsende Erregung ließ Hollydays Adrenalinspiegel steigen.

Dicht über dem Boden fliegend näherte sich der Gleiter dem Bunker, in dem die unterirdische Zentrale untergebracht war. Dort setzte er zur Landung an. Für Hollyday blieb es ein Buch mit sieben Siegeln, wie so ein Ding fliegen konnte.

Das ist wirklich eine interessante Frage, mischte Mac sich in seine Gedanken ein. Und noch interessanter ist, wer es fliegt.

Sie kamen beide nicht mehr dazu, darüber nachzugrübeln: Das Gerät setzte auf, die Bordluke öffnete sich, eine kurze Gangway wurde ausgefahren. Eine schwarze Gestalt erschien in der Luke, uniformiert und bewaffnet.

Es war Lieutenant Garrett! Ein WCA-Agent. Kein schöner Anblick mit seinem zerstörten Gebiss, das Timothy Lennox auf dem Gewissen hatte. Der Afro sah sich nach allen Seiten um, bevor er die wenigen Stufen auf die Startbahn hinunter sprang. Ein älterer Mann folgte ihm. Grauhaarig, hager – General Crow. Er bewegte sich würdevoll und machte insgesamt einen erschöpften Eindruck. Hollyday registrierte es mit grimmiger Befriedigung.

Nach dem zweitwichtigsten Mann der World Council Agency verließ ein Blondschopf in zerknitterter Kluft die Maschine. Eine Pilotenkombi, sagte Macs Stimme, das ist Timothy Lennox. Hollyday hielt den Atem an.

»Tinnox«, entfuhr es ihm. Schmerz blitzte in seinen Schläfen auf. »Mein alter Freund Tim«, korrigierte er sich.

»Ach!« Melanie nahm ihm das Fernglas aus den Händen und sah hindurch. »Tatsächlich. Interessanter Mann!« Und sofort nahm ihre Stimme einen missmutigen Klang an. »Seine naive Barbarin ist leider auch dabei.«

Wenige Worte, aber sie trieben dem guten Hollyday das Blut aus dem Gesicht und einen Bleiklumpen in die Magengrube. Nur ein Vorgeschmack auf das, was ihn darüber hinaus noch erwartete.

»Joshua Harris!«, rief Melanie verwundert.

»Na, den habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr …« Sie unterbrach sich, sperrte den Mund auf und flüsterte: »Ich werd verrückt! Die Tochter des Generals!«

Der Bleiklumpen in Hollydays Magen verwandelte sich jäh in einen Eisklotz. Bis in die Kehle hinauf schoss ihm die Kälte und schnürte ihm die Luft ab. Diesmal war er es, der Melanie das Glas aus der Hand riss.

Und dann sah er es mit eigenen Augen und konnte es dennoch kaum glauben: Zwischen Kadett Joshua Harris und Marrela stieg eine rothaarige Frau über die Gangway auf die Startbahn hinunter – Lynne Crow. Sie lebte, und es schien ihr prächtig zu gehen. Aus und vorbei, dachte Hollyday.

Bleib cool und sieh zu, dass du verschwindest, sagte Mac in seinem Kopf.

»Na also.« Phil Hollyday reichte Melanie das Glas und zwang sich zu einem Lächeln.

»Unkraut vergeht nicht.«

»Schon.« Die Offizierin spähte wieder durch den Feldstecher. »Aber ich hätte keinen Pfifferling mehr für sie gegeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Sogar ihren Arm hat sie wieder.«

»Die Arbeit wartet.« Hollyday drehte sich um und lief in die Halle hinein und die Rampe hinunter. Nicht so schnell, warnte Mac. Sonst fallen wir auf.

Er steuerte das Innenschott an. Die Uniformierten grüßten ihn. Im Gangsystem zwischen dem Bunker unter der Halle und den Mannschaftsquartieren beschleunigte er seinen Schritt.

Lynne Crow wusste, dass er zu den Running Men gehörte. Sie hatte ihn im vertrauten Gespräch mit dem Rebellenführer Mr. Darker gesehen. Kurz bevor ein Krokodil ihr den Arm abbiss, wodurch sie in ein Koma fiel. Hollyday hatte gehofft, dass sie nie mehr daraus erwachen würde.

Leider hatte er sie nicht mehr unter Kontrolle gehabt, nachdem General Crow mit ihr nach Westen aufgebrochen war, um Kontakt mit einer Gruppe aufzunehmen, die sich auf Implantate verstand. Lynne Crow selbst sollte vor Jahren einmal Kontakt zu diesen sogenannten »Unsterblichen« aufgenommen haben.

Nun ist es also doch passiert, meldete sich die Stimme Dave Mulroneys zu Wort. Sie hat dich längst verraten.

Endlich erreichte Phil Hollyday die Tür zu seinem Raum. Er stieß sie auf und schloss hinter sich ab.

Pack das Nötigste zusammen und schlag dich zu den Barbaren in den Sümpfen durch!

»Erzähl du mir nicht, was ich jetzt zu tun habe, Mac!« Hollyday riss eine abgeschabte Lederjacke vom Wandhaken und schlüpfte hinein. Aus dem Einbauschrank holte er seinen Driller und überprüfte das Magazin. Noch fast voll. Danach schob er sein Lager zur Seite, kniete auf den Boden, rollte den Bast-Teppich zusammen und hob eine zwanzig mal zwanzig Zentimeter große Platte aus dem Estrich. Ein ovales schwarzes Kästchen wurde sichtbar – eine Sprengladung mit mechanischem Zünder.

Er hatte sie selbst gebastelt, um im Notfall die Raumfähre zu sprengen. Vorsichtig ließ er sie in die Jackentasche gleiten.

Bei allen Heiligen – was hast du vor? Die Stimme in seinem Kopf fühlte sich nervös an. Plötzlich erklangen Schritte draußen vor der Tür. Hollyday zog das Bettgestell an seinen Platz zurück und stand auf. Er lauschte. Mindestens zwei Personen näherten sich. Vor seiner Tür verstummten die Schritte.

»Professor Mulroney?« Melanies Stimme.

»Ja?«

»Ich bin‘s, Captain Chambers. Der Präsident und der General wollen Sie sprechen. Wir sollen Sie zu ihnen geleiten.«

Zu spät, alles zu spät. Seine Tarnung war aufgeflogen. Im Schnellverfahren würden sie ihn aburteilen. Den Sonnenuntergang würde er schon nicht mehr erleben. Aber sie auch nicht!

»Ich komme.« Er öffnete die Tür. Zu dritt standen sie davor: Captain Chambers, ein Lieutenant und ein Sergeant. Aufmerksame Blicke musterten ihn. Melanie lächelte, kühler noch als sonst. Sie ging voraus. Er hätte sie töten müssen, um überhaupt eine Chance zu haben. Schon das war ein unüberwindliches Hindernis. Und wenn er es über sich gebracht hätte: Hinter ihm liefen die beiden Bewaffneten. Hollyday griff in die Jackentasche. Seine Rechte schloss sich um den Sprengkörper. Dann würden sie eben mit ihm sterben. Und er würde als der Mann in die Geschichte eingehen, der die WCA enthauptet hatte!

 

 

4

Nicht Washington war also das Ziel gewesen, sondern Cape Canaveral. Tim hatte es nach der plötzlichen Kursänderung schon vermutet.

Er stieg die Gangway hinunter. Nichts lief nach durchschaubaren Regeln in dieser verrückten Welt, schon gar nicht nach seinen Regeln. Seit fast zwei Jahren schon nicht mehr. Zeitverschwendung, sich noch länger daran zu reiben.

»Wie heißt dieser Ort?« Marrela neben ihm sah sich neugierig um. Erst jetzt wurde Tim klar, dass sie ja noch nicht hier gewesen war.

»Cape Canaveral«, entgegnete er. »Hier stand einst der Weltraumbahnhof meiner alten Heimat.«

»Weltraumbahnhof?«

»Erklär ich dir später.«

Sie hatten das Rollfeld repariert. Noch auf der Gangway fiel es dem Mann aus der Vergangenheit auf: Das Gestrüpp, die Bäume, die Risse, die Löcher und Aufwerfungen – alles weg. Sein Verdacht erhärtete sich: Hier stand ein Start bevor. Und dass sie ihn hierher gebracht hatten, hing mit diesem Start zusammen, jede Wette!

Sonst hatte sich nichts verändert, seit er mit Hollyday und diesem WCA-Spitzel, der sich als Techniker ausgegeben hatte, hier gewesen war – wie hatte der Mann gleich geheißen? Rorke, richtig. Ein knappes Dutzend Gebäude, die meisten zerfallen oder jedenfalls unbewohnbar und von Buschwerk, Bäumen und Hecken zugewuchert. Von der einst weltberühmten und so riesigen Halle für die Trägerraketen war bis auf eine grasbewachsene Trümmerhalde nichts geblieben. Wahrscheinlich hatte irgendjemand Steine, Betonplatten und Stahlträger des Vehicle Assembly Buildings an anderer Stelle wieder verbaut. Hinter dem Ruinenfeld lagen ein schmaler Strandstreifen und die Brandung des Atlantiks.

Eines der beiden erhaltenen und offensichtlich gepflegten Gebäude lag wenige hundert Schritte entfernt: die Bunkeranlage, flach und ausgedehnt. Auf das zweite gingen sie zu: ein annähernd würfelförmiges Haus. Von seinem ersten Besuch wusste Tim, dass es den Wohn-und Verwaltungsbereich beherbergte. Und inzwischen vermutlich noch das eine oder andere Geheimnis.

Interessanter fand Tim die Bunkeranlage. In ihrer ersten Ebene stand der Prototyp eines neuen Space Shuttle, der zum Zeitpunkt des Kometeneinschlags noch nicht ganz vollendet gewesen und jetzt vermutlich startklar war. Und auf einer der unteren Ebenen befand sich ein vollkommen intaktes Kontrollzentrum, dessen Kommunikationssysteme sogar noch in Kontakt mit der ISS standen.

Atemberaubende Möglichkeiten. Möglichkeiten, die Leute wie Hymes und Crow sich nicht entgehen lassen konnten.

Und ich mir eigentlich auch nicht, dachte Tim, als sie die Treppe zum Eingang erreichten. Denn sie können mir Antworten geben, die ich bislang vergeblich gesucht habe!

Crow drehte sich zu ihm um. »Vielleicht fällt Ihnen auf, dass wir eine starke Truppeneinheit hierher verlegt haben?«

Tim nickte; er hatte die Patrouillen zwischen den Gebäuden und entlang des hohen Zaunes wahrgenommen. »Das größte Projekt in der Geschichte der WCA steht bevor. Wir können uns keine Nachlässigkeiten erlauben. Zumal die barbarischen Nachkommen der ehemaligen Besatzung in den Sumpfwäldern lauern.«

Tim hatte sie kennengelernt. Sie selbst nannten sich »Söhne des Himmels«, und die ISS verehrten sie als ihren Gott Eisas.

Armer Gott. Tim musste lächeln. Kreist seit fünfhundert Jahren einsam und nutzlos um eine verwüstete Welt.

Die Sektierer glaubten das Shuttle mit ihrem Blut verteidigen zu müssen, weil sie es für den Himmelswagen ihres Gottes hielten. Und weil Tim sowohl Eisas als auch Shat-El identifiziert hatte, sahen sie ihn ihm einen Gesandter ihres Gottes.

»Außerdem ist der Präsident persönlich in Begleitung eines starken Truppenverbandes nach Florida gekommen«, fuhr der General fort.

In seiner Stimme schwang die Genugtuung eines Mannes, der einen Trumpf auf der Hand hat.

 

 

5

Crows Adjutant Harris, der die Gruppe anführte, machte Meldung bei den Wachen vor dem Hauptportal. Scharrend öffnete sich die metallene Schiebetür. Crow fasste Marrela am Arm und führte sie durch das Portal. »Präsident Hymes erwartet Sie übrigens.« Ein Lächeln glitt über die kantigen Züge des Kahlkopfes. Es galt nicht Tim, es galt Marrela.

Tim zuckte mit den Schultern. »Interessant«, murmelte er halb lustlos, halb zornig. »Für mich sieht es mehr so aus, als würden wir ihm vorgeführt.«

Crow und seine Schergen hatten sie bei Los Angeles einkassiert, und Tim sah keinen Grund, es in irgendeiner Weise schön zu reden.

»Sie sind nachtragend, Lennox.« Lynne Crow schob sich zwischen ihn und Marrela. »Es gibt höhere Interessen als individuelle: staatliche, weltpolitische, wenn Sie so wollen.« Sie klang zynisch. Aber Crows Tochter gehörte vermutlich zu den Leuten, die sagen konnten, was sie wollten; es würde immer irgendwie zynisch, arrogant oder schroff klingen.

»Wenn es um Freiheitsberaubung geht, neige ich nicht zur Toleranz, Miss Crow. Meine Lebensgefährtin übrigens auch nicht.« Marrela und die Crow wechselten einen bösen Blick.

Tim schielte auf den rechten Arm der Rothaarigen. Er kam ihm merkwürdig steif vor. Überhaupt wirkte die junge Frau bleich und ausgebrannt. Hinkte sie nicht auch ein klein wenig?

»Und was will der Präsident von uns, General?« Eine überflüssige Frage. Tim stellte sie trotzdem.

»Das wird er Ihnen selbst erläutern.«

»Et fa comu fa«, sagte Marrela in der Sprache der Wandernden Völker, während sie die Eingangshalle des Gebäudes durchschritten. Von der Seite erhaschte Tim ihren aufmunternden Blick.

Genau: Es ist, wie es ist.

Auch innerhalb des Gebäudes fielen ihm ungewöhnlich viele Männer und Frauen auf; sogar mehr, als er während seines Aufenthalts im Pentagon zu Gesicht bekommen hatte. Von allen Seiten hörte er es hämmern und bohren.

Der Weltrat war offensichtlich im Begriff, Cape Canaveral zu einer soliden Nebenstelle aufzurüsten.

Eine Lifttür schob sich auseinander. Zu sechst drängten sie sich in der engen Kabine zusammen. Keiner sprach ein Wort, während der Aufzug sich nach unten bewegte. Peinliche Stille entstand. Marrela fasste Tims Hand. Lynne Crow hielt sich den rechten Arm fest und schaute zur Decke. Ihr Vater wippte auf den Stiefelspitzen auf und ab. Seine beiden Wachhunde, Garrett und Harris, lehnten links und rechts der Tür und belauerten Tim.

Vor allem Garrett. Wie eine Auszeichnung trug er seine zahnlosen Kiefer zur Schau. Oder wie einen an Tim gerichteten Racheschwur.

Tim wusste, was er davon halten musste: Er hatte die Zähne des WCA-Agenten auf dem Gewissen, und mit ein bisschen Pech würde er dafür bezahlen müssen.

Der Lift hielt, man stieg aus. Ein Gang, eine Schiebetür, und dann ein hoher Raum. Kein schöner, sondern durch und durch zweckmäßiger Raum: kahle Betonwände; rechts eine nachlässig verblendete Konsole mit Bildschirmen, Tastaturen und Telefonen; Heizungsrohre und an Drähten befestigte Leuchten an der Decke; ein großer runder Tisch mit einem Dutzend Stühle in der Mitte des Raums.

Drei Männer in WCA-Uniformen saßen dort. Rorke war darunter, mit dem er und Hollyday vor Monaten die Anlage ausgespäht hatten. Und Präsident Victor Hymes. Den dritten Mann hatte Tim nie zuvor gesehen.

»Mister Lennox – ich freue mich, Sie zu sehen!« Hymes stand auf und kam auf Timothy zu. Im letzten Augenblick besann er sich wohl. »Und Sie natürlich auch, Miss Marrela.« Der erste Händedruck galt dann doch der Barbarin. Danach war Tim an der Reihe.

Der feste Druck, das väterliche Lächeln in der freundlichen graubärtigen Miene – wie immer wusste Tim nicht recht, wie er das einzuordnen hatte. Achte nicht auf seine Worte und seine Mimik, sagte er sich. Achte auf das, was er tut, und denke an das, was er getan hat.

Die Anrede befremdete Tim, aber er ignorierte sie. »Es wäre unehrlich zu behaupten, dass Ihre Empfindung auf Gegenseitigkeit beruht«, sagte er. »Tut mir Leid, wenn ich das so sagen muss, Sir. Ich liebe es nicht, wenn man mir vorschreiben will, wohin ich zu gehen und was ich zu tun habe.«

»Ich verstehe Sie ja, Commander … nun ja, Commander außer Dienst. Noch.« Victor Hymes wies auf den Konferenztisch. »Nehmen wir doch erst einmal Platz. Mister Rorke kennen Sie ja, und das hier ist Major Dwight Miller.« Der Unbekannte blieb sitzen und nickte kurz. »Major Miller ist Spezialist für Logistik und Kommunikationselektronik«, erklärte Hymes. Der bleichgesichtige Major mit dem weißen Stoppelhaar verzog keine Miene.

Rorke begrüßte Tim mit einem kurzen Händedruck. Er hätte darauf verzichten können, ihn wiederzusehen.

»Die Zeiten sind nicht einfach, Mister Lennox«, noch während sich alle setzten, sprach Hymes weiter, »und wir haben ein großes Ziel: den Wiederaufbau der Erde. Für so ein Ziel ist ein Mann wie Sie einfach unentbehrlich.« Er faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und musterte Tim jetzt ganz ohne Lächeln und mit gewichtiger Miene. »Es wäre unverantwortlich gewesen, Sie und Miss Marrela sich selbst zu überlassen. Ich ging davon aus – und ich hoffe, damit liege ich nicht falsch –, dass ein Bürger der alten Vereinigten Staaten, einer, der den ehemaligen Ruhm unseres Landes noch mit eigenen Augen gesehen hat, selbstverständlich mit uns an einem Strang …«

Er redete und redete, und wie das bei Politikern so üblich war, verschränkten sich Schmeichelei, Lüge, Wahrheit und Worthülsen zu einem unentwirrbaren Sprachgestrüpp. Bald schon schaltete Tim ab, bis Hymes endlich wieder zur Sache kam.

»… und deshalb möchte ich Sie bitten, wieder in den Dienst der World Council Agency zu treten, der Rechtsnachfolgerin der Vereinigten Staaten von Amerika. Als Commander. Nach erfolgreicher Bewältigung Ihres Auftrags erwartet Sie der Rang eines Colonels.«

Tim sah, wie Garrett bei dem Angebot seines Oberkommandierenden zusammenzuckte und wie Harris den Blick senkte. Der Neid beißt euch in die Eier. Tim konnte sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen.

Dabei hatte ein Offiziersrang unter den Angehörigen des Weltrats nicht allzu viel zu bedeuten. Fast alle waren sie Offiziere in dieser elitären Clique, oder wenigstens Offiziersanwärter. Für ihn allerdings hätte die Annahme einer Beförderung zum Oberst weitreichende Konsequenzen: Sie käme einer Mitgliedschaft in der WCA gleich.

»Was macht Sie so sicher, dass ich scharf darauf bin, Mr. President?«, fragte Tim. »Und zweitens: Von was für einem Auftrag sprechen Sie?«

»Ach Gott, Lennox – tun Sie doch nicht so!« General Crow mischte sich ein. Er beugte sich über die Tischplatte. Hinter seinen verschränkten Händen grinste er Tim müde an.

»Von was für einem Auftrag sprechen wir schon – Sie sind doch sonst so ein kluger Bursche. Wir wollen, dass Sie das Shuttle zur Raumstation fliegen, was denn sonst?«

Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille. Dann platzte Marrela der Kragen.

»Schlagt euch das aus dem Kopf!« Als hätte man sie und nicht Tim angesprochen, so bestimmt antwortete sie. Und schüttelte ihre Mähne dabei. »Das werden wir auf keinen Fall tun!« Sie sah Tim an, erwartungsvoll, ihre Augen blitzten. Unter dem Tisch trat sie nach seinen Knöcheln.

»Keine Schüsse aus der Hüfte, Miss Marrela.« Victor Hymes setzte wieder sein gewinnendes Lächeln auf. »Die Dinge wollen in Ruhe erwogen werden.« Das ging schon wieder an Tims Adresse. »Bedenken Sie die Ressourcen an elektronischem Knowhow, Commander Lennox, und die vielen Daten, die dort oben auf uns warten.« Er dachte nicht daran, locker zu lassen. »Bedenken Sie, wie wichtig all das für unser gemeinsames Ziel ist, wie unverzichtbar für den Wiederaufbau unserer Zivilisation.«

Keinen Augenblick zweifelte Tim daran, dass Hymes die Mission zur Chefsache und zur absoluten Priorität erklärt hatte. Auch ihre Bedeutung für die Ziele der WCA unterschätzte er nicht. Er bezweifelte allerdings, dass der Weltrat idealistisch und selbstvergessen einzig und allein den Wiederaufbau der postapokalyptischen Welt verfolgte.

Aber jetzt war nicht die Zeit für Naivität, nicht die Zeit, sich die Meinung zu sagen – jetzt war die Zeit zu pokern. Er selbst hatte auch etwas zu gewinnen. Oder zu verlieren. Er und eine ganze Menge anderer Leute auf beiden Seiten des Atlantiks.

Doch bevor er seine Karten noch sortieren konnte, summte etwas, und eine grüne Lampe blinkte über der Tür.

»Captain Chambers«, sagte Major Miller. Garrett stand auf, eilte zur Tür und drückte einen Knopf.

Die Tür schob sich auf, eine uniformierte Frau trat ein und grüßte. »General Crow, Mr. President, Gentlemen – Professor Mulroney.« Sie tat einen Schritt zur Seite. Gefolgt von zwei Bewaffneten betrat ein Mann den Raum, auf dessen Anblick Tim gern verzichtet hätte: Philipp Hollyday, der dem echten Mulroney wie ein Zwilling glich.

Er trug sein Haar schulterlang und eine Brille auf der Nase, eine Lederjacke über einem karierten Hemd und darunter eine Uniformhose mit Beintaschen. Er sah Dave wirklich verteufelt ähnlich. Aber Hollyday war nicht David Mulroney, sondern ein Maulwurf der Running Men.

Daves Double erschien Tim bleicher noch als sonst. Und ausgesprochen nervös. Er sah sich kurz um. Beide Hände tief in den Jackentaschen vergraben, schritt er dann zum Tisch. Dorthin, wo Hymes und der General saßen.

 

 

6

ISS, 7. Dezember 2011

Der Japaner hantierte mit Pipette und Reagenzgläsern; der kahlköpfige Russe hielt sich an den Griffen des Arbeitstisches fest und beugte sich über das Elektronenmikroskop; der Franzose beobachtete den Monitor des Quantencomputers. In kurzen Abständen wanderte sein Blick von den Daten auf dem Bildschirm zu Bernstein. Und manchmal auch zur Konsole mit den Kommunikationsgeräten. Doch der Monitor dort blieb dunkel. Über eine Stunde war vergangen; Houston hatte sich noch nicht wieder gemeldet.

»Okay.« Jarnyszin hob den Kopf vom Doppelokular und setzte seine schwarze Hornbrille auf. »Laser einschalten«, sagte er mit ruhiger Stimme. Oshi Domoto hatte die Probe aus der Pilzkultur aufs Objektiv geträufelt. Nun drehte er sich um und drückte den Knopf für den Atomlaser. Der Russe blickte sich kurz nach dem Monitor mit den Analysedaten um. Danach nahm er die Brille wieder ab, steckte sie in die Brusttasche seines blauen Baumwollhemdes und presste die Augen erneut gegen das Doppelokular des Elektronenmikroskops. »Stufe zwei … Stufe drei … vier … fünf …« Nach seinen Anweisungen steigerte Domoto die Energiezufuhr des Lasergeräts. Gleichzeitig beobachtete er einen der Monitore.

Domoto war Anfang vierzig, hatte aber die weichen, glatten Gesichtszüge eines Halbwüchsigen. Seine schmächtige Gestalt und der Haarzopf unterstrichen diesen Eindruck noch. Dr. Oshi Domoto war Mediziner. Sein Spezialgebiet: Neurologie und Genetik.

Der Monitor lag in Bernsteins Blickfeld. Er sah ein Gebilde darauf, das ihn an einen Kupferstich mit dem Motiv des brennenden Dornbuschs erinnerte und beim zweiten Blick an zerfranste Lungenbläschen inmitten kleinster Bronchialverästlungen. In Wahrheit aber sah der Commander die hunderttausendfache Vergrößerung eines Pilzes.

So viel wusste auch er.

Sean Bernstein hatte nicht viel verloren hier im Columbus-Modul. Die Labormodule waren die Arbeitsplätze der fünf Wissenschaftler an Bord der ISS. Er war Techniker und Pilot. Sein Platz war im Transhab-Modul vor den Kontrollinstrumenten des Navigationscomputers, oder im Zarya-Modul, wo die Gastanks und die Steuerungselemente untergebracht waren. Aber dort hielt jetzt niemand die Stellung. Taurentbeque hatte den Commander gezwungen, ihn ins Labor des Columbus-Moduls zu begleiten. Der Mikrobiologe wollte ihn offensichtlich nicht aus den Augen lassen.

Ruhig bleiben, sagte sich Bernstein, jede Eskalation im Keim ersticken. Warte auf deine Stunde – auf diese Strategie hatte Bernstein sich festgelegt.

»Gut, und jetzt wieder runter auf drei.« Sergej Jarnyszin gab dem Japaner ein Handzeichen.

»Gott im Himmel – die Pilze haben sich ja verzehnfacht! Seht ihr die roten Stäbchen zwischen den Chlorophyll-Molekülen? Was sagst du dazu, Lou? Das ist doch Sauerstoff, oder was behauptet der Computer?«

Verbissener als sonst konzentrierten sie sich auf ihre Experimente. Es entging Bernstein nicht. Nur nicht hinsehen, nur nicht über die Situation an Bord reden – das schien ihre Devise zu sein. Bernstein hätte schreien mögen.

Seine Gedanken kreisten um Marsha. Hagen, dieser Eisberg – würde er sich benehmen können? Wie alle hatte er seit Wochen keine Frau gehabt. Wie alle, außer Bernstein. Hagen war Gentleman, Hagen war Akademiker, Hagen war die personifizierte Selbstkontrolle, und dennoch: Wer eine Meuterei in einer Raumstation anzettelte, wer die NASA unter Druck setzte, wer Kollegen bedrohte – war so einem nicht alles andere auch zuzutrauen?

»Sauerstoff? Schon möglich.« Von einer Sekunde auf die andere hatte Taurentbeque nur noch Augen für die beiden Monitore. Für den mit den Messdaten und den, der wiedergab, was Jarnyszin im Elektronenmikroskop sah. »Der Rechner hält es für Stickstoff und Phosphor.«

»Und diese roten Strukturen?« Domoto zog einen Stift aus der Brusttasche seines Hemdes.

Alle bis auf Marsha trugen sie diese blaue Baumwoll-Hemden mit weißen Nähten und Knopfleisten. »Das ist kein Gas.« Er beugte sich zum Monitor, vor dem der Franzose saß, und zeigte mit dem Stift auf die feinen Stäbchen. »Vergrößere, Sergej. Das könnte ein Peptid sein. Ein Enzym vielleicht, oder ein Hormon?«

Mit den Feinheiten der mikrobiologischen und genetischen Experimente war Bernstein nicht vertraut, wie gesagt. Aber selbstverständlich wusste er grob, worum es ging. Immerhin hatte die NASA die Besatzung von üblicherweise sieben auf acht Astronauten aufgestockt. Für so wichtig hielt man das seit sechs Jahren laufende Forschungsobjekt, dass man einen zusätzlichen Wissenschaftler mit an Bord genommen hatte.

Und das war es auch: Das Wissenschaftsteam experimentierte mit Pilzen, die in einer Symbiose mit Pflanzen lebten. Ein derartiges Bündnis – eine sogenannte Mykorrhiza, auch diesen Begriff hatte der Commander sich gemerkt – war gang und gäbe auf Erden. Seit Jahrmillionen schon. Die Pilze versorgten die Pflanzenwurzeln unterirdisch über ein Geflecht von Fäden mit Mineralien, und die Pflanze revanchierte sich mit organischen Nährstoffen aus Abfallprodukten der Photosynthese.

Genau diese von der Evolution geschaffenen Symbiose wollten die europäischen und japanischen Wissenschaftler nun für die Raumfahrt nutzbar machen. Zu dem Zweck hatten sie zwei Pilzarten genetisch verändert und ihnen synthetische Wachstumshormone eingebaut. Das Hauptziel: Die Nutzpflanzen im Gewächshaus des Observatoriums auf dem Mond sollten schneller wachsen. Und langfristig auch die Pflanzen in den geplanten Gewächshäusern, die eine für 2019 geplante zweite Marsexpedition auf dem roten Planeten errichten sollte. Die erste, von einem zivilen Finanzier geförderte Marsmission war im Jahr zuvor verschollen.

Und das Nebenprodukt der Experimente: Man wollte einen Weg finden, Stickstoff und vor allem Sauerstoff für das Leben im All zu produzieren. Für Daueraufenthalte in der Raumstation und zukünftigen Planetenkolonien brauchte die NASA einen sicheren und billigen Weg zur Herstellung von Atemluft. Ein spannendes Abenteuer also für einen leidenschaftlichen Raumfahrer, wie Commander Sean Bernstein einer war.

»Sieht gut aus«, sagte Taurentbeque.

»Stickstoffproduktion um vierzig Prozent gestiegen …« Er las die Analysedaten von einem der Bildschirme ab. »Phosphor siebzehn Prozent, Chlorophyllmoleküle einundzwanzig Prozent …« Sein Interesse an Bernstein schien erloschen. »… Karotinoidmoleküle dreizehn Prozent – hoppla, was haben wir denn da?«

»Sauerstoffmoleküle«, sagte Domoto. »Es sind Sauerstoffmoleküle, ohne Zweifel!« Er spähte zu den Terrarien. Die rechteckigen Glaskästen enthielten Humus und verschiedene Pflanzen: Kartoffelpflanzen, Spinat, eine junge Eiche, ein Apfelbäumchen, Wirsing und Sojastauden. »Ich denke, der Geosiphon ist so weit. Setzen wir ihn dem Grünzeug in den Pelz.«

Geosiphon – so hieß einer der beiden Pilze, mit denen an Bord der ISS experimentiert wurde. Jochpilz hieß er für Laien, wenn Bernstein sich recht erinnerte. Den Namen des zweiten Pilzes konnte er sich besser merken: Aspergillus Niger, schwarzer Gießkannenschimmelpilz. Mit ihm wurde im Destiny-Modul experimentiert.

Das Destiny-Modul diente vor allem medizinischen Experimenten. Domoto versuchte ein neuartiges Antibiotikum aus dem Schimmelpilz zu gewinnen. Dazu hatte er ihn mit Wachstumshormonen verändert.

Taurentbeque und Jarnyszin hatten den vergrößerten Pilz tatsächlich dazu gebracht, Sauerstoff zu produzieren.

»Aber diese rötlichen Strukturen …« Mit gerunzelter Stirn blickte Jarnyszin ins Elektronenmikroskop. Er wirkte unzufrieden. Viel hatte das nicht zu bedeuten: Der kahlköpfige Russe mit der Hornbrille wirkte meistens mürrisch und melancholisch. »Das ist kein Sauerstoff, das ist kein Stickstoff, das ist tatsächlich ein Peptid, aber was für eins, will ich wissen.«

»Vielleicht ein mutiertes Somatotropin«, sagte Domoto. »Versuch es mit dem Laser zu isolieren. Wir werden es analysieren.« Er wandte sich an den Franzosen. »Holt ihr die Kulturen?« Ein scheuer Seitenblick traf Bernstein. »Vielleicht hilft dir Sean.«

Der Commander nickte und mimte den Gleichgültigen. Dabei schlug sein Herz plötzlich so schnell, dass er meinte, man müsste seine Halsschlagader pulsieren sehen: Die Pilzkulturen steckten in den Brutschränken des japanischen Labor-Moduls. Und was rückte im Kibo-Modul in greifbare Nähe? Das Geheimfach im mittleren Laborschrank. Die Schusswaffe. Bernstein konnte sein Glück nicht fassen.

Der Franzose schob sich an ihm vorbei. Ihre Blicke trafen sich kurz. Zwing mich nicht zum Äußersten, schien der Blick Taurentbeques zu sagen. Bernstein drehte sich noch einmal um. Weder Domoto noch Jarnyszin kümmerten sich noch um ihren verdammten Pilz. Sie belauerten ihn, als wäre er der Meuterer und nicht der Franzose. »Ich werd mich gelegentlich bei euch bedanken«, zischte der Commander.

Hinter Taurentbeque her zog er sich an der Haltestange durch das Zwischenschott und dann durch den Verbindungstunnel zum Kibo-Modul. Das japanische Labormodul und das Columbus-Modul lagen sich praktisch gegenüber. Nur ein kurzes Verbindungsstück trennte sie, von dem aus man auch nach oben in die Zentrifuge und nach links über das Destiny-Modul in die unterhalb der Sonnensegel liegenden Abschnitte der Internationalen Raumstation gelangen konnte.

»Ich versteh dich nicht, Lou«, sagte Bernstein. »Einerseits willst du nicht zurück auf die Erde, weil du den Weltuntergang fürchtest, und andererseits butterst du Kraft und Zeit in solche Experimente, als hätten wir noch ein Zukunft. Was soll das? Ich versteh es nicht.« Unter dem geschlossenen Schott der Zentrifuge hindurch hangelte sich Taurentbeque der runden Öffnung zum Kibo-Modul entgegen.

»Weil du keine Fantasie hast, du dämlicher Ami«, sagte der Franzose leidenschaftslos.

»Erklär es mir.«

Taurentbeque schlüpfte durch das offene Schott, drehte sich um und wartete, bis Bernstein ebenfalls in das Labormodul schwebte. Der Raum war hell und lang. An beiden Wänden sah man unzählige Griffbügel an Schubladen und Schranktüren. Nicht nur Brutschränke für Bakterien-und Pilzkulturen gab es hier, sondern auch eingefrorene DNS aller möglicher Pflanzen und Tiere. Die reinste Arche Noah war das Kibo-Modul. Außerdem enthielten die Schränke Labormaterial in Hülle und Fülle.

Taurentbeque deutete auf ein kleines Sichtfenster in der Deckenwölbung. Ein Relief aus Gebirgszügen, Flussläufen und Küstenstreifen leuchtete dort: das rote Meer, die arabische Halbinsel, das Hörn von Afrika und das Arabische Meer.

Mit achtundzwanzigtausend Kilometern pro Stunde flog die ISS über die Tagseite der Erde. Vor neunzehn Minuten war die Sonne aufgegangen, in sechsundzwanzig Minuten würde sie wieder untergehen.

»Wenn dort unten Schicht ist, werden wir nicht nur ein paar Tage hier bleiben müssen, Sean.« Sein Blick bekam etwas Stechendes, seine Stimme wurde beschwörend. Schlagartig erkannte Bernstein, dass er einem Mann gegenüberstand, der genau wusste, was er tat. »Wochen, Monate, vielleicht noch länger werden wir hier oben ausharren müssen. Und ich will mich nicht allein auf den Oxygenium-Synthesizer verlassen.«

»Oxygenium-Synthesizer« nannten sie die Elektrolyseanlage im Zwezda-Modul. Sie spaltete Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff, mischte den Sauerstoff mit Stickstoff aus den Gastanks zu einer irdischen Atmosphäre und sorgte dafür, dass der frei werdende Wasserstoff mit Kohlendioxyd aus der verbrauchten Luft reagierte. Aus der chemischen Reaktion entstanden Wasser und Methan. Das Wasser wurde wieder der Sauerstoffgewinnung zugeführt. Das Methan diente als Treibstoff für die kleinen Raketenmotoren, mit denen der Kurs von Zeit zu Zeit korrigiert und die Raumstation in ihrem Orbit gehalten wurde. Ein perfekter Kreislauf. Leider hatte sich der Oxygenium-Synthesizer im Lauf der Jahre als störanfällig erwiesen.

»Was aber, wenn das Gerät eines Tages ausfällt? Weil ein Meteorit uns die Sonnensegel zerfetzt oder die Stickstofftanks leck schlägt?«, fuhr Taurentbeque fort. »Ich möchte eine zweite Atemluft-Quelle haben, verstehst du?« Er wandte sich ab und hangelte sich zu den Schränken mit den Pilzkulturen.

»Das klingt, als wolltest du den Rest deines Lebens hier oben verbringen.«

Statt zu antworten, öffnete der Franzose einen der Schänke.

»Die Lebensmittelvorräte reichen für höchstens acht Monate«, warf Bernstein ein.

»Einige von uns wollen zurück auf die Erde, wie man hört.« Taurentbeque holte einen flachen Glaskasten aus dem Schrank. Mit einer Kopfbewegung winkte er den Commander heran. »Wenn wir nur zu viert wären, reichten die Vorräte schon ein Jahr. Wären wir nur zu zweit, sogar zwei Jahre.«

»Du kannst nicht ewig hier oben bleiben.« Bernstein nahm den Glaskasten mit der Kultur in Empfang. »Was hast du vor, Lou?«

Taurentbeque holte eine zweite Kultur aus dem Wärmeschrank und schloss die Tür wieder.

»Vielleicht später, Sean. Entscheide dich erst einmal, auf welcher Seite du stehen willst.« Er stieß sich ab, schwebte zum Schott und tauchte in den Verbindungstunnel ein.

Bernstein zögerte nicht länger. Er wusste genau, in welchem Schrank die Waffe steckte.

Er zog ihn auf, öffnete das Türchen in der Rückwand und holte die Pistole heraus. Eine zwanzigschüssige SIG-Sauer P28 alpha. Doch wohin damit? Die blauen Baumwollhosen und die Hemden lagen eng am Körper an, die Schuhe waren nicht hoch genug, um die Waffe hineinzustecken.

Bernstein schob sie sich einfach in den Hosenbund. Sollten sie doch sehen, dass er zu allem entschlossen war!

Taurentbeque erwartete ihn unter dem verschlossenen Verbindungsgang zur Zentrifuge. Er entdeckte die Pistole sofort. »Du willst uns erschießen?« Ein müdes Lächeln zog über sein breites Gesicht. »Was bist du doch für ein Idiot, Sean.«

Vollkommen ungerührt sagte er das. Kalte Wut füllte Bernsteins Brustkorb aus. »Der Schuss könnte mich verfehlen und eine Katastrophe auslösen. Du weißt es, Sean.« Taurentbeque drehte sich um und hangelte sich weiter bis zum Labormodul.

»Du gehst zu Winter!«, rief Bernstein. »In zehn Minuten will ich Marsha sehen! Sonst werde ich dich töten!«

»Das glaub ich nicht.«

»Du holst Winter und Marsha, und dann sprechen wir mit Houston!« Bernstein wünschte, er wäre weniger erregt, er könnte ruhiger und überzeugender sprechen, und er wünschte, Taurentbeque würde sich umdrehen und zuhören. »Du tust, was ich sage, sofort!« Er ließ den Glaskasten mit der Pilzkultur los und zog die Waffe aus dem Hosenbund.

Nein, Taurentbeque blickte sich nicht um. Scheinbar seelenruhig stieß er sich ins Columbia-Modul hinein. Die anderen beiden sahen ihm entgegen. Jarnyszin hatte sich die Hornbrille aufgesetzt. Starr waren ihre Mienen, ängstlich ihre Augen.

Der Glaskasten schwebte an Bernstein vorbei und gegen eine Konsole. Der Deckel löste sich.

Tropfen gelblicher Nährflüssigkeit schwebten davon, und einzelne Fetzen des Nährbodens mit der Pilzkultur.

Bernstein ließ sich nach vorn sinken, stieß sich ab, spreizte die Beine und klammerte sich schließlich mit den Füßen im runden Rahmen des Verbindungsschottes fest. Wie ein Schwertfisch in ein Unterwasseraquarium ragte er ins Labormodul hinein. Und die Waffe in den Fäusten seiner ausgestreckten Arme war seine Schwertspitze.

»Was glotzt ihr und sagt kein Wort?« Seine Wut galt jetzt Jarnyszin und Domoto. »Sie meutern, verdammt noch mal! Winter hält Marsha fest, um mich unter Druck zu setzen! Sie haben mich gezwungen, die Rückreise abzusagen! Das geht auch euch an! Ihr könnt nicht so tun, als wäre nichts geschehen!«

Der Russe und der kleine Japaner schwiegen; kein Wort kam über ihre Lippen. Der Deckel des Kulturbehälters und ein paar Tropfen Nährflüssigkeit schwebten an Bernstein vorbei. Taurentbeque befestigte seinen Glaskasten auf dem Arbeitstisch und machte sich wieder am Mikroskop zu schaffen. »Sei vernünftig, Sean.« Seine Aufmerksamkeit galt dem Material und dem Mikroskop, während er sprach. »In zwei Monaten rast ein acht Kilometer durchmessender Glutball vorbei. Wenn wir ein bisschen Glück haben, wird er die ISS verfehlen. Die Erde wird er in jedem Fall rammen.«

»Das ändert nichts an unserem Auftrag!«, schrie Bernstein. »Das ändert nichts an unserem Befehl!«

»Das ändert alles«, sagte Domoto in seinem hölzernen Englisch. »Nichts wird je wieder so sein, wie es gewesen ist.«

»Es ändert zum Beispiel die Grundlagen unseres Auftrags«, schaltete Jarnyszin sich ein.

»Es kann nicht mehr darum gehen, ein langfristig geplantes Raumfahrt-Projekt um seiner selbst willen aufrecht zu erhalten. Es kann nicht mehr darum gehen, ein paar Experimente durchzuführen, die irgendwann einmal zu neuen Techniken und Medikamenten führen. Die Existenz der Menschheit steht auf dem Spiel. Vielleicht werden wir die einzigen Überlebenden sein.«

Bernstein ließ die Waffe sinken. Ganz allein stand er; die Einsicht tat weh. Er rang mit seiner Fassung.

»Die Karten werden neu gemischt, Sean.« Taurentbeque beugte sich über das Okular des Elektronenmikroskops. »Für ein Spiel, das kaum zu gewinnen ist. Es gibt nur eine winzig kleine Chance. Ich jedenfalls werde sie nutzen.« Er wandte sich an Jarnyszin und Domoto.

»Habt ihr das Peptid analysiert?«

»Es ist kein Somatotropin«, antwortete der Russe. »Aber so etwas Ähnliches. Oshi hält es für einen Nervenreiztransmitter; er glaubt sogar ihn identifiziert zu haben: ein Cannabinoid.«

Fassungslos musste Commander Bernstein zur Kenntnis nehmen, dass es aufregendere Dinge gab als einen Offizier der amerikanischen Luftwaffe mit einer entsicherten Waffe in der Hand.

»Eiweißstrukturen umgeben von Fettmolekülen.« Der Japaner zuckte mit den Schultern. »Erinnert mich an ein Anandamid. Könnte sein, dass unser Somatotropin verunreinigt war.«

»Ihr seid ja verrückt!« Taurentbeque beugte sich über das Elektronenmikroskop.

Sie fachsimpelten. Tatsächlich: Sie kümmerten sich einfach nicht mehr um Bernstein, sondern fachsimpelten! Wie ein gusseisernes Korsett presste ihm die Ohnmacht den Brustkorb zusammen.

Du musst Houston anfunken, dachte er. Nein, du musst zuerst nach Marsha schauen!

Er drehte sich um und hangelte sich zurück in den Tunnel. Sämtliche Module würde er nach Marsha und Winter absuchen!

Die Stimmen hinter ihm veränderten sich plötzlich. Eine vierte mischte sich unter sie, und schließlich sprach nur noch jene vierte. Bernstein sah zurück. Die drei Wissenschaftler hatten sich um den Bildschirm der Kommunikationskonsole versammelt. Jarnyszin winkte ihm zu. »Houston! Sie wollen dich sprechen, Sean!«

Commander Bernstein machte kehrt. Die Waffe in der Rechten tastete er sich an Decke und Wand entlang bis zur Konsole. Die drei Wissenschaftler wichen zurück. Vom Monitor blickte ihm Henry Ikeman entgegen, der Chef des Kontrollzentrums in Houston. Seine Augen weiteten sich, als er die Pistole in Bernsteins Hand sah. »Um Gottes willen, Sean! Was soll das Schießeisen?«

»Eine Meuterei, Sir! Dr. Louis Taurentbeque und Dr. Hagen Winter haben mich gezwungen, eine von ihnen aufgesetzte Erklärung zu verlesen. Aber ich hab die Situation bald wieder im Griff. Selbstverständlich kann die Atlantis II starten.«

Der Astrophysiker musterte ihn mit ernster Miene. »Wir haben keine Sekunde daran gedacht, den Countdown abzubrechen, Commander Bernstein.« Dieser Wechsel zwischen Förmlichkeit und Vertraulichkeit war typisch für den Chef am Boden. »Atlantis II wird in zwei Wochen an der ISS andocken und Ihr Team ablösen.«

»Davon gehe ich aus, Sir.«

»Allerdings wird bis dahin Oberstleutnant Anatol Ragojew das Kommando auf der ISS übernehmen.« Er räusperte sich und senkte die Stimme. »Tut mir Leid, Sean.«

Commander Bernstein konnte förmlich hören, wie sie hinter ihm den Atem anhielten. »Was soll das, Sir?« Er wurde laut. »Ich sagte Ihnen doch, dass ich die Situation bald wieder im Griff habe!«

»Wir können die Lage von hier unten sehr schwer einschätzen, Commander.« In einer halb hilflosen, halb entschuldigenden Geste breitete Ikeman die Arme aus.

»Sie haben mich gezwungen, Sir!« Bernstein erschrak vor seiner eigenen Stimme.

Ikemans Miene verschloss sich. »Das mag sein. Nachprüfen können wir es nicht, also gehen wir auf Nummer Sicher. Ich trage die Verantwortung für acht Astronauten und ein Milliarden teures Unternehmen. Oberstleutnant Ragojew befehligt ab jetzt die Mission. Sie haben sich ihm unterzuordnen. Ende.« Der Bildschirm erlosch.

Sean Bernstein starrte auf die Umrisse seines Spiegelbildes auf der Monitorfläche. Ein kaltes Loch breitete sich in ihm aus. Hinter sich hörte er die Wissenschaftler tuscheln. Reiß dich zusammen, verdammt noch mal! Langsam drehte er sich um. Keiner kümmerte sich um ihn, sie flüsterten miteinander. Erregung verzerrte ihre Gesichter. Sie stecken alle unter einer Decke …

Eiswasser schien in seinem Schädel anzusteigen: Dies war nicht das Ende einer Meuterei, nein. Die Ernennung des Russen zum Kommandanten war der erfolgreiche Abschluss einer Meuterei.

»Ihr Mistkerle!« Schlagartig unterbrachen sie ihr Getuschel und sahen ihn an. In ihren Blicken las Bernstein, dass sie zum Äußersten entschlossen waren. Sie würden alles tun, um die Besatzung von Atlantis II von der ISS fernzuhalten.

»Ihr gottverdammten Mistkerle!«

Jarnyszin nahm seine Brille ab und versenkte sie in der Brusttasche. »Ich wusste immer, dass du zu schwache Nerven hast, Sean.« Der Russe griff nach der Haltestange unter der Platte des Mikroskop-Tischs und zog sich ein Stück näher an Bernstein heran. Reflexhaft hob der Commander die Waffe. »Du bist nicht kühl genug, Sean, wirklich nicht. Wie bist du bloß zu diesem Job gekommen?« Jarnyszin streckte die Hand aus. »Gib sie mir, Sean. Los, gib her.«

»Den Teufel werd ich tun!« Mit beiden Händen umklammerte Bernstein den Pistolenkolben. Er zielte auf Jarnyszins Brust.

Wenn er nicht genau traf, würde die Kugel ein wichtiges Instrument zerstören. »Bleib, wo du bist!«

Ein Gedanke blitzte in Bernstein auf, ein Gedanke, der ihn schmerzte: Diese Männer waren keine Meuterer mehr. Seit Ikeman ihm das Kommando weggenommen hatte, war er der Meuterer.

»Du wirst nicht schießen, Sean. Her mit der Waffe!« Noch näher rückte der russische Wissenschaftler.

»Weg mit dir, oder du stirbst!«

Jarnyszin machte eine ruckartige Bewegung, um nach der SIG-Sauer zu greifen. Bernstein zog den Stecher durch.

Klick! Das Geräusch fegte ihm Brust und Hirn leer. Jarnyszins Finger berührten die Pistole. Noch einmal drückte Bernstein ab.

Klick!

Wieder und wieder.

Klick, klick, klick …

Er starrte die wirkungslose Waffe in seinen Fäusten an und begriff nichts mehr.

»Nicht nur du kanntest das Notversteck, Sean.« Der Russe nahm ihm die SIG-Sauer aus der Hand. Bernstein ließ es geschehen. Er war wie gelähmt. »Dein ehemaliger Stellvertreter wollte einen Unfall vermeiden.« Jarnyszin ließ das Magazin aus der Pistole gleiten. Es war leer!

 

 

7

Cape Canaveral, Anfang Dezember 2517

Die Zeit schien stehen zu bleiben, als die Tür sich aufschob. Hollyday blickte auf Melanies Rücken und dachte: Schade um sie, schade um uns. Und als sie ihn dann angekündigt hatte und beiseite trat, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er sah den graubärtigen Victor Hymes, er sah Crow, diesen Haifisch, und neben ihm das rothaarige Biest. Seine Rechte schloss sich um den Sprengsatz in seiner Tasche. Er ging auf den Präsidenten und den General zu. Stechender Schmerz wühlte in seinen Schläfen.

Aus den Augenwinkeln registrierte er den Killer Garrett und einen hochrangigen Offizier, den er nicht kannte. Und natürlich Lennox, den komischen Vogel aus der Vergangenheit. Sein Barbarenweib hockte neben ihm. Der lauernde Blick der wilden Frau schien Hollyday durchbohren zu wollen.

Er kümmerte sich nicht darum. Alles blendete er aus.

Die Welt schrumpfte auf seine Kopfschmerzen, Hymes, Crow, dessen Tochter und die Bombe zusammen.

Was für ein unverhofftes Glück: Der Präsident, der General und die Rothaarige zum Greifen nahe, und in seiner Tasche der Tod! Die Stunde der Abrechnung war gekommen! Endlich!

Um Himmels willen, mach kein Quatsch, Hollyday!

Halt dich raus, Mac!

In diesem Moment stand der Präsident auf.

»Schön, dass Sie so schnell kommen konnten, Professor Mulroney!« Er ging ihm den letzten Schritt entgegen, lächelte sein väterliches Lächeln, und reichte ihm die Hand. »Sie sind schließlich die Hauptperson in dieser Runde!«

Er wandte sich dem Blonden und der Barbarin zu. »Sie und Ihr Freund und Kollege Commander Lennox.«

Hollyday begriff nichts mehr. Er ließ die Bombe in seiner Tasche los und drückte Hymes die Hand. Es war ein Reflex – vielleicht auf die freundliche Miene des Präsidenten, vielleicht auf Macs Geschrei in seinem Kopf – und die schöne Todesstimmung war dahin. Was blieb, war Verblüffung.

Jetzt stand sogar der mürrisch dreinblickende Crow auf, um ihn zu begrüßen. »Alles bestens, Professor? Der Vogel ist flott, wie ich höre. Gute Arbeit!«

Auch Lynne Crow nickte ihm einigermaßen freundlich zu. Statt der rechten streckte sie ihm die linke Hand entgegen. Keine Wut in ihren Augen, auch keine Genugtuung, es ihm heimzuzahlen. Es schien, als hätte sie nie mitbekommen, dass er und Mr. Darker gemeinsame Sache machten. Hollydays Verblüffung wuchs noch an.

Der Offizier wurde ihm vorgestellt; sein Name blieb nicht in seinem Gedächtnis haften. Worte und Gesichter rauschten an ihm vorbei.

Schließlich fand er sich auf einem Stuhl neben Timothy Lennox wieder. Der würdigte ihn keines Blickes. Dafür ließ ihn seine Barbarin keinen Moment aus den Augen. Bei allen Sumpfgeistern – warum starrt sie mich so an?, fragte er sich. Melanie und die beiden Uniformierten verließen den Raum, Victor Hymes sagte irgendetwas. Hollyday brauchte ein paar Sekunden, bis er merkte, dass der Präsident ihn ansprach.

Er verschränkte die Arme vor der Brust und mimte den Aufmerksamen.

»… waren wir gerade dabei, Mr. Lennox von der Wichtigkeit der Mission zu überzeugen.« Hymes lächelte ihm aufmunternd zu.

»Vielleicht gelingt es Ihnen ja. Ohne den Commander als Piloten bleibt die Raumstation in unerreichbarer Ferne. Und das wäre doch mehr als traurig für uns alle, oder?«

 

*

 

Wie ein Grabmal ragte das Schwert aus dem Dünengras. Es steckte bis zur Hälfte im Sand. Vor ihm häufte sich ein Kleiderbündel: Fellmantel, Lederweste, Lendenschurz, Stiefel. Von dem Kleidergrab weg führten Abdrücke nackter Füße hinunter an den Strand und zur Brandung. Spuren von Frauenfüßen.

»Sprich dich aus, Lennox. Was gedenkst du zu tun?«

Hollydays bohrende Fragen passten nicht zu diesem idyllischen Abend. Timothy wünschte den Mann ans andere Ende der Welt. In das Nest des Avtar auf dem Eiffelturm, oder auf den Sklavenmarkt von Plymeth.

Vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit hatte Tim verlangt. Crow und Hymes hätten ihm auch zweiundsiebzig Stunden zugestanden.

Der Strand lag schon im Zwielicht der Dämmerung. Das Rauschen der Brandung erinnerte an die Atemzüge einer schlafenden Wakudaherde. Wie warm der Wind aus dem Landesinneren blies! Wie sich das Dünengras unter seiner Berührung vor der hereinbrechenden Nacht verneigte! Und dann das Tschilpen der Möwen über der Brandung – man hätte sich vergessen können!

O ja, das wäre es gewesen: Alles vergessen – diese fremdartige Welt, den Kometen, sich selbst. Am östlichen Horizont entfaltete sich der schwarze Schleier der Nacht; Stück für Stück verhüllte er den Himmel.

Am südöstlichen Horizont, korrigierte sich Tim. Sein innerer Kompass hatte sich noch nicht auf die verschobene Erdachse eingestellt.

Im Kopf hatte er die neuen Verhältnisse einsortiert. Aber sein Instinkt – oder war es einfach nur Gewohnheit? – suchte den Osten noch immer da, wo die Sonne sich morgens als erstes zeigte.

Und im Nordwesten waberte ein rötlicher Dunstschleier über dem Horizont. Die Konturen der Ruinen und der Bäume in den zerklüfteten Mauerkronen wirkten merkwürdig weich und idyllisch.

»Ich hoffe, du machst dir nichts vor, Lennox – sie wollen die Macht, weiter nichts.« Hollyday schien all dies nicht zu sehen. Er saß neben Tim im Hang der Düne. Mit einem Messer spitzte er ein Stück Treibholz zu. »Ich hoffe, du hast dich nicht von dem Gelaber von Wiederaufbau und ihren ach so hehren Zielen beeindrucken lassen.« Der Running Man mit Daves Aussehen rutschte im Sand hin und her.

»Sobald sie die Station unter Kontrolle haben und wissen, wie man dort hoch und wieder zurück kommt, glaub mir, lassen sie uns fallen wie abgenagte Knochen.«

Tim, der sich zum Sonnenuntergang umgedreht hatte, schloss die Augen. Er versuchte sich das gewaltige Vehicle Assembly Building vorzustellen, die Abschussrampen und die Massenversammlungen von Schaulustigen und Kamerateams hinter den Zäunen; und Larry King und das Emblem von CNN; und die gigantischen Rauchwolken im Augenblick des Starts, wie sie nach allen Seiten davon stoben; und wie sich schließlich die Trägerrakete aus dem weißen Dampf heraus in den Himmel hob wie der Phönix aus der Asche. Es gelang ihm allenfalls für Sekunden. Zu tief hatte sich das Bild der Ruinen und des allgegenwärtigen Gestrüpps eingebrannt.

»Verdammt, Lennox! Sag endlich was – morgen Abend wollen sie unsere Antwort wissen, Crow und der Präsident!«

Der Präsident der vereinigten Trümmerhalden, dachte Tim. Er öffnete die Augen wieder und suchte die Wellen ab. Von Zeit zu Zeit tauchte ein Kopf im schaumigen Türkis auf. Dann atmete er jedes Mal auf. Marrelas Kopf. Sie war ziemlich weit hinausgeschwommen, obwohl er sie eindringlich vor den Shargatoren gewarnt hatte. Aber die mutierten Mistviecher, halb Hai, halb Alligator schienen nur nachts zu jagen. Er hatte noch keinen zu Gesicht bekommen.

»Was sollte die Aktion mit der Bombe, Hollyday?«, wollte Tim wissen. »Du Idiot hättest uns mit in den Tod gerissen!«

Philipp Hollyday unterbrach seine Schnitzerei. Böse funkelte er den blonden Mann aus der Vergangenheit an. »Erstens: Sag Dave zu mir, wenn du nicht willst, dass ich auffliege. Und zweitens: Einen alten Kameraden nennt man nicht Idiot!«

Tim runzelte die Stirn und sah den anderen an. Manchmal hätte er schwören können, dass nicht Phil Hollyday, sondern Dave Mulroney mit ihm sprach.

»Okay, Dave. Und mich nennst du Tim, nicht Lennox. Also – was war mit der Bombe?«

Hollyday schüttelte den Kopf. »Ging nicht anders. Ich musste damit rechnen, dass die Crow mich enttarnt hat, damals, als die Running Men die Insel überfielen. Dieses Miststück hat mitgekriegt, was Mr. Darker und ich beredet haben. Aber sie scheint es vergessen zu haben. Wohl durch den Schock, als das Riesenkrokodil sie fast zerfetzt hat. Ihr Vater und der Präsident waren jedenfalls ahnungslos, sonst hätten sie mich eingekerkert oder gleich hingerichtet.« Er schüttelte den Kopf.

Tims Augen suchten die Wellen nach Dreiecken ab. Er war nervös. Was musste Marrela auch kurz vor der Dämmerung noch hinausschwimmen? Eigensinniges Weib!

»Deshalb also trägt Lynne Crow eine Prothese im rechten Ärmel«, murmelte er. »Was ist genau passiert?«

Mulroney alias Hollyday erzählte die Geschichte vom Kampf um Cape Canaveral.

»Sie lag im Koma, als man sie aus dem Tunnel holte. Ich hätte meine Stiefel gewettet, dass sie abkratzt.«

»Und du meinst wirklich, dass sie deine wahre Identität vergessen hat?« Tim rieb sich das Kinn.

»Genau – retrograde Amnesie. Sie kann sich an die letzten Minuten oder Stunden vor dem Schock nicht mehr erinnern.« Wieder schien der Astrophysiker aus dem Mann mit Mulroneys Gesicht zu sprechen.

»So eine Amnesie kann zeitlich begrenzt sein, Dave.« Tim sprach aus eigener Erfahrung. In Las Vegas hatte er eine Zeit lang auf der Seite der Schurken gestanden, weil er bei einem Sturz das Gedächtnis verlor. »Jedenfalls bin ich froh, dass du die verdammte Bombe in der Tasche gelassen hast.« Er stand auf, weil er Marrela nicht mehr erkennen konnte. Es war inzwischen so dunkel geworden, dass man kaum noch die Felsen von den Wogen unterscheiden konnte.

»Was uns zur nächsten Frage bringt«, sagte Hollyday. »Fliegst du oder fliegst du nicht? Ich bin zwar als Wissenschaftsastronaut ausgebildet, aber fliegen kann ich die Kiste nicht.«

Endlich tauchte Marrela zwischen den Wellen auf, ein dunkler Schatten ihr Haar und ihr Kopf, ein heller Fleck ihr Körper, wenn die Brandung ihn auf den Wellenkamm hob. Für kurze Zeit meinte Tim noch weitere Schatten rechts und links von ihr zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt vor. Doch schon verschwand Marrela wieder zwischen den Wellenbergen, und auch von den anderen Schatten war nichts mehr zu sehen.

Unten am Strand patrouillierten WCA-Posten entlang der Brandung. Auch rechts und links des ehemaligen Weltraumbahnhofs bei dem von Bäumen niedergedrückten Zaun konnte Tim Patrouillen ausmachen. Alle zweihundert Meter stand ein Panzerfahrzeug vor dem Wald und der Dünenlandschaft. Crow und Hymes nahmen die Bedrohung durch die »Söhne des Himmels« ernst. Und das war auch gut so. Die Fanatiker würden lieber sterben als den vermeintlichen Götterwagen aufzugeben.

»Wenn du Nein sagst, Tim, dann vergessen wir die ISS, und ich jag den Vogel in die Luft.« Hollyday fasste sich an die Stirn und stöhnte.

»Verdammte Kopfschmerzen!«

»Den Teufel wirst du tun.« Endlich entdeckte Tim die Barbarin wieder. Keine dreihundert Meter vom Strand entfernt trieb sie rücklings auf den Wogen. Und nichts zeigte sich in ihrer Nähe, was an einen Shargatoren erinnerte. Gott sei Dank!

»Den Teufel!« Hollyday machte eine begriffsstutzige Miene. »Wer ist das, der Teufel? Mac redet auch ständig von Typen wie Gott oder Jesus.«

Tim musterte sein Gegenüber. Der starre Gesichtsausdruck, die flackernden Augen, seine Unruhe – der Mann machte ihm Sorgen. Tim bezweifelte, dass Hollydays Kampfgenossen ihm und ihrem Widerstandskampf einen Gefallen getan hatten, als sie ihm eine zweite Persönlichkeit einpflanzten. Früher oder später würde Hollyday daran zerbrechen.

»Vergiss es«, sagte er knapp. Und: »Ja, ich fliege. Vorher muss ich aber noch etliche Stunden am Simulator absolvieren. Auch wenn das Shuttle sich ähnlich wie ein Jet fliegt, ich bin nicht daran ausgebildet!«

Ohne ihn und Hollyday – oder vielmehr die Fähigkeiten Mulroneys in Hollyday – hätte der Weltrat einpacken können. Niemand aus dieser Zeitepoche verfügte noch über das nötige Wissen, eine Raumfähre in die Luft zu bringen oder gar an der Raumstation anzudocken. Mit Engelszungen hatte der Präsident daher auf sie beide eingeredet.

Doch Tim war sich klar darüber, wie schwierig ein Flug zur ISS tatsächlich war, und wie viele Monate Vorbereitung man normalerweise dafür aufgewendet hätte. Das musste er jetzt in einem Crash-Kurs absolvieren.

Als er mit Hollyday und Rorke zum ersten Mal hier gewesen war, angesichts des Shuttle-Prototyps und der Daten, die aus dem Orbit von der ISS empfangen wurden, hatte er genau gewusst, dass er fliegen würde, wenn man ihm die Möglichkeit bot. Nur so konnte er herausfinden, was vor über fünfhundert Jahren nach dem Aufprall des Kometen mit der Erde geschehen war; die Observationsgeräte der ISS mussten alles aufgezeichnet haben.

Die üblen Erfahrungen mit dem Weltrat allerdings hatten ihn in dieser Hinsicht kritischer und vorsichtiger gemacht. Was immer man diesen Leuten an technischem Knowhow verschaffte – sie würden es für die Zementierung ihrer Macht missbrauchen. Das musste er verhindern. Die Daten der ISS-Computer durften Victor Hymes nicht in die Hände fallen.

»Du fliegst?« Hollyday nahm die Fensterglas-Brille ab und schnitt eine verblüffte Miene.

Offenbar hatte er nicht mehr damit gerechnet.

»Ja, ich fliege.«

»Warum sagst du das nicht gleich? Stattdessen lässt du mich auf kleiner Flamme braten.« Da sprach eindeutig Mulroney. Auch die Geste, wie er den rechten Daumen in die Höhe reckte, war ganz der alte Dave. Er setzte die Brille wieder auf.

Merkwürdig, wie rasch seine Gemütszustände wechseln, dachte Tim. Laut sagte er: »Für dich wird es kein Zuckerschlecken. Der Geist Mulroneys in deinem Kopf hat zwar eine Ausbildung als Astronaut absolviert, aber dein Körper ist der des Pales Phil Hollyday. Der war nie in einer Zentrifuge, den haben sie nie in einem hundertdreißig Kilo schweren Raumanzug in ein Schwimmbecken gekippt!«

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2020
ISBN (eBook)
9783738938166
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
zeitalter kometen lennox mission orbit
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Titel: Das Zeitalter des Kometen #17: Lennox und die Mission im Orbit