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Raumschiff Rubikon 44 Ende und Anfang

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Raumschiff Rubikon 44 Ende und Anfang

Manfred Weinland


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.


Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …



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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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1


Die von Prosper Mérimée angeführte Ring-Flotte erreichte das Solare System – beziehungsweise das, was nach dem Ätherausbruch noch davon übrig war – eine knappe Stunde, nachdem die Vorausnachricht ihrer baldigen Ankunft eingegangen war. Im Schutz ihrer ätherresistenten Schilde transportierten sie ein Gebilde heran, das einem Albtraum entsprungen schien. Die Oberfläche des Giganten war mit Auswüchsen übersät, die wie nässende Geschwüre aussahen. Gleichzeitig schien das körnige Material, aus dem sie sich zusammensetzte, in permanenter Bewegung zu sein. Als wären es Metallspäne, die von starken Magneten verwirbelt wurden, welche im Innern des Gebildes ohne erkennbares System und völlig sinnfrei hin und her glitten. Sensible Betrachter liefen Gefahr, sich geistig in den mit ungeheurem Tempo wechselnden Mustern zu verlieren oder gar einen epileptischen Anfall zu erleiden.

Reuben Cronenberg war nicht gerade als Sensibelchen bekannt, und dennoch traf ihn der Anblick des hundert Ringschiffe starken Verbandes, der das Einzelobjekt mehr zu eskortieren denn zu schleppen schien, bis ins Mark. Ohne dass er es verhindern konnte, wurde die Erinnerung an seinen Aufenthalt in dem amorph scheinenden Gebilde in ihm hochgespült. Gemeinsam mit der Besatzung der HOOVER war er dort gefangen gehalten und einer Gehirnwäsche unterzogen worden, deren Ziel die Infiltration des gerade im Entstehen begriffenen neuen Menschheitsreiches gewesen war. Doch erstens hatten sie dank Taurt aus dem Objekt fliehen können, bei dem es sich nach aktuellen Erkenntnissen um ein Raumschiff aus dem Urkontinuum, bemannt mit Ganf, handelte. Und zweitens war der Traum einer Auferstehung des einstigen Erinjij-Reichs wie eine Seifenblase zerplatzt, seit der Kosmos – dieser Kosmos – an allen Ecken und Enden zu knirschen begonnen hatte. Höhepunkt dieser traurigen Entwicklung war jüngst der stattgefundene Strahlungsausbruch, von dem der über Auruunenwissen verfügende Prosper Mérimée berichtet hatte, dass er in der Vergangenheit bereits lokal aufgetreten war und dabei eine ganze Galaxie hatte entarten lassen. Entarten in der Weise, dass ihre Sonnen erloschen und die Physik dort insgesamt nach völlig abstrusen Regeln neu aufgestellt worden war. Das Vakuum zwischen den Himmelskörpern hatte aufgehört zu existieren und war von der alles transformierenden Strahlung ausgefüllt worden. Parallel dazu waren die Entfernungen innerhalb der Anomalie geschrumpft: Aus gut hunderttausend Lichtjahren, die die betroffene Galaxis zuvor durchmessen hatte, waren am Ende des Prozesses nur noch 4,5 Lichtjahre geblieben. Was wiederum zur Folge hatte, dass die Bewohner der Anomalie, die die Transformation überlebt hatten, fortan zwischen den Welten reisen konnten wie anno dazumal die seefahrenden Nationen der Erde. Der Äther – wie die Strahlung genannt wurde – ermöglichte nicht nur die Fortbewegung zwischen den Planeten mit primitivsten Mitteln, sondern auch das Überleben generell für die Mutationen, deren Körper den Äther als Sauerstoffersatz verwerteten. Ebenso verhielt es sich mit der Wärme, die der Äther produzierte und damit die erloschenen Sonnen ersetzte.

Aber – und das hatte Prosper Mérimée auch zu bedenken gegeben – einiges deutete darauf hin, dass der Äther, der nun plötzlich sogar bis in die Milchstraße hinein strahlte und mit deren physikalischem »Umbau« begonnen hatte, nicht exakt von jener Zusammensetzung war wie in der fernen Sterneninsel Scharan. Diese spezielle Ätherqualität schien eine Anpassung des Lebens daran nicht mehr möglich zu machen. Alles, was sie konnte, war verwandeln und töten. Alles im Universum und das Universum selbst sollte bis zur Unkenntlichkeit zerstört und am Ende ganz negiert werden. So hatten die Mächte des Urkontinuums es beschlossen.

Die Mächte, die von einer Spezies namens Ganf angeführt wurden. Cronenberg war gespannt auf sie. Denn die eintreffende Flotte brachte als Beute nicht nur ein Objekt mit, das erfolgreich aus dem Urkontinuum hierher gewechselt war, sondern auch noch etliche Gefangene, die es bemannt hatten. Mit anderen Worten: Sie hatten Ganf in ihrer Gewalt. Lebendige Ganf, die der Schlüssel zum Überleben der Menschheit sein konnten.

Wenn wir es nur geschickt genug anstellen.

Cronenberg lehnte sich im Sessel zurück der an seinem Lieblingsaussichtspunkt – hoch oben nahe der Spitze des ehemaligen Master-Turms – platziert war. Unter ihm war die riesige Stadt zu sehen, die sich im Laufe der Zeit wie zu Füßen einer Trutz- und Schutzburg gebildet und ausgebreitet hatte. Der gläserne Boden des Balkons funktionierte wie das geschliffene Glas einer Lupe; die Menschen am Boden, die die Straßen bevölkerten, waren deutlich zu erkennen, wenn sie auch wie Spielzeug-Figuren wirkten. Von der Nachricht Mérimées bis zu seinem tatsächlichen Eintreffen hatte Cronenberg viel Zeit gehabt, über das Schicksal seiner Mitmenschen nachzudenken. Über das, was er für sie tun konnte. Über das, was er für sie tun wollte. Und über das, was er für sie tun würde.

Das erbeutete Raumschiff der Ganf, von dem Prosper Mérimée der Überzeugung war, dass es sie aus dem untergehenden Universum in den vitalen, stabilen und vor Möglichkeiten strotzenden Urkosmos befördern konnte, besaß nur eine begrenzte Aufnahmekapazität. Er würde selektieren müssen, wer von den Menschen auf den Ringschiffen und im PSI-geschützten Internraum es wert war, auf die rettende Arche mitgenommen zu werden. Und wer nicht. Leicht würde ihm die Auswahl nicht fallen. Aber er würde sie, falls es nötig wurde, treffen.

Doch zunächst einmal musste Prosper unter Beweis stellen, dass seine Ankündigung nicht nur leeres Versprechen, sondern tatsächlich umsetzbar war. Er zog seinen Blick aus der Tiefe zurück und hob ihn zum Himmel. Es gab keine Sonne am Himmel, die Licht und Wärme gespendet hätte. Aber es gab etwas sehr viel Besseres: PSI. Die parapsychische Ausdünstung von Abermillionen Menschen hatte den PSI-gesättigten Internraum erschaffen, dessen Grenze die Oortschale markierte. Oder markiert hatte. Denn seit dem Wüten des Äthers existierte davon nur noch eine schlammartige Masse, die der klägliche Rest dessen war, was die Auruunen zuvor in akribischer Detailfreude als eine zweite Erde gestaltet hatten.

Eine Bewegung am Himmel riss Cronenberg aus seinen Gedanken. Etliche Kilometer außerhalb der Stadt sanken Dutzende Ringe herab, begleitet von einem Objekt, dessen Anblick Hoffnung und Ängste zugleich weckte.

Kurz darauf meldete sich Mérimée. »Wir landen, Reuben.«

»Das sehe ich. Kommst du zu mir – oder komme ich zu dir?«

»Nun, die Antwort hängt vom Grad deiner Neugier ab. Du wirst dir das doch nicht ernsthaft entgehen lassen wollen?«



Bevor Cronenberg sich in das Gebiet am Stadtrand begab, wo das Festungsschiff der Ganf von den Ringen, die es zur Erde transportiert hatten, abgesetzt worden war, suchte er eine andere Etage des ehemaligen Master-Turms auf. In dem eigens eingerichteten Hochsicherheitsbereich befand sich das Wesen, ohne das die Idee einer Bergung des Objekts aus dem Urkontinuum nie hätte entstehen können. Mit dem Molluskenwesen, das reglos innerhalb seines scheinbar nur aus gleißenden Lichtgittern bestehenden Käfigs zu sehen war, hatte alles begonnen. Taurt hatte es aus dem im Ätherstrom des Aquakubus treibenden Ganf-Schiff geborgen und mit auf die SOBEK genommen, mit der er sich zum Kubus hatte bringen lassen; ursprünglich, um dort sein Leben zu beschließen. Aber dann hatte er feststellen müssen, dass die Besatzung des Festungsschiffs ebenso von der Strahlung, die das Weltall und alles darin Befindliche negierte, überrascht worden war wie alle anderen Bewohner des Kosmos. Der Äther hatte nicht nur komplett die Struktur des Ganf-Schiffs verändert, sondern auch die Mollusken in leblose Statuen verwandelt.

Zunächst war der Gedanke, dass nicht einmal hochintelligente Geschöpfe wie die Ganf sich gegen die Ätherstrahlung hatten zur Wehr setzen können, niederschmetternd gewesen. Zumal ihre »Brüder«, die Auruunen, genau dazu nachweislich in der Lage gewesen waren, denn die von ihnen hinterlassenen Ringe verfügten ausnahmslos über wirksame Schilde. Allerdings waren diese in diesem Universum entwickelt worden, wozu den Auruunen entsprechend viel Zeit blieb. So gesehen musste einfach nur konstatiert werden, dass die Ur-Ganf von dem, was an den Grundfesten des Kosmos nagte, dermaßen überrollt worden waren, dass ihnen keine Gelegenheit mehr blieb, sich gegen den Äther zu rüsten.

Und das, obwohl sie bereits Ringe in ihre Gewalt brachten und adaptierten , dachte Cronenberg. So perfekt, wie zunächst angenommen, können die Kopien demnach doch nicht ausgefallen sein. Sonst hätte sie auf das Know-how zugreifen können.

Aber vielleicht war der Äther auch dafür zu plötzlich über sie gekommen. Und vielleicht reagierten sie noch weit empfindlicher als die Bewohner dieses Kosmos darauf, sodass ihnen, obwohl sie das theoretische Know-how aufgesogen hatten, letztlich nicht mehr die Zeit blieb, es in Hardware umzusetzen und damit ihr Festung zu schützen, mit der sie aus dem Urkontinuum hierher gewechselt waren.

Aber für uns kommt es nur auf den Fakt an, dass sie damit wechseln konnten. Und dass es uns gelungen ist, nicht nur die versteinerten Ganf wiederzubeleben, sondern auch die Entartung ihres Schiffs rückgängig zu machen. Demnach müsste das, was uns ins Netz ging, dazu immer noch – oder wieder – in der Lage sein.

Er blickte auf die Vitalwerte, die permanent in leuchtenden Ziffern- und Buchstabenfolgen neben den zylindrischen Käfig in die Luft projiziert wurden. Die rundum platzierten Gerätschaften aus auruunischer Fertigung hatten eine vollständige DNA-Sequenzierung vorgenommen und damit die Nukleoid-Abfolge in den DNA-Molekülen des Ganf komplett ermittelt – was ihnen umso leichter gefallen sein musste, da Auruunen einst die gleichen Körper besessen hatten wie diejenigen Ganf, die den Sprung aus dem Urkontinuum hierher vollzogen hatten.

Nichts daran entsprach menschlichen Mustern, was allerdings auch kaum anders zu erwarten gewesen war.

Cronenberg trat furchtlos an den Lichtkerker heran, der nur aus kosmetischen Gründen wie aus Gitterstäben zusammengesetzt wirkte. Tatsächlich gab es keinen Zwischenraum, keine Lücke zwischen den vermeintlichen Stäben. Es wäre viel zu riskant gewesen, solange niemand, nicht einmal Prosper, sicher sagen konnte, welchen Entwicklungsschub die Ganf »drüben« im Verlauf der letzten 300.000 Jahre genommen hatten. Denn genauso lange war es her, dass sich die Auruunen von ihnen abgekoppelt hatten und als reine Bewusstseinsquanten ins »Feindgebiet« eingeschleust worden waren. Fortan hatten sie sich autark und ohne jeglichen Kontakt zum Urkontinuum entwickelt – so, wie es zuvor über Jahrmilliarden hinweg bereits jenen Ganf ergangen war, die dieses Universum »gezündet« hatten und dabei von ihrem eigenen abgeschottet worden waren.

Nein, was die Entwicklung der Ganf von der »anderen Seite« anging, waren sie nicht auf dem Laufenden, wusste Cronenberg. Aber auch das konnte sich ändern, dann nämlich, wenn es Joran oder anderen Telepathen in nächster Zeit doch noch gelang, die Denkmuster der Ganf zu entschlüsseln.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte er, den Blick in die Augen des Ganf versenkt.

Er erwartete keine Reaktion – und erhielt auch keine.

Schulterzuckend wandte er sich ab, winkte zum Abschied und betrat ein Stockwerk höher den Gleiter, der ihn zu seiner eigentlichen Verabredung bringen sollte.



Ein künstliches Nebelfeld markierte die Position des Ganf-Schiffs.

Die Verschleierung wurde von einem einzelnen Ringschiff, der SOBEK, betrieben, das in fünf Kilometer Höhe exakt über dem Fremdobjekt schwebte. Und sie war notwendig, um die Bewohner der Stadt, die in Sichtweite lebten, davor zu bewahren, den Verstand zu verlieren, nur weil sie den Anblick des Ganf-Schiffs nicht verkrafteten.

Als Cronenberg sich dem Ziel bis auf wenige Hundert Meter genähert hatte, empfing er einen Peilstrahl, der sein Shuttle sicher durch das Tarnfeld hindurch in einen offenen Hangar leitete, wo er bereits von Prosper, Taurt und Joran erwartet wurde.

»Ihr habt es tatsächlich geschafft! Darf ich euch noch einmal beglückwünschen?« Er eilte den Gestalten entgegen, die ihm – der fürchtete, auf seine alten Tage noch sentimental zu werden – ans Herz gewachsen waren; jeder auf seine ganz eigene Weise.

»Wenn alles so gelingt, wie wir es erhoffen, dürfen wir uns gegenseitig beglückwünschen«, konterte Mérimée in gewohnt pragmatischer Art. »Aber bis dahin liegt noch ein gehöriges Stück Arbeit vor uns.« Er informierte Cronenberg über den Zwischenfall an Bord des Ganf-Schiffs, der für alle Beteiligten ins Auge hätte gehen können. Wenn nicht… nun, wenn nicht Joran im Moment höchster Gefahr ein Talent offenbart hätte, über das er bislang völliges Stillschweigen bewahrt hatte. Und das auch bei den PSI-Tests, denen sich alle erfassten Multiplen unterziehen mussten, nicht ans Licht gekommen war.

»Das klang in der Botschaft, die mich vorab erreichte, aber noch um einiges zuversichtlicher«, hielt er dem Mitstreiter vor. »Mir fällt da auf Anhieb der Begriff ›Arche‹ ein, mit dem du das hier…«, er zeigte um sich, auf das Gebilde, in dem sie sich befanden, »… belegt hast. Angeblich könnten wir damit dem Schicksal ein Schnippchen schlagen und aus dem untergehenden Kosmos in den wechseln, aus dem dieses Schiff kam. Um dort weiterzuleben, an Plänen für eine Zukunft zu schmieden, die uns dann, wenn auch in völliger Fremde, wieder offen stünde. So hatte ich dich verstanden, korrigiere mich bitte.«

Prosper blickte ihn über die Sinnesrezeptoren seines Auruunenkörpers an. »Ich hatte es auch in der Botschaft, die du zitierst, insofern eingeschränkt, dass ich davon sprach, mit dieser Beute hier alle Voraussetzungen in Händen zu halten, um unser Überleben zu sichern – aber dass wir noch einiges an Mühe darauf verwenden müssen, uns mit der Technik dieses Gebildes vertraut zu machen. Ausreichend vertraut zu machen, um uns ihr im entscheidenden Moment anvertrauen zu können.«

»Du bist mehr Ganf als jeder andere von uns«, hielt ihm Cronenberg vor. »Trotzdem hast du Selbstzweifel, ob du das auch wirklich hier wie ein Ganf bedienen kannst?«

»Ich weiß, dass dein Angriff nicht ernst gemeint ist. Du bist klug genug, um zu wissen, welche Fortschritte eine Zivilisation in 300.000 Jahren auf technischem Gebiet zu machen imstande ist. Ich bin » ganf «, da hast du recht. Aber das Wissen, das über sie und ihre Hardware in mir steckt, ist veraltet gegenüber dem, was dieses Schiff zu bieten hat. Wäre dem nicht so, hätten die Auruunen längst etwas Vergleichbares entwickelt, um sich nach Erreichen ihres Ziels selbst noch aus dem sterbenden Kosmos in Sicherheit zu bringen. Stattdessen agierten sie immer in dem Bewusstsein, dass ihre Sabotage nicht nur das Ende für die hier gebürtigen Spezies bedeutet, sondern auch für sie, die Saboteure.«

Cronenberg winkte ab. »Schon gut. Natürlich weiß ich das. Und natürlich weiß ich zu schätzen, was ihr uns als letzte Chance eröffnet habt. Ich wollte dich nur ein bisschen foppen.«

»Foppen.« Mérimée wirkte fassungslos. »Du hast ja Nerven.«

»Du hattest mir eine Schiffsführung in Aussicht gestellt. Gilt dieses Angebot noch, oder hast du den Mund zu voll genommen? Kannst du mir überhaupt etwas zeigen, respektive erklären , von dem, was die Ganf hier an Technologie zusammengetragen und verbaut haben?«

»Ist das jetzt auch wieder… gefoppt?«, fragte Mérimée gereizt.

Cronenbergs Blick ging zu Joran, der, ebenso wie Taurt, stumm dem Disput gefolgt war. »Frag ihn.«

Mérimée befolgte den Rat. »Joran?«

Der Multiple schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht. Der Sire wird, glaube ich, langsam ungeduldig.«

Cronenberg nickte zufrieden. »Weil uns die Zeit davonläuft. Und wir nicht wissen, keiner von uns, wann genau sie ab läuft. Ich denke, wir sind uns einig darin, dass der PSI-Raum um Erde und Mond uns nicht ewig schützen wird. Spätestens wenn er zusammenbricht, müssen wir in der Lage sein, dieses Ding hier zu bedienen, wie die Ganf es konnten – oder uns geht es wie dem Rest des Universums: unumkehrbar an den Kragen!«



Trotz aller Wissensbeschränkungen, die Prosper Mérimée freimütig beim Gang durch das erbeutete Schiff eingestand, kamen sowohl Cronenberg als auch Taurt und Joran nicht aus dem Staunen heraus. Mérimée verstand es, selbst Spekulatives so mitreißend vorzutragen, dass Cronenberg, der entschlossen gewesen war, sich eine gesunde Portion Skepsis zu bewahren, mit fortschreitender Dauer des Exkurses immer begeisterter wurde. Am Schluss blieb ihm fast nichts anderes übrig, als die Euphorie seines Mitstreiters zu teilen, fast sogar zu übertreffen.

»Das alles klingt ganz großartig und sieht auch ganz großartig aus, Prosper. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das sagen würde, aber: Ich bin Feuer und Flamme! Offenbar ist dir selbst gar nicht bewusst, wie kenntnisreich du uns durch dieses Labyrinth von Gängen und Räumen führst. Die Technik hier ist Respekt einflößend, zweifellos, aber – ich denke, ich kann für uns alle sprechen – keiner von uns zweifelt ernsthaft daran, dass du damit zurechtkommst. Die Ganf werden doch auch eine Art künstliche Intelligenz in ihrem Schiff installiert haben, die dir, wenn du sie verstanden hast, bei der eigentlichen Nutzung und späteren Navigation hilfreich zur Seite stehen wird. Täusche ich mich da?«

»Ich fürchte ja – ich fürchte, so einfach ist es nicht. Das Konzept künstlicher Intelligenz und damit ausgestatteter Rechnersysteme ist dort, woher dieses Gebilde kommt, offenbar längst überholt. Selbst auf den ehemaligen Auruunenringen gibt es Abarten jener Computer, die auch die Menschheit schon vor ihrem ersten außerirdischen Kontakt entwickelte. Aber hier, in diesem… Schiff, ist ein völlig neuartiges Prinzip – neuartig für mich und damit zwangsläufig auch für jeden anderen hier – umgesetzt worden. Es gibt für jeden angestrebten Effekt oder Prozess Hardware, die in die Schiffssubstanz eingeflossen ist. Aber sie verlangt absolute Kenntnis eben dieser Hardware, weil eine autopilotartige Software nicht existiert, definitiv nicht. Und das wiederum könnte uns dahin gehend das Genick brechen, dass wir nun zwar alles Physische besitzen, was nötig ist, um dem Untergang des Universums zu entkommen, nicht aber die entscheidende psychische Komponente.«

»Auch darüber sprachen wir aber doch bereits«, wiegelte Cronenberg unverdrossen ab. Er zeigte auf Joran. »Wir haben diesen Wunderknaben hier. Ihm ist gelungen, einen Ganf, der sich versteckte und ihn mit einer Waffe bedrohte, dazu zu bringen, diese Waffe am Ende gegen sich selbst zu richten. Joran ist nicht nur Telepath, Teleporter und Telekinet, sondern auch ein so starker Suggestor, dass er offenbar selbst Exoten wie den Ganf seinen unbedingten Willen aufzwingen kann. Und damit steht uns doch Tür und Tor offen, das Wissensmanko, das du besitzt, zu überbrücken. Wir lassen einfach einen Ganf ans Ruder, wenn es darum geht, dieses Schiff mit all seinen Möglichkeiten auszuschöpfen – einen Ganf allerdings, der von Joran hart an die Kandare genommen wird. Natürlich dürfen wir die Steuergewalt nur einem Ganf übergeben, der geistig komplett unter unserer Kontrolle steht. Im Zweifelsfall müssen wir Restrisiken akzeptieren und eingehen, weil auf der anderen Seite der Waagschale nur der sichere Tod auf uns wartet. Ich bin dazu bereit. Wer von euch nicht?«



»Ich wünschte, es wäre so einfach.« Prosper kam Joran einen Moment zuvor, denn – wie Cronenberg sehen konnte – auch der Junge hatte bereits zu einer Erwiderung angesetzt. Ob es auch ein Widerspruch werden sollte, blieb vorerst ungewiss, denn Mérimée war noch nicht fertig. »Du hast allen Grund, den Jungen zu loben und ihm Leistungen zuzubilligen, ohne die wir alle wahrscheinlich schon nicht mehr handlungsfähig wären. Er hat uns ebenso nachweislich das Leben gerettet, wie Taurt es euch betreffend tat, als ihr mit der HOOVER in den Sog der Ur-Ganf gerietet. Aber was er jüngst demonstrierte, als er den Ganf, der ihn bedrohte, in den Suizid trieb, ist erstens nicht zwangsläufig beliebig wiederholbar – Joran befand sich in einer Stresssituation, die wahrscheinlich die allerletzten Kraftreserven mobilisierte, ohne die ihm die ›Übernahme‹ des Ganf wahrscheinlich nicht oder zumindest nicht so leicht geglückt wäre –, und zweitens ist das, was wir brauchen, sehr viel komplexer als der Aufwand, den die bloße Selbsttötung erforderte.«

»Und im Klartext?«, fragte Cronenberg.

» Sire , ich glaube, er hat recht, und was er meint ist: Um mich zu retten, musste ich nur eine bestimmte Bilderfolge in ihm verankern, die ihn glauben machte, die Waffe auf mich anzulegen, während er in Wahrheit von mir dazu gebracht wurde, auf sich selbst zu zielen. Das war definitiv einfacher als das Lenken und Mobilisieren eines Raumschiffs wie… wie diesem. Um es zu schaffen, einen oder mehrere Ganf dazu zu bewegen, es quasi für uns und in unserem Sinn zu steuern, müsste ich zumindest die Denksprache dieser Wesen verstehen. Das, was es mir ermöglichte, ihre Gedanken wie die eines Menschen zu lesen. Dass ich es nicht kann, ist ein linguistisches Problem. Lautsprache kann in den meisten Fällen problemlos von technischen Hilfen übersetzt werden. Bei Gedanken verhält es sich anders, weil die Technik, die einspringen könnte, dafür telepathische Fähigkeiten besitzen müsste. Das ist jedoch nicht der Fall. Und somit dürfte es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich, werden, einem Ganf hochkomplexe Aufgaben zu suggerieren. Er wird sie nicht verstehen, weil ich seine Sprach- und Denkmuster nicht beherrsche – und ich kann seine Gedanken aus dem gleichen Grund nur völlig unartikuliert empfangen.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe.« Sein Blick ging zwischen den drei Zuhörern hin und her.

Cronenberg nickte ihm zu. »Durchaus, Junge, durchaus. Aber ich erkenne immer noch nicht das unlösbare Problem.«

Mérimée brauste auf. »Reuben, ich bitte dich. Gerade hat er dir plausibel gemacht, dass er nicht imstande ist, die Denke dieser Wesen zu –«

»– zu entschlüsseln.« Cronenberg nickte. »Ja, das habe ich verstanden. Das wäre sicher ein Problem, wenn Joran nur Telepath oder nur Suggestor wäre. Er aber vereint doch, wie wir erfahren haben, beide Talente in sich.«

Die Umstehenden nickten.

»Wobei ich jetzt nicht anfangen will zu philosophieren, ob der gute Junge nicht auch den ein oder anderen von uns bereits manipuliert hat – ohne böse Absichten natürlich.« Er lächelte grimmig. »Darum geht es jetzt nicht. Es geht um die Vielfalt seiner Begabungen und den Glücksfall, dass er sie in so unterschiedlicher Form in sich vereint.«

»Und was genau sollte daran die Lösung unseres Hauptproblems sein? Der Verständigungsschwierigkeit zwischen ihm und den Ganf?«, fragte Mérimée.

»Die du nicht teilst – oder? Die du als Einziger von uns nicht teilst?«

»Du meinst, weil ich Baregks Wissen in mir habe?«

»Natürlich, weil du Baregks Wissen hast.«

»Das wird uns in dem Fall leider nicht zum Durchbruch verhelfen. Ich bin nachweislich kein Telepath. Oder Suggestor. Bedauerlicherweise verfüge ich über überhaupt keine Parafähigkeit. Nicht, dass mir bekannt wäre. Es gibt da eine klitzekleine geistige Anomalie noch aus der Zeit des Gettos in mir, aber…«

»Du selbst benötigst diese Fähigkeiten bei dem, was mir vorschwebt, auch nicht. Joran? Wenn du so nett wärst, ihm die Lösung ebenso schnörkellos zu erklären, wie du gerade das Problem geschildert hast? Ich täusche mich doch nicht, wenn ich annehme, dass deine Neugier stärker war als dein Respekt vor meiner mentalen Privatsphäre?«

Joran lief puterrot im Gesicht an. » S-sire «, stammelte er.

»Schon gut. Erkläre es einfach.«

Die Blicke von Prosper Mérimée und Taurt pendelten sich auf den Multiplen ein, der einmal hart schluckte, dann aber mit klarer Stimme sagte: »Es… es könnte tatsächlich klappen. Ich traue mir zu, zwei Ziele gleichzeitig ins Auge zu fassen. Ich habe es noch nie getan, aber warum sollte es nicht möglich sein?«

»Deine Zuversicht in Ehren«, brummte Mérimée, »aber was? Was könnte klappen?«

»Dass ich mich mit dir koppele und aus dem gleichen Wissensfundus schöpfe wie du – aus dem des Auruunen Baregk, der, bevor er aus dem Urkontinuum nach hier transferierte, nichts anderes war als ein Ganf. Und der die Denkmuster der Ganf deshalb perfekt beherrscht. Wenn ich sein Wissen abrufe, kann ich es vermutlich so aufbereiten, dass die gefangenen Ganf es verstehen – und deshalb auch die Suggestivbefehle verstehen, die ich an sie senden werde. Ich müsste mich allerdings auf einen von ihnen konzentrieren, alle zusammen zu kontrollieren, überstiege mein geistiges Vermögen mit Sicherheit.«

Cronenberg nickte Mérimée zu. »Alles verstanden?«

Der Mensch im Körper des Auruunen Baregk erzitterte merklich. »Jetzt ja. Und ich leiste Abbitte. Es klingt so simpel, dass es beinahe schon funktionieren muss . Lasst es uns versuchen. Lasst uns umgehend einen ersten Test durchführen. Aber zuvor… gilt es noch, eine unangenehme Pflicht zu absolvieren.«

»Pflicht?«

»Du erinnerst dich an die Duplikate, die während eurer Gefangenschaft von euch hergestellt wurden. Auf ähnliche Weise, wie die HOOVER kopiert wurde?«

Cronenberg bejahte.

»Auch sie waren versteinert«, sagte Prosper. »Aber auch sie erwachten, nachdem der Äther aus dem Moloch verbannt worden war.«

Cronenberg sah sich um. »Ist das dein Ernst? Wo sind sie?«

Mérimée, Taurt und Joran führten Cronenberg in einen Raum in unmittelbarer Hangarnähe, den sie bei der erfolgten Führung eigentlich zuerst hätten aufsuchen können. Aber das war offenbar nicht gewollt, um den Rundgang nicht gleich negativ zu behaften.

In dem hell erleuchteten Raum lagen die Leichen aufgereiht wie nach einem Massaker. Keiner der Toten, die der Fraktalen-Besatzung der HOOVER wie eineiige Zwillinge glichen, wies sichtbare Verletzungen auf. Aber nicht nur in ihre Gesichter hatte sich ausnahmslos Todesqual geprägt, auch ihre Gliedmaßen wirkten wie nach einem qualvollen Todeskampf erstarrt. Ihr Sterben schien alles andere als friedlich vonstattengegangen zu sein.

Während Cronenberg logischerweise Ausschau nach einem ganz bestimmten Duplikat hielt, fragte er: »Was ist hier passiert? Warum sind sie tot? Sagtest du«, er blickte zu Prosper, »nicht, sie seien ebenso erwacht wie die Ganf? Habt ihr sie…?«

»Wir?« Joran schüttelte heftig den Kopf.

»Ich sagte nicht, dass sie ebenso erwacht sind wie die Ganf, sondern auch . Das ist mehr als ein rein grammatikalischer Unterschied«, übernahm Mérimée die Erklärung. »Sie erwachten kurz, um gleich darauf unter Krämpfen beinahe zu zerfallen.«

»Zerfallen?«, echote Cronenberg. »Du meinst in…«

»… in ihre fraktalen Bestandteile, ja«, bestätigte Mérimée. »Aber du hättest es sehen sollen, wie… wie sie sich doch wieder verdichteten, zusammenfügten. Jeder so, wie er im Moment des Todes verkrampft war. So, wie du sie hier vor dir siehst.«

»Aber woran sind sie gestorben?«

»Das werden wir untersuchen und vielleicht herausfinden. Aber vielleicht zeigt es uns einfach nur, wie enorm unterschiedlich die Organismen der Ganf und der Menschen – und so auch ihrer Kopien – sind. Dass die Auferstehung, nach dem, was der Äther Lebewesen antut und sobald er von ihnen ferngehalten wird, nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. Möglich auch, dass die Ganf nur deshalb so gut auf die ›Entzugs-Therapie‹ anschlugen, weil sie einem anderen Kosmos entstammen…« Prosper hob die Arme. »Wir wissen es nicht. Noch nicht. Und vielleicht werden wir das Rätsel niemals lösen. Allzu viel Manpower werden wir auf die Suche nach Antworten auch nicht verwenden, weil es schlicht Dringlicheres zu erledigen gibt. Sind wir uns diesbezüglich einig?«

»Absolut. Aber es gäbe da trotzdem noch etwas…« Cronenberg trat näher an die Toten heran. »Wo bin ich? Wo sind Jorans und Taurts Ebenbilder?«

»Eine berechtigte Frage.« Mérimée tauschte kurz mit Joran einen Blick. »Wir haben sie nicht gefunden. Das ist auffällig, weil wir bereits einen Abgleich mit den Fraktalen der HOOVER-Besatzung machten und feststellten, dass wir von jedem die Kopie entdeckt und hierher gebracht haben. Dass uns ausgerechnet die der drei illustersten Personen entgangen sein sollten, ist mehr als unwahrscheinlich.«

»Noch unwahrscheinlicher ist, dass sie ausgerechnet uns drei ausgelassen haben«, entgegnete Cronenberg.

Auch dem konnte Prosper nicht widersprechen. »Joran kann es mit auf die Liste der Dinge nehmen, über die er die Gefangenen befragen wird, sollte sich die Strategie, die er sich ausgedacht hat, in der Praxis bewähren.«

Cloud nickte dem Multiplen zu. »Ja, das solltest du tun. Unbedingt. Bei euch beiden…«, er zeigte auf Joran und Taurt, »… könnte ich mir gerade noch vorstellen, dass ihr so besonders seid, dass sie es einfach nicht schafften, euch zu duplizieren. Aber ich… ich bin von meiner Physis her wahrlich nichts Herausragendes.«

»Das würde ich so nicht unterschreiben«, sagte Mérimée. »Immerhin bist du neben Taurt der zweite Methusalem hier. So alt muss man erst mal werden und es schaffen, seinen originalen Körper dabei mitzunehmen. Bei mir war es ja nur mein Geist, der überdauerte und auf einen Wirtskörper angewiesen war. Aber ihr… Und bedenke, dass die Auruunen dich in der Mangel hatten. Um wieder so zu werden, wie du heute vor uns stehst, mussten sie einige Schönheits-OPs durchführen.« An diesem Punkt hörte er sich belustigt an; Cronenberg selbst war nicht zum Lachen zumute.

Cronenberg zeigte auf die Leichen. »Verbrennt sie. Nicht, dass ihnen einfällt, doch wieder aufzustehen.«

Darüber wiederum schienen Mérimée und Joran nicht lachen zu können.



Cronenberg lenkte das Shuttle mit Taurt, Prosper und Joran an Bord zurück zum Master-Turm und landete es auf der gleichen Ebene, von der aus er auch gestartet war, um sich zum Stadtrand zu begeben.

Auch der ehemalige Kubus-Hüter wollte es sich nicht nehmen lassen, dem Experiment beizuwohnen, das Joran vorhatte.

Als sie sich von der Shuttle-Landestelle im Turm aus zu Fuß zu dem Raum aufmachten, in dem einer der gefangenen Ganf untergebracht war, war Cronenberg an Taurts Seite. »Ich freue mich übrigens, dass du es dir anders überlegt hast.«

»Anders überlegt?« Das Protogeschöpf sah ihn nicht an.

»Du wolltest, wenn ich nicht alles missverstanden habe, eigentlich nur zum Sterben in den Kubus, bist aber erfreulicherweise mit der SOBEK wieder zurückgekehrt.«

»Ja«, bestätigte Taurt, »das bin ich.«

»Ohne dich hätten wir eine einmalige Chance verpasst.«

»Ja«, stimmte Taurt auch darin zu.

»Und wirst du uns auch auf der Reise begleiten, die uns vielleicht vergönnt ist, anzutreten?«

»Du meinst, in das fremde Kontinuum?«

Cronenberg bejahte.

»Wir werden sehen«, ließ Taurt sich alle Optionen offen.

Sie erreichten den Käfig, der ein exaktes Ebenbild der Käfige war, die an Bord mehrerer Dutzend Ringe aktiviert worden waren, um die aus dem Festungsschiff geborgenen Ganf versprengt zu verwahren.

Vereinbart war das Äquivalent zu einem menschlichen Verhör, nur eben unter Zuhilfenahme der Kopplung, die Cronenberg vorgeschlagen hatte.

»Seid ihr so weit?«, wandte er sich an Joran und Mérimée. »Oder braucht es Vorbereitung?«

»Von meiner Seite aus nicht«, sagte Prosper. »Aber ich habe auch nicht mehr zu tun als da zu sein, wenn ich es richtig verstanden habe.«

»Joran?«

Der Multiple trat so dicht an die Käfigwand, dass er die Hände ausstreckte und gegen die Energiefläche pressen konnte. Von außen blieb das ohne Folgen. Innen hätte der Ganf bei einem Hautkontakt empfindliche Stromschläge erlitten. Die ausgestreckten Arme des Jungen erweckten den Anschein, als würde er auf das ölig schwarze Molluskenwesen zeigen.

»Bereit«, murmelte der Junge kaum hörbar.

»Dann los. Versuch dein Glück. Versuch, dem Ganf etwas zu entlocken. Und als Beweis dafür, dass er nach deiner Pfeife tanzt, lass ihn auch ein paar Kunststückchen vollführen.«



Es dauerte keine Minuten, bis der Gefangene, der bis dahin bewegungslos hinter den Stäben verharrt und nicht merklich auf ihre Anwesenheit reagiert hatte, von einem ganz und gar untypischen Bewegungsdrang erfasst wurde.

Ein tanzender Ganf , dachte Cronenberg beeindruckt. Nicht zu fassen!

Grotesk traf es wohl eher. Denn alles in allem entsprach der »Tanz« eher dem Vortrag einer ebenso tumb wie arhythmisch durch einen Ring taumelnden Riesenschnecke. Jedem Geschöpf mit auch nur schwach ausgeprägtem ästhetischem Empfinden musste es grausen.

»Genug!«, schnarrte Cronenberg in Jorans Richtung. »Danke, Junge, das reicht, um mich zu überzeugen. Wenn du jetzt noch ein paar bedeutsame Informationen zu bieten hast, bin ich rundum zufriedengestellt – fürs Erste jedenfalls. Junge?«

Joran schien zunächst nicht reagieren zu wollen. Ebenso wenig wie der Ganf im Käfig. Aber dann erlahmten dessen Bewegungen doch ziemlich jäh, und alles, was zurück blieb, war ein starkes Zittern, das seinen Körper wie Wackelpudding durchschüttelte.

Cronenberg trat zu Joran und legte ihm sacht eine Hand auf die Schulter. In dem Moment senkte der Multiple seine Arme und drehte sich zu den anderen um. Er wirkte leicht desorientiert, was auch sein erster Ausruf dokumentierte. » Sire …«

Cronenberg ließ ihm Zeit, sich zu sammeln. Fast noch gespannter als er wirkte Prosper, endlich zu erfahren, was der Multiple außer dem seltsamen Auftritt des Ganf noch erreicht hatte.

Ob er darüber hinaus etwas erreicht hatte.

»Entschuldigt, dass ich… dass es mich so mitgenommen hat. Ich werde mich daran gewöhnen, wenn ich öfter Ausflüge in seine und die Psyche anderer Ganf unternehme… Zumindest hoffe ich das.«

»Konntest du etwas erreichen?«, fragte Mérimée. »Konntest du mein Baregk-Wissen so nutzen, wie Reuben es sich in der Theorie vorstellte? Niemand macht dir einen Vorwurf, wenn nicht. Wichtig ist nur, dass du die Wahrheit sagst. Reuben?«

Cronenberg nickte. »Absolut. Es hilft uns nichts, wenn du ein Scheitern aus Sorge um deine Reputation schönredest. Die Wahrheit ist das Einzige, was nützt. Wenn es nicht funktioniert, bedeutet das nur, dass wir uns eine neue Strategie ausdenken müssen. Nicht mehr und nicht weniger. Also? Was war? Was hast du belauschen können? Oder waren die Gedanken auch während der Kopplung noch ein Buch mit sieben Siegeln für dich?«

Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, bereute er seine Wortwahl. Im Gegensatz zu ihm war Joran höchstwahrscheinlich nicht mit der Bedeutung des Begriffs »Buch« vertraut.

Es sei denn, er espert mich. Jetzt, in diesem Moment. Freie Kapazitäten müsste er haben, nachdem er sich aus dem Ganf zurückgezogen hat.

Er sog tief die Luft ein und dachte, intensiver als zuvor: Tust du das? Wühlst du gerade in meinen Erinnerungen?

Joran errötete.

Dass er sich ertappt fühlte und es so offen zeigte, besänftigte Cronenberg – falls er überhaupt ernsthaft verstimmt gewesen war.

Unwillkürlich fragte er sich, ob er nicht gerade erneut Opfer des Jungen wurde, der ihn dahin gehend beeinflusste, dass er ihm unter keinen Umständen übel gesonnen sein konnte.

»Für den Anfang«, ließ sich Joran endlich vernehmen, »war es nicht schlecht. Ich… ich hatte tatsächlich den Eindruck, ein wenig von dem, was hinter der Stirn des Ganf vor sich geht, zu verstehen. Das war ohne deine Unterstützung, Baregk, vorher nie so.«

Bezeichnend, dass er Prosper mit dem Namen des ausgelöschten Auruunen ansprach. Dessen Persönlichkeit war komplett aus seinem Gehirn verschwunden, nur das Wissen, das sich in seinem Denkorgan abgelagert hatte, war nach wie vor verfügbar.

Offenbar schätzte Prosper die Namensverwechslung ähnlich ein wie Cronenberg, denn er verzichtete darauf zu intervenieren.

»Und was genau hast du in ihm verstanden?«, fragte er. »Etwas, das uns weiterhilft?«

»Es war der erste diesbezügliche Versuch«, wand sich Joran. »Was ich fand und verstand, bezog sich ausschließlich auf das, was er durch die Käfigwand zu sehen imstande ist. Und das, was er auf meinen Befehl hin tat – ganz besonders das hat ihn heftig verunsichert. Er wusste die ganze Zeit nicht, warum er sich so absurd bewegte. Ich hatte das Gefühl, eine Marionette zu lenken.«

»Mehr nicht?«, fragten Cronenberg und Mérimée enttäuscht, wie aus einem Mund. »Er wunderte sich? Und er reflektierte, was er durch die Stäbe sieht?«

»Was genau dachte er bei unserem Anblick?«, mischte sich jetzt auch Taurt ein. »Hasst er uns? Verabscheut er uns? Sind wir für ihn umgekehrt auch solche Monstrositäten, wie er für uns?«

Joran überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Er hasst uns weder, noch findet er uns abscheulich.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich glaube, wir sind ihm egal. Wir wecken keine Emotionen in ihm. Es widerstrebt ihm lediglich, dass er nicht schalten und walten kann, wie er es gewohnt ist. Und er ist eher erstaunt, in diese Lage geraten zu sein, rätselt über das Wie. Ihm fehlen wesentliche Informationen. Er weiß weder, was aus seinem Schiff geworden ist, noch wie es seinen Artgenossen geht, die sich während seiner letzten Wahrnehmung bei ihm befanden. Ganz ausgeprägt ist ein vages Gefühl von Angst, das sich, wenn ich es richtig interpretiere, auf das Erscheinen und die rasend schnelle Ausbreitung des Äthers bezieht.«

»Angst«, echote Cronenberg. »Darauf lässt sich doch aufbauen. Für den Moment wollen wir es dabei bewenden lassen. Hat dich der Test angestrengt?«

Joran zuckte mit den Achseln. »Nicht sehr.«

»Dann wirst du bald daran gehen können, den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen, tiefer in seine Psyche einzudringen?«

Der Multiple sah ihn mit einem Ausdruck an, der Cronenberg gefiel. »Nein!«, sagte er.

»Nein?« Die Antwort widersprach dem, was Jorans Körper signalisierte.

»Ich meine: Nein – ich möchte nicht aufhören. Auch keine Pause einlegen, sondern sofort weitermachen! Spricht etwas dagegen?«

Cronenberg tauschte Blicke mit Taurt und Prosper. »Absolut nicht. Du brennst vor Ehrgeiz. Das gefällt uns. Aber sieh zu, dass du nicht ver brennst. Ich traue diesen Bestien nicht, nicht einmal, wenn sie in einem Käfig wie dem hier stecken!«

»Er ist völlig wehrlos«, versicherte Joran.

»Das behauptest du – weil du es glaubst. Aber was wissen wir verlässlich über diese Brut?« Er merkte, wie sich seine gewachsene Abscheu gegen die Ganf in das verwandelte, was er dem Gefangenen zunächst unterstellt hatte: Hass.

Aber wie hätte er auch anders empfinden sollen gegenüber einem Wesen, das noch selbstherrlicher als die Auruunen agierte, unter deren Joch er gelitten hatte.

Sie sind von ihrer Mentalität her identisch. Nur sind die Vorzeichen verschieden, unter denen wir sie kennenlernten. Hätten die Auruunen die Technik besessen, körperlich und gegenständlich zwischen den Kontinuen zu pendeln, wären sie auch schon anders aufgetreten. Sie waren keinen Deut moralischer oder mitleidvoller als die Ganf, die nach ihnen kamen. Sie verfolgten nur eine andere Taktik. Jegliche Rücksichtnahme hat sich für die Ganf erübrigt, als die Schäden an der EWIGEN KETTE offenbar wurden, als die abnorme Sonnenalterung einsetzte. Da wussten sie, dass die Vorarbeit der Auruunen Früchte trägt und die Weichen für den unumkehrbaren Untergang gestellt hat. Fortan war für sie keinerlei Zurückhaltung mehr vonnöten. Sie stahlen den Seelenspeicher aus dem KRISTALLARIUM und hätten unverzüglich in ihr eigenes Kontinuum zurückkehren können. Aber offenbar wollten sie bis zum letzten Moment ausharren, um Augenzeugen der Apokalypse zu werden, die ihnen in ihrem famosen Schiffchen nicht gefährlich werden konnte – zumindest glaubten sie das.

Seine Schadenfreude ob dieses kolossalen Irrtums war deutlich von seinem Gesicht abzulesen. Auch wenn Prosper in diesem Moment nicht wissen konnte, was Cronenberg bewegte. Joran hingegen würde es erkennen, sobald er seine Gedanken las. Was er offenbar weit häufiger tat als jemals angenommen…

»Unsere Unwissenheit über die aktuellen Ganf, über den Status in ihrem Kontinuum, das ja akut bedroht war von dem unseren«, sagte Joran, »wird sich in Kürze legen. Überlasst alles Diesbezügliche mir. Ich werde nicht locker lassen, bis ich die wertvollen Erinnerungen, das wertvolle Wissen in ihm aufgespürt und für uns geborgen habe!«

»Nimmst du den Mund nicht ein bisschen zu voll?«, fragte Cronenberg.

Joran schüttelte den Kopf. »Ich bin mir der Bedeutung dessen, was von mir erwartet wird, voll bewusst – und ich werde schaffen, was von mir erwartet wird.«

»Wir wollen ihr Schiff nicht nur besitzen, sondern in dem Umfang kontrollieren, wie sie es selbst taten«, sah sich Cronenberg bei allen Versprechungen veranlasst, ins Bewusstsein zu rufen. »Ist dir das wirklich in der Form klar, Junge?«

»Vollkommen, Sire

»Was mir missfällt, ist, dass ich permanent an Jorans Seite bleiben muss, wenn er seine Vorstöße in die Ganf-Psyche fortsetzt.« Prosper Mérimée gelang es selbst in seinem Auruunen-Körper zu vermitteln, wie unglücklich er darüber war.

Cronenberg erwiderte: »Hältst du dieses Opfer für zu groß angesichts des Lohnes, der uns im Erfolgsfall winkt?«

Mérimée wand sich und antwortete nur zögerlich: »Ich weiß durchaus zu würdigen, welcher Schatz uns mit dem Schiff aus dem anderen Kosmos in die Hände gefallen ist. Aber ich gebe zu bedenken, dass wir keine Garantie für ein Gelingen der vollständigen Übernahme haben. Ein winziger Moment der Unachtsamkeit könnte den Ganf, die wir über Joran zwingen, das Schiff für uns zu bedienen – so lautet doch, das Ziel, oder? – genügen, all unsere hochfliegenden Pläne zunichtezumachen. Für diesen Fall würde ich gern parallel zu Jorans Bemühungen weiter an Plan B arbeiten.«

»Du hast immer noch nicht damit abgeschlossen, eine Rettungskapsel bauen zu wollen, mit der uns beim endgültigen Kollaps des Universums der Wechsel ins Urkontinuum auch ohne Ganf-Hilfe gelingen soll?«

Er spürte die feste Entschlossenheit seines Verbündeten. »Warum sollte ich die Arbeiten, in die ich schon viel Zeit und Mühe investiert habe, komplett aufgeben? Ich bin dabei, das Ziel meiner Forschung neu zu formulieren. Ich denke eine Variation aus meinen ersten Ideenskizzen und dem, was an neuer Faktenlage hinzugekommen ist, dürfte kurz- bis mittelfristig realisierbar sein. Joran hat – und das ist nicht despektierlich gemeint – eine der Mollusken tanzen lassen. Aber bis ihm der Zugriff gelingt, auf den er und wir hoffen, wird auch noch einige Zeit vergehen.« Er blickte zu dem Jungen. »Sag mir, wenn ich falsch liege, Joran.«

Joran schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, natürlich. Ich werde noch einiges an Zeit benötigen, aber ich denke dabei an Tage, nicht an Wochen oder noch länger.«

»Wofür dir mein Beifall sicher wäre«, entgegnete Mérimée. »Allerdings sollte man nie die Rechnung ohne den Wirt machen – ein altes irdisches Sprichwort. Auf unsere Situation bezogen, soll es heißen, dass wir die Ganf nicht unterschätzen dürfen, auch nicht in ihrer jetzigen Lage. Du solltest mir zugestehen, dass ich deren Potenzial mindestens so gut einschätzen kann wie du.«

Von Joran kam kein Widerspruch. Nicht in dieser Hinsicht jedenfalls.

»Ich kann dich, glaube ich, beruhigen«, sagte er.

»Was heißt das – beruhigen?«

»Ich meine, was deine Sorge angeht, dass du mir nicht mehr von der Seite weichen darfst, solange ich den Ganf durchleuchte und ihm…«, er lächelte dünn, »… Kunststückchen beibringe. Ich bin guter Dinge, dass es für mich keinen Unterschied macht, ob du dich hier oder im KRISTALLARIUM aufhältst. Innerhalb der PSI-Sphäre ist Entfernung zweitrangig, sie wirkt in vielerlei Hinsicht sogar wie ein gigantischer Verstärker auf meine Gaben. Ich hatte es jüngst erst erlebt.«

Sein Blick ging kurz nach innen, und Cronenberg wusste, woran sich der Junge erinnerte. An seinen Reflexsprung aus der Residenz, die ihn eigenem Bekunden nach an einen Ort versetzt hatte, den er zunächst für die Oort-Erde gehalten hatte; aber das hatte der genauen Betrachtung nicht standgehalten. Offenbar war er auf einem Raumschiff gelandet, in dem es Menschen gab – und ein menschenähnliches Wesen, das behauptete, eine Art Magie zu beherrschen.

Das alles klang einerseits verworren, weckte in Cronenberg andererseits aber auch Bilder, die er am liebsten begraben und vergessen hätte; Bilder aus Zeiten, die weit zurückreichten, in die Anfänge seiner wechselhaften Karriere, als die Erde, auf der sie sich befanden, noch ein völlig anderes Gesicht gehabt hatte. Mitte des 21. Jahrhunderts – eine Zeitrechnung, die bei den Menschen der Gegenwart längst keine Erinnerung mehr hervorrief. All das, was Cronenberg in seinen Anfängen geprägt hatte, war nicht mehr Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Spezies, die er sich erst als Erinjij und danach als das duldsame Volk herangezogen hatte, das sie heute waren.

Das duldsame Volk.

Er erschauerte kurz. Das Schiff, mit dem sie hofften, in das Urkontinuum vorstoßen zu können, bot nicht einmal annähernd genug Platz, um alle Menschen der Erde aufzunehmen. Prospers Kenntnisse in Auruunen-Technologie boten einen Ansatz, um auch sie mitzunehmen; allerdings würden sie einen hohen Preis bezahlen müssen: den Verlust ihrer physischen Körper.

Wir werden sie, wenn es so weit ist, nicht fragen, sondern handeln. Letztlich müssen sie dankbar sein, überhaupt eine Chance zu erhalten. Und wenn auch nur ansatzweise stimmt, was wir uns über den technischen Entwicklungsstand »drüben« vorstellen, werden sich Möglichkeiten finden, ihnen neue Körper zu schenken, vielleicht sogar maßzuschneidern.

Noch aber war das reine Fiktion.

»Ich gebe nur zu bedenken, dass das KRISTALLARIUM«, nahm er den Faden auf, den Joran gesponnen hatte, »sich nicht innerhalb der PSI-Sphäre befindet. Es thront außerhalb, auf dem letzten Rest originalem Oort-Gestein, das nicht in Ätherschlamm verwandelt wurde.«

»Egal«, behauptete Joran. »Auch diese Kluft wird mühelos zu überbrücken sein, falls sich Prosper entschließt, das KRISTALLARIUM für Forschungszwecke aufzusuchen.« Er nickte dem Menschen zu, der wie ein Auruune aussah. »Das willst du doch, oder? Ich kann dich, um die Sache zu verkürzen, hinteleportieren. Du musst es nur sagen.«

»Ein verführerisches Angebot«, sagte Mérimée. »Was du sagst, hört sich überhaupt gut an. Alles. Wir werden es versuchen, über die Entfernung Kontakt zu halten – den Kontakt, den du benötigst, um mit dem Denken des Ganf klarzukommen. Aber solltest du merken, dass deine Bemühungen um diesen oder andere Ganf durch meine Abwesenheit doch beeinträchtigt werden, erwarte ich sofortige Benachrichtigung. Ich werde dann selbstredend meine anderen Interessen zurückstellen. Auch wenn mir Plan B wichtig ist, Plan A hat absoluten Vorrang. Ich wiederhole mich gern: Die Inbesitznahme des zum interuniversellen flugtauglichen Festungsschiffes ist mehr, als wir uns je erhoffen durften. Wir wären Narren hoch zehn, würden wir die Chance ungenutzt verstreichen lassen!«

Joran lächelte.

Cronenberg fand, dass der Junge seit ihrer ersten Begegnung – die noch nicht lange zurücklag – spürbar gereift war.

»In Ordnung«, sagte er. »Wenn du glaubst, dass die Ätherschilde, die um das KRISTALLARIUM liegen, keine Sperre darstellen, die eine Teleportation verhindern, bring Prosper dorthin. Aber halt dich nicht zu lange dort auf. Du wirst hier gebraucht.«

»Ich bin, als ich von meinem ›Ausflug‹ zurückkehrte, schon einmal durch einen Ätherschild gesprungen«, beruhigte ihn Joran. »In die HOOVER. Es hat meine Fähigkeit nicht im Mindesten beeinträchtigt.« Er trat zu dem vermeintlichen Auruunen und reichte ihm die Hand.

Prosper griff danach. Vertrauensvoll.

Joran winkte Cronenberg zum Abschied, und Cronenberg erwiderte den Gruß. Dann war die Stelle, wo beide gestanden hatten, leer.



Prosper Mérimée konnte sich nicht erinnern, jemals in Wirklichkeit von einem Vorschlaghammer gegen die Stirn getroffen worden zu sein. Trotzdem hätte er geschworen, dass es sich genauso anfühlen musste, wenn es geschah; genauso, wie der Schmerz, der durch seinen Stirnknochen hindurch im Kopf explodierte und die Dunkelheit wie eine Naturgewalt über ihn hereinbrechen ließ.

Der nächste Gedanke, der sich durch seine Hirnwindungen wälzte, war bereits wieder getragen von Licht. Licht, das in seine Augen stach, als wären es Nadeln, die jemand in einem Feuer zum Glühen gebracht und dann in seine Pupillen gebohrt hatte.

Das Dunkel wich dem SCHMERZ. Er hatte das Gefühl, in das gigantische Herz eines noch gigantischeren Lebewesens teleportiert zu sein und dort nun jenem einzelnen, brutal lauten, brutal harten Pochen ausgesetzt zu sein, das jeden Gedanken zermalmte, noch bevor er Gestalt annehmen konnte.

Unmittelbar bei ihm schrie jemand, dessen Stimme ihm bekannt vorkam. Aber es dauerte noch eine kleine Ewigkeit, bis ihm dämmerte, warum.

Weil ich es bin. Weil ich es bin, der schreit. Brüllt. Völlig außer Rand und Band ist!

Er versuchte, die Gewalt über sich – seinen Körper, seinen Verstand – wiederzuerringen.

Nach einer Weile ebbte sein Geschrei ab, wodurch ein anderes Gebrüll hörbar wurde. Er blinzelte die glühenden Nadeln weg und schaffte es irgendwie, Teile seiner Umgebung wahrzunehmen.

Zunächst nur verschwommene Konturen, dann… eine zappelnde Gestalt.

Menschlich.

Seine Finger gruben sich in den weichen Untergrund, und er schnellte sich in den Stand. Die Wucht der Bewegung, zu der sein nichtmenschlicher Körper imstande war, brachte seinen Schädel fast zum Zerspringen. Das Pochen, das ihn bei seinem Erwachen fast umgebracht hatte, erfuhr vorübergehend noch einmal eine Steigerung, und er glaubte, wirklich sterben zu müssen. Weil sein Schädel auseinanderzubrechen drohte unter dem Nachhall jenes SCHMERZES, der nicht von dieser Welt war.

Nicht von dieser Welt.

Er schüttelte sich wie im Krampf. Zeit verlor jede Bedeutung.

Zeit… endete (zumindest kam es ihm so vor) und lief dann doch wieder weiter. Wie ein Herz, das kurz aus dem Takt geraten war, sich dann aber wieder berappelte, statt dauerhaft stillzustehen.

Eine besorgte Hand legte sich auf seine Schulter. Eine Stimme sprach zu ihm.

»Es tut mir so leid! Wenn ich gewusst hätte, dass es wieder geschieht… Das wollte ich nicht. Wir müssen –«

Die Worte endeten so abrupt, dass Mérimée sich denken konnte, dass sie nicht gewollt verstummten. Und auch ihn traf erneut etwas, das sich anfühlte, als dresche eine Titanenfaust auf ihn ein. Um ihm endgültig den Schädel zu zertrümmern.

Oder endgültig die Zeit anzuhalten…






2


»Das ist er?«

John Cloud hielt ein paar Schritte respektvollen Abstand zu dem matt dunkelgrün, fast schwarz leuchtenden Avatar, den Yael im Schutz eines Felsüberhangs unweit des Schrunds platziert hatte. Der Schrund war auf der originalen Heimatwelt der Nargen eine kilometertiefe Schlucht, aus der die Hitze des flüssigen Planetenkerns entströmte und rund um den Spalt die einzige Lebensader schuf, die Kalser nach dem Einschlag eines vorsätzlich aus seinem einzigen Mond herausgesprengten Fragments geblieben war. Der Einschlag hatte eine Klimaveränderung wie bei einem nuklearen Winter zur Folge gehabt. Nur wenige Nargen hatten diese Katastrophe überlebt und sich am Schrund angesiedelt. Yaels Elter, Jiim, hatte das, was als »Nachbau« in der Kalmzone der FELOR existierte (und ähnlich auch schon auf der RUBIKON existiert hatte) noch am eigenen Leib und als Zeitzeuge erlebt. Yael selbst war auf der RUBIKON zur Welt gekommen.

Die Erinnerung an das wunderbare Raumschiff, das sie einst im Herzen des Aquakubus gefunden hatten, drohte ihn zu übermannen.

Er ließ es nicht zu.

»Ja«, sagte Jiims Sprössling, dessen Begabungen nie wirklich hatten ausgelotet werden können. Manchmal kam es Cloud so vor, als hätte sich ihnen bislang nur die Spitze des Eisbergs offenbart und als sei sein wahres Potenzial noch nicht einmal annähernd ausgeschöpft worden. Erst jüngst hatte er bei der Zusammenführung mit dem Kosmotop einmal mehr unter Beweis gestellt, wozu er fähig war. Die für Menschen grundsätzlich unbegreifliche Maschine der Felorer, mit der sie versuchten, die geschädigte EWIGE KETTE – quasi die X-fach-Helix des Universums, von der sein Aufbau und alle Naturgesetze vorgegeben wurden – zu reparieren und so den Untergang des Kosmos zu verhindern, war von Yael quasi im Alleingang erst vollendet worden. Nachdem die Achtenwürmer daran offenbar zuvor eine halbe Ewigkeit vergeblich geforscht und konstruiert hatten. »Ja«, wiederholte Yael. »Das ist er.«

Clouds Blick wechselte zu dem zweiten Avatar, der sich neben dem obsidianfarbenen Goliath wie ein David ausnahm. »Und man kann ihn nur über einen deiner üblichen Tor-Avatare betreten, nicht direkt? Warum nicht?«

»Ich habe ihm komplett andere Eigenschaften verliehen als sämtlichen Schöpfungen davor. Er soll auch eine ganz neue Funktion erfüllen.«

»Die eines Bunkers.«

Yael nickte, was ihn menschlicher erscheinen ließ, als er es den Fakten nach war. Aber wie auch sein Elter Jiim lebte er schon so lange unter Menschen, dass er ihre Gestik wie selbstverständlich übernommen hatte.

»Denkst du wirklich, er könnte uns, wenn der Kosmos endgültig in sich zusammenstürzt, schützen? Wir könnten darin überleben, obwohl sonst nichts im Universum den Untergang entgehen wird?«

Neben seinem Verhalten wusste er sich auch sehr menschlich auszudrücken. »Ich würde sagen, die Chancen stehen fifty-fifty. Und das ist besser als gar keine Chance, oder, Guma Tschonk

Eigentlich bedachte sonst nur Jiim ihn mit dieser Verballhornung seines Namens, die noch auf ihre allererste Begegnung auf der Heimatwelt der Nargen zurückging. Cloud ließ es ihm durchgehen; warum auch nicht.

Er nickte und zeigte auf den kleineren der beiden Avatare. »Und durch ihn gelangen wir in deinen ›Bunker‹?«

»Lass es uns versuchen.«

Cloud trat einen Schritt zur Seite. » Genius first – ich lasse dir den Vortritt.«

Yael hatte offenbar kein Problem damit. Er trat vor den Tor-Avatar, streckte die Hand nach ihm aus…

und wurde, noch bevor er ihn richtig berührte, in ihn hineingezogen – so schnell, dass das Auge gar nicht folgen konnte.

Der übliche Effekt, was Yaels »Werke« anging. Cloud überwand sich und griff ebenfalls nach dem Avatar.

Im nächsten Moment stand er in einer völlig anderen Umgebung und wieder neben dem Nargen mit den an Zauberei grenzenden Fähigkeiten.

»Musste es unbedingt eine Wüste sein?«, fragte Cloud. »Die Oase sieht ja einladend aus, aber das Drumherum…«

Er wollte noch mehr sagen, aber von irgendwoher tönte rasendes, fast tierhaftes Gebrüll. Trotzdem war er sofort sicher, dass es sich nur um Menschen handeln konnte, die diese Laute höchster Not von sich gaben.

Fragend blickte er zu Yael, aber der Jungnarge war genauso konsterniert wie er.

Nach kurzer Orientierung rannten sie in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Nachdem sie ein Stück weit in die bewaldete Zone eingedrungen waren, die sich sichelförmig um den türkisfarbenen See der Oase erstreckte, erreichten sie eine kleine Lichtung, auf der sich zwei Gestalten auf dem sandigen Boden zwischen dem Gehölz wälzten. Sie strampelten und schrien ohne Unterlass.

Cloud wurde es ganz klamm ums Herz, als er erkannte, dass es sich bei dem einen der beiden um einen Auruunen handelte, der sich in etwa so gebärdete wie die Auruunen, mit denen sie um das Steuerelement der EWIGEN KETTE gekämpft hatten – bevor die Saboteure warnungslos zu lallenden Idioten verkommen waren.

Während sie ihr Tempo verlangsamten und vorsichtig weiter auf die Gestalten zugingen, bemerkte Cloud das Entsetzen auf Yaels Gesicht…

der aber erkennbar nicht auf den Auruunen starrte, sondern bei dem der Halbwüchsige, der sich ebenfalls am Boden wälzte, diese Reaktion erzeugte.

Fast so, als würde er ihn kennen.

Cloud kam ein Verdacht. »Ist er das?«, raunte er Yael zu. »Ist das der Junge, von dem du mir berichtet hast, bevor wir herkamen – dem du hier schon mal begegnet bist, als er Winoa Gesellschaft in deinem Bunker leistete?«

Yael nickte wie in Trance und hauchte: »Ja. Ja, das ist er.«

»Wir müssen vorsichtig sein. Der Junge mag harmlos sein, aber der Auruune…«

Die Bewegungen beider erlahmten und hörten schließlich völlig auf. Reglos, wie tot, lagen sie da.

»Sollen wir Verstärkung holen?«, fragte Yael. »Ich kann sie auch nach draußen bringen.« Kaum hatte er es ausgesprochen, schüttelte er über seinen eigenen Vorschlag den Kopf. »Nein, dann riskieren wir, sie erneut zu verlieren. Es ist schon mal schiefgegangen, als ich ihn…«, er zeigte auf den Jungen, »… zu dir bringen wollte, damit du dir seine Gefieder sträubende Geschichte anhörst.«

»Das ist dieser Joran, von dem du erzählt hast?«, fragte Cloud. »Bist du sicher?«

»Bei meinem Orham, ja!«

Cloud überlegte fieberhaft. »Dass ein Auruune bei ihm ist, macht die Sache nicht einfacher. Ich pflichte dir bei, dass es interessant wäre, sich mit Joran zu unterhalten – allerdings bezweifle ich, dass mit dem Auruunen ebenfalls eine Verständigung möglich ist. Es kann sich nur um ein entseeltes Exemplar handeln, das dein Avatar eingefangen hat. Wie und warum, lassen wir einmal dahingestellt. Der Junge scheint nach allem, was Winoa ihm entlocken konnte und du mir berichtet hast, ein Teleporter zu sein. Dann könnte er den Auruunen mitgebracht haben, von wo auch immer. Sie müssen beide eine immense Strecke zurückgelegt haben. Dass sie uns hier in der Singularitätssenke erreichen konnten, ist schon bemerkenswert. Aber die Zusammensetzung des Gespanns noch mehr.«

»Der Junge nannte sich Wi gegenüber Joran. Er war der festen Überzeugung, sich auf der Erde zu befinden. Der Oort-Erde. Hältst du es für möglich, Commander, dass er… die Wahrheit sagte?«

»Es hört sich mehr als abenteuerlich an.« Cloud zuckte die Achseln. »Aber du hast es mit deinen Avataren auch schon über 13 Milliarden Lichtjahre hinweg zur Oort-Erde geschafft. Deshalb kann ich nicht komplett ausschließen, dass es möglich wäre. Wobei Teleportieren nicht das Gleiche ist. Die Reichweite eines Teleporters sollte sehr viel stärker limitiert sein als die deiner Avatare.«

»Warum?«, fragte Yael.

»Weil…« Cloud merkte, dass ihm die Argumente fehlten. Dann sah er, dass der Auruune sich zu regen begann, und warnte Yael: »Halte dich bereit!«

»Bereit wofür?«

»Ihn in einen Avatar zu zwingen. Etwas anderes haben wir nicht als ›Waffe‹ zur Verfügung. Hätte ich geahnt, dass hier drinnen eine Bewaffnung vonnöten sein könnte, hätte ich wenigstens einen Blaster mitgenommen. Aber so…«

»Was sollte der Avatar bewirken.«

»Dass er uns nicht angreifen kann. Damit wäre ich schon zufrieden. Und wenn er und der Junge dort in gleicher Weise allergisch auf deine Tor-Avatare reagieren, schleudern wir ihn damit hoffentlich dorthin zurück, von wo er gekommen ist – immer gesetzt den Fall, er greift uns an.«

»Wir könnten selbst durch meinen Avatar flüchten.« Yael zeigte hinter sich, wo die Kugel schwebte, durch die sie in den Bunker-Avatar gelangt waren.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924701
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon ende anfang
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Titel: Raumschiff Rubikon 44 Ende und Anfang