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Tödliche Predigt

©2019 120 Seiten

Zusammenfassung

Waffendiebstähle, selbst bei der Army, machen das FBI ebenso hellhörig wie ein ungezügelter Anstieg der Morde in den weißen Stadtteilen. Als ein schwarzer FBI-Agent getötet wird, ist klar, dass alle Spuren nach Harlem führen, wo es bei Immobiliengeschäften um viel Geld geht. Was haben die Mitglieder der Black Temple Gemeinde mit diesen Vorfällen zu tun? Der Reverend ist eifriger Verfechter eines aktiven Glaubens, auch mit Gewalt. Jesse Trevellian fordert eine schwarze Kollegin zur Unterstützung an, und für die FBI-Agenten geht es plötzlich um Leben und Tod.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Tödliche Predigt

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Krimi von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 125 Taschenbuchseiten.

Waffendiebstähle, selbst bei der Army, machen das FBI ebenso hellhörig wie ein ungezügelter Anstieg der Morde in den weißen Stadtteilen. Als ein schwarzer FBI-Agent getötet wird, ist klar, dass alle Spuren nach Harlem führen, wo es bei Immobiliengeschäften um viel Geld geht. Was haben die Mitglieder der Black Temple Gemeinde mit diesen Vorfällen zu tun? Der Reverend ist eifriger Verfechter eines aktiven Glaubens, auch mit Gewalt. Jesse Trevellian fordert eine schwarze Kollegin zur Unterstützung an, und für die FBI-Agenten geht es plötzlich um Leben und Tod.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Das Schachbrett stand auf einer Obstkiste. Davor ein alter Mann und ein Halbwüchsiger. Beides Schwarze. Der Alte saß auf der ersten Stufe einer Vortreppe. Der schlaksige Teenager ihm gegenüber auf einem orangenen Basketball.

Henry beugte sich über die Schulter des Jungen. „Wirf mal einen Blick auf deinen Turm‟, flüsterte er ihm ins Ohr. Der Alte hob seinen grauhaarigen Schädel und musterte ihn mürrisch. „Wenn du ihn da stehen lässt, erstickt dein König, und du bist in drei Zügen matt.‟

„Verflucht, Portman!‟, schimpfte der Alte. „Es geht um fünf Dollar! Halt den Rand oder verpiss′ dich!‟

„Ist ja gut, ist ja gut!‟ Henry hob beschwichtigend die Hände. Er zwinkerte dem Jungen zu und machte, dass er weiterkam.

Er drückte sich am Stand eines Fischhändlers vorbei, wich einer Gruppe Inlineskater aus, fing einen Ball auf, mit dem ein Rudel Kids Volleyball über ein, zwischen zwei Straßenlaternen improvisiertes, Netz spielte, und lauschte einigen Mädchen, die unter dem Torbogen zu einem Hinterhof einen Rap zum Besten gaben.

„Bist du bereit, dem Herrn zu begegnen?‟ Henry blickte in ein verdrossenes Gesicht links neben sich. „Der Tod kommt wie ein Dieb in der Nacht.‟ Der kleine Mann sprach mit Grabesstimme. „Und dann stehst du vor dem Gericht Gottes.‟ Er reichte Henry ein religiöses Traktat.

„Klar bin ich vorbereitet, Samuel!‟ Henry schlug dem Mann auf die Schulter. Sein aufgesetzter Ernst amüsierte ihn jedes Mal aufs neue. „Ehrlich, Samuel! Von mir aus kann er kommen!‟ Er winkte und überquerte tänzelnd die Straße. Kaum ein Tag, an dem er dem verhinderten Propheten nicht über den Weg lief.

Henry grinste vergnügt. Das pralle Leben auf den Straßen Harlems turnte ihn an.

Kurz darauf blieb er wieder an einem Schachbrett stehen. Die beiden Jugendlichen standen mit verbissenen Mienen um den Papierkorb, auf den sie das Brett gestellt hatten. Ein halbes Dutzend Männer scharten sich schweigend um sie.

Kaum Straßenzüge in Harlem, in denen man die Leute nicht plaudern, spielen, Biertrinken oder einfach nur auf den Vortreppen oder den Bordsteinkanten herumhängen sah.

Um die Zeit aber, am späten Nachmittag, konnte das Straßenleben volksfestartige Züge annehmen. Die Schüler und Studenten waren nach Hause gekommen, die Männer mit Arbeit machten Feierabend, die Kids schwärmten aus, und die Frauen suchten die Nachrichtenbörsen an den Straßenecken und vor den zahllosen kleinen Geschäften auf. Großen Wohnzimmern glichen manche Teile des Viertels um diese Zeit.

Und jedes Mal, wenn Henry auf dem Heimweg von der Columbia University am Columbuspark aus der U-Station ins Freie trat, hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Er brauchte nicht lange, um die Stellung auf dem Brett zu analysieren.

„Hey, was meinst du, Buddy?‟, raunte er dem Mann neben sich zu. „Noch drei Züge, dann nimmt Weiß den schwarzen König mit Läufer und Springer in die Zange.‟ Der Mann machte eine skeptische Miene und wiegte den Kopf.

Schwarz machte nach Henrys Einschätzung einen völlig unsinnigen Zug. „Oh, Mann!‟, stöhnte er. „Rochade! Wann um alles in der Welt machst du deine Rochade!?‟

Böse Blicke trafen ihn. Er verkniff sich weitere Ratschläge und setzte seinen Heimweg fort. Ein paar Minuten später schlenderte er über den Frederic-Douglass-Boulevard.

Das Straßenbild veränderte sich. Dichter Verkehr rollte an belebten Bürgersteigen vorbei, Jugendliche scharten sich um mannshohe Boxen, aus denen die neusten Raps bellten.

Kaum noch spielende Kinder, dafür schwarze Männer in dreiteiliger Bankerkluft. Statt Sandalen und afrikanisch anmutenden, bunten Tüchern – übergroße Basketballschuhe, enge Lederröcke und viel zu weite Hosen um die schlaksigen Beine der Kids.

Eine Gruppe junger Burschen kam ihm entgegen. Die Gesichter hinter verspiegelten Sonnenbrillen versteckt. Auf den schwarzen T-Shirts die Konterfeis eines Kumpels. Henry kannte das Gesicht aus der Zeitung – der Junge war letzte Woche in seiner Wohnung in der hundertfünfundzwanzigsten erschossen worden. Vorsichtshalber wechselte er die Straßenseite.

Dann hinein in die Hunderteinunddreißigste, vorbei an dem Haus, in dem vor über neunzig Jahren der Mord passierte, der dafür sorgte, dass Harlem schwarz wurde. Schwarz und wild.

Schon von weitem sah Henry die große Parklücke vor dem Mietshaus in dessen Dachmansarde er seit zwei Jahren lebte. Ein groß gebautes Bürgerhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert. Bevor er in der offenen Haustür verschwand, las er das Pappschild an der Latte, die hier jemand wie eine Schranke auf zwei Mülltonnen gelegt hatte: Umzug, nicht parken.

Auf der Straße schwenkten zwei Mädchen ein Seil. Ein Junge hüpfte auf und ab.

„Wer zieht denn hier aus?‟, rief Henry. Die Kids zuckten mit den Schultern, ohne ihn anzusehen.

Er drehte sich um und stieg das breite Treppenhaus hinauf. Die heisere Klage eines Saxophons drang von oben herab. Jimmy Chicorea, sein Nachbar, probte mal wieder. Und, wie meistens, stand seine Wohnungstür sperrangelweit offen.

Eine alte Frau kam ihm entgegen. Die halbblinde Mrs. Elliot. Sich ängstlich am Geländer festklammernd tastete sie mit den Schuhspitzen nach den Stufen.

„Tag, Mrs. Elliot‟, grüßte Henry.

Die Frau stutzte und sah auf. Dann ging sie weiter, ohne seinen Gruß zu erwidern.

Henry runzelte die Stirn. Vor drei Tagen noch hatte er sie zum Augenarzt begleitet. Noch nie war sie grußlos an ihm vorbeigegangen. War irgend etwas passiert? War sie es, die ausziehen wollte?

„Hi, Balu!‟, rief Henry während er die Tür zu seiner Mansarde aufschloss. Alle nannten Jimmy Chicorea nur „Balu‟ – weil er groß und massig war, und weil er sich nur schaukelnd und mit den Armen rudernd fortbewegte – ebenso, wie der launige Bär in Disneys Dschungelbuch.

Das Saxophon verstummte.

„Wer zieht denn hier aus?‟, rief Henry, bevor er seine Bude betrat.

„Du.‟

„Witzbold.‟ Henry drückte die Tür zu und ging an den Kühlschrank. Seine Mansarde war so eng, dass er für den Weg von der Wohnungstür zu seinen gekühlten Bierdosen nur drei Schritte benötigte. Eine Falttür trennte das einzige Zimmer vom Bad.

Knallend sprang der Verschluss der Dose auf. Henry trank gierig. Der Tag war heiß. Obwohl es erst Ende Juni war, kündigte sich schon die hochsommerliche Schwüle an.

Seine Wohnungstür ging auf. Im Türrahmen erschien Jimmy Chicorea – fast zwei Meter groß, schwarzes fleischiges Gesicht, kahl rasierter Schädel, Ende zwanzig. Das kindliche Lächeln um seine dicken Lippen, das ihn sonst auf Anhieb sympathisch machte, fehlte heute. Ein unangenehmes Kribbeln zog über Henrys Zwerchfell.

„Was′n los, Dicker?‟ Er drehte sich zum Kühlschrank um. „′ne Dose Bier?‟

Chicorea schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Schweigend starrte er Henry an. Der hielt ihm die Bierdose entgegen. Der massige Mann machte keine Anstalten, sie zu nehmen.

„Teufel auch, Balu – wer ist gestorben?‟ Henry versteckte seine wachsende Unruhe hinter einer gereizten Miene. „Irgendwas stimmt doch nicht. Wer zieht aus – raus mit der Sprache! Du?‟

Die Falttür vor dem Bad bewegte sich. Henrys Kopf zuckte erschrocken herum. Die Kunststofftür faltete sich zusammen. Die hagere Gestalt eines breitschultrigen Schwarzen wurde sichtbar – gelbes Muskelshirt, dichte rot gefärbte Krausmatte auf dem Schädel, eine große Kreole im linken Ohr, knapp über dreißig.

„Hey, Mann ...!‟ Henrys Stimme versagte. „Was treibst du in meiner Bude ...‟ Er kannte den Typen kaum. Erst wenige Tage, bevor er selbst die Gemeinde verlassen hatte, war er auf der Bildfläche erschienen.

„Du ziehst um‟, sagte der Typ und grinste.

Panik überflutete Henrys Hirn. „Seid ihr übergeschnappt?‟

„Du bist ein prima Kumpel gewesen, Henry.‟ Jimmy Chicorea machte einen Schritt auf ihn zu. „Aber du bist ein Naivling. Der Herr lässt niemanden so einfach aussteigen. Und wir auch nicht.‟

„Balu, Mann...‟, flüsterte Henry mit bebenden Lippen. Chicoreas Fausthieb traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Wie der Kopf einer Stoffpuppe klappte sein Schädel nach hinten weg. Seine Dose prallte neben dem Gelbhemd an die Wand. Ächzend rutschte er am Kühlschrank entlang auf den Boden.

Henry kam nicht mehr zu sich. Und das war gut so. So wurden ihm die quälenden Fragen erspart, die er sich sicher gestellt hätte, wenn er das plätschernde Badewasser und den laufenden Föhn gehört hätte ...

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Der Supermarkt lag in der East Village an der siebenundfünfzigsten Straße. Nicht weit von der Auffahrt zur Queensboro Bridge.

Es war Freitagabend, wir hatten die Siebenundfünfzigste sperren lassen. In den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite lagen Scharfschützen auf Dächern und Balkonen. Eine schwerbewaffnete Einheit der New York City Police hatte sich auf den überfüllten Parkplatz vor dem Supermarkt zwischen den parkenden Fahrzeugen verteilt.

„Okay, Bentlyn!‟, brüllte ich ins Megaphon. „Der Fluchtwagen steht bereit!‟

Ich drehte mich um, und nickte den Hundeführern hinter mir zu. Sie hatten sich hinter der Eisbude versteckt, die direkt vor dem Eingang des Marktes aufgestellt war. Behutsam schnallten sie die ledernen Maulkörbe an den Schnauzen ihrer deutschen Schäferhunde ab und hielten ihnen eine Unterhose hin. Wir hatten das Stück aus einem Korb mit schmutziger Wäsche gezogen, den wir in Bentlyns Wohnung in Queens gefunden hatten. Die Hunde beschnüffelten das appetitliche Stück und wedelten aufgeregt mit den Schwänzen.

„Wo zum Teufel steht die gottverdammte Karre?‟ Bentlyns hohe Stimme jenseits der Glasfront vor dem Supermarkt. „Ich kann sie nirgend sehen. Fahrt sie gefälligst bis auf mindestens zehn Schritte an den Eingang heran!‟

Ich presste den Kopfhörer meines Walkie-Talkie ans Ohr. „Er will, dass wir den Wagen direkt vor den Eingang fahren.‟

„Kann er haben.‟ Caravaggios Stimme in meinem Ohr. Clive Caravaggio leitete den Einsatz.

„Der Wagen fährt sofort vor!‟, brüllte ich.

Keine zehn Schritte entfernt von mir, auf der anderen Seite des Eingangs Supermarkt, drückten sich Milo und Ed gegen die Betonwand des Flachbaus. Sie trugen Helme und kugelsichere Westen.

Edward Yorkham arbeitete seit knapp zwei Jahren für unser District Office. Ein vielversprechender Mann, den ich von einigen Kursen in Quantico kannte. Von Zeit zu Zeit holten sie mich auf die Akademie, um das eine oder andere Seminar zu geben. Ed war mir schon bei unsere ersten Begegnung aufgefallen. Er brillierte damals mit einer seltenen Mischung aus Phantasie und Intelligenz. Außerdem war er einer der wenigen Schwarzen im New Yorker FBI Office.

Der Wagen fuhr vor. Ein roter Ford. Die Beamtin, die ihn steuerte, entfernte sich.

Plötzlich flog etwas durch die offene Glastür des Eingangs und schlug klirrend auf dem Asphalt auf. Ein Schlüsselbund.

„Das habt ihr euch so gedacht!‟ Bentlyns gereizte Stimme. „Ich werde mit einem roten Wagen durch die Straßen fahren, damit ich ja schön auffalle! Na klar! Und wahrscheinlich habt ihr ihn auch mit eurem gottverdammten Bullenspielzeug gespickt!‟

Milo und Ed verdrehten die Augen. Natürlich hatten wir den Wagen präpariert. Aber Bentlyn schien ganz und gar nicht der Hohlkopf zu sein, als den ihn seine Akten schilderten.

„Der Schlüssel passt zu einem grauen Mitsubishi, links in der vierten Reihe von hier aus gesehen.‟ Er nannte das Kennzeichen. „Er gehört einem der Hosenscheißer, denen ich eine Kugel in den Schädel jagen werde, wenn die Kiste nicht in einer Minute vor dem Eingang hält!‟

„Schnell, Clive!‟, flüsterte ich. „Er akzeptiert den Wagen nicht, schick die Beamtin zurück!‟

„Mistkerl!‟, knurrte Clive.

Die Hundehalter hinter mir tuschelten mit ihren Tieren. Die Hunde verhielten sich erstaunlich diszipliniert. Sie waren darauf trainiert, sich solchen Situationen stumm wie Fische zu verhalten.

Die Idee mit den Hunden stammte von Ed. Er hatte aus Bentlyns Akten eine scheinbar unbedeutende Kindheitsepisode ausgegraben. Als kleiner Junge war der Bursche von einem Schäferhund angefallen worden. Er hatte panische Angst vor den Tieren. Wenn unsere Rechnung aufging, würde er gelähmt vor Schrecken die angreifenden Hunde anstarren, während Ed ihn von der anderen Seite unschädlich machte.

Milos Aufgabe war es, den Mann von seinen Geiseln zu trennen.

Für Ed war so ein Einsatz Routine. Raubüberfälle mit Geiselnahme – sein täglich Brot. Allerdings musste er sich in der Regel mit Bankräubern auseinandersetzen. Normalerweise arbeitete er zusammen mit Kollegen der City Police in einer Spezialeinheit für Banküberfälle. Deswegen hatten wir auch wenig miteinander zu tun.

„Die Minute ist ′rum!‟, kreischte Bentlyn. „Ich will den Mitsubishi sehen, oder es kracht hier drin!‟

„Er dreht jeden Moment durch‟, murmelte ich ins Mikro. „Beeilt euch, Clive.‟ Ich ließ meine Augen über die Dächer der parkenden Fahrzeuge wandern. Ein hellgrauer PKW löste sich aus der Blechmasse und rollte auf unseren Standort zu.

„Cool bleiben, Bentlyn.‟ Ich sprach mit gesenkter Stimme, um ihn zu beschwichtigen. „Dein Taxi rollt an!‟

Das war nicht der erste Supermarkt, den Bentlyn überfiel. Exakt sechs solcher Hits gingen inzwischen auf sein Konto. Drei davon in New Jersey, beziehungsweise Massachusetts. Deswegen war der Fall auch auf Jonathan McKees Schreibtisch gelandet.

„Das sei euer Glück, Scheißbulle!‟

Immer freitags schlug er zu, am frühen Abend, wenn die Kassen voll waren. Und er schoss gnadenlos auf jeden, der sich ihm in den Weg stellte. Drei Menschen hatte seine Raublust schon das Leben gekostet.

„Und du wirst mir jetzt deine Knarre vor den Eingang schieben, Bulle. Oder willst du mir erzählen, dass du unbewaffnet gekommen bist?‟

„So ist es, Bentlyn – ich bin unbewaffnet.‟ Ich zog meinen Revolver und holte das Magazin heraus. Der Mitsubishi hielt vor dem Ford, etwa zwölf Schritte vom Eingang entfernt.

„Waffe her!‟, kreischte Bentlyn.

„Okay, okay!‟ Ich drückte das leere Magazin wieder in den Griff, bückte mich und schleuderte mein gutes Stück über den Asphalt. Die SIG Sauer blieb auf halbem Weg zwischen Fluchtfahrzeug und Eingang liegen.

„So ist es brav, Bulle. Und jetzt hau ab.‟

Im Dauerlauf trabte ich auf den Parkplatz und ging hinter einem Wagen in Deckung. Jetzt kam alles auf Ed und Milos Schnelligkeit an. Und auf die Hunde.

Ich robbte zwei Wagen weiter nach links, wo ich einen Schatten gesehen hatte. Tatsächlich traf ich auf einen Scharfschützen. Ich bat ihn um sein Gewehr. Widerwillig rückte er es heraus. Durch das Zielfernrohr sah ich die Konturen menschlicher Körper hinter der Glasfront sichtbar werden. Dann zeichneten sich deutlich vier Personen ab. Drei Frauen, und eng hinter ihnen Bentlyn. Er bedrohte sie abwechselnd mit der Waffe und schrie Anweisungen, die ich auf die Entfernung nicht verstehen konnte.

Auf der Schwelle zum Parkplatz zögerte er einen Moment. Er beugte sich ein wenig heraus und spähte um sich. Milo und Ed pressten sich dicht an die Wand. Dann kam er zwei Schritte weit heraus.

Im gleichen Moment schossen zwei Schatten auf ihn zu – die Hunde. Bentlyn zeigte keine Reaktion. Einer der Schäferhunde huschte zwischen den Beinen der Geiseln hindurch und schnappte nach Bentlyns Unterschenkel. Der andere sprang ihm sofort an den Hals.

Ed spritzte aus seiner Deckung hervor, entwaffnete den Geiselgangster und riss ihm die Arme auf den Rücken. Milo stellte sich schützend vor die Frauen und drängte sie ein paar Schritte ab. Keine zwei Sekunden später lag Bentlyn in Handschellen auf dem Asphalt. Er heulte vor Wut und stieß alle Verwünschungen und Flüche gegen uns aus, die er in langen Knastjahren gelernt hatte.

Zu dritt standen wir vor dem Supermarkt. Nicht weit von uns Clive, umringt von der unvermeidlichen Presse. Er hatte es übernommen, die gierigen Ohren mit Informationen zu stopfen.

Wir sahen den Kollegen hinterher, die Bentlyn abführten.

„Das war′s dann.‟ Milo klopfte Ed auf die Schulter. „Gut gemacht, Ed.‟

„War mal wieder nett mit dir, Ed.‟ Ich sah auf die Uhr. „Zeit für den Feierabend. Wie wär′s mit einem Drink?‟

Milo nickte eifrig. Ed winkte ab. „Lasst mich ziehen, Jungs. Weib und Kinder warten.‟

„Also, dann.‟ Ich drückte ihm die Hand. „Mach weiter so, Ed. Bis zum nächsten Mal.‟

„Bis zum nächsten Mal!‟ Im Laufschritt eilte er über den Parkplatz und stieg am Straßenrand in einen Dienstwagen.

Bis zum nächsten Mal sollten nur noch wenige Tage vergehen. Und beim nächsten Mal würden zwei von uns dreien unseren Job zum Teufel wünschen.

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Der Sergeant hob die flache Hand bis zu seinem gebeugten Knie. Die drei Marines hinter ihm duckten sich noch tiefer ins Gras. Er wandte sich um. Die blauen Augen in seinem rußgeschwärzten Gesicht verrieten die Anspannung des Stoßtruppführers.

Jacky hielt sich dicht hinter dem Sergeant und verstand seinen Blick sofort. Auch er hatte die Bewegung drüben am Waldrand gesehen.

Mit einem Handgriff schaltete er das Funkgerät ein, das er seit drei Tagen auf dem Rücken mit sich herumschleppte. „Sind auf feindliche Truppenteile gestoßen‟, flüsterte er. Er drückte den Bügel mit dem Mikro näher an seine Lippen und gab sich alle Mühe, ihren Standort so präzise wie möglich durchzugeben.

Schweigend beobachteten die vier Marines das Gebüsch vor dem etwa dreihundert Schritte entfernten Waldrand. Einer der Büsche löste sich und bewegte sich in das hohe Gras der Wiese hinein. Langsam und ruckartig. Und direkt auf sie zu.

Jacky war froh, dass sich endlich etwas tat. Drei Tage Manöver waren genug. Drei Nächte Ameisen im Schlafsack, drei Tage das nervende Sirren der Mücken im Ohr, drei Tage synthetischen Fraß, und jedes Mal, wenn man sich zum Pinkeln verzog, musste man aufpassen, dass man nicht in die Scheiße der anderen trat.

Jacky träumte von einer kalten Dusche, einem frisch gezapften Bier und einem saftigen Steak.

Der Busch dort drüben in der Wiese war ein gutes Zeichen dafür, dass diese bescheidenen Träume noch heute in Erfüllung gehen könnten. Hinter der Wiese wölbte sich der bewaldete Hügel, den seine Einheit nehmen sollte. Und wenn sie das so schafften, dass der Major zufrieden war, dürfte dieses dämliche Manöver in ein paar Stunden vorbei sein.

„Da bewegt sich noch so ein gottverdammter Busch‟, zischte der Sergeant. Tatsächlich hatte sich ein weiterer gegnerischer Marine vom Waldrand gelöst. Er hielt sich etwa dreißig Schritte hinter dem anderen getarnten Infanteristen.

„Sie scheinen uns nicht zu sehen‟, flüsterte einer der beiden MG-Schützen hinter Jacky. Tatsächlich robbten die beiden Manövergegner so rasch über die Wiese, als würden sie sich völlig unbeobachtet fühlen.

Endlich kam der Befehl aus dem fünf Meilen entfernten Kommandopanzer: MG-Nest aufbauen und feindlichen Spähtrupp unter Feuer nehmen.

Wie der Sergeant legte auch Jacky sein automatisches Gewehr an. Hinter ihm das vertraute Geräusch aneinanderstoßender Metallteile – die anderen beiden brachten das Maschinengewehr in Stellung.

„Das können doch nicht nur die zwei sein, verflucht noch mal‟, flüsterte der Sergeant. Er drehte sich zu Jacky um. „Sobald das MG loshämmert, nehmen wir den Waldrand von zwei Seiten in die Zange.‟

Jacky nickte. Er schob sich vorsichtig voran, bis er neben dem Sergeant im Gras kauerte.

Die beiden Büsche näherten sich langsam.

„MG fertig‟, kam die Meldung von den MG-Schützen. Der Sergeant hob den Arm. Im gleichen Moment bellten Schüsse los. Von hinten. Schüsse aus Sturmgewehren.

Jacky fuhr herum. Einer der MG-Schützen wälzte sich schreiend im Gras. Der andere war aufgesprungen und starrte entsetzt in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Plötzlich riss er die Arme hoch und sank seufzend auf das Maschinengewehr.

Panik tobte durch Jackys Körper. Die Gedanken galoppierten durch seinen Schädel wie eine Herde wild gewordener Pferde. Zu welcher Einheit gehörte der bullige Marine, der von dort hinten aus seinem Sturmgewehr feuernd auf sie zugerannt kam? Wieso konnte man von Übungsmunition zusammenbrechen? Und warum hatte war die rote Flüssigkeit am Hals des MG-Schützen so hellrot, wie echtes Arterienblut?

Nun auch Schüsse aus der Wiese. Ein brennender Schmerz bohrte sich in Jackys Lendenwirbelsäule. Er drehte sich um seine eigene Achse und wurde ins Gras geschleudert. Neben den Sergeant. Dessen Augen starrten blicklos in den wolkenlosen Junihimmel.

„Was für ein Film läuft hier ab ...?‟ Jacky schnappte nach Luft. „Was für ein Albtraum ...?‟

Sekunden später tauchten die Hosenbeine einiger Marines neben ihm auf. Keuchende Männerstimmen wurden laut.

„Lass die Scheiß-Übungs-Munition liegen!‟ bellte einer. „Nur die Waffen!‟

Jackys Blick kroch an den Hosenbeinen hinauf bis zu den Gesichtern der Soldaten. Sie waren rußverschmiert, genau wie seines. Trotzdem sah er, dass es ausschließlich Schwarze waren. Er kannte keinen einzigen von ihnen.

Einer beugte sich zu ihm hinunter und riss das Gewehr unter seinem Körper weg. So grob, dass Jackys Körper auf den Bauch rollte.

„Bullshit! Der lebt noch!‟, fluchte der fremde Soldat.

„Dann erledige ihn!‟, zischte ein anderer.

Jacky spürte die heiße Öffnung eines Gewehrlaufs auf der Haut seines Nackens. Dann explodierte die Welt und versank in bodenlosem Nichts ...

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Ich will alles vom Erdboden wegraffen, spricht der Herr.‟

Der voluminöse Mann auf der Kanzel hielt das große, in der Mitte aufgeschlagenen Buch, aus dem er vorlas, mit der Linken. Dabei schüttelte er die zur Faust geballten Rechten über seinem kraushaarigen Schädel.

„Ich will Mensch und Vieh, die Vögel des Himmels und die Fische im Meer wegraffen!‟ Beschwörend schraubte sich seine Stimme in die Höhe. Er machte eine Pause und ließ seinen lodernden Blick über die Köpfe der Gemeinde wandern. Etwa hundertachtzig Menschen saßen vor ihm auf den gepolsterten Stühlen – Männer und Frauen, Kinder und Greise, und ausschließlich Farbige. Wie ein Mann hielten sie den Atem an. Man hätte in diesem Augenblick jeden noch so leisen Furz hören können, so still war es in dem weitläufigen, und neu renovierten Gottesdienstraum.

„Ich will zu Fall bringen die Gottlosen ...!‟ Die Gemeindemitglieder in der vorderen Reihe zuckten zusammen, so laut brüllte der Mann. „Amen!‟, rief eine alte Frau aus den hinteren Reihen.

Eine junge Frau in rotem, engem Kostüm und mit rotem Hütchen schlug die Hände vor den Mund. Von links und rechts drückten sich ihre beiden Kinder an ihren Körper. Der Mann neben einem der Kinder starrte seine glänzenden Schuhspitzen an.

„... ja, ich will sie ausrotten vom Erdboden, spricht der Herr!‟

„Amen!‟, hallte es jetzt vielstimmig aus der schwarzen Gemeinde wider. Ein Mann riss die Arme hoch und brüllte ekstatisch: „Halleluja!‟

Der Prediger legte die Bibel auf der Kanzel ab. Schweiß glänzte auf seiner breiten Stirn. Etwa fünfzig Jahre alt mochte er sein. Vielleicht auch ein bisschen älter. „Glaubt doch nicht, dass dieser Spruch des Propheten Zefanja verstaubtes, antiquiertes Wortgeklimper sei, sinnloses Gerede aus längst vergangenen Zeiten!‟

Er schob den Stoff des dunkelroten Samtumhangs, den er trug, ein wenig zur Seite und zog ein weißes Tuch heraus. Mit einer weit ausladenden Geste wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

Mit gesenkter Stimme und ohne das Tuch wieder wegzustecken sprach er weiter. „Lasst euch das doch von niemandem einreden, Brüder und Schwestern.‟ Die Gemeinde lauschte atemlos.

„Weg mit den Gottlosen!‟, brüllte er los. „Weg mit allen, die sich Gottes Volk in den Weg stellen! Weg mit allen, die es aussaugen und in die Ecke drängen!‟

„Amen! Amen!‟, antwortete die Menschen vor ihm in den Bänken. Einige standen auf.

„Ich will sie ausrotten, spricht der Herr! Nicht – so sprach der Herr –, nein, Brüder und Schwestern, so spricht der Herr!‟ Der Mann wedelte mit seinem Tuch herum und ließ seinen rechten Arm durch die Luft sausen, als führte er ein Schwert. „Jetzt sagt er das! Jetzt tut er das! Um eine bessere Welt zu schaffen! Um Gerechtigkeit zu schaffen! Und wohl dem, der sein Werkzeug sein darf ...!‟

Die letzten Worte des Predigers gingen in einem vielstimmigen Lobpreis unter. „Halleluja! Halleluja!‟

Wie so viele war jetzt auch die junge Frau in dem roten Kostüm aufgestanden und klatschte zum Rhythmus des Liedes, das irgend jemand spontan angestimmt hatte.

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihren Mann: Immer noch hockte er steif auf seinem Platz, und immer noch beschäftigte er sich mit seinen Schuhspitzen. „Ed‟, zischte sie. Er sah missmutig auf. „Bitte ...‟ Die steile Falte zwischen ihren Brauen sprach Bände.

Edward Yorkham erhob sich widerwillig. Er klatschte in die Hände und versuchte den Rhythmus zu finden. Der Sechsjährige neben ihm strahlte zu ihm hoch. Ed rang sich zu einem säuerlichen Grinsen durch.

Die Gesänge wurden hitziger. Neben der Kanzel gruppierte sich ein Chor. Drei Musiker tauchten auf – ein breiter, großer Schwarzer mit einem abgegriffenen Saxophon, ein Gitarrist mit einer Schlaggitarre, und ein hühnerbrüstiger Jüngling, der ein Paar Bongos auf die improvisierte Bühne schleppte. Ed wusste, dass es der Sohn des Reverends war. Im Handumdrehen war die schönste Musiksession im Gange. Einige Leute fingen an zu tanzen – wild und ekstatisch.

Eine Stunde später schlenderte die Familie Yorkham über den breiten Adam Clayton Powell Boulevard. Über die Seventh Avenue, wie die Straße vom unbedeutenden Rest Manhattans genannt wurde. Die Yorkhams wohnten in der hundertdreiunddreißigsten Straße. Dieser sanierte Teil Harlems war ein schmuckes Dorf mit idyllischen Holzfassaden und Kopfsteinpflaster. Seit einigen Jahren zog es die schwarze Mittelschicht zurück zu ihren Wurzeln nach Harlem. Ganze Straßenzüge waren von ihrer aufgeräumten Bürgerlichkeit geprägt.

Ed war verschwitzt und durstig. „Komm, lass uns was trinken gehen.‟ Ohne die Antwort seiner Frau abzuwarten, betrat er eine Kneipe. Die Kinder folgten ihm vergnügt, seine Frau widerwillig.

Er bestellte ein Bier für sich und Hamburger und Cola für die Kinder, Eddy und Laura. Seine Frau orderte ein Wasser.

„Hör zu, Tina.‟ Ed beugte sich über den Tisch und senkte die Stimme. „Ich find′s ja ganz spaßig in der Gemeinde, und der gute Reverend Chestler hat ohne Zweifel einen hohen Unterhaltungswert. Aber irgendwie übertreibt er mir zu sehr. Er ist mir zu hitzig, zu fanatisch, verstehst du? Das geht mir auf den Sack.‟

„Er nimmt seinen Glauben eben ernst, Ed.‟

Ed betrachtete seine Frau mit einem wehmütigen Grinsen. Ein trotziger Zug lag auf ihrem schönen Gesicht. Er streichelte sie über den Kopf. Sie trug ihr dickes Haar zu einem langen Zopf geflochten. Wie dunkler Samt schimmerte ihre schwarze Haut. „Komm her, Baby.‟ Er zog sie an sich und küsste ihren schlanken Hals. Sie ließ es widerstrebend geschehen.

„Und du nimmst deinen Glauben auch ernst, ich weiß‟, seufzte Ed. „Ich akzeptiere das, auch wenn ich anders drauf bin. Trotzdem – lass uns in eine andere Kirche gehen, ja? Nach St. Andrews oder in die Abyssinian Baptist Church. Irgendwo hin, wo die Leute mit beiden Beinen auf der Erde stehen.‟

„Die meisten Leute aus unserem Viertel gehen in die Black Temple Gemeinde ...‟

„Ist doch nicht wahr ...‟

„Viele unserer Freunde gehen dort hin ...‟

„Viele gehen auch woanders hin ...‟

Sie wurden sich mal wieder nicht einig. „In Harlem gibt′s an jeder Ecke eine Besenkammer oder ein Wohnzimmer, wo irgendein Preacherman eine Kirche aufgemacht hat. Warum, zum Teufel, schauen wir uns nicht einfach mal um?‟

„Reverend Chestler ist nicht irgendein Preacherman!‟, beharrte Tina trotzig.

Ed Yorkham sah seine Frau lauernd an. Er verkniff sich eine weitere Bemerkung über Amos Chestler, die ihm auf der Zunge lag. „Kann sein, dass du demnächst allein in die Kirche gehst, wenn wir keinen Kompromiss finden‟, drohte Ed schließlich.

„Von mir aus‟, fauchte Tina, „du gehst ja sowieso kaum mit.‟

Später, vor der Haustür, sah Ed auf die Uhr. „Es ist erst acht – ich schau mal kurz auf ein Bier bei Henry vorbei.‟

„Henry?‟ Tina machte ein erstauntes Gesicht. „Der ist doch vor drei Tagen weggezogen.‟

Ed sah sie erstaunt an. „Das glaub′ ich nicht! Er hätte sich doch von seinem Billardpartner Ed Yorkham verabschiedet!‟

„Ruf doch seine Nachbarn an, wenn du es nicht glaubst ...‟

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Ausziehen.‟ Der blonde Schönling knipste die Beleuchtungsanlage an und schraubte dann seine Kamera auf ein Stativ.

Rose spitzte die Lippen und zog die Brauen hoch. „Ausziehen?‟

Der Blonde stutzte. Verblüfft sah er sie an. Dann hellte sich seine Miene auf. Er lachte meckernd.

„Spiel nicht die Unschuld vom Lande, Baby. Soll ich vielleicht dein Passbild in unsern Katalog kleben? Unsere Kunden wollen sehen, was sie für ihr Geld bekommen. Also zeig, was du hast.‟

Rose legte ihre schwarze Lederjacke auf einen Stuhl. Die Behutsamkeit, mit der sie das tat, fiel dem Mann nicht auf. Rose ärgerte sich über sich selbst.

Bewirbst dich bei einem Begleitservice und wunderst dich, wenn du deine Titten zeigen sollst. Naives Mädchen, du!

Sie zog ihr rotes Muskelshirt aus und stieg aus den Jeans.

„Den Slip natürlich auch‟, sagte der Blonde gleichgültig. Er war so eine Art stellvertretender Geschäftsführer. Soviel hatte Rose herausfinden können.

Splitternackt stolzierte sie auf das beleuchtete Podest mit der hellblauen Kulissenwand.

„Leg dich auf die Couch und räkle dich ein bisschen‟, verlangte der Mann. Rose tat ihm den Gefallen. „Nicht so steif, Baby, du bist doch kein Brett! Du bist eine Frau, du willst gebumst werden, du bist sexy!‟ Er unterbrach sich und tauchte hinter seinem Fotoapparat auf. „Das bist du übrigens wirklich.‟ Sein schmieriges Grinsen bestätigte Rose′ ersten Eindruck – der Mann war weiter nichts als ein dreckiger, geiler Bock. „So eine schwarze Schönheit wie dich hatte ich seit Jahren nicht mehr vor dem Objektiv.‟

Er schoss ein Bild nach dem anderen. „Schon lange in San Francisco?‟

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ein Jahr oder so.‟

„Was hast denn so getrieben bis jetzt?‟ Mit einer Handbewegung deutete er ihr an sich hinzulegen.

„Soll ich einen Lebenslauf schicken?‟ Ihre rauchige Stimme klang gelangweilt. „Oder ein polizeiliches Führungszeugnis?‟

„Warum nicht?‟, kicherte er meckernd.

Irgendwann verlangte er, dass sie die Beine spreizen und sich selbst befriedigen sollte. Rose sprang auf und verließ das Podest. „Wenn du dich aufgeilen willst, besuch ′ne Peepshow oder zieh dir ′nen Porno rein. Ich hab′ gezeigt, was ich zu bieten hab′, und jetzt Schicht!‟ Sie griff nach ihrem Höschen.

Der Mann musste ein paar Mal schlucken, bis er seine Verblüffung weggesteckt hatte. „Hey, hey! Du bist ja eine ganz Empfindliche!‟ Er begriff, dass die schwarze Lady mit den nicht mal streichholzlangen Haaren ein anderes Kaliber war, als die bleichen Girls, die sich tagein tagaus bei ihm die Klinke in die Hand gaben. Ein Kaliber, für das in Frisco gut gezahlt wurde. Verdammt gut.

„Hast ja recht.‟ Er montierte die Kamera vom Stativ und spulte den Film zurück. „Ich werd′ mal gleich in der Dunkelkammer verschwinden. Dann zeig′ ich die Fotos dem Boss. Und wenn sie ihm gefallen, wird er dich bestimmt persönlich kennenlernen wollen.‟

Er beobachtete sie, während sie ihr Muskelshirt überstreifte. Wieder das schmierige Grinsen. „Und sie werden ihm gefallen, da hab′ ich keinen Zweifel.‟ Er holte den Film aus der Kamera und öffnete eine schmale Tür neben dem Podest mit der Couch. „Warte draußen an der Theke und trink was auf Kosten des Hauses. ′Ne Stunde kann′s schon dauern.‟ Er verschwand in der Dunkelkammer.

Rose hatte es plötzlich sehr eilig. Hastig stieg sie in ihre Jeans und dann in ihre Turnschuhe. Noch während sie in die Lederjacke schlüpfte, stolperte sie zu dem Regal an der Wand, die dem kleinen Podest gegenüberlag. Mit dem Zeigefinger strich sie über die Buchrücken.

Nach zwei Minuten fand sie, was sie suchte. Sie zog eine daumendicke Hochglanzbroschüre heraus. Ein Katalog. Flüchtig blätterte sie ihn durch. Frauen en masse. Jeder war eine Doppelseite gewidmet. Fotos in den verschiedensten Positionen. Nacktfotos. Links oben Maße, spezielle Dienstleistungen und Vornamen – lauter Olgas, Tatjanas und Nataschas.

„Hast du auch ein Klo hier?‟ Sie stand auf und steckte den Katalog hinten in ihre Jeans unter Muskelshirt und Lederjacke.

„Ja!‟, kam es aus der Dunkelkammer. „Durch die Tür neben dem Waschbecken und dann die dritte Tür links!‟

Rose hätte auch draußen in der Nachtbar auf die Toilette gehen können. Aber der Schnüffelinstinkt hatte sie gepackt. Sie öffnete die Tür neben dem Waschbecken und trat auf einen schummrig beleuchteten Gang hinaus. Vor der Toilettentür blieb sie stehen und lauschte. Von fern hörte sie Männerstimmen.

Am Ende des Ganges eine Treppe. Ein dunkler Läufer auf den Stufen dämpfte ihre Schritte. Die Männerstimmen klangen aggressiv und gemein. Dann schrie eine Frau. Laut und anhaltend. Für Sekunden. Der Schrei brach ab und ging in ein gedämpftes Wimmern über.

Rose spurtete los. Im Obergeschoss wieder eine Zimmerflucht. Sie eilte von Tür zu Tür und lauschte an jeder. Der Raum, aus dem die Männerstimmen und das Wimmern kamen, lag am Ende des Ganges. Rose war nicht die Frau, die sich lange zierte. Ihr Instinkt gebot: „Geh hinein‟, und sie ging hinein.

Der kleine Raum war in grelles Neonlicht getaucht. Ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch, zwei Korbsessel. Vier Männer starrten sie an. Zwei Weiße knieten am Kopfende des Bettes und hielten ein Mädchen fest. Es war vollständig nackt. Das blonde Haar klebte feucht auf Stirn und Wangen. Rose sah sofort, dass das Mädchen höchstens siebzehn oder achtzehn Jahre alt war. Aus dunklen Augen starrte es Rose flehend an.

Vor ihr kniete ein lateinamerikanisch aussehender Bursche mit wirrem Wuschelkopf. Ohne Hose. Sein Schwanz ragte steif und wippend nach oben. Selten blöd glotzte er Rose an.

Der vierte Mann war groß und breitschultrig. Er trug einen edlen hellen Anzug. Und er war so schwarz wie Rose selbst.

Das Mädchen stammelte ein paar Brocken in einem Mischmasch aus amerikanisch und einer fremden Sprache. Einer Sprache, die Rose nicht beherrschte. Trotzdem erkannte sie den slawischen Klang der Worte.

„Lasst sie los!‟, verlangte Rose mit rauchiger, gefährlich leiser Stimme.

Die Männer reagierten zunächst nicht. Sie schienen völlig perplex zu sein.

„Wen haben wir denn da?‟, sagte der Schwarze plötzlich. Er machte einen Schritt auf Rose zu und zog ein Messer aus der Innentasche seines eleganten Jacketts.

Das arrogante Lächeln auf seinem Gesicht hielt sich nur wenige Augenblicke. Solange bis Rose blitzschnell unter ihre Jacke griff und ihre sechzehnschüssige P 226 SIG Sauer herausholte.

Statt stehen zu bleiben, stürzte der Kerl sich auf sie. Rose sprang zur Seite und drückte ab. Noch während er zu Boden ging, sah sie, wie die beiden Weißen auf dem Bett kurzläufige Revolver aus ihren Jacken holten. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und schrie hysterisch auf. Rose zog durch, ohne nachzudenken.

Eine Stunde später hockte sie auf dem Gang und rauchte. In ihrem Arm das schluchzende Mädchen. Zwischen den Heulkrämpfen erzählte es seine Geschichte. Rose verstand kaum die Hälfte. Aber was sie verstand, verursachte ihr einen Brechreiz. Mit grimmiger Zufriedenheit beobachtete sie die FBI-Männer, die nacheinander vier Leichensäcke aus dem Zimmer trugen.

Am nächsten Morgen das zugeknöpfte Gesicht Edwin Stanfords, ihres Chefs. Vor ihm auf dem Tisch lag der Katalog mit den osteuropäischen Frauen. Die Kollegen neben ihr in der Konferenzecke betasteten die Bügelfalten ihrer Hosen oder betrachteten ihre Schuhspitzen. Zur Feier des Tages hatte Rose ein hellgraues Kostüm und eine weiße Bluse angezogen.

„Ihr Auftrag lautete: Im Milieu ermitteln und Beweise sicherstellen, die für eine Anklage wegen Frauenhandels ausreichen.‟ Stanfords Stimme verhieß mal wieder nichts Gutes. Mit der flachen Hand schlug er auf den Katalog. „Sie hatten den Beweis sichergestellt, Mrs. Warrington, und hätten gehen können. Und was machen Sie? Spielen Rambo und schießen vier Männer nieder.‟

„Ich wollte eine Straftat vereiteln, Sir.‟ Rose blitzte ihn an. „Dabei wurde ich angegriffen!‟

Das speckige Gesicht des SACs lief rot an. „Ihre Verteidigung war auffällig effektiv. Vier Tote.‟

„Auch die Angriffe drohten effektiv zu werden, wie Sie das nennen, Sir!‟ Das Sir spuckte sie regelrecht heraus.

Ihr Chef wurde noch lauter. „Mit was, zur Hölle, hat denn der halbnackte Mann Sie angegriffen?! Man hat keine Waffe bei ihm gefunden! Nicht mal ein Messer!‟

Rose biss die Zähne zusammen und schwieg. Der steife, wippende Schwanz des Kerls fiel ihr ein. Und das wimmernde Mädchen.

Der SAC stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Als wollte er in diesem Augenblick besonders offiziell wirken, setzte er sich kerzengerade in seinen Sessel. „Special-Agent Warrington – Sie sind vorläufig vom Dienst suspendiert.‟

Eisiges Schweigen im Raum. Rose′ Augen suchten Kontakt zu ihren Kollegen. Niemand gönnte ihr einen Blick. Die Firma in Frisco konnte verdammt hart sein.

„Wie lang ist vorläufig?‟, fragte sie mit brüchiger Stimme.

„Das wird das Office of Professional Responsibility in Washington entscheiden.‟

Schöner Mist! Du musst vor der Inquisition erscheinen! O Gott!

„Das Hauptquartier wird Ihnen eine schriftliche Vorladung schicken.‟ Stanford fixierte sie aus schmalen Augen. Rose wusste, dass er froh war, sie endlich loszuwerden. Seitdem sie sich von Birmingham, Alabama, nach San Francisco hatte versetzen lassen, nichts als Ärger mit dem Mann.

Rose spitzte die Lippen. Mit hochgezogenen Brauen betrachtete sie den Katalog auf dem Konferenztisch. Er würde dem Staatsanwalt reichen, um einen Mann wegen Frauenhandels und erzwungener Prostitution anzuklagen. Einen Mann, der den besten Anwalt in der Stadt hatte. Das würde ihm jetzt nichts mehr nützen.

Sie kramte ihre Dienstmarke heraus und warf sie auf den Tisch. Auch die SIG holte sie aus ihrer Handtasche und ließ sie polternd auf die Tischplatte fallen. Einige Kollegen zuckten zusammen.

Dann stand sie auf und ging zur Tür. „Viel Spaß noch‟, sagte sie und warf die Tür hinter sich zu.

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6

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Am Tag nach dem Gottesdienst machte Ed sich auf den Weg zu Henrys Adresse. Er nahm seinen Sohn Eddy mit. Gemeinsam spazierten sie durch den milden Juniabend in die hunderteinunddreißigste Straße. Dass Henry fortgezogen war, ohne sich noch einmal bei ihm zu melden, wollte Ed nicht in den Kopf.

Sicher – besonders gut hatten sie sich nicht gekannt. Einmal im Monat ein paar Bier und ein Billardabend. Aber manchmal hatten sie auch eine ganze Nacht durchdiskutiert. Henry studierte amerikanische Literatur und Politikwissenschaften und hatte eine ganz spezielle Meinung über die amerikanische Gesellschaft. Eine Meinung, die Ed jedes Mal auf die Palme gebracht hatte.

Sie waren im gleichen Alter. Und Henry hatte nie verstehen wollen, wie man mit Ende zwanzig schon Familie und Kinder haben kann.

Sicher – all das wäre für viele Leute noch kein Grund gewesen, sich zu verabschieden, bevor sie aus dem Viertel ziehen. Aber da war noch etwas: Henry hatte Ed bei ihrem letzten Billardabend vor nicht ganz zwei Wochen ein Buch ausgeliehen. Ein Handbuch über die Software für eine Datenbank. Ein teures Buch. Vierzig Dollar hatte Henry dafür sicher hingelegt.

Ed konnte sich nicht vorstellen, dass ein Student so ein teures Buch einfach im Regal eines Bekannten zurücklässt.

Er sprach ein paar Männer an, die vor dem Haus hockten und würfelten. „Habt ihr Henry Portman gesehen?‟ Sie schüttelten den Kopf. Ed erkannte einige aus den Gottesdiensten wieder. „Er soll umgezogen sein.‟

Details

Seiten
Jahr
2019
ISBN (eBook)
9783738929485
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
tödliche predigt
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Titel: Tödliche Predigt