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Raumschiff Rubikon 42 Die Macht der Fraktalen

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Raumschiff Rubikon 42 Die Macht der Fraktalen

Manfred Weinland


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.


Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de




Prolog

Den Vernichtern entgegen…



Die Wasser der Welt schienen zu kochen. Die Wasser von Taurts Welt. Und genauso brodelte es auch in ihm selbst. Jede Zelle seines einzigartigen Körpers schien in Resonanz mit dem zu treten, was Tovah’Zara heimsuchte und dabei war, jede Lebensgrundlage zu vernichten.

Zunächst hatte das uralte Protogeschöpf geglaubt, dass feiger Verrat hinter dem Morden steckte. Und er hatte eine bestimmte Person verdächtigt, die in einer wichtigen Phase seiner Existenz ein wertvoller Verbündeter gewesen war: Reuben Cronenberg.

Da es sich bei den Zerstörern, die begonnen hatten, sämtliche Welten des Kubus zu zermalmen, um Ringschiffe handelte, hatte dieser Gedanke nahegelegen. Aber Taurts geistiges Eintauchen in einige der Protagonisten, die an der Verwüstung des gigantischen Artefakts beteiligt waren, hatte ihm die Augen geöffnet. Er hatte erkannt, dass von allen Ringen, die nach Tovah’Zara vorgedrungen waren, nur ein einziger wirklich bemannt war – von Menschen, die nicht Herr ihrer Sinne waren. Die benutzt wurden, um beispiellose Gräueltaten zu begehen.

Da sie die Einzigen waren, die von Taurt beeinflussbar waren, hatte er sie als seine Soldaten gegen die unbemannten, baugleichen Ringe einsetzen wollen. Doch die hatten sich als stärker, absolut übermächtig erwiesen, und so hatte er der Verheerung der Wasserwelt nur kurz Einhalt gebieten können.

Sein Lebenswerk stand vor dem Ende. Ungeachtet, dass jenseits der Kubusgrenzen ein ganzes Universum ebenfalls seinem Untergang entgegen dräute.

Taurt war rasend vor hilflosem Zorn. Er verformte seinen Körper zeitweise so, dass er wie ein Geschoss durch die Fluten jagte. Erst als der Feind in Sicht kam, bildete er wieder seine humanoide Gestalt aus.

Die drei Ringe kreuzten noch immer in dem Gebiet, in dem sie sich ihres Bruderschiffs entledigt hatten, weil dieses – unter Taurts Regie – plötzlich und ohne Vorwarnung das Feuer auf sie eröffnet hatte. Taurt war überzeugt, dass sie ihr unterbrochenes Zerstörungswerk, was den Kubus anging, wieder aufnehmen würden, wenn…

ja, wenn er keinen Weg fand, sie daran zu hindern.

Er wünschte, die Arsenale von einst hätten ihm noch zur Verfügung gestanden. Aber Tovah’Zara hatte eine wechselvolle Geschichte durchlebt, und schon unter den Treymor und Auruunen als Besatzungsmächte, waren die meisten Depots unbrauchbar gemacht worden.

Als die Ringe vor ihm auftauchten, wurde ihm bewusst, dass er die falsche Strategie betrieb – er hätte abwarten müssen, bis die Schiffe sich in die Ewige Stätte Tovah’Zaras, das Herz des Kubus, wagten. Dort allein hätte er den Hauch einer Chance gehabt, sie besiegen zu können, weil dort noch viele der uralten Anlagen aus Foronen-Zeiten existierten. Wenn auch nicht für jeden ersichtlich.

Aber hier… hier draußen im offenen Gewässer… war der Feind ihm hoffnungslos überlegen.

Was Taurt, der Blindwütige, auch sogleich zu spüren bekam, als sich aus einem der Ringschiffe ein säulendicker, gelblicher Lichtbalken löste und wie ein Scheinwerferstrahl auf ihn zuraste. Das Licht fand ihn traumwandlerisch sicher, hüllte ihn ein und griff mit Myriaden winzigen Widerhaken nach seinem Körper.

Ein Ruck – und Taurt wurde auf den Ring zu geschleudert, der ihn ins Visier genommen hatte.

Er wünschte, Sobek wäre da gewesen, um ihn zu beschützen. Aber vermutlich hätte vor diesem Gegner selbst der oberste der sieben Hirten kapituliert.

Mit diesem Gedanken verwirbelte Taurts Geist im Nichts…



um sich irgendwann aus weniger als nichts wieder zusammenzusetzen. Wie unzählige Quecksilberkügelchen, die aufeinander zu rollen und sich zu einem größeren Ganzen verbinden.

Plötzlich war Taurt wieder bei sich.

Das kränklich gelbliche Licht, in das er getaucht worden war, war seine letzte Erinnerung. Was danach passiert war, konnte er sich nur anhand des Umstands zusammenreimen, dass er sich nicht länger im Wasser aufhielt, sondern in einem luftgefüllten Raum, der den Charme einer Riesenamöbe hatte… des Magens einer Riesenamöbe, korrigierte er sich.

Er richtete sich auf. Seine Geschmeidigkeit hatte keinen Schaden genommen. Überhaupt schien er körperlich unversehrt zu sein. Der Boden unter seinen Füßen war weich und stabil zugleich. Taurt hatte das Gefühl, auf den Planken eines Boots zu stehen, das die Wellen eines fremden Meeres als Spielball benutzten.

Er rief in das Dämmerlicht hinein, das den sonderbaren Raum erfüllte. Seine Stimme schien von der Begrenzung des Ortes geschluckt zu werden.

Dann trat plötzlich eine Gestalt auf ihn zu, die umwirbelt wurde von immateriellen Schleiern. Der Körper des Wesens glänzte ölig schwarz. Wo es ging, schien sich der Raum zu krümmen, fast so, als übe es Anziehungskraft aus – oder als wäre es personifizierte Gravitation.

»Wie ist dein Name?«

Die Stimme, die Taurt entgegenwehte, war so unwirklich wie das ganze Wesen, die ganze Umgebung.

»Taurt.«

Absurderweise hätte er geschworen, gar nicht geantwortet zu haben. Trotzdem gab es die Antwort.

»Du musst mir alles über dich erzählen.«

Taurt spannte die Muskeln seines Körpers an. Niemals!, regte sich Widerstand in ihm.

»Wo soll ich beginnen?«, fragte er. Und wieder war es so, dass er sicher war, die Frage so nicht gestellt zu haben. Überhaupt nichts gesagt zu haben.

Trotzdem schwangen die Worte noch im Raum.

Er überlegte, sich auf das Wesen zu stürzen und es für alles, was es den Geschöpfen und Inseln Tovah’Zaras angetan hatte, büßen zu lassen. Aber diese Absicht schien in dem Treibsand zu versinken, in den sich sein Denken und Fühlen verwandelt hatte, seit er hier erwacht war.

»Wie wurdest du geboren?«

Eine weitere Gestalt drängte aus dem Dunkel, und es sah aus, als würde sie selbst in diesem Moment geboren, von der Wand, wo sie sich löste, herausgepresst.

»Ich wurde nicht geboren. Ich wurde… gemacht.«

Eine dritte ölig schwarze Gestalt glitt heran, dann eine vierte, fünfte… Sie alle ermutigten Taurt, mit nichts, was ihn betraf, hinterm Berg zu halten, alles preiszugeben, was ihm selbst wichtig erschien. Weil das automatisch auch wichtig für sie, seine Zuhörer, sein würde.

Er war fasziniert davon, wie sie mit ihm spielten. Als wäre er ein Instrument, dem sie virtuos jeden gewünschten Ton entlockten.

Dem setzte er eigene Virtuosität entgegen. Während er redete und redete und ihr Verlangen damit scheinbar befriedigte. Dass sich im Laufe der Zeit immer mehr Geschöpfe um ihn scharten, störte ihn nicht, im Gegenteil. Je mehr, desto besser.

Taurt modifizierte die Wahrheit, wann immer es ihm gefiel. Er konnte nicht verhindern, dass sein Körper auf alle Fragen antwortete. Aber mit fortschreitender Dauer gelang es ihm immer besser, Fakten wegzulassen oder zu verbiegen. Schließlich erzählte er die eigene Geschichte und die Tovah’Zaras nicht so, wie sie sich tatsächlich abgespielt hatte, sondern so, wie er sich in den langen Phasen der Einsamkeit, die er überwinden musste, vorgestellt hatte, dass sich die Dinge und er auch hätten entwickeln können .

Als die ölig glänzenden Gestalten schließlich wieder gingen, war er nicht sicher, ob er sie hatte überzeugen können. Aber er war sicher, dass er ihnen etwas mitgegeben hatte, das sie noch beschäftigen würde. Und das ihm noch von Nutzen sein konnte.

Sie hatten ihm nicht vorgeworfen, eines ihrer Schiffe zerstört zu haben. Und er hatte ihnen nicht ins Gesicht geschrien, was er tatsächlich von ihnen hielt.

Ihr wollt spielen, täuschen, manipulieren? Dann gewöhnt euch daran, dass andere das auch mit euch tun!

Er setzte sich auf den Boden, der sich anfühlte wie die vielen, miteinander ringenden und in Aufruhr befindlichen Gedanken in seinem Kopf. Die ölig Schwarzen hatten nicht wie Mörder auf ihn gewirkt. Aber das beeindruckte ihn nicht.

Sie beherrschten ihre Masken.

So wie er seine beherrschte.

Er lauschte in sich. Der Substanzverlust nach dem Psycho-Verhör war so gering, dass er keinem außer ihm selbst auffallen würde. Wenn ihnen überhaupt etwas aufgefallen wäre, hätten sie augenblicklich reagiert. Aber sie sind völlig ahnungslos.

Er lehnte sich zurück und lauschte erneut. Diesmal nicht in sich hinein, sondern in seine Umgebung.

Noch antwortete kein Echo.

Taurt hütete sich, es zu erzwingen. Es würde seine Zeit brauchen. Die Saat musste erst aufgehen. Aber dann… vielleicht dann…













1.

Nomad


Ein einziger läppischer Tag blieb ihnen – blieb dem Planeten, auf dem sie gestrandet waren – nach Lage der Dinge noch. Keine Stunde mehr. Es sei denn, es geschähe ein Wunder , dachte John Cloud. Ein Wunder, an das aber weder er noch eine andere Person aus seinem direkten Umfeld zu glauben gewillt war. Dann war es das wohl…

Er hatte das Gefühl, innerlich zu vibrieren. Von allen unfassbaren Nachrichten, die ihn in einer so engen Abfolge erreicht und erschüttert hatten, als wären es Dominosteine, von denen einer den anderen anstieß und zum Umfallen brachte, war die Entdeckung, die den Aquakubus betraf, die mit Abstand schlimmste.

Tovah’Zara, das uralte Versteck der Foronen, das eine einzigartig wechselhafte Geschichte durchlaufen hatte, war ausgerechnet jetzt am Rand des Angksystems aufgetaucht. Und wurde offensichtlich als Waffe derer missbraucht, die schon mehrere Male vergeblich versucht hatten, den Planetenschild um Nomad zu »knacken«. Die Angreifer aus dem sogenannten Urkontinuum – Ganf, wenn nicht alle bisherigen Erkenntnisse täuschten – waren unmittelbar nach dem Fall der auruunischen Tyrannen im Angksystem aufgetaucht und hatten erst zum Untergang der RUBIKON geführt und sich anschließend darum bemüht, den Schutzschild zu überwinden, den die Felorer um Nomad gelegt hatten.

Mit Grausen dachte Cloud an das Amorphgebilde, das über nahezu unheimliche Adaptionsfähigkeiten verfügte, mit denen es offenbar in der Lage war, jegliche Fremdtechnik zu kopieren und gegen die eigentlichen Entwickler zum Einsatz zu bringen.

Für Cloud stand außer Zweifel, dass die Insassen des Amorphgebildes auch hinter dem ebenso überraschenden wie schockierenden Auftauchen des gigantischen Wasserwürfels steckten. Warum sonst hätte dessen Kurs so perfekt auf Nomad ausgerichtet sein sollen?

Sie wollen uns damit rammen und regelrecht pulverisieren. Bei der Geschwindigkeit, die der Kubus aufgenommen hat, kann nichts anderes die Absicht und auch nichts anderes die Folge sein.

Tovah’Zara hatte schon viele, viele Himmelskörper in sich aufgenommen. Assimiliert. Aber dieser Prozess war stets anders verlaufen als das, was sich hier anbahnte. Um eine Welt in den Kubus zu integrieren, musste sie mit einem Höchstmaß an Vorsicht behandelt werden. Wie ein rohes Ei. Sonst konnte sie schon bei viel geringerer Geschwindigkeit zerbrechen. Hier aber war die Zerstörung vorprogrammiert. Die Wucht, mit der Würfel und Planet zusammenstoßen würden, konnte nichts anderes als die vollständige Vernichtung nach sich ziehen.

Für Tovah’Zara würde es nicht mehr als ein Insektenstich sein. Der uralte Würfel, in dem die Foronen einer besseren Zukunft entgegengefiebert hatten und in dessen Kern die RUBIKON (eigentlich SESHA) versteckt gewesen war, würde seinen Weg danach fortsetzen können. Wie lange genau, war angesichts der turbulenten Veränderungen im gesamten Kosmos nicht vorhersehbar. Was sicher vorausgesagt werden konnte, war Nomads Schicksal. Kein Schild des Universums würde die bei einem Zusammenprall frei werdende kinetische Energie absorbieren können. Falls also nicht noch ein radikaler Kurswechsel des Kubus erfolgte, gab es keine Überlebensstrategie, die fruchten würde – weder für die Welt als solche noch für ihre Bewohner.

»Rylbert«, begrüßte Cloud das Achten-Wesen, als dieses im Quartier des Menschen materialisierte. Das interne Transmittersystem der Felorer-Basis transportierte es zielsicher, nachdem Cloud um eine Unterredung gebeten hatte. »Ich freue mich, dass du meiner Bitte Folge leistest. Es war nicht unbedingt davon auszugehen.«

»Was willst du damit andeuten?«, fragte das Wesen, dessen Intellekt selbst Rechenaufgaben bewältigen konnte, die in höher gelagerte Dimensionen hinein wirkten.

»Die Lage«, wich Cloud zunächst aus. »In Anbetracht der Eskalation, die eingetreten ist, dürftest du anderweitig mehr als ausgelastet sein.«

Der Felorer bewegte sich auf unnachahmlich geschmeidige Weise auf den Menschen zu. »Ist das so?«, drang es aus seinem Sprachorgan, in einem Tonfall, der Clouds These in Zweifel stellte – und mit den nächsten Worten auch offen widerlegte. »Eigentlich hatte ich noch nie, seit ich zurückdenke, so viel Zeit wie jetzt. Diese Zeit wird morgen enden – für uns alle. Aber zuvor gibt es nichts, was wir noch tun könnten , um dieses Ende zu verhindern. Deshalb…« Die Achtenärmchen machten eine Geste der stillen Resignation. »Deshalb darfst du diese letzten Stunden, die uns bleiben, gern beanspruchen.«

»Das ist sehr großzügig von dir, Rylbert.« Cloud nahm in einem der Sessel Platz, mit denen die Felorer das Quartier menschlichen Bedürfnissen angepasst hatten. Er erwartete nicht, dass auch der um einiges kleinere Rylbert Platz nehmen würde, sah sich aber widerlegt, als dies doch geschah. Wobei sich der Felorerkörper so geschickt den Winkeln und Windungen der Sitzgelegenheit anglich, dass es beinahe so aussah, als wäre er für die höherdimensional denkenden Wesen geschaffen.

»Worum geht es?«

»Es geht um essenzielle Dinge«, erwiderte Cloud vorsichtig. »Denn ich teile deine Ansicht nicht ganz, dass wir gar nichts gegen das drohende Verhängnis tun können. Wobei ich eingestehe, dass mir wahrscheinlich auch der Überblick über das große Ganze fehlt, den du und deine Artgenossen sicherlich habt.«

»Was genau meinst du? Unser unumstößliches Schicksal? Unser Sterben… oder lass es mich besser unsere Auslöschung nennen, in dem Moment, da dieses beeindruckende Gebilde Nomad zermalmen wird?«

Cloud nickte. »Das meine ich. Wobei sich mir – und auch meinen Gefährten und Freunden, mit denen ich spreche – eine Frage stellt, auf die wir einfach keine Antwort finden. Sie hat mit dem zu tun, was Jarvis bei seinem Alleingang fernab der Bereiche entdeckt hat, die eigentlich für uns offenstehen.« Er studierte das Achten-Wesen, soweit dies bei einer so vollkommen fremdartigen Lebensform überhaupt möglich war. Der Felorer verhielt sich abwartend, sodass Cloud fortfuhr: »Dabei wurde er aufgehalten und hierher zurück gebracht. Das war unmittelbar, bevor der Kubus auftauchte und sich die Situation radikal änderte.«

»Ich bin im Bilde.«

»Ja«, sagte Cloud, »das weiß ich. Aber es geht um das, wovon Jarvis mir berichtete. Um das, was er sah und entdeckte, bevor er gestellt und aus dem offenbar streng geheimen Sektor verbannt wurde. Er…« Cloud zögerte kurz und versuchte damit, Rylbert eine Regung zu entlocken, die jedoch nicht erfolgte. Jedenfalls nicht in einer Weise, die er hätte lesen können. »Nun, er ist der festen Überzeugung, dort ein Raumschiff entdeckt zu haben. Ein, wie er es ausdrückte, riesiges und, aus menschlicher Betrachtungsweise, unglaublich schönes Raumschiff…«

»Schönheit entspringt durchaus keinen rein subjektiven Kriterien«, erwiderte der Felorer.

»Sondern?«

»Wenn sich Formen an kosmologischer Ästhetik orientieren, kommen dabei in aller Regel Objekte heraus, die speziesübergreifend als angenehm empfunden werden.«

»Und das ist bei dem von Jarvis entdeckten Raumschiff der Fall?«

»Das steht außer Frage.«

»Gut. Allerdings gebe ich zu, dass Ästhetik angesichts der Lage, in der wir uns befinden, zweitrangig ist.«

Rylbert schien etwas erwidern zu wollen, entschied sich dann aber, schweigend abzuwarten, bis Cloud erklärte, was er für erstrangig hielt. Für die absolute Priorität.

»Das Einzige, was zählt, ist doch, dass ihr ein Raumschiff habt – und dass es noch dazu… jedenfalls hat Jarvis es so empfunden… groß genug ist, sämtliche Felorer und mich und meine Crew aufzunehmen. Wir werden es nach Lage der Dinge – korrigiere mich, wenn ich mich irre – nicht verhindern können, dass Nomad untergeht. Aber wir können jedes noch auf Nomad befindliche denkende Geschöpf davor bewahren, mit unterzugehen. Gesetzt den Fall…« Sein Ton veränderte sich wider Willen. Was ihm zeigte, wie nervös er unter der nach außen demonstrierten Selbstkontrolle war. »Gesetzt den Fall, das Raumschiff, das ihr vor uns versteckt, ist einsatzfähig.«

Rylbert benötigte nur einen einzigen Satz, um sämtliche Hoffnung in Cloud zu ersticken.

»Genau das ist der Punkt«, sagte das Achten-Wesen, »bedauerlicherweise ist es das nicht – einsatzfähig.«



Zur gleichen Zeit:

Der Friedhof der RUBIKON schrumpfte stetig, weil die großflächig verteilten Trümmer enger zusammenrückten.

Als Yael sich eine Verschnaufpause von seiner Anstrengung gestattete, all die Toten des Raumschiffs wieder ins Leben zurückzuholen, in der Weise, wie nur er es vermochte, spähte er zu der Stelle hinüber, wo die Anstrengungen der felorischen Helfer immer mehr fruchteten. Nachdem es Yael gelungen war, Winoa aus dem Material des Schiffes herauszulösen, mit dem sie als Angk in einer Weise verschmolzen gewesen war, dass nicht einmal hochwertigste Messinstrumente darin noch Spuren organischer Verbindungen hatten feststellen können, war die Idee aufgekommen, der Prozess, den er mit seinem »Avatar-Zauber« in Gang zu setzen vermochte, könnte vielleicht beschleunigt werden, indem die unzähligen Trümmer des zerschellten Raumschiffs wieder wie ein gigantisches Puzzle zusammengesetzt würden. Der Idee hatten die Felorer dann auch noch das Equipment hinzugefügt, und seither arbeitete ein Team der Achten-Wesen daran, die RUBIKON zumindest in ihrer Struktur wieder »zusammenzukleben«. Dass daraus kein heiles Schiff mehr erwachsen würde, war allen Beteiligten klar. Aber der von diesem Prozess erhoffte Effekt war tatsächlich eingetreten. Niemand konnte das besser beurteilen als Yael, dem es zunehmend leichter fiel, all die »Geister« einzufangen und zu denen zu verdichten, die sie vor der Katastrophe gewesen waren.

Und so blickte er überaus dankbar zu den Felorern, unter deren Regie das Rochenschiff wieder Konturen annahm und sich wahrhaftig seiner »Fertigstellung« – wenn man davon sprechen konnte – näherte.

Viel Zeit blieb ihnen allerdings ohnehin nicht mehr. Gerade hatte Yael die Nachricht aus der unterirdischen Basis der Achten-Wesen erreicht, dass dem Planeten, auf dem sie sich befanden, der Super-GAU drohte. Das Mittel, zu dem der Feind gegriffen hatte, der Nomad zuvor schon erfolglos attackiert hatte, machte Yael sprachlos.

Danach hatte er eine Auszeit gebraucht, um sich neu auf seine Aufgabe einzuschwören. Im ersten Moment, als ihm mitgeteilt worden war, dass der Aquakubus auf Kollisionskurs mit Nomad gebracht worden war, hatte er keinen Sinn mehr in einer Fortsetzung seiner Bemühungen gesehen. Im Gegenteil: Die, die er gerade noch rettete, würden ihn verfluchen, sobald sie begriffen, dass er sie nur ins Leben zurückgeholt hatte, damit sie wenige Stunden später einen zwar schnellen, aber nichtsdestotrotz schrecklichen Tod sterben mussten!

Von dieser Vorstellung war er wieder abgerückt. Notfalls, entschied er, würde er versuchen, so viele Lebewesen wie möglich mittels seiner Avatare von Nomad zu evakuieren. Dabei musste die Zuflucht allerdings klug gewählt sein, weil die Welten, die er kannte, zwischenzeitlich gravierende Veränderungen erfahren haben dürften. Die Sonnenentartung würde sie überwiegend in Eisschränke verwandelt haben. Aber alles war besser, als sich einfach in ein fremdbestimmtes Schicksal zu ergeben. Sich ermorden zu lassen.

Kalser wäre ein denkbares Ziel , dachte Yael. Nach dem Mondfall, als ein riesiges Fragment Marons die Heimatwelt der Nargen an den Rand des Untergangs geführt hatte, war Kalser von einer dicken Eiskruste überzogen worden. Dank einer klaffenden Schlucht aber, aus der Hitze aus dem Planetenkern nach draußen entwich, hatte sich am Rand dieser Einkerbung eine Oase des Lebens entwickelt. Diese Wärmequelle war bis heute nicht versiegt, obwohl sich das Klima Kalsers über die Jahrtausende wieder zum Besseren hin gewendet gehabt hatte. Was aber aktuell wieder anders geworden sein musste. Und falls Yaels Überlegung zutraf, dass inzwischen neues Eis über die Landschaften Kalsers wucherte, würde der Schrund auch heute wieder die Möglichkeit bieten, eine Enklave einzurichten, in denen Leben und Überleben noch eine ganze Weile möglich wäre.

Vorausgesetzt der von vielen befürchtete nächste Schub der Sternenveränderung würde noch auf sich warten lassen.

Er muss , dachte Yael. Am besten wäre es, ihn überhaupt verhindern zu können. Wir waren auf so gutem Weg. Dann ist alle Hoffnung wieder gekippt.

Er drückte die Beine durch und erhob sich. Der Avatar hatte auch während Yaels Pause nicht aufgehört, »Geister« der Angks in sich aufzusaugen. Aber nur Yael konnte den letzten Schritt an denen vollziehen, die von der schillernden Kugel wie von einem auf Seelen reagierenden Magneten angezogen wurden. Nur er konnte ihnen wieder das einhauchen, was ihnen zum wirklichen Menschsein fehlte: Leben.

Und so machte er sich wieder ans Werk.

Und als irgendwann Winoa kam, sich neben ihn setzte und den Arm um ihn legte, wusste er, dass er das einzig Richtige und Wahre tat. Die letzten noch nagenden Zweifel zerstoben.

»Wie lange noch?«, fragte Winoa.

Statt mit Worten zu antworten, ließ er Taten sprechen. Und es war kein Zufall, dass die erste Person, die den Reigen der Wiederkehrer eröffnete, wie eine ältere Ausgabe seiner Freundin wirkte.

Als Winoa die Gestalt erkannte, die desorientiert aus dem Avatar trat, gab es für sie kein Halten mehr.

»Mum…!«



Für einen Moment hatte Cloud das Gefühl, sich in einer Umgebung zu befinden, der von einer geheimen Kraft alle Farbe entzogen wurde. Es lag einzig an seiner Einbildung, davon war er überzeugt. Dennoch kam es ihm vor, als fiele ein Schatten über alles, was sich in Sichtweite befand, und dieses Grau, das Tristesse verströmte, drang sogar bis in die fernsten Winkel seines Gemüts vor. Die Meldung vom Tod einer ihm nahestehenden Person hätte sich nicht verheerender auswirken können. Sekundenlang war er unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. All die Möglichkeiten, die er sich in Zusammenhang mit Jarvis’ Entdeckung ausgemalt hatte, zerplatzten wie Seifenblasen.

Im Grunde aber bestätigten Rylberts Worte nur, was Jarvis berichtet hatte: von einem Raumschiff, das in einem gigantischen Dock schwebte, in dem es zuging wie in einem Ameisenhaufen. Auch Jarvis hatte den Eindruck gewonnen, dass pausenlos an dem Gebilde gearbeitet wurde. Allerdings war seine sonstige Schilderung von solchem Überschwang geprägt gewesen, dass Cloud dieses wichtige Detail erst jetzt wieder in den Vordergrund seines Denkens rückte.

Offenbar erweckte der geheime Ort, an dem sich das Raumschiff befand, nicht umsonst den Eindruck emsiger Geschäftigkeit.

»Ihr…« Cloud räusperte sich. »Ihr«, setzte er von Neuem an, »konntet es noch nicht raumtüchtig machen? Das erschüttert mich. Warum sollte ich lügen? Es… es zerstört die Hoffnung, die ich hatte.« Er fuhr sich übers Gesicht, als müsste – und könnte – er so den Albtraum wegwischen, der ihn seit Entdeckung des Aquakubus in seinem Würgegriff hielt und jeden Gedanken so schwer machte, als hingen Bleigewichte daran.

»Ich sagte nicht, es sei nicht raumtüchtig«, erklärte Rylbert. »Du hattest gefragt, ob es einsatzfähig sei – was ich verneinen muss, weil der eigentliche Einsatzzweck von ihm nicht erfüllt werden kann. Ansonsten ist es jedoch raumflugtauglich. Und wir werden nicht umhin kommen, es auch in seinem unvollendeten Zustand als das zu nutzen, was du in ihm siehst: eine Möglichkeit zur Evakuierung.«

Clouds Herz schlug schnell wie selten. Der Felorer brachte es fertig, ihn von einem Gefühlszustand in den nächsten zu stürzen.

»Und was wäre die Absicht, die ihr mit dem Schiff verfolgen wolltet, wäre es in eurem Sinn vollendet ?« Er lächelte dünn. »Wenn ich das erfahren darf?«

»Lass uns nicht hier darüber sprechen.«

»Wo dann?«

»An Ort und Stelle.«

Noch bevor Cloud die Absicht hinter der Bemerkung begriff, änderte sich die Umgebung. Rylbert hatte ohne Vorwarnung einen der Basis-Transmitter aktiviert und sie beide in einen Bereich abgestrahlt, von dem unklar war, ob er sich ebenfalls unter dem Totenturm der Bractonen befand, wo der Felorer-Stützpunkt lag, oder bei gänzlich anderen Koordinaten.

Sicher war nur, dass die gewaltige Kaverne, die Jarvis nur unzureichend hatte beschreiben können, sich ebenfalls auf Nomad befinden musste, sonst hätte sich niemand Sorgen wegen der bevorstehenden Kollision zu machen brauchen.

»Das ist es?«, fragte Cloud beinahe andächtig.

»Erfüllt es deine Erwartungen?«

Die Worte des Felorers streiften allenfalls Clouds Bewusstsein. Er fühlte sich wie in einer Trance. Die matt glänzende, seltsam verdrehte Acht, die von abenteuerlichen Gerüstkonstruktionen umgeben war, auf denen weit mehr Gestalten in steter Bewegung waren, als Cloud erwartet hatte, schien nicht nur seine Blicke an sich zu binden, sondern auch jeden seiner Gedanken. Er war so in den Anblick des Raumschiffs vertieft, dass er, als er sich endlich aus seinem Bann löste, nicht hätte sagen können, ob nur Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergangen waren, ohne dass er sich vom Fleck gerührt oder seinen Blick auch nur ein einziges Mal davon weg gelenkt hatte.

Rylberts Frage hing noch immer im Raum.

»Ja«, keuchte Cloud, der sich mehr Souveränität gewünscht hätte. »Verdammt, mehr als das! Wie… groß ist es, übertragen in unser metrisches System?«

»Wie groß schätzt du es?«

»In der Länge – mindestens einen Kilometer!«

»Zwei«, sagte Rylbert. »Es sind ziemlich genau zweitausend eurer Meter. An der breitesten Stelle durchmisst es siebenhundertvierundsechzig.«

»Siebenhundertvierundsechzig auf zweitausend…« Unweigerlich kamen Erinnerungen an die RUBIKON in ihm auf. Deren Maße, solange es sich hinter seinen Dimensionswällen »versteckte«, waren deutlich bescheidener ausgefallen. Ihr Inneres hingegen hatte mindestens so viel Nutzfläche geboten wie diese verdrehte Acht, an der es nicht den geringsten Hinweis auf das zur Anwendung kommende Antriebssystem gab. Aber das war kein Makel, im Gegenteil. Alles andere als die geschlossene Glätte und Eleganz, die das Gebilde auszeichnete, hätte Cloud verblüfft.

Und enttäuscht. Ein Raumschiff der Felorer muss anders als vergleichbare Konstruktionen sein. Die Ovale, die sich am Knotenpunkt treffen, sind deutlich abgeflachter als die Ringe der Auruunen. Auch das Material unterscheidet sich. Es schimmert nicht anthrazit, sondern, je nach Einfallswinkel des Lichts, unterschiedlich. Unterschiedliche Bereiche leuchten verschieden farbig. Öffnungen, die im einen Moment noch vorhanden waren und Arbeiter oder Gerätschaften passieren ließen, sind im nächsten Moment fugenlos geschlossen, während an anderer Stelle, die zuvor keinerlei Hinweise auf ein Schott gezeigt hat, plötzlich neue Passagen entstehen. Wie genau das vonstattengeht, erschließt sich mir nicht.

Er überschlug die Maßangaben, die das Achten-Wesen gemacht hatte und überlegte: Entspricht das dem, was wir Menschen den Goldenen Schnitt nennen?

Um es sicher sagen zu können, hätte er die Formel zur Berechnung des Goldenen Schnitts bei einem Objekt dieser Form und Größe anwenden müssen. Aber es mangelte an dem dafür nötigen Ehrgeiz, zumal ihn wesentlich stärker die Frage beschäftigte, was für einen eigentlichen Einsatzzweck die Felorer dem Achten-Schiff zugedacht hatten, den dieses offenbar nicht erfüllten konnte, weil es nicht vollendet war, sondern noch im Bau befindlich. Zumindest, was sein Innenleben anging. Das Äußere wirkte bereits jetzt absolut perfekt. Cloud konnte sich nicht vorstellen, dass hier noch gravierende Änderungen vorgenommen werden sollten.

Aber wenn jemand darüber Auskunft geben konnte, dann Rylbert.

»Das ist«, sagte Cloud anerkennend, »enorm.« Er räusperte sich, weil seine Stimmbänder belegt waren. »Besteht die Möglichkeit, es von innen zu betrachten?«

»Mehr als nur die Möglichkeit. Die Notwendigkeit«, sagte Rylbert. »Natürlich könnte ich dir Hologramme zeigen. Aber wir befinden uns in einem Stadium, in dem die reale Betrachtung sämtlicher relevanter Komponenten unbedingt einer indirekten Betrachtung vorzuziehen ist.«

Es war nicht das erste Mal, dass der Felorer sich umständlich ausdrückte. Es schien ein hervorstechender Wesenszug dieser Spezies zu sein.

»Du hast die Absicht, mich an Bord zu bringen?«

Der Felorer bestätigte. »Unsere Schicksale sind inzwischen so eng miteinander verflochten, dass du volle Aufklärung verdienst. Wie ich weiß, wurdest du vor unserer aktuellen Begegnung noch über eine weitere Erkenntnis unterrichtet, zu der ein Angehöriger deiner Mannschaft gekommen ist. Du weißt, von wem ich spreche?«

Cloud nickte. »Von Artovayn, dem Gloriden.«

»Unter anderen Umständen hätte seine Spionage schwerwiegende Folgen für ihn nach sich gezogen«, bekannte Rylbert. »Das nahende Unglück ist sein Glück. Eine Bestrafung des Goons würde nur Ressourcen verschlingen, die wir anderweitig besser nutzen können.«

»So nennt ihr die Gloriden? Goons ? Ein Begriff aus eurer Sprache, der sich der Übersetzung unserer Translatoren widersetzt? Was bedeutet er?«

Rylbert überging die Frage. Erneut wechselte die Umgebung, und nach einem Blinzeln fand sich Cloud in einem Raum wieder, von dem er annehmen musste, dass er Teil des Gebildes war, das er einen Moment zuvor noch von außen bestaunt hatte.



»Die Hernetante Schlinge führt durch das gesamte Schiff.« Rylbert wirkte wie die einzige Konstante neben ihm. Alles andere war im Fluss.

Was zur Hölle war eine Hernetante Schlinge? Cloud sah sich um. Ein Korridor. Scharlachrot. Dann: mit einem Touch ins Schwarze… Graue…

Ganz allmählich wurden Wände, Boden und Decke silbrig-weiß. Dabei blieb es.

»Die Schlinge tastet deine visuellen Rezeptoren ab und stimmt sie mit meinen ab. Daraus ergibt sich ein Mittelwert. Irritiert?«

Cloud versuchte, den Anschein der Gefasstheit aufrechtzuerhalten. »Dieser Korridor ist die Schlinge, von der du sprichst?«

»Er durchläuft das ganze Schiff.«

»Er ist breit wie ein U-Bahn-Tunnel.«

»U-Bahn-Tunnel?«

Cloud verzichtete auf eine Erklärung. Der Korridorverlauf in beide Richtungen war völlig überlaufen. Maschinen. Felorer. Güter, die transportiert wurden. Trotzdem herrschte, von dem Wortwechsel zwischen ihm und Rylbert abgesehen, Totenstille.

Anfänglich zuckte Cloud immer wieder zusammen, weil sich Gegenstände oder Felorer zeitrafferschnell auf ihn zu bewegten und ein Zusammenprall unvermeidlich schien. Doch obwohl er in keinem der Fälle rechtzeitig Ausweichbewegungen vollzog, kam es zu keinem Crash. Ebenso wenig wie bei Rylbert. Stets wurden die dahinrasenden Körper elegant an ihm vorbei geleitet. Trotzdem standen Schweißperlen auf seiner Stirn, als er sich Rat suchend an das Achten-Wesen wandte.

»Was geht hier vor? Und was bedeutet ›hernetant‹? Rylbert! Hier geht es zu wie in einem Tollhaus!«

»Als Hernetanz bezeichnen wir den Vorgang, niemals zwei physikalische Körper an ein und derselben Stelle zuzulassen, aber auch gleichzeitig alles im Fluss zu halten.«

»Wir beide stehen still. Befinden wir uns nicht in dieser… Hernetanz?«

»Niemand kann sich ihr entziehen, solange er sich in der Schleife – oder auch Schlinge – aufhält. Die Hernetanz ist die Kraft, die alles bewegt.«

»Aber wir bewegen uns nicht.«

»Du irrst. Warte ab, bis sich deine Augen an den Kraftfluss gewöhnt haben. Dann wirst du erkennen, dass sich unsere Bewegung nur von der Geschwindigkeit anderer Nutzer unterscheidet. Aber das können wir jederzeit beeinflussen und ändern. Momentan steuere ich die Strömung, die uns betrifft, für uns beide. Solltest du es wünschen, genügt eine kurze Einweisung, und du wirst es eigenständig ausführen können.«

»Und das Ganze dient…?«

»Wozu dienen Korridore?«

»Sie sind wie Straßen. Man bewegt sich von einem Punkt zum anderen.«

Der Felorer machte eine Geste, deren Bedeutung sich Cloud intuitiv erschloss. Sie entsprach dem, was Menschen taten, wenn sie mit einer Handbewegung auf das Offensichtliche verwiesen, das von jemandem erkannt wurde.

»Dann befinden wir uns, vereinfacht ausgedrückt, im bordinternen Transportsystem.«

»Ich hätte uns auch gleich dorthin versetzen können, wo sich das Herzstück des Schiffes befindet, an dem wir seit so langer Zeit bauen. Aber ich wollte dir einen Eindruck von dem vermitteln, was es im Innersten zusammenhält.«

»Sein internes Verkehrsnetz hält es zusammen?«

»Das Leben, das in ihm pulst, tut dies. Und jedes einzelne Individuum trägt seinen Teil zu diesem Pulsschlag bei.«

»Du verwirrst mich.«

»Das lag nicht in meiner Absicht. Beenden wir dies hier. Komm, lass dich von mir führen.«

Obwohl keine körperliche Verbindung in Form einer Berührung zwischen ihnen bestand, schien Rylbert mühelos in der Lage zu sein, die Hernetanz, von der er gesprochen hatte, für sie beide zu nutzen und sie absolut synchron durch die Schleife zu bewegen, ohne dass Cloud auch nur einen einzigen Schritt tun musste. Als er es reflexartig dennoch einige Male tat (weil ihm sein Gefühl sagte, er müsse sich bewegen, um Raumgewinn zu erzielen), änderte sich weder an Geschwindigkeit noch Richtung auch nur das Geringste: Sie jagten mit einem irrwitzigen Tempo durch die Schleife, in der es vor Betriebsamkeit nur so wimmelte.

Und irgendwann leitete Rylbert sie ebenso selbstverständlich aus der Schlinge heraus in einen Raum, in den die Hernetanz keinen Einlass fand. Unmittelbar hinter der Schwelle war wieder eigener Krafteinsatz gefragt. Auch das Licht änderte sich. Es wurde von einem Objekt ( Objekten , korrigierte sich Cloud) emittiert, das diesen Ort in einer Weise ausfüllte, der gleichermaßen Dominanz wie auch Harmonie innewohnte.

Für einen Moment entrückte jede Sorge.

Jede Bedrohung.

Und alle Hoffnungslosigkeit.

Als hätte das Universum aufgehört, seinem Kollaps entgegen zu eilen.

Cloud war versucht, genau dies zu glauben. Zumindest, solange er sich in die machtvolle Sicherheit dieses Raumes und seiner Objekte eingebettet fühlte.

»Wo sind wir?«, rann es über seine Lippen. »Werde ich manipuliert? Beeinflusst ihr wieder meinen Bewusstseinszustand? Meine seelische Verfassung? Das will ich nicht! Hörst du? So verführerisch es sich auch anfühlt, ich will nicht eingelullt werden! Beende das – sofort!«

»Das kann ich nicht. Und es ist auch nicht das, was du fürchtest. Alles, was du siehst und empfindest, entspringt dem, woran wir seit Langem arbeiten.« Er gab einen undefinierbaren Laut von sich, wie einen Seufzer. »Wie ich schon sagte, müssen wir uns nicht länger etwas vormachen, Wahrheiten vernebeln. Du weißt es inzwischen. Wir sind nicht die, die wir vorgaben zu sein, weil… weil unser Stolz es diktierte, vorgeben zu müssen . Wir waren an der Erschaffung dieses Kosmos beteiligt, aber wir standen niemals gleichberechtigt an der Seite der Ganf. Sie waren unsere Herren, wir ihre Sklaven. Und auch nach der Strandung in dem künstlichen Kosmos, der dir so echt und wahr erscheinen mag, änderte sich an dieser Rollenverteilung nichts.«

»Dann erteilten sie euch den Auftrag zu dem hier?«

Rylbert bejahte. »Und nun willst du gewiss erfahren, worum es sich handelt. Wir nennen es das Kosmotop.«

»Das Kraftwerk des Schiffes?« Cloud spekulierte ins Blaue hinein.

»Fühlt es sich so für dich an?«

»Ich wünschte, ich wüsste, wie es sich anfühlt. Aber es kann alles sein. Verrate es mir einfach.«

»Wenn es einfach wäre, hätten wir es schon vollbracht und vollendet«, sagte Rylbert. »Dass wir dies noch nicht vermochten, zeigt, wie schwer die Aufgabe ist. Ich fürchte, wir müssen unser Scheitern einräumen. Was gleichbedeutend damit ist, dass wir den eingeleiteten Zerstörungsprozess, der den vor Urzeiten generierten Kosmos befallen hat, nicht stoppen und erst recht nicht rückgängig machen können.«

Noch während Rylbert redete, glaubte Cloud erste vertraute Strukturen in den Gebilden zu erkennen, die vor ihm schwebten – die das Kernstück wie Seifenblasen umdräuten. Wie Seifenblasen oder … Perlen .

»Ich glaube, ich ahne, worum es hier geht«, krächzte er, weil die Wucht dessen, was sich vor seinem geistigen Auge entfaltete, ihm beinahe die Stimme raubte. »Um die EWIGE KETTE. Um etwas, das…«

Als er nicht sofort weitersprach, nahm Rylbert den Faden auf. »… sie auf eine neue Ebene heben sollte. Auf ein Niveau, das dem Niveau des Urkosmos so perfekt angeglichen wäre, dass sich die Grenzen zwischen beiden Kontinuen endlich öffnen und fallen sollten, sodass beide Universen eins werden und miteinander verschmelzen würden. Dadurch wäre dann das möglich geworden, was die Ganf anstrebten, seit sie in ihrer eigenen Schöpfung gefangen waren: die Heimkehr. Niemand sollte zu Schaden kommen. Beide Weltenräume sollten voneinander profitieren.«



»Auch ihr wärt heimgekommen«, sagte Cloud, nachdem er das Gehörte einigermaßen verdaut hatte. »Ihr seid genauso lange in diesem euch fremden Kosmos gefangen wie die Ganf. Ist es nicht so?«

Der Felorer schien die Antwort zu scheuen. »Ich kann es dir nicht sicher sagen«, erwiderte er schließlich. »Dazu waren die Herren, denen wir dienten, zu wenig berechenbar. Zu wenig vorhersagbar.«

»Was willst du damit andeuten? Ihr wärt automatisch mit dorthin gelangt, was mir noch niemand wirklich beschreiben konnte oder wollte. Ich habe keine wirkliche Vorstellung von eurem Heimat-Kosmos. Er könnte dem unseren ganz ähnlich sein. Nur…«

Rylbert wand sich. »Nur?«

»Nur will irgendetwas in mir das nicht glauben. Irgendetwas in mir versucht, meinen Argwohn zu wecken. Meine Zweifel diesbezüglich zu schüren. Kannst – willst – du mir mehr dazu verraten?«

»Würdest du mir denn glauben?«

»Es käme auf den Versuch an.«

»Obwohl wir euch gerade erst enttäuschten? Unsere Rolle bei der Erschaffung dieses Weltalls schönfärbten?«

Cloud mühte sich ein Schmunzeln ab. »So sonderbar es sich für dich anhören mag: Es macht euch menschlich. Bei umgekehrter Rollenverteilung hätten wir euch wahrscheinlich auch nicht sofort alles über uns verraten. Sei also beruhigt. Wir haben anderes zu tun als nachzukarten. Konzentrieren wir uns einfach auf das, was momentan das Allerwichtigste ist.«

»Und das wäre deiner Ansicht nach?«

»Erst einmal zu überleben. Alles andere hat Zeit. Dieser Planet nicht. Ihm und uns bleiben noch geschätzte zwanzig Stunden. Dann macht es BUMM – und niemand von uns braucht sich mehr Sorgen um irgendetwas zu machen. Sollten wir das nicht anstreben, müssen wir sehr bald etwas tun, um der Kollision zu entrinnen. Dieses Schiff hier, das du und die deinen besser kennt als wir, sollte uns aus der Gefahrenzone bringen können…« Er musterte Rylbert so eindringlich, wie er nur konnte. »Kann es?«

»Du meinst, ob es diese Werft verlassen und außerhalb des Planeten operieren könnte?«

Cloud nickte in der Annahme, dass der Felorer die Geste deuten konnte.

»Dazu wäre es mühelos in der Lage.«

»Wäre es auch in der Lage, sämtliche Felorer und meine Crew aufzunehmen?«

Auch dies bejahte Rylbert ohne jede Einschränkung. Er versicherte von sich aus, dass auch die Versorgung aller mit Lebensmitteln gewährleistet wäre.

»Und was hindert uns dann noch, die Evakuierung einzuleiten?«

»Nichts«, sagte das Achten-Wesen. »Gar nichts. Erinnere dich an das Treiben in der Hernetanten Schleife.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Dass – was uns angeht – die von dir angemahnte Evakuierung bereits im Gange ist.«



Scobee war, wie jeder andere auf Nomad, schockgelähmt gewesen, als sie vom Kollisionskurs des Aquakubus gehört hatte. Aber dabei war es nicht lange geblieben. Weil sie im Laufe ihres Lebens gelernt hatte: Passivität war in den seltensten Fällen förderlich. Und immerhin: Ihnen blieb noch fast ein ganzer Tag bis zu dem unausweichlich scheinenden Zusammenprall, und so klammerte sie sich an die Überzeugung, dass es noch einen Ausweg geben würde – Rettung für diejenigen, die sich hinter Nomads Planetenschirm verschanzten.

Wobei: Rettung?

Sie versuchte, sich nicht in den Sog ihres Zweifels ziehen zu lassen, aber so ganz entkam sie dem nicht. Die Krux war: Selbst wenn sie der Pulverisierung Nomads entkamen, wartete, wohin auch immer sie sich flüchten würden, eine noch unausweichlichere Tatsache auf sie. Die nämlich, dass das gesamte Universum, in dem sie lebten, vom Untergang bedroht war. Nomad mochten sie vielleicht noch entkommen. Aber wohin sie sich retten mochten, auch dieser Zufluchtsort würde über kurz oder lang der Vernichtung anheimfallen. Nirgends im ganzen Kosmos gab es mehr Sicherheit, seit eine unheilvolle Kettenreaktion die Integrität der über das gesamte All verteilten »Schöpfungsmaschinen« in Mitleidenschaft gezogen hatte. Offenbar ausgehend von der Negaperle, die sich in der 13 Milliarden Lichtjahre entfernten Anomalie Scharan etabliert hatte, hatte ein Entartungseffekt das Netz der CHARDHIN-Perlen, die sogenannte EWIGE KETTE, befallen und damit bereits jetzt schwerwiegende Folgen für den Kosmos erzeugt. Sämtliche Sterne des Universums waren in der gleichen Sekunde um Jahrmilliarden gealtert . Für manche bedeutete dies mit einem Schlag das sofortige Ende und Verlöschen, andere, die noch eine beträchtliche Lebensspanne vor sich hatten, waren lediglich in ein anderes Stadium übergegangen. Für die bewohnten Systeme konnte aber selbst dies schon den Anfang vom Ende eingeläutet haben.

Die meisten wird der Kältetod ereilen oder bereits ereilt haben , dachte Scobee bitter. Aber auch Hitzestürme sind denkbar – je nachdem, ob ihr Heimatstern einfach nur geschwächt oder zu einem letzten Aufbäumen seiner Energie getrieben wurde.

So wenig sie bislang vor dem Wasserwürfel mit einer Milliarde Kilometer Kantenlänge flüchten konnten, so wenig vermochte sie vor der Traurigkeit zu fliehen, die sie durchströmte, seit ihr immer wieder die Schicksale nur der Völker durch den Kopf gingen, die sie im Laufe ihres Vorstoßes ins Weltall kennengelernt hatten. Und das war nur ein verschwindend kleiner Teil dessen, was tatsächlich an Leben im Kosmos pulsierte.

Oder pulsiert hatte.

Sie seufzte und wandte sich den beiden ungleichen Freunden zu, deren Gesellschaft sie gesucht hatte, während John sich mit Rylbert traf, um die Möglichkeiten einer Evakuierung abzuklopfen.

Sie hätte ihn begleiten können, aber in den vergangenen Stunden hatte sich noch eine Tragödie ganz eigener Art ereignet, von der sie das Gefühl hatte, ihr nachspüren zu müssen . Weil sie jemanden betraf, ohne dessen Unterstützung sie gar nicht mehr da wären. Ein Mentor, der im Laufe der Zeit erst zum Monster mutiert und schließlich wieder an Bord der RUBIKON aufgenommen worden war, ohne dass irgendjemand gewusst hatte, wie er mit der Schuld umgehen sollte, die dieses zerrissene Geschöpf auf sich geladen hatte.

Das jetzt selbst tot war. Umgebracht. Von einem, der gewiss kein Monster war, auch wenn sein bloßes Aussehen dies für weniger tolerante Zeitgenossen vermutlich nahelegte.

Sie wandte sich an das Spinnenwesen, das zusammen mit seinem gloridischen Freund Artovayn eingewilligt hatte, ihr Rede und Antwort zu stehen. Dass Alcazar den vermutlich letzten Keelon, Darnok, umgebracht hatte, hatte er bereits gestanden. Auch sein Motiv schien bekannt: Er hatte Darnok daran hindern wollen, ein Zeitparadoxon zu erzeugen, von dem Alcazar fest überzeugt war, dass es das ohnehin labil gewordene Gefüge von Raum und Zeit endgültig zerrissen hätte. Das, was Darnok dem Arachniden an Manipulation in Aussicht gestellt hatte, musste ihn so aus der Bahn geworfen haben, dass dieser den Keelon mit dem, was die Natur ihm an »Waffen« mitgegeben hatte, regelrecht zerfleischt hatte.

»Bedauerst du deine Tat?«, wollte Scobee wissen.

Das Treffen fand in dem Quartier statt, das die Felorer Alcazar zugewiesen hatten und in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich auch die Unterkünfte der anderen Überlebenden befanden, die aus der abstürzenden RUBIKON hatten gerettet werden können.

»Die Tat als solche war nur das Mittel zum Zweck«, erwiderte der Abrogare, der im Dunkelwolken-Versteck seines Volkes an einer Kopie des auruunischen Weltennetzes gearbeitet hatte – bis zu dem Tag, als Phaeno, die »Welt der Welten«, vernichtet worden war. Später war Alcazar eine Mitschuld an den Ereignissen angelastet und er vor die Wahl gestellt worden, entweder in die Verbannung (an Bord der RUBIKON) zu gehen oder zum Tode verurteilt zu werden. Er hatte sich für Ersteres entschieden und sich in der Folge vor seinem Volk rehabilitiert. In einer Weise, die Scobee auch heute noch kalte Schauer über den Rücken jagte, wenn sie sich daran erinnerte. »Ich wollte nie töten. Du hast dennoch alles Recht der Welt, mich zu verurteilen. Ich kann es nicht rechtfertigen, weil Töten niemals und durch nichts zu rechtfertigen ist. Niemand außer mir selbst und dem Opfer war Zeuge des Verbrechens. Und so werde ich der Einzige bleiben, der beurteilen kann und muss, ob das, was ich tat, eine der Gefahr, die ich dadurch ausmerzen wollte, angemessene Reaktion war.«

»Genau darum geht es und darauf zielte meine Frage ab: Hältst du es auch in der Rückschau für unumgänglich und der Bedrohung, die du zu erkennen glaubtest, angemessen? Was ja nicht ausschließt, dass du die Tat als solche bedauerst

Sie wollte ihm eine goldene Brücke bauen, und fast kam es ihr so vor, als würde sie es in erster Linie für ihr eigenes Seelenheil tun, nicht für seines. Sie hatte Alcazar von Anfang an gemocht. Und er hatte es nach und nach geschafft, sich in die Crew zu integrieren, ohne sich selbst untreu zu werden. Neben Artovayn war auch Jelto eine wichtige Bezugsperson für ihn. Aber Jelto lebte seit der Zerstörung der RUBIKON völlig zurückgezogen und versuchte, mit dem Verlust des hydroponischen Gartens zurechtzukommen, dessen Hege und Pflege in seiner alleinigen Verantwortung gelegen hatte. Für Jelto waren alle dort ansässigen Gewächse wie eigene Kinder gewesen. Scobee vermochte sich nicht vorzustellen, was ihr Tod in dem Freund angerichtet hatte. Aber sie nahm sich fest vor, nach ihm zu sehen, sobald sie dieses Gespräch hier zu welchem Ende auch immer gebracht hatte.

»Ja«, sagte der Arachnide, dessen haariger Spinnenleib seit dem Vorfall ergraut wirkte. Menschen sagte man nach, dass ihr Haar bei seelischen Schocks oft über Nacht weiß wurde. War Gleiches auch bei Außerirdischen wie den Abrogaren denkbar?

Alcazar schien bewusst offen zu lassen, worauf sein Ja sich bezog. Auf sein Bedauern oder auf die Überzeugung, angemessen gehandelt zu haben.

Artovayn war offenbar feinfühlig genug, um sowohl Alcazars als auch Scobees Lage Verständnis entgegen zu bringen. Er versuchte zu vermitteln. »Ich weiß sicher, dass er die Tat als solche bereut. Und ebenso sicher, dass er keinen anderen Weg sah, noch Schrecklicheres zu verhindern. Niemand leidet stärker unter der Affekthandlung als Alcazar selbst. Und niemand wird ihm je die Last abnehmen können, die er auf sein Gewissen geladen hat.«

Scobee nickte und wünschte sich, nicht Artovayn, sondern Alcazar selbst hätte sich zu dieser Aussage aufraffen können. Doch von dem Arachniden kam auch jetzt… nichts.

Er mag selbst noch unter Schock stehen, baute sie sich selbst eine goldene Brücke.

Um abschließen, um endlich fortgehen zu können.

Sie hatte das Gefühl, in der Nähe des Abrogaren nicht richtig atmen zu können…

und erinnerte sich dumpf, dass das gleiche Unbehagen sie bei Darnok befallen hatte, wann immer sie sich, nachdem ihm das Handwerk in der Milchstraße hatte gelegt werden können, begegnet waren.

Sie verabschiedete sich mit einer Leere im Kopf, von der sie nicht wusste, wie sie sie je wieder füllen sollte. Denn nach wie vor schwebte das Damoklesschwert der Nomad-Zerstörung über ihr. Über ihnen allen.

Umso erfreuter war sie, als sie auf dem Gang einer Gruppe begegnete, deren Eintreffen sie überraschte, obwohl damit zu rechnen gewesen war. Für kurze Zeit wurde der Schatten, der sich über alles Leben auf Nomad gelegt hatte, zurückgedrängt.

»Assur!«, eilte sie auf die weißblonde Frau an der Spitze der Gruppe zu, die den Quartier-Trakt stürmte. »Du lebst! Wie schön! Dann hat Yael es auch bei dir geschafft – und du bist bei Weitem nicht allein!« Scobee lächelte den Angks in Assurs Begleitung zu, die alle noch desorientiert wirkten, als wären sie gerade erst aus tiefem Schlaf erwacht.

Auferstanden von den Toten.

Scobee schloss Assur in die Arme. Auch, um sich von ihrer Körperlichkeit und Lebendigkeit zu überzeugen, jeden Restzweifel daran zu beseitigen.

»Bevor du nach John fragst: Er ist in einer wichtigen Besprechung mit Rylbert. Und wer Rylbert ist, erkläre ich dir gern. Ebenso wie alles andere, was an dir…«, wieder streifte ihr Blick über die anderen Angks, die vom Raumschifffriedhof hierher gebracht worden waren, »… was an euch völlig vorbeigegangen ist. Und ich bin sicher, andere werden mich dabei unterstützen!« Sie winkte Jarvis herbei, der soeben aus einer Tür auf den Gang trat, gefolgt von Algorian und…

Assurs Benommenheit wich plötzlich und deutlich erkennbar einem gänzlich anderen Ausdruck. Ihre Augen weiteten sich, ihre Stimme bebte, als sie rief: »Wi!?!«

Scobee nahm es ihr nicht übel, dass die Angk-Frau sie stehen ließ, um ihrer Tochter entgegen zu eilen. Und dann löste sich aus der Gruppe auch noch Rotak, den Scobee erst jetzt erkannte.

Einer Eltern-Kind-Zusammenführung stand damit nichts mehr im Wege.



Als das Transmitterfeld John Cloud im Bereich der von den Felorern bereitgestellten Unterkünfte absetzte, war er nicht auf das Bild vorbereitet, das ihn hier erwartete. In dem breiten Gang wimmelte es von Menschen, die nicht zum engsten Stab des Commanders gehörten, aber nichtsdestotrotz wichtige Funktionen an Bord der RUBIKON innegehabt hatten: Dutzende, Hunderte von Angks, die den Quartiertrakt in einen Ameisenhaufen verwandelten, in dem tumultartige Szenen zu beobachten waren. Hier und da gab es Personen, die sich offenbar verzweifelt um Ordnung und um ein klein wenig mehr Ruhe bemühten; der Erfolg ließ auf sich warten. Was Cloud niemandem übel nehmen konnte oder auch nur wollte. Denn: Er beteiligte sich unverzüglich an den Gefühlsausbrüchen, deren gemeinsamer Nenner die Wiedersehensfreude war. Die kaum mehr für möglich gehaltene Zusammenführung der Kerncrew mit den tot geglaubten Angks, die beim Absturz der RUBIKON auf schwer erklärliche Weise mit der Schiffsmaterie verschmolzen gewesen und nun durch Yaels übersinnliche Kräfte wieder auseinanderdividiert worden waren.

Cloud erlegte seinen Gefühlen keine Schranken auf. Er umarmte hier einen Angk – gleich welchen Geschlechts – und klopfte dort einem anderen auf den Rücken. Kurze Wortwechsel, von denen der jeweils andere kaum etwas verstand, weil es ohrenbetäubend laut auf dem Korridor war, zauberten Strahlen auf die Gesichter. In manchen Augen schimmerte noch Orientierungslosigkeit oder Unglaube, aber das Positive überwog bei Weitem.

Schließlich erspähte Cloud Scobee – ungefähr zeitgleich, wie sie ihn entdeckte – und bahnte sich einen Weg zu ihr, während sie sich auch ihm entgegen arbeitete.

»Scob!«

»Du bist zurück…«

»Gerade angekommen.«

Sie mussten schreien, weshalb Cloud die GenTec am Arm fasste und in eine Nische lenkte, in die sich außer ihnen beiden noch niemand verirrt hatte. Hier war auch der Stimmenlärm erträglich.

»Was sagen die Felorer? Hat sich in Sachen Kubus irgendetwas getan, was zur Hoffnung Anlass gibt?«

Cloud schüttelte bedauernd den Kopf. »Kurs und Geschwindigkeit sind unverändert – wodurch sich auch nichts an der Frist ändert, die uns bleibt, bis...«

»Bis Nomad mit allem, was sich darauf befindet, zerstört wird.«

Cloud nickte ernst. »Aber es besteht Hoffnung.«

Scobee wirkte erstaunt. »Inwiefern?«

»Rylbert hat Jarvis’ Entdeckung offiziell bestätigt. Mehr noch: Ich erhielt Gelegenheit, es mir selbst anzusehen.«

»Es?«

»Das Raumschiff, das die Felorer bauen… gebaut haben…« Er seufzte. »Offen gestanden weiß ich nicht, wie nahe an seiner Vollendung es ist, aber Rylbert beteuert, dass es in seiner nebensächlichsten Funktion bereits einsatzfähig ist.«

»Was wäre denn die nebensächlichste Funktion eines Raumschiffs? Zu parken?«, fragte sie ironisch.

»Zu fliegen. Abzuheben und sich der Schwerkraftfesseln Nomads zu entledigen.«

Scobee machte aus ihrer Verwirrung keinen Hehl. »Ist das nicht die eigentliche Aufgabe eines Raumschiffs?«

»Nicht von diesem.«

»Sondern?«

Cloud berichtete, was er von Rylbert erfahren hatte.

Scobee wirkte einerseits beeindruckt, tendierte andererseits aber zu urpragmatischem Denken. »Das Ding, an dem sie zunächst im Auftrag ihrer Herren bauten und nun in Eigenregie weiterbauen könnten, funktioniert, wenn ich dich richtig verstehe, nicht. Es ist vielleicht zu Ende gedacht, aber noch nicht zu Ende konstruiert. Richtig?« Sie erwartete keine Antwort, sondern fuhr, von einem Faktum ausgehend, fort: »Dann ist es für uns völlig irrelevant – zumindest in unserer aktuellen Situation. Und für die Felorer auch. Wie schon der Umstand zeigt, dass sie das Trägerschiff, auf dem sich dieses funktionsuntüchtige ›Wunderwerk‹ befindet, dafür freigegeben haben, das momentan einzig Sinnvolle zu verrichten, wozu es offenbar – und glücklicherweise – fähig zu sein scheint: um die rechtzeitige Flucht von Nomad anzutreten.« Sie machte eine Pause, in der sie Cloud eindringlich musterte. »Und wir, John? Was ist mit uns? Sind wir überhaupt eingeladen, ebenfalls an Bord zu gehen, um uns fürs Erste in Sicherheit zu bringen?«

»Fragst du das ernsthaft?«

Er brauchte sie nur anzusehen, um zu wissen, wie ernst es ihr war. »Deshalb habe ich die Schiffsführung durch Rylbert so kurz wie nur möglich gehalten. Auch wir dürfen keine Zeit verschwenden. Niemand kann ausschließen, dass der Kubus doch noch beschleunigt und sich der Countdown damit dramatisch verkürzt. Außerdem werden die Auswirkungen von Tovah’Zaras Annäherung an Nomad schon vor dem Crash spürbar werden. Die Masse des Kubus ist so gewaltig, dass Nomads exakt austarierte Bahn ebenso wie die der anderen noch existierenden Angkwelten empfindlich gestört werden wird. Die Folge dürften Erdbeben, Überschwemmungen und vielleicht sogar großflächige Brüche in den Kontinentalplatten sein. Das wiederum könnte Vulkanausbrüche zur Folge haben, die selbst diese Basis und die Werft gefährden würden, in der das Trägerschiff sich derzeit noch befindet.«

»Wann rechnen die Felorer mit solchen Effekten?«

»In spätestens zehn bis zwölf Stunden.«

»Wann können wir an Bord dieses ominösen Schiffes gehen? Ist es überhaupt geeignet, um Menschen aufzunehmen?«

»Wir dürfen keinen Luxus erwarten. Keine Wohlfühloase. Zunächst zählt nur, dass wir überleben. Und wenn das Schiff nur die Hälfte dessen hält, was Rylbert mir davon bei seiner Führung versprochen hat, könnten wir damit in der Lage sein, endlich wieder zu agieren. Unsere erzwungene Passivität hätte ein Ende.«

»Und du glaubst, die Felorer akzeptieren uns als gleichwertige Partner, wenn es darum geht, die nächsten Schritte abzustimmen?«

Clouds Miene ließ keinen Zweifel, dass er sich diesbezüglich keine falschen Hoffnungen machte. Und er bekräftigte es mit den Worten: »Es wird ein hartes Ringen. Aber möglicherweise haben wir einen Trumpf auf unserer Seite, den wir gegebenenfalls zu unseren Gunsten einsetzen können.«

»Wovon redest du?«

Schulterzuckend sagte Cloud: »Bevor wir uns trennten, hat Rylbert erneut nach Yael gefragt. Er bat mich, eine Zusammenkunft zu arrangieren, sobald wir das Gröbste – und Wichtigste – geschafft haben: die Evakuierung.«

»Was will er von dem Jungen?«

»Das will er Yael selbst sagen.«

»Und darauf lässt du dich ein?«

Er hob die Hände wie bei einem Plädoyer. »Die Zeiten ändern sich. Früher hätte ich vermutlich auf eine Erklärung bestanden. Aber da hatte ich ein eigenes Schiff im Rücken, mit all seinen Möglichkeiten. Zurzeit ist unsere Position nicht die stärkste. Kompromissbereitschaft ist gefragt. Und solange es kein Anzeichen dafür gibt, dass die Felorer uns völlig übergehen, sollten wir deren Vorgaben, was die Verfahrensabläufe und das Setzen der Prioritäten angeht, akzeptieren.«

»Sie haben uns von Anfang an mit Falschinformationen gefüttert. Ein gesundes Misstrauen ist deshalb wohl mehr als angebracht.«

»Du meinst, weil sie uns über ihre wahre Rolle während der Ganf-Dominanz im Unklaren ließen?« Er zuckte mit den Achseln. »Und bist du sicher, dass wir an ihrer Stelle offener damit umgegangen wären, in Wirklichkeit nur Sklaven der wahren Herrschenden gewesen zu sein?«

Er merkte, wie er ihr damit den Wind aus den Segeln nahm, sie zumindest zum Nachdenken brachte.

»Wie willst du es unseren Leuten sagen?«, wechselte sie das Thema. »Dass wir schleunigst in dieses Schiff wechseln müssen, mit dem wir Nomad hinter uns lassen können. Und wann?«

»Jetzt. Jetzt sofort.«

Sie nickte. Ihr Blick schien sich zu verklären, als sie sagte: »Ich traf Assur. Bist du ihr auch schon begegnet?«

Für einen Moment hatte Cloud das Gefühl, dass die Auswirkungen des heranrasenden Kubus bereits spürbar wurden. Der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken.

»Sie ist bei dieser Welle, die hier herein geschwemmt ist?«

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924688
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon macht fraktalen
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Titel: Raumschiff Rubikon 42 Die Macht der Fraktalen