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Raumschiff Rubikon 39 Neue Herren

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Raumschiff Rubikon 39 Neue Herren

Manfred Weinland


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.


Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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postmaster@alfredbekker.de


1.

1.

Solares System


Für einen Hohlweltgeborenen würden die wiederentdeckten Sterne nie ihre Faszination verlieren, war CorrAcht überzeugt. Seine Generation hatte nichts mehr von den Sternen gewusst. Für sie war der Steinerne Himmel die greifbare Grenze ihres Lebensraums gewesen. Dass es dahinter noch etwas gab – dass dahinter eigentlich erst begann –, was es wert war, Welt genannt zu werden, hatte er erst im Zuge der Umsiedlung erfahren.

So gesehen war die Tyrannei der Auruunen ein Segen gewesen. Auch wenn ihre Ziele verachtenswert waren, insbesondere die eine, höchste ihrer Bestrebungen, mit deren Folgen man zynischerweise erst konfrontiert worden war, als das Joch bereits überwunden schien. Das Licht der Sterne, wie es über die rein optischen Systeme in die Zentrale der ERINJIJ drang, trog. Es war seit Jahren oder gar Jahrmillionen unterwegs (je nachdem, wie weit seine Quelle vom Heimatsystem der Menschheit entfernt lag; manch vermeintlicher »Stern« entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als eine Ballung aus Sonnen, deren tatsächliche Ausmaße sich hinter denen der Milchstraße nicht verstecken mussten, nur die gewaltige Entfernung ließ sie zu einem von zahllosen Leuchtpunkten schrumpfen, die das Samtschwarz des Weltalls erhellten) und zeigte sich deshalb noch unbeeindruckt von dem Schaden, den es erlitten hatte – und der ein Werk der Auruunen war, wenn CorrAcht die Darlegungen des einzigen ihnen verbliebenen Experten in solchen Angelegenheiten Glauben schenken konnte.

Mit zwiespältigen Gefühlen ließ der Fraktale es zu, dass vor seinem geistigen Auge das Bild eines Auruunen erschien, in dessen Hülle sich ein Mensch eingenistet hatte und seither in der Lage war, auf das Wissen der besiegten Tyrannen zuzugreifen. Erst durch diesen »Spion«, der sich Prosper Mérimée nannte, hatte die Tyrannei überwunden werden können – und erst durch ihn hatten sich Einsichten ergeben, von denen nicht einmal der älteste und weiseste Erdgeborene, Reuben Cronenberg, bis dato etwas geahnt zu haben schien.

Cronenberg hatte gegenüber CorrAcht Zweifel an Mérimées Loyalität angemeldet, aber eine Überprüfung durch den Fraktalen, der über ausgeprägte telepathische Fähigkeiten verfügte, hatte diese Sorge zerstreuen können. Ein absonderliches Schicksal hatte Mérimées Bewusstsein in den Seelenfänger der Auruunen – das sogenannte KRISTALLARIUM – geschwemmt. Und von dort aus war es ihm gelungen, Besitz von einem auruunischen Wissenschaftler namens Baregk zu nehmen. Und seitdem vermochte Mérimée sich eines scheinbar unerschöpflichen Reservoirs an überlegenem technischem und physikalischem Wissen zu bedienen. Laut Cronenberg war – Zitat! - Mérimée das »wichtigste denkende Wesen, das sich in unserem Umfeld aufhält«.

CorrAcht teilte diese Ansicht – spätestens seit er den Menschen im Körper eines Auruunen geespert hatte. Er hatte nichts in Mérimée erspüren können, was im Widerspruch zu dessen Schwur gestanden hätte, sein gewonnenes Wissen vollumfänglich zum Wohle der Menschheit und ihrem alten und neuen Regenten Cronenberg einzusetzen. Und dementsprechend positiv war sein »Gutachten« über Mérimée ausgefallen. Was Cronenberg offenbar zu dem außergewöhnlichen Schritt veranlasst hatte, Mérimée ein Angebot zu unterbreiten, wie es im Verlauf der CorrAcht bekannten Geschichte vermutlich einzigartig war: Cronenberg strebte mittelfristig an, mit Mérimée zusammen eine Doppelspitze zu bilden und die Menschheit nicht mehr allein zu regieren, wie er es in der Vergangenheit – vor dem Auftauchen der Auruunen – jahrzehntausendelang praktiziert hatte.

CorrAcht seufzte. Und vielleicht hätte er noch eine Weile solchen und ähnlichen Gedanken nachgehangen, wäre nicht in diesem Moment ein Alarmton durch die ERINJIJ gefegt, der seinen Geist augenblicklich neu fokussierte.

Die Bordsysteme des Ringschiffes ließen nicht lange auf eine Erklärung warten. Auslöser des Alarms waren heftige Gefügeerschütterungen am äußersten Rand des Sonnensystems. Nicht nur vereinzelte Objekte kamen dort mit den typischen Begleiterscheinungen einer Transition aus dem Hyperraum… es waren Hunderte. Und die Signatur war eindeutig.

CorrAcht nahm unverzüglich Kontakt zum Sire auf.

»Treymor?«, reagierte Reuben Cronenberg ungläubig. Doch er fasste sich schnell. »Keine Verwechslung möglich?«

»Die Energieemissionen sind eindeutig.«

»Dann weißt du ja, was zu tun ist.«

»Wir werden sie vernichtend schlagen, Sire

»Und dann?«

»Dann, Sire

»Sollten wir unverzüglich Vorkehrungen treffen, dass kein Käfer je wieder auf die Idee kommt, die Grenzen menschlichen Hoheitsgebiets zu verletzen.«

»Die Koordinaten ihrer Heimat sind uns aus den sichergestellten Datenpaketen der Auruunen bekannt.«

»Ich sehe, wir verstehen uns. Sobald ihre Flotte aufgerieben wurde, wirst du die Strafexpedition ins Zentrum der Milchstraße anführen. Aber eins nach dem anderen.«

Die ERINJIJ nahm Kontakt zu sämtlichen bereits mit Fraktalen besetzten Auruunenringen auf und unterstellte sie dem Oberbefehl CorrAchts. Obwohl das zahlenmäßige Verhältnis etwa zehn zu eins zugunsten der Treymor ausfiel, sah das Macht verhältnis völlig anders aus. Es hätte hunderter X-Raumer der Käfer bedurft, um auch nur einen einzigen Ring in Verlegenheit zu bringen.

CorrAcht war gewohnt kompromisslos in seinem Vorgehen. Die Versuche der X-Besatzungen, mit den Ringen in Verbindung zu treten – offenbar erhofften sie sich immer noch ein Wiederaufleben ihrer Kontakte zu den Auruunen –, ließ er unbeantwortet. Die Waffen würden sprechen; ihre Sprache war universell.

Mit millionenfacher Lichtgeschwindigkeit raste der Pulk aus Ringschiffen der Position entgegen, wo die Treymor-Flotte materialisiert war und sich gesammelt hatte.

CorrAcht hatte weder Mitleid noch Verständnis für die ehemaligen Auruunen-Diener. Sie waren das, was vom Feind übrig geblieben war. Und genauso mussten sie behandelt – ausgemerzt – werden.

Niemand hat euch gerufen. Ihr hättet bleiben sollen, wo ihr wart. Hättet euch totstellen sollen. Vielleicht hätten wir euch dann vergessen.

Diese Chance war leichtfertig vertan worden. Mit den Folgen mussten die Käfer nun leben.

Respektive – sterben



Reuben Cronenberg hatte sich auch nach dem Fall der Auruunen nie in vollkommener Sicherheit gewiegt. Nicht eine einzige Sekunde lang. Und mehrfach hatte sich die scheinbare Ruhe, die nach der Zerschlagung der alten Machtstrukturen im Sonnensystem eingekehrt war, bereits vor CorrAchts Meldung als trügerisch erwiesen. Wobei die eigentlich besiegt geglaubten Treymor noch das geringste Problem für die Menschen darstellten, seit sie auf zwei Erden regierten.

Der Mensch als solcher hatte sich gewandelt – woran Cronenberg sogar federführend mitgewirkt hatte. Damals, nach dem Zerfall der Sternenreiche, als jedwede Technologie aufgehört hatte zu funktionieren (als hätte ein galaxisweiter EMP alles lahmgelegt), war es ihm gelungen, mit einem der Gigahirne in den ehemaligen Master-Residenzen zu verschmelzen. Auf diese Weise hatte er relative Unsterblichkeit erlangt – um den Preis der Immobilität allerdings, denn an ein Verlassen des Turms war danach nicht mehr zu denken gewesen. Cronenberg hatte es akzeptiert, weil er es akzeptieren musste. Es war die einzige Möglichkeit für ihn gewesen, dem natürlichen Alterungsprozess ein Schnippchen zu schlagen. Und so hatte er über Jahrzehntausende hinweg die Geschicke der Menschheit nach dem Verschwinden der Keelon-Master gelenkt, hatte sich von den Überlebenden anbeten lassen wie eine Gottheit und die in ihnen erwachenden Psi-Talente dazu benutzt, eine Welt zu erschaffen, die keiner Technologie mehr bedurfte, sondern allein auf die Kraft zurückgriff, die von Generation zu Generation stärker in den Menschen zum Ausbruch kam.

Cronenberg entstammte noch einer Epoche, in der es lediglich vereinzelt paranormal begabte Personen gegeben hatte. Doch die Umstände, die zum Kollaps der Hochtechnologie geführt hatten, schienen gleichzeitig wie ein Initialzünder auf die latent offenbar in jedem Menschen vorhandenen übernatürlichen Begabungen gewirkt zu haben. Jedenfalls bildeten sich binnen weniger Jahrzehnte und Jahrhunderte Personenkreise heraus, bei denen es zu einer regelrechten Explosion der Kräfte kam. Am häufigsten etablierten sich telekinetische Fähigkeiten. Telepathen – wie CorrAcht beispielsweise – waren hingegen rar gesät. Und ohne die Telekineten hätte Cronenberg auch nie das Werk in Angriff nehmen können, das bis in die Jetztzeit hinein strahlte: die Oortschale. Der Steinerne Himmel, der über Jahrtausende hinweg aus Gesteinsbrocken um das Erde-Mond-System herum geschaffen worden war, die ihre kosmische Heimat fernab des äußersten Planeten gehabt hatten und aus ihren dortigen Bahnen herausgerissen worden waren, um die Schale zu bilden, die seither das Licht der Sterne von der Urerde ferngehalten hatte. Und ebenso die bis dato lebensnotwendige Wärme des Muttergestirns, deren Verlust Cronenbergs Mutanten wiederum durch Psikraft und die permanente Emission selbiger ausgeglichen hatten.

»Sorgst du dich über die Ankunft der Treymor-Flotte?«, fragte der Mann, mit dem Cronenberg schon vor CorrAchts Anruf gesprochen und über die Lage im Sonnensystem diskutiert hatte.

»Schlachten sind immer ein wenig besorgniserregend, oder? Aber manchmal auch unvermeidlich.«

»Du willst ihnen kein Angebot unterbreiten?«

»Was für ein Angebot?«

Der Mensch im Körper eines Auruunen zwang das für ihn selbst fremdartige Gesicht zu einem Ausdruck, der einem grotesken Lächeln ähnelte. »Nun, eins, das meiner Meinung nach naheliegend wäre: Du könntest ihnen anbieten, dort weiterzumachen, wo sie beim Fall der Auruunen aufgehört haben: zu dienen. Nur eben neuen Herren. Uns.«

Cronenberg setzte eine Miene auf, die er in identischer Weise auch während seiner Amtszeit als Chef der NCIA unter Präsidentin Cuthbert hätte zur Schau stellen können – wenn es um hochbrisante Gesellschaftsthemen ging. »Nein«, sagte er. »Auf keinen Fall. Sie wären eine tickende Zeitbombe. Mit Menschen oder zumindest menschenähnlichen Geschöpfen kann ich umgehen. Aber Insektenabkömmlinge wie die Treymor werden mir in ihrer Mentalität immer verschlossen bleiben. Wie soll ich mich auf jemanden verlassen können, von dem ich stets fürchten muss, dass er eigene Pläne – Rachepläne beispielsweise – verfolgt? Ich war selbst in dieser Rolle, ich weiß, wovon ich spreche.«

»Während deiner Statthalterzeit für die Auruunen?«

Cronenberg nickte. »Es ist immer ein Fehler, Artfremden zu vertrauen – noch dazu, wenn man dieser Art zuvor große Verluste zugefügt und ihnen ihr Wohlfühlplätzchen im Schatten der Herrschenden weggenommen hat.« Kopfschüttelnd fuhr er fort. »Nein, die alten Strukturen wiederbeleben zu wollen, in welcher Variante auch immer, wäre ein grober Fehler, den ich mir nicht leisten will. Wir stellen unsere Gesellschaft, unser künftiges Reich, von Anfang an auf eigene Füße.«

»Du meinst, abgesehen von den Hinterlassenschaften der Tyrannen, die wir uns sehr wohl zu eigen machen.«

»Gäbe es dich nicht als Bindeglied zwischen diesem Erbe und uns, wäre auch das zu überlegen«, erwiderte Cronenberg. »Ohne deine Vermittlung hätten wir den Umgang mit Auruunen-Technik vielleicht nie erlernt. Du weißt, wie hilflos die Treymor waren, die wir in den Ringen vorfanden. Als ihre Herren ausfielen, wussten sie nicht das Geringste mit der sie umgebenden Hochtechnik anzufangen. Und dabei dienten sie den Auruunen schon seit Langem.«

Sein Gegenüber, das als Auruune auf den Namen Baregk gehört hatte, pflichtete ihm bei. »Das ist durchaus anzunehmen. Hätte ich nicht Baregks gesamtes Wissen übernehmen können, als ich seinen Körper übernahm, wäre es aber auch nie dazu gekommen, dass wir beide uns in dieser Weise unterhalten. Wenn ich mich recht entsinne, standest du bereits auf der Abschussliste des Regimes. Du und unser Freund Taurt. Was macht er eigentlich?«

»Er ist dorthin zurückgekehrt, wo er sich am wohlsten fühlt – in den Kubus.«

»Apropos: Soll der Würfel weiterhin am Rand unseres Sonnensystems verbleiben, oder gibt es damit andere Pläne?«

»Warum fragst du?«

»Aus reiner Neugier.«

»Für den Kubus gibt es noch keine neuen Pläne – zumindest nicht von meiner Seite. Aber sollte Taurt es in Erwägung ziehen, ihn räumlich zu versetzen, werde ich ihm keine Knüppel zwischen die Beine werfen. Wie du genießt auch er mein absolutes Wohlwollen. Auf seine Weise hat er ebenso viel dazu beigetragen, dass wir beide hier und jetzt so miteinander reden können, wie du auch.«

»Manchmal ist er mir unheimlich«, räumte Prosper Mérimée freimütig ein. »Allein seines Erscheinungsbildes wegen.«

»Manchmal bist du mir auch noch unheimlich«, erwiderte Cronenberg süffisant. »Natürlich auch nur deines Erscheinungsbildes wegen.«

»Ja«, sagte Prosper. »Spiegel sind meine natürlichen Feinde geworden.«

»Soweit ich weiß, könnte dem Abhilfe geschaffen werden. Ein wenig bin ich über die Jahre auch in Auruunen-Dingen bewandert worden. Sie waren Meister des Klonens. Falls du dir den Umgang mit den entsprechenden Vorrichtungen zutraust, könntest du dir den menschlichen Körper züchten, der alle deine Wünsche abdeckt. Sicher auch einen, wenn du das wolltest, der deinem alten Körper sehr, sehr nahe kommt.«

Mérimée seufzte. »Ich gebe zu: Darüber habe ich schon nachgedacht. Öfter. Aber wenn, dann möchte ich dieses Projekt mit aller Muße angehen. Momentan gibt es noch zu viele andere Prioritäten. Und niemand weiß, wie viel Zeit uns allen überhaupt noch bleibt. Ob die, die uns vergönnt ist, dazu herhalten sollte, um persönliche Eitelkeiten zu befriedigen, ist eine Grundsatzfrage, auf die ich noch keine Antwort gefunden habe.«

»Wie du selbst sagst: Es ist nicht unser vordringliches Problem.« Cronenberg zeigte aus der Fensterfront, wo die Sonne am Himmel zu sehen war – dem Himmel der Oort-Erde, die sich immer noch so makellos schön präsentierte wie vor dem Fall der Tyrannen. Im Gegensatz zu dem Gestirn, das sie umlief.

Prosper Mérimée hatte in dem Wissens-Fundus, den Baregk ihm hinterlassen hatte, alles über die wahren Absichten der Auruunen erfahren – und auch, wie weit ihre Bemühungen, den Kosmos zu sabotieren, bereits gediehen waren. Überrascht hatte ihn nur, dass das Sterben der Sterne erst eingesetzt hatte, nachdem die Auruunen bereits handlungsunfähig geworden waren. Dafür hatte er bislang noch keine zufriedenstellende Erklärung gefunden. Fakt aber war: Irgendetwas war ganz im Sinne der Auruunen in Gang geraten. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit war die rapide Alterung auch der irdischen Sonne nicht das Ende dieses Prozesses. Mérimée – ebenso wie der inzwischen in die Hintergründe eingeweihte Cronenberg – rechnete mit einer weiteren Verschlechterung der Lage, möglicherweise in Schüben. Selbst das völlige Verlöschen der Sonne (und sämtlicher anderer Sterne des Kosmos) war kein völlig ausschließbares Szenario. Die Frage war allein, wann es dazu kommen würde. Schon heute, erst in Jahren oder gar in Jahrtausenden. Hätte er es sich wünschen können, wären Mérimée Jahrtausende fraglos am liebsten gewesen. Aber das Leben war kein Wunschkonzert, wie er mehr als einmal schmerzlich am eigenen Leib hatte erfahren müssen.

»Ich überlege schon seit dem Moment, als du mir das Konzept der CHARDHIN-Perlen erklärt hast, ob wir nicht baldmöglichst eine Expedition in das Sternensystem starten sollten, von dem du sagtest, dort hätten die Auruunen das Instrument an sich gebracht, mit dem eine Manipulation der Perlen möglich ist und somit Einfluss auf das gesamte Universum ausgeübt werden kann.«

»Das wäre bestimmt kein Fehler – und wenn es geschieht, wäre ich gerne dabei.«

»Wenn es geschieht«, sagte Cronenberg, » musst du dabei sein. Sonst wird uns das, was wir dort zu sehen bekommen, ohne Zweifel überfordern.«

»Wenn du erlaubst, ziehe ich mich jetzt zurück. Du informierst mich, wenn ich gebraucht werde.«

»So lautet unser Deal.« Cronenberg lächelte hintersinnig. »Wie sehen deine Prioritäten bis dahin aus?«

»Keine Sorge, ich weiß mich zu beschäftigen. Da wäre ja noch ganz nebenbei das Rettungspaket für den Fall der Fälle zu schnüren – du weißt schon: Sollte dieser Kosmos endgültig den Bach runtergehen…«



Die mit Fraktalen besetzte Ringflotte steuerte der gewaltigen Ansammlung von X-Schiffen entgegen, mit denen sich die Treymor im Sonnensystem zurückgemeldet hatte. Offenbar hatten sie alles mobilisiert, was ihnen an bewaffneten Einheiten zur Verfügung stand. Den pausenlos durch den Funkäther rauschenden Versuchen, mit den »Herren« – sprich: den Auruunen – in Kontakt zu treten, war zu entnehmen, dass sie mit ihrer Flotte auf einen Hilferuf reagierten, den Artgenossen von der Oort-Erde aus abgestrahlt hatten – als sich die Fälle von geistlos durch die Gegend irrenden Auruunen häuften und die hiesigen Treymor allmählich begriffen, dass es sich nicht nur um vereinzelte und auch nicht um vorübergehende Fälle handelte. Irgendjemand hatte sich in jener Phase an die Heimat im Zentrumsgebiet der Milchstraße gewandt. Dieser Jemand musste so dramatisch und überzeugend geklungen haben, dass die entscheidenden Leute nicht gezögert hatten, alles mobil zu machen, was an kampffähigen Schiffen zur Verfügung stand.

CorrAcht war es nur recht. So konnten sie den Gegner schon hier jeglicher kriegerischer Substanz berauben. Die folgende Strafaktion war dann lediglich noch Formsache.

Aber das wird diese Auseinandersetzung hier auch schon sein. Sie haben nicht den Hauch einer Chance. Die Waffenstärke unserer Ringe degradiert jeden bekannten Gegner zum Statisten.

Für einen kurzen Moment musste CorrAcht daran denken, dass das Solare System kürzlich auch von einer unbekannten raumfahrenden Rasse heimgesucht worden war, die ihre Visitenkarte im Herzen des Aquakubus zurückgelassen hatte, indem sie etliche dort stationierte Treymor-Schiffe zerstören konnte. Gegen die Ringe hatten auch sie keine Chance gehabt. Eine Untersuchung ihrer Wracks hatte das überraschende Ergebnis erbracht, dass sie offenbar ohne Besatzung geflogen waren – nur von ihren Rechnersystemen gelenkt.

So hatte dieser neue Widersacher nach wie vor kein Gesicht. Aber sämtliche Ringschiffe unter menschlichem Kommando waren zu erhöhter Wachsamkeit aufgefordert worden. Ein Kontingent war im »Heiligen Herzen« Tovah’Zaras stationiert worden, bei einer Vorrichtung, die im Verdacht stand, dass die Unbekannten sie dazu benutzt hatten, um ins Solare System vorzustoßen. Bei der Anlage handelte es sich allem Anschein nach um eine unbekannte Form von Transmitter; eine Abordnung fähiger Wissenschaftler hatte begonnen, sie zu erforschen. Gerüchten zufolge, die CorrAcht weder bestätigen noch dementieren konnte, sollte sogar Prosper Mérimée in diese Angelegenheit involviert sein und dem Kubuszentrum bereits einen Besuch abgestattet haben, um sich die Rätsel gebende Konstruktion persönlich anzusehen.

Hörensagen! Mit diesem verächtlichen Gedanken wandte der Fraktale sich an die Unterkommandanten auf den anderen Ringschiffen seines Geschwaders: »Wir sind nahe genug – bringen wir es hinter uns.«

Die pausenlos eingehenden Funksprüche, mit denen die Treymor nach ihren verlorenen Herren plärrten, ignorierten die Ringschiff-Besatzungen weiterhin. Den Inhalten war jedoch zu entnehmen, dass die Käfer sich der irrigen Hoffnung hingaben, die ankommenden Ringe könnten die ersehnte Antwort auf ihr Rufen sein. Dass die Ringe den Besitzer gewechselt haben könnten, kam ihnen offenbar nicht einmal im Traum in den Sinn. Auch die Notrufe, denen sie folgten, schienen sie diesbezüglich nicht ins Bild gesetzt zu haben.

Narren! , dachte CorrAcht mitleidlos. Die ERINJIJ, das Flaggschiff der aus dem Boden gestampften Flotte der neuen Menschheit, eröffnete warnungslos das Feuer – was als klares Signal von den anderen Ringen verstanden wurde, es ihr gleichzutun.

Eine einseitige Schlacht entbrannte. Das Gros der Treymor starb, ohne je zu begreifen, wie ihm geschah.

Aber es gab auch Ausnahmen.

Ein halbes Dutzend X-Schiffe konnten sich in die Transition retten – von der CorrAcht zunächst annahm, dass sie die Käferwesen dorthin zurück beförderte, von wo sie gekommen waren: ins Zentrumsgebiet der Milchstraße.

Doch eine Nachricht von der Oort-Erde korrigierte diesen Irrtum.

»Alarm an alle! Feindschiffe im Orbit! Wir benötigen sofortige Hilfe. Ich wiederhole: Wir benötigen…«





2.

Angksystem



John Cloud, Commander der RUBIKON und Reisender durch die Zeiten, starrte auf die Stelle, wo der Avatar geschwebt hatte – jene von übernatürlichen Kräften geschaffene, rund zwei Meter durchmessende Kugel, die ein Tor darstellte; die Verbindungsstelle zu einem zweiten Avatar, den der Narge Yael ebenfalls allein kraft seines Willens erzeugt hatte, nur nicht hier, in der Bordzentrale des Rochenschiffs, sondern auf dem Planeten, in dessen Orbit sie sich befanden.

Nomad. Eine der verbliebenen sechs Welten des Angksystems. Ursprünglich waren es sieben gewesen, aber die siebte – Portas – hatten die Auruunen mit ihrer überlegenen Waffentechnik so lange bearbeitet, bis nur noch das übrig geblieben war, was sich über Äonen in seinem Innern verborgen hatte: das Steuermodell der EWIGEN KETTE, das wie eine extrem verkleinerte Version des Netzes aus CHARDHIN-Perlen aussah, mit deren Hilfe einst das Universum »gezündet« worden war – und die jetzt dahin gehend sabotiert worden waren, dass sie eben dieses Universum in rasendem Tempo seinem Untergang entgegentrieben.

»Er ist verschwunden«, sagte Scobee und deutete ebenfalls auf die nun leere Stelle, wo der Avatar masse- und schwerelos geschwebt hatte. »Gehört das zu dem Plan? Ich dachte, Yael wollte ihn aufrechterhalten. Für den Fall der Fälle. Habe ich das missverstanden?«

»Nein«, sagte Cloud. »Aber du weißt, dass sich Pläne ändern können. Wahrscheinlich hat er seine Einflussmöglichkeit überschätzt. Der Schirm um Nomad ist von einer Beschaffenheit, wie sie uns bis dato noch nicht unterkam. Dass er überhaupt einen Avatar dahinter etablieren konnte, grenzt an ein Wunder. Möglicherweise verhindert der Schild die Aufrechterhaltung des hiesigen Avatars von dem Moment an, da der Avatar-Erzeuger – also Yael – sich hinter die Abschirmung begeben hat.«

Scobee wirkte von dem Erklärungsversuch wenig überzeugt. »Aber müsste er dann nicht auch schon die Manifestation des »Gegen«-Avatars auf Nomad verhindert haben? Was doch im schlimmsten Fall bedeuten würde, dass sich unsere Freunde gerade in eine Todesfalle begeben haben. Sie wurden ›hier‹ entstofflicht, ohne ›dort‹ wieder zusammengesetzt zu werden. Das…«

»Mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, bremste Cloud ihre Schwarzmalerei. »Der Avatar ist verschwunden – nicht mehr und nicht weniger. Ich hätte mir auch gewünscht, dass er stabil bleibt. Um notfalls Unterstützung hinterher schicken oder ab einer gewissen Frist nach dem Verbleib unserer drei Freunde forschen zu können. Nun sieht es so aus, als müssten wir uns – nicht zum ersten Mal übrigens – auf ihre Fähigkeiten verlassen. Sie sind, erst recht als Gruppe, erfahren genug, um auch ohne diese Rückversicherung die Mission wunschgemäß auszuführen.«

»Wunschgemäß würde bedeuten, dass sie die Initiatoren des planetaren Schutzschildes aufspüren und mit ihnen in Verhandlungen treten könnten«, mischte sich Aylea ein. Die allmählich zur Frau reifende frühere Getto-Bewohnerin war ebenso Zeuge des Aufbruchs geworden wie Algorian, der aoriische Telepath, und Jelto, der Florenhüter. Letztere standen etwas abseits, aber keinen von ihnen hatte es auf den Plätzen des Kommandopodests gehalten.

Beim Anblick seiner verbliebenen Mitstreiter wurde Cloud schmerzlich bewusst, wie stark geschrumpft die Crew in nur wenigen Tagen war. Auch wenn es nur eine »Reduktion auf Zeit« sein sollte, so war es doch einigermaßen verstörend, zu erkennen, dass sich die gegenwärtige Mannschaft – die, auf die er zurückgreifen konnte – an den Fingern einer einzigen Hand abzählen ließ. Schuld daran war in erster Linie der Ausfall der Schiffs-KI, den die Angks seither versuchten, auf ihre Weise wettzumachen. Angeführt von Assur waren sie, wie schon bei früheren Gelegenheiten, mit dem Schiff verschmolzen . Hatten sie dies sonst getan, um die RUBIKON mit ihren Mentalkräften zu stärken und spezielle Einrichtungen des Schiffes erst nutzbar zu machen, so ging ihr jetziges Engagement darüber weit hinaus. Im Grunde hatten sie sich zu einer ganz neuen KI geformt, die nun Seshas Ausfall verzweifelt zu kompensieren versuchte. In diesem Zustand schien eine Kommunikation mit einzelnen Individuen des Kollektivs nicht möglich zu sein. Dennoch hatte sich wie selbstverständlich eingebürgert, die Neu-KI mit »Assur« anzusprechen. Deren Marotte, sich des majestätischen Plurals zu bedienen, wenn sie von sich selbst sprach, war offenbar Ausdruck dessen, was ohnehin jeder verstanden hatte: die aktuelle Schiffs-KI war keine Ich-, sondern eine Wir-Instanz – die Summe aus mehreren Tausend Angks, die mit einer Stimme sprachen, aber sich irgendwo – hoffentlich – ihre Individualität bewahrt und sie nur auf Eis gelegt hatten.

Jede andere Vorstellung wäre für Cloud unerträglich gewesen. Er hatte Assur schon einmal über lange Monate verloren gehabt. Dies in abgewandelter Form nun erneut erleben und durchleiden zu müssen, quälte ihn mehr, als er nach außen erkennen ließ.

Er nickte dem blonden Mädchen zu, das in der Master-Ära geboren war. Aylea hatte das Schrecklichste erlebt, was einem Kind angetan werden konnte: Sie war von den eigenen Eltern ans Regime verraten und an einen Ort deportiert worden, wo andere Systemgegner abgeschottet vom »Paradies Erde« ihr Leben unter schlimmsten Bedingungen hatten fristen müssen: an einem Ort, der einst Peking geheißen hatte, aber während der Master-Herrschaft nur als »das Getto« gefürchtet wurde. Seit Cloud und Mitstreiter Aylea daraus befreit hatten, gehörte sie zur Stammcrew der RUBIKON, und in ruhigen Minuten hatte sich Cloud schon dabei ertappt, dass er Sesha Bildfolgen generieren ließ, in denen Aylea damals bei ihrer Ankunft bis heute zu sehen war. Der Holozauber hatte etwas von Daumenkino – als würde man das gleiche Gesicht in schneller Abfolge in verschiedenen Altersstufen betrachten. Dabei war erst deutlich geworden, wie viele Jahre inzwischen verstrichen waren und wie stark der Reifeprozess Ayleas Züge ummodelliert hatte. Aus dem einst scheuen Kind war eine selbstbewusste junge Frau geworden, die sich perfekt ins Mannschaftsgefüge integriert hatte. Ihr extrem hoher IQ war ihr weder anzusehen noch im Alltag anzumerken. Nur in manchen Situationen blitzte ihr außergewöhnlicher Verstand manchmal doch durch – und sorgte dann stets für Staunen.

»Davon gehe ich aus – und das sollten wir alle. In unserer Situation erhält das Prinzip Hoffnung ein Maß an Bedeutung wie selten zuvor.« Er blickte von Aylea zu Algorian und Jelto. »Ich gebe offen zu, dass ich mein Pulver verschossen habe. Nachdem die bereits verhindert geglaubte Manipulation der Auruunen die EWIGE KETTE offenbar doch noch sabotiert hat und sich wahrscheinlich sämtliche Sonnen des Universums schubweise ihrem Lebensende nähern, bin ich, was Erfolg versprechende Gegenmaßnahmen betrifft, mit meinem Latein am Ende. Nomad stellt wahrscheinlich die allerletzte Möglichkeit dar, dort vielleicht auf überlebende Ganf zu treffen, die diesen Albtraum nicht nur stoppen, sondern vielleicht sogar wieder rückgängig machen können. Nachdem die Auruunen aus dem Spiel sind, bleiben nur noch die Ganf als Macht, der eine solche Korrektur zuzutrauen wäre. Niemand kennt sich mit dem Steuermodell besser aus als sie.«

»Stellt sich die Frage, warum sie mit der Schadensbehebung nicht längst begonnen haben, wenn tatsächlich sie es sind, die sich auf Nomad verschanzen«, hielt Scobee dagegen. Sie zeigte in eines der Holosegmente, die sich hinter ihnen zu einer Säule auftürmten. Darin war das EK-Modell zu sehen, das sich mit glutrotem Schimmer überzogen hatte. Dieses bedrohliche Licht war zunächst von der Kontrollkugel auf die nächsten Nachbarn übergesprungen, vereinnahmte inzwischen aber das komplette Steuermodell der EWIGEN KETTE. Offenbar war es Ausdruck des unheilvollen Prozesses, mit dem es die physikalischen Verhältnisse bis in die fernsten Winkel des Universums beeinflusste. Als Folge davon erkennbar waren bislang die rapide Alterung, die sowohl das Zentralgestirn des Angksystems als auch die Sonnen der mit Hyperscan erreichbaren Sonnen in der Umgebung befallen hatte. »Ich sehe nichts, was auch nur auf den Versuch hindeuten würde, die Manipulation zu beenden oder gar umzukehren.«

Zum ersten Mal beteiligte sich auch Jelto an der Diskussion. Der Klon mit den schockgrünen Augen und der einzigartigen Affinität zu allen Pflanzen wandte ein: »Wäre es nicht denkbar, dass sie sich aufgrund des entschlossenen Vorgehens ihrer Brüder aus dem Urkontinuum inzwischen selbst auf die Position begeben haben, dass die Auruunen recht haben?«

Scobee sah ihn regelrecht geschockt an. »Du meinst…?«

»Ich meine, dass, falls es wirklich überlebende Ganf auf Nomad gibt, diese sich möglicherweise haben ›läutern‹ lassen. Dass sie der Argumentation, unser Universum würde dem ihren schaden, doch noch gefolgt sein könnten und den Teufel tun werden, den in Gang geratenen Prozess zu stoppen.«

Scobee schluckte. »An so etwas weigere ich mich, auch nur zu denken.«

Jelto zuckte mit den Achseln. »Ich wünsche mir nicht, recht zu haben, ich gebe es nur zu bedenken. Die Urheimat mag den Ganf noch so sehr am Herzen liegen, dass sie nun, da sie vor der Entscheidung stehen, selbst den eigenen Untergang in Kauf nehmen, wenn Aussicht besteht, davon größeren Schaden ›drüben‹ zu verhindern. Laut Auruunen bedroht unser Kosmos den ihren ja existenziell – was sich niemand von uns wirklich vorstellen kann, aber die Gefahr muss so real sein, dass ›drüben‹ seit Langem versucht wird, das EXPERIMENT, dessen Folgen wir alle sind, extern zu beenden. Als das nicht fruchtete, selbst in äonenlangem Bemühen nicht, verlegte man sich auf Versuche, Kräfte in unseren Kosmos einzuschleusen, die ihn von innen heraus negieren. Im Zuge dessen gelangten die Bewusstseinsquanten in unser Universum, die sich in den Auruunen manifestierten. Der Rest ist bekannt…«

Eine Weile herrschte Schweigen. Die von Jelto an die Wand gemalte Möglichkeit machte nicht nur Scobee betroffen.

Schließlich sagte Aylea, ohne dass klar wurde, ob sie nur ablenken wollte: »Was Yael, Jiim und Jarvis wohl gerade erleben? Ich meine – vielleicht sind unsere Spekulationen längst Makulatur. Vielleicht stehen sie schon Ganf gegenüber und –«

»Ortung!«, meldete die Angk-KI aus dem Off und schnitt Aylea das Wort ab. »Erschütterung des Raumzeitgefüges am Rand des Systems. Entfernung zu unserer Position: rund zweihundert Milliarden Kilometer.«

Cloud war sofort darauf fokussiert. »Ein Raumschiff? Redest du von einer erfolgten Transition?«

»Wir bestätigen. Ein Raumschiff von gewaltigen Ausmaßen. Die Stärke der Erschütterung lässt darauf schließen – die letztendliche Bestätigung kann jedoch erst erbracht werden, wenn das Objekt näher herangekommen ist.«

»Oder wir näher an das Objekt herangehen«, sagte Cloud.

Die KI fragte: »Sollen wir ein solches Manöver einleiten?«

Cloud verneinte. »Noch nicht jedenfalls. Es war eine rein theoretische Erwägung, Assur .« Es riss immer noch Wunden auf, die KI auf diese Weise anzusprechen.

»Was hast du dann vor?«, fragte Scobee, die ihm zum Podest und den dortigen Sarkophagsitzen folgte, in denen bereits Algorian, Jelto und Aylea Platz genommen hatten.

»Abwarten – beobachten. Assur – steuere uns in den Ortungsschatten Nomads – so, dass der Planet zwischen uns und dem materialisierten Objekt liegt. Damit unsere eigene Ortung dadurch nicht beeinträchtigt wird, Sonden ausschleusen und bei unserer gegenwärtigen Position belassen!«

»Du denkst, sie haben uns noch nicht bemerkt – wer immer ›sie‹ sein mag?«, fragte Algorian. Der spindeldürre, menschenähnliche Aorii war in ebenso vielen brenzligen Situationen durch ein Stahlbad begangen wie sie alle. Die Unsicherheiten der Vergangenheit waren ihm kaum noch anzumerken. Er wirkte in einer Weise souverän, dass Cloud nur den Hut vor ihm ziehen konnte.

»Im Gegensatz zu ihnen haben wir die Raumzeitstruktur nicht erschüttert – und werden auch bei dem jetzigen Manöver so wenig verräterische Energie aufwänden wie möglich. Assur – Tarnfelder aktivieren und auf Maximum. Beim geringsten Anzeichen, dass das unbekannte Objekt doch auf uns aufmerksam geworden ist oder noch aufmerksam wird: Dimensionswälle zuschalten, Leistungskapazität voll ausreizen. Möglicherweise müssen wir ghosten. – Steht diese Option zur Verfügung? Ich meine: nachdem ihr eure Kräfte zur KI vereint habt?«

»Ghosten jederzeit möglich. Wir erwarten entsprechenden Befehl inklusive genauer Spezifikation, wie die zu erstellenden Projektionen beschaffen sein sollen.«

Cloud nickte.

»Du willst Attrappen generieren, um die Unbekannten irrezuführen? Attrappen der RUBIKON oder…?« Scobee sah ihn eindringlich an.

Er lächelte grimmig. »Das kommt auf die Situation an. Und auf die Identität derer, die gerade angekommen sind. Solange wir Letzteres nicht geklärt haben, sollten wir einfach für jede Eventualität gewappnet sein – ob wir sie dann zum Einsatz bringen, steht in den Sternen.«

Das Unbehagen seiner Gefährten zerstreute er mit diesen Worten nicht. Angespannt warteten sie darauf, dass die Angk-KI alle Vorgaben umgesetzt hatte – und das unbekannte Raumschiff nahe genug heran war, um erste Details ausmachen zu können.

Doch das fremde Objekt hielt seine Position. Wenig später maßen die Sensoren der RUBIKON ein erhöhtes Aufkommen von Strahlung an, mit der Nomads Umgebung bestrichen wurde, eventuell das gesamte System.

»Wahrscheinlich ihre Art zu scannen«, kommentierte Scobee die eingehenden Daten der Sonden. »Vielleicht sollten wir ihnen eine Aufklärungssonde entgegenschicken. Ich mag es nicht, wenn ich meine Gegner nicht kenne.«

»Noch gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass es sich überhaupt um Gegner handelt«, sagte Cloud. »Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit dafür klar höher als die, auf einen Freundschaftsbesuch von irgendjemandem zu hoffen.«

»Ich tippe auf Treymor«, sagte Aylea. »Vielleicht ist es den Hilfs-Besatzungen der Auruunen-Ringe gelungen, einen Notruf Richtung Heimat abzustrahlen. Es wäre durchaus denkbar, dass man von dort eine Einheit losgeschickt hat, um die Verhältnisse hier genauer zu verifizieren.«

Die Treymor galten als das wichtigste Hilfsvolk der Auruunen zumindest in der Lokalen Gruppe. Sie waren im Kerngebiet der Milchstraße beheimatet und hatten schon mehrfach spektakuläre Aufträge für ihre Herren ausgeführt. Mit ihnen war nicht gut Kirschen essen – aber die von ihnen ausgehende Gefahr war nicht mit der vergleichbar, für die ihre Auftraggeber Sinnbild gewesen waren.

Mit ihnen werden wir fertig , dachte Cloud. Aber die Treymor-Identität war noch nicht bestätigt.

»Ja«, sagte er. »Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet vielleicht wirklich zum Berg aufbrechen…« Er war kurz davor, eine Sonde mit entsprechender Programmierung bei der Angk-KI zu ordern.

Doch der »Berg« war schneller.



»Achtung, Bewegung!« Scobee reagierte auf die entsprechende Dateneinblendung der KI in die Holosäule. »Objekt schleust offenbar Einheiten aus… Sesha? Wie viele insgesamt?«

Die KI korrigierte den Namensfehler nicht. Und auch Cloud fand ihn allzu menschlich, als dass er das Verlangen verspürt hätte, Scobee darauf hinzuweisen.

»Zwölf«, sagte der Angk-Verbund. »Ich zähle zwölf Objekte, die sich aus dem vorherigen Objekt gelöst haben, das seinen Standort unverändert innehat.«

»Kurs?«

»Nomad.«

Kaum eine Minute später geriet der Zwölfer-Pulk in die Reichweite der Naherfassungssysteme. Der erste Verdacht, es könnte sich um Treymor handeln, fand keine Bestätigung. »Nicht ein X-Raumer der Käfer darunter«, murmelte Cloud. »Bauart völlig unbekannt. Sieht aus wie unsere Sonden – nur dass jedes Fahrzeug mindestens hundertmal größer ist. Das sind ausgewachsene Raumschiffe. Vielleicht Beiboote. Aber wenn die schon so groß sind, wie groß ist dann erst das Trägerschiff?«

»Die Dinger sehen aus wie Zigarren – oder Torpedos«, sagte Scobee. Sie schwieg kurz, um scharf den Atem einzuziehen und dann zu fragen: »Was, wenn es Torpedos sind

»Von solcher Größe?« Cloud fand es eher unwahrscheinlich.

»Sie rasen auf einen Planeten zu. Da kann das Kaliber, wenn man echten Schaden anrichten will, gar nicht groß genug sein. Vielleicht wollen sie den Schirm testen, genau wie wir es auch schon taten. Nur dass sie gleich die schweren Geschütze aufbieten.«

»Bliebe zu klären, wer ›sie‹ sind.«

»Jetzt könnten wir Jarvis gebrauchen«, warf Aylea ein. »Er ist und bleibt unsere Allzweckwaffe. Im Gegensatz zu uns kann er an die unmöglichsten Orte springen und sich dort umsehen.«

»Bei Nomad hat seine Kunst versagt«, erinnerte Jelto sie. »Auch er war auf Yael angewiesen. Ohne Avatar gab es kein Durchkommen für ihn.«

»Bei den Dingern hätte er es geschafft.«

»Behauptest du mit welcher Logik?«

»Kognition.«

»Bedeutet?«

»Bauchgefühl«, mischte sich Algorian ein. »Aylea beruft sich auf ihre ›weibliche Intuition‹… Entschuldige, Aylea, wenn ich ein klein wenig geespert habe.«

Sie warf ihm einen gespielt zürnenden Blick zu, gefolgt von den Worten: »So! Das durftest du gerade espern – den anderen erspare ich meinen unflätigen Kommentar lieber! Meine gute Kinderstube verbietet mir –«

»Getto?«, unterbrach Algorian sie ungewohnt launig. »Deine Getto-Kinderstu…?«

Weiter kam er nicht. »Genug!« Cloud hieb mit der flachen Hand auf die Lehne seines Sarkophags. »Hört auf mit den Kindereien. Die Lage ist zu ernst, um herumzualbern. Assur? Ankunft der Objekte über Nomad – wann?«

»Bei gleichbleibender Geschwindigkeit in drei Minuten und… achtzehn Sekunden.«

»Rückzug der Sonden. Sofort! Sobald sie eingeschleust sind: Aufbau der Dimensionswälle – Maximalverkleinerung!«

Das hieß, dass die RUBIKON für einen externen Betrachter, der in der Lage gewesen wäre, die Tarnfelder zu überlisten, innerhalb eines Augenblicks auf Millimetergröße schrumpfte – während sich in ihrem Innern nicht das Geringste änderte. Das Rochenschiff hatte einst viele Tausend Foronen beherbergt und als deren Arche fungiert, mit der sie ihren Erzfeinden, den Virgh, aus der Großen Magellanschen Wolke in die Milchstraße zu entkommen versuchten.

Dort aber hatten sich neue Probleme ergeben – und auf allerlei Umwegen war das Schiff schließlich John Cloud in die Hände gefallen. Nach wechselvollen Auseinandersetzungen war es ihm letztendlich gelungen, es tatsächlich unter seine Kontrolle zu bekommen. Seither war es einigen Modifikationen unterzogen worden. Die Ganf hatten ihre Fabeltechnik einfließen lassen. Die Angks als Crew-Zuwachs hatten dem Tuning schließlich die Krönung aufgesetzt.

Mittlerweile brauchte sich die RUBIKON vor keinem Gegner mehr zu verstecken. Mit ihrer stärksten – aber auch, wie viele fanden, unmoralischsten – Waffe, dem Q, hatte sie sich selbst gegen einen Auruunenring behauptet. Was nicht viele von sich behaupten konnten.

Cloud beendete seine gedankliche Abschweifung. Über die Holofenster beobachtete er, wie die Angk-KI seine Befehle ausführte. Der Grund für die Zurückbeorderung der Sonden war jedem Anwesenden klar; diesbezüglich kam keine Nachfrage. Seine weitere Planung betreffend schon.

»Was hast du vor?«, fragte Scobee. »Willst du dich völlig auf die Wirksamkeit unserer Defensivmittel verlassen?«

»Was käme sonst infrage? Willst du präventiv gegen die Unbekannten vorgehen? Sollen wir zum Überraschungsschlag ausholen, ohne zu wissen, warum sie ins Angksystem gekommen sind? Bislang gibt es nicht den leisesten Hinweis darauf, dass sie feindliche Absichten verfolgen.«

»Ich tippe immer noch auf die Treymor. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kennen wir nicht sämtliche Raumschiffmodelle, mit denen sie unterwegs sind.«

Cloud nickte zurückhaltend. »Assur? Besitzt die Energiesignatur der Torpedoschiffe Ähnlichkeit mit den uns bekannten Treymor-Raumern? Sie müssten jetzt nah genug heran sein, um das verifizieren zu können.«

»Negativ«, sagte die KI. »Unbekannter Antrieb, unbekannte Bauform.«

»Die Treymor waren bestimmt nicht die einzige raumfahrende Spezies, die von den Auruunen als Hilfsvolk angeheuert wurde«, warf Jelto ein. »Eine dieser Spezies könnte der Ausfall der Auruunen bewogen haben, hier nach dem Rechten zu sehen.«

Cloud nickte. »Möglich. Aber wir –«

Er vergaß den Satz, den er hatte formulieren wollen. In der Holosektion, in der Nomad eingehüllt in seinen globalen Schild zu sehen war, kam es zu einer Lichtentladung von solcher Intensität, dass nur die sofort reagierenden automatischen Filter eine Augenschädigung verhinderten.

Lautlos zerplatzte etwas am oberen Pol der Planeten umspannenden Energieglocke.

»Treffer!«, meldete die KI, während sie einen der unbekannten Raumer heranzoomte, der ebenfalls über dem oberen Pol auftauchte.

»Der Torpedo hat einen Torpedo abgefeuert – ist das so?«, wandte sich Cloud an Assur.

Die Angk-KI bestätigte und lieferte zugleich Daten, die die Größenordnung der freigesetzten Gewalt begreiflich machten. Demnach entsprach die Sprengkraft mehr als hundert Megatonnen TNT.

»Und das war eine Bombe?«, keuchte Aylea.

Cloud nickte, war in Gedanken aber schon einen Schritt weiter. »Ebenso beachtlich wie die Stärke der Entladung ist, dass der Schild davon nicht mal einen Kratzer abbekommen zu haben scheint.«

Algorian wiegte nachdenklich sein lang gezogenes Haupt. »Immerhin hat sich die Frage nach der Gesinnung der Fremden erledigt.« Er blickte in die Runde. »Jemand anderer Meinung?«

»Es gibt immer noch die Möglichkeit, dass es jemand ist, der unter der Knute der Auruunen stand und es ihnen jetzt heimzahlen will – damit wäre er nicht automatisch das, was ich einen Feind nennen würde«, sagte Scobee. »Er kann auch uns feindlich gesinnt sein, muss aber nicht.«

Der ersten Explosion folgten bereits weitere. Für eine Weile war Nomad in eine Zerstörungsorgie von grausamer Schönheit gehüllt. Als das Bombardement verebbte, präsentierte sich der Schild abermals ohne erkennbaren Makel.

»Daran beißen sie sich die Zähne aus. Beruhigend und erschreckend zugleich«, flüsterte Aylea.

Die KI lieferte ein beeindruckendes Zahlenwerk zur Angriffswelle der Torpedoschiffe. Demnach waren dabei Energien in der Größenordnung dessen, was eine Sonne vom Sol-Typ während eines ganzen Tages produzierte, freigesetzt worden.

»Die Entfernung ist wahrscheinlich zu groß«, wandte sich Cloud an Algorian, »und ebenso die n-dimensionalen Störquellen, von denen wir umgeben sind, trotzdem frage ich dich: Bist du in der Lage, irgendetwas aus den Schiffen zu empfangen? Fremde Gedanken? Irgendeine Präsenz, aus der sich Rückschlüsse über die Identität ziehen ließen?«

Der Aorii verneinte kategorisch. »Nichts. Viel zu große Distanz. Ich müsste schon an Bord eines der Schiffe gehen, um etwas zu erspüren. Aber wie sollte ich das schaffen? Jarvis ist ebenso unterwegs wie Yael. Und mit einem Shuttle überzusetzen, wäre wahrscheinlich meine letzte ›Dienstreise‹ – deren abruptes Ende ich mir ungern ausmalen möchte.«

»Keine Sorge, so schnell wirst du uns nicht los«, beruhigte ihn Scobee.

So kann man es auch formulieren , dachte Cloud.

Das kurze, aber heftige Bombardement Nomads hatte die Besatzungen der Torpedoraumer offenbar den Schluss ziehen lassen, dass dem Planeten mit den bisher aufgewandten Mitteln nicht beizukommen war. Statt noch mehr Waffen oder stärkere Kaliber zum Einsatz zu bringen, sammelten sie sich und nahmen schließlich wieder Fahrt auf.

»Kehren sie zu ihrem Mutterschiff zurück? Assur?«

Cloud wartete angespannt auf eine Antwort. Als sie dann erfolgte, rieselte ihm ein kalter Schauer über den Rücken.

»Kursvektor zeigt in einen gänzlich anderen Sektor«, erklärte die Angk-KI. »Offenbar liegt das Ziel ebenfalls auf der Bahn um das Zentralgestirn, die sich sämtliche Planeten teilen – aber neuerdings eben nicht nur die Planeten.«

Die eigentümliche Ausdrucksweise lenkte nicht nur Clouds Überlegungen, sondern die aller Anwesenden in die Richtung, die die KI nach kurzer Sprechpause bestätigte: »Die Rede ist von den Koordinaten, die Portas bis zu seiner Zerstörung innehatte – und wo jetzt das Modell der EWIGEN KETTE, ihre Steuerungsanlage, positioniert ist.«

»Kein Zweifel möglich?«

»Kein Zweifel möglich.«

»Das gefällt mir nicht«, murmelte er, ehe er laut hinzufügte: »Assur? Folgen! Wir heften uns an ihre Fersen!«

Scobee zuckte leicht zusammen. »Du willst den Orbit verlassen? Und wenn Yael, Jiim und Jarvis zurückkehren wollen?«

»Ihre Rückkehr hätte auf den Entfernungsunterschied, der zurückzulegen wäre, keinen nachteiligen Effekt«, behauptete Cloud, ohne dass er dafür einen wirklichen Beweis hätte erbringen können. »Yaels Avatare haben schon ganz andere Distanzen überbrückt«, erinnerte er lediglich an vergangene Heldentaten. »Schon vergessen? Gegen die Milliarden Lichtjahre, die er von Eleyson aus in die Milchstraße überbrückte, als er die Rettungsmission für Assur startete…«, die gescheiterte Mission , erinnerte er sich, »… ist das hier doch ein Klacks.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, an der Entfernung wird jeglicher Versuch, zurückzukehren, nicht scheitern. Dafür gibt es andere Faktoren, die gemeistert werden müssen – nur kennen wir die nicht einmal ansatzweise, weil sie sich einem nur ›drüben‹ erschließen – dort, wo unsere Freunde hoffentlich alles unter Kontrolle haben und uns in absehbarer Zeit mit Ergebnissen versorgen, die Hoffnung für uns und Hoffnung für das Universum bedeuten.«

»Das Universum«, sagte Scobee und seufzte, »für einen Moment hatte ich vergessen, was in letzter Konsequenz auf dem Spiel steht. Ist das normal?«

Er beruhigte sie: »Völlig normal. Unser Verstand ist nicht dafür ausgelegt, permanent in solchen Dimensionen zu denken. Mit dem Auftauchen der Fremden hat er wieder etwas zu knabbern bekommen, das ihn von der vollen Tragweite ablenkt, die unser Versagen hätte. Wobei es schon irrwitzig genug ist, wenn wir uns die Rolle der einzigen noch verbliebenen Streiter für den Fortbestand des Kosmos drängen lassen.«

»Ich sehe uns eher als jemanden, der genügend Einsichten in die Mechanismen des Kosmos erlangt hat, um erkennen zu können, dass höhere Mächte ihn in den Untergang treiben – aber zu wenig Einsicht, um das, was schiefgelaufen ist, aus eigenem Vermögen wieder geradezubiegen.«

»Pulk erreicht EK-Modell«, informierte die Angk-KI sie und fügte einen Moment später die Hiobsbotschaft hinzu: »Pulk eröffnet soeben das Feuer...«



Sie zerstören die letzte Hoffnung! Cloud war wie vor den Kopf geschlagen. Wer sind sie – und was treibt sie dazu, so etwas zu tun?

Mit neuerlichen Spekulationen hielt er sich jedoch nicht auf. Er wusste, was auf dem Spiel stand – und seine Gefährten wussten es auch. »Okay«, presste er hervor. »Es geht nicht anders. Assur? Volle Einsatzbereitschaft herstellen. Wälle zurückfahren – Offensivwaffen aktivieren. Geschütze auf Feindschiffe ausrichten – aber noch nicht feuern!«

Jetzt benutzte er den Begriff Feind wie selbstverständlich.

Während der Angk-Verbund seine Befehle umsetzte, ergänzte er: »Torpedoschiffe anfunken. Kryptosprache verwenden und die volle Bandbreite an Frequenzen abdecken. Sollte der Aufforderung nicht binnen dreißig Sekunden Folge geleistet werden, ohne weitere Vorwarnung Feuer eröffnen. Sämtliche Ziele gleichzeitig ins Visier nehmen! Ist das verstanden?«

»Verstanden«, erwiderte die Angk-KI.

»Dann los! Countdown läuft – einblenden!«

In der Holosäule tauchten Ziffern auf, die der Null entgegen liefen.

Scobee nagte neben Cloud an ihrer Unterlippe. Die Hälfte der Frist war bereits verstrichen. »Schon eine Reaktion?«

Cloud schüttelte den Kopf, verwies mit einer Geste auf die KI, die noch keinen Erfolg ihres Kontaktversuchs vermeldete. »Assur?«

»Negativ, Commander.«

Der Countdown wurde einstellig. 9… 8… 7…

Wie viel Schaden die Torpedoschiffe bereits am EK-Steuermodell angerichtet hatten, ließ sich noch nicht sicher sagen. Diese Bilanz musste noch gezogen werden. Was sich aber feststellen ließ, war…

dass diese Wahnsinnigen nicht zögerten, ihre Waffen jetzt auch gegen diejenigen zu richten, die ihnen gerade ein Ultimatum gestellt hatten, das…

jetzt ablief.

Zeitgleich mit dem Erreichen der Null, musste die RUBIKON den ersten Treffer hinnehmen.

Die Schilde absorbierten die frei werdenden Energien und wurde mit maximal vierzig Prozent ihrer Kapazität belastet. Was ausreichte, eine erdbebenartige Erschütterung durch das Schiff zu pflanzen.

»Sie wollen es nicht anders«, quetschte Cloud zwischen den Zähnen hervor. »Assur – die erste Salve! Vielleicht bringt sie das zur Vernunft. Aber ich fürchte…«

Er konkretisierte seine Befürchtungen nicht, sondern verfolgte ebenso gebannt wie die anderen auf dem Kommandostand, welche Konsequenzen der Einsatz eigener Waffen hatte. Q war in diesem Fall keine Option. Q hätte das, was geschützt werden sollte (unter allen Umständen verteidigt werden musste ), mit in den Untergang gerissen. Deshalb stand es nicht zur Diskussion. Aber es gab andere Waffensysteme, die in der Lage waren, Tod und Zerstörung auszubringen. Dies gegen einen Gegner zu tun, der nicht einmal ein Gesicht hatte, von dem man nicht mehr kannte als die Außenansicht seiner Raumschiffe, weckte sonderbare Gefühle. Die aber zwang sich Cloud völlig auszublenden.

Wir oder sie , hielt er sich vor Augen. Ich kann nicht zulassen, dass sie das zerstören, womit für uns alle die letzte Hoffnung verknüpft ist. Ohne diese Einrichtung wird das Geschehene niemals zu stoppen, geschweige denn wieder rückgängig zu machen sein. Um keinen Preis der Welt dürfen wir zulassen, dass sie vernichtet oder auch nur unbrauchbar gemacht wird. Selbst wenn die Unbekannten vielleicht gar nicht wissen, was sie tun, ist das keine Entschuldigung. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht!

Früher hatte er solche Redensarten gehasst.

Aber früher hatte auch nicht das ganze Universum auf der Kippe gestanden.

Die Strahlwaffen der RUBIKON schlugen in die Schilde der Unbekannten ein und rissen sie scheinbar mühelos auf. Da sämtliche Torpedoschiffe synchron beschossen wurden, hatte Cloud keine Gelegenheit mehr, den einmal erteilten Befehl noch zu modifizieren. Schneller und durchschlagender als erwartet kamen die Geschütze zum Erfolg. Sekunden nach dem Aufriss der gegnerischen Schutzschilde wurden auch die Schiffe darunter zerfetzt.

Als Cloud endlich befahl, das Feuer einzustellen, trieben in der Umgebung des EK-Modells nur noch glosende Wracks.



»Wie leicht bitteschön ging das denn?« Cloud versuchte, seinen Ausruf wie eine Entschuldigung klingen zu lassen. Die Vorstellung, gerade x-faches Leben ausgelöscht zu haben – Leben, über dessen Herkunft und Identität sie nach wie vor nur rätseln konnten –, legte sich wie ein Gewicht auf seine Brust.

»Normalerweise«, antwortete Scobee, »würde ich in einem leichten Sieg gegen einen Todfeind nichts Negatives sehen – aber ich vermute, dir geht es wie uns allen: Wir wissen nicht, ob das Todfeinde waren. Möglicherweise hatten sie gute Gründe, erst Nomad zu bombardieren und anschließend die Steuereinheit der EWIGEN KETTE anzugreifen.« Sie nickte ihm zu. »Versteh mich nicht falsch. Ich weiß sehr genau, was dich bewogen hat, den Feuerbefehl zu geben. Und ich bin ganz bei dir, wenn es darum geht, uns einen Funken Hoffnung bewahren zu wollen, die Megakatastrophe, die unseren Kosmos – unsere Welt – heimgesucht hat, doch noch in den Griff zu bekommen. Nur das eben war… ätzend. Ich hoffe, es stellt sich nicht heraus, dass wir einen schwerwiegenden Fehler gemacht haben.«

»Meinst du mit schwerwiegendem Fehler, dass wir vielleicht unschuldiges Leben ausgelöscht haben?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Auch. Aber möglicherweise geht der Fehler noch weiter.«

»Sag schon, worauf du hinaus willst.«

»Unter Umständen wussten die Besatzungen der Torpedoschiffe ja mehr als wir.«

»Und darum haben sie die Steuereinheit beschossen, sie zerstören wollen? Ich fürchte, ich –«

»Ich will darauf hinaus, dass es ja auch sein könnte, dass man das EK-Modell nur komplett zerstören muss, und schon hört jede Einflussnahme auf die tatsächlichen, über das Universum verteilten CHARDHIN-Perlen auf. Aus irgendeinem uns unbekannten Grund könnten die Fremden das wissen.«

»Du hast gesehen, wie einfach es war, ihre Schilde zu durchdringen. Diesen Unbekannten Einblicke zuzusprechen, die nicht einmal wir während unserer Bekanntschaft mit den Ganf erlangt haben, klingt abenteuerlich.«

»Mag sein. Aber stell unser Licht nicht unter den Scheffel. Die RUBIKON ist längst nicht mehr die Arche der Foronen. Zwischenzeitlich ist so viel Hightech der Ganf eingeflossen – auch wenn wir lange dachten, es handele sich um bractonische -, dass du Raumschiffe, die dem nichts oder nur wenig entgegenzusetzen haben, nicht allzu kleinreden solltest.«

Er nickte ihr zu. »Vielleicht. Aber wir können es vielleicht auch auf einen anderen Umstand schieben, dass wir so leichtes Spiel hatten.« Auf ihren fragenden Blick hin zeigte er in die Holosektion, in die die Ortungsdaten eingespielt wurden, die ein entferntes Randgebiet des Angksystems ins Visier genommen hatten. »Ich meine den Umstand, dass es sich letztlich nur um Beiboote gehandelt haben mag. Dort draußen liegt das eigentliche Schiff vor Anker. Und ich gehe davon aus, dass es sich dabei um einen ernsthafteren Gegner handelt, als wir ihn hier geboten bekamen. Die Frage ist nur…«

»… wann dieser Gegner ins Geschehen eingreift?«, fragte Scobee. »Beziehungsweise, warum er nicht längst auf die Vernichtung seiner Einheiten reagiert hat?«

Cloud lächelte freudlos. »Hätten wir tatenlos zugesehen, wie unsere Leute massakriert werden?«

Scobee schüttelte den Kopf. Ihr Teint war blass wie selten. Vielleicht auch, weil er sie gerade wieder daran erinnert hatte, dass ihr Einschreiten eine unbekannte Zahl von Leben gekostet hatte – auf gegnerischer Seite zwar, aber Leben blieb Leben.

»Assur – kannst du eine Bilanz der Schäden ziehen, die die Fremden an der Steuervorrichtung der EWIGEN KETTE angerichtet haben? Parallel dazu solltest du die Umgebung auf etwaige Überlebende scannen. Es gibt größere Wrackteile, in denen eventuell noch etwas zu retten ist. Ich empfehle Drohnen zur Unterstützung. Den ganzen Apparat eben. Du weißt besser als ich, was machbar ist.«

»Wir kümmern uns darum«, sagte der Angk-Verbund.

»Beeilung«, gab Cloud der KI noch mit auf den Weg. »Offen gestanden rechne ich jeden Moment mit einem Ende der Waffenruhe. Dieses Ding da draußen – langsam will ich wissen, was genau es ist. Wie groß und wie es bestückt ist.«

»Warum schicken wir nicht einfach auch Sonden dorthin?«, fragte Aylea.

»Weil«, antwortete er, »ich keine schlafenden Hunde wecken will. Je länger sie uns Zeit lassen, nach Überlebenden zu suchen, desto besser. Meine Neugier, mit wem wir es zu tun haben, wächst von Minute zu Minute.«

»Dito«, pflichtete Scobee bei. »Wir werden hier ohnehin ausharren müssen, bis der Gegner nachweislich abgezogen ist oder in die Flucht geschlagen werden konnte. Nachdem das EK-Modell auf seiner To-Do-Liste steht, werden wir alles daran setzen müssen, ihm die Suppe zu versalzen.«

»Nomad läuft uns ohnehin nicht weg«, sagte Cloud. »Möglicherweise konzentrieren die Fremden ihre Bemühungen ja auch wieder dorthin. Es bleibt abzuwarten.«

In der folgenden Stunde werteten sie, ohne dass es zu einem Zwischenfall mit den immer noch unbekannten Fremden »in Warteposition« kam, die Drohnenbilder aus dem Inneren der Torpedo-Wracks aus. Und machten eine erstaunliche Entdeckung.

»Bist du sicher?«, fragte Cloud. »Kann es nicht einfach sein, dass die Spuren durch das Suchraster gefallen sind?«

»Bioscans aus dieser Nähe«, erwiderte die Angk-KI, »sind als hochverlässlich einzustufen. Wir bleiben nach Sichtung aller bisherigen Messwerte dabei: An Bord der zerstörten Schiffe befanden sich keine organischen Besatzungen. Auch keine – um der Frage zuvorzukommen – anorganischen im Sinne von anorganischem Leben . Vielmehr hat es den Anschein, als wären die Schiffe entweder auf Autopilot geflogen oder ferngelenkt worden – möglicherweise von dem noch nicht genauer spezifizierten Mutterschiff.«

»Robotschiffe?« Cloud dachte kurz über seine Wortschöpfung nach. »Dann wären das im Grunde genommen auch nur aufgeblasene Drohnen. Aber ich vertraue der Einschätzung unserer neuen KI. Sämtliche gesammelten Daten unterstützen ihre These. Bewaffnete Riesendrohnen attackieren zuerst Nomad, testen den dortigen Schutzschild aus und wenden sich anschließend dem nächsten Ort von Bedeutung zu: dem Steuermodell der EWIGEN KETTE – um sie ohne viel Federlesens unter Beschuss zu nehmen, mit der offenkundigen Absicht, sie zu zerstören.« Er schüttelte langsam den Kopf und suchte Blickkontakt zu seinen Gefährten. »Würden wir so handeln, wenn wir als Fremde in ein fremdes Sonnensystem vorstoßen? Würden wir blind angreifen, was irgendwie verdächtig ist und ein technisches Wunderwerk, wie das EK-Modell es schon rein äußerlich darstellt, unter Feuer nehmen, anstatt erst einmal alles daran zu setzen, es zu erforschen und verstehen zu lernen?«

Jelto schüttelte den Kopf. Algorian und Aylea murmelten »nein«, und Scobee zuckte mit den Achseln.

Cloud hatte etwas mehr an Reaktionen erwartet, ließ es aber so stehen. »Okay«, sagte er. »Dann schieben wir es nicht auf die lange Bank – provozieren wir sie.«

Er erteilte der KI den Befehl, gleich mehrere Aufklärungssonden in Tarnfelder zu hüllen und damit den Standort des Mutterschiffs unbekannter Herkunft anzusteuern.

Der Angk-Verbund bestätigte. Kurz darauf verließen die Sonden ihre Depots.



Während Cloud darauf wartete, dass die Aufklärer jene Nähe zum Ziel herstellten, die endlich die Übermittlung von Details gewährleisten würde, ertappte er sich dabei, wie er über die grundsätzliche Situation sinnierte, in die sie geraten waren – sie und jedes andere Lebewesen im Universum.

Die denkenden trifft es am schlimmsten. Für sie muss die Veränderung der Sterne nicht nur ein unlösbares Rätsel darstellen, sondern auch mit einer extremen Verschlechterung ihrer Lebensgrundlagen verbunden sein. Bewohnte Planeten, die innerhalb der sogenannten habitablen Zone eines Sterns lagen und auf dessen Wärme angewiesen waren, würden in unterschiedlicher Weise auf die Veränderung ihres Zentralgestirns reagieren. Je nachdem, in welches Stadium ihre Sonne gewechselt war, würden sie entweder mit schlagartig erhöhter Temperaturbestrahlung oder mit verminderter zu kämpfen haben. Auf den Angkplaneten – Ausnahme Nomad, der sich völlig, auch visuell, abschottete – war ein damit einhergehender klimatischer Wandel zu beobachten, und Cloud fragte sich unwillkürlich, wie es wohl derzeit im irdischen Sonnensystem aussehen mochte. Dort hatte »Cronenbergs Menschheit« sich seit Jahrtausenden quasi »hinter Mauern« zurückgezogen. Der gesamte Erde-Mond-Komplex war von einer steinernen Kugelschale umgeben, die den Blick auf die Sterne verwehrte.

Die gleichzeitig aber womöglich auch stabile Umweltbedingungen selbst in der gegenwärtigen Lage garantiert , dachte Cloud. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich einmal über die Existenz der Oort-Schale freuen würde. Aber wenn auch Sol betroffen ist, wovon ich fest ausgehe, dürfte die in Psi-Schleier gehüllte neue Menschheit eine der wenigen intelligenten Spezies sein, die gegen die grassierende Sternalterung gewappnet ist.

»John! John – es ist so weit.«

Scobees Stimme holte ihn in die Wirklichkeit zurück, von der er sich gedanklich weiter entfernt hatte als gewollt. Er lächelte der immer noch bildhübschen Frau zu, die täglich in einem Jungbrunnen zu baden schien; jedenfalls wirkte ihre Haut noch so frisch und faltenfrei wie bei ihrer ersten Begegnung – als sie einander noch nicht halb so »grün« gewesen waren wie heute.

Er lächelte.

Scobee blinzelte irritiert. »Alles in Ordnung?«

Er schüttelte den Kopf. »Kann man wirklich nicht sagen.«

»Ich meine mit dir

Für einen Augenblick grinste er so jungenhaft, als hätte auch ihm die Zeit nicht viel anhaben können. Aber er wusste es besser. Er wusste, wie stark er sich seit seinem Aufbruch zum Mars im fernen Jahr 2041 (Gott, war das lange her!) verändert hatte; weniger körperlich als psychisch. »Mit mir ist alles okay. Danke fürs Wecken.« Er zwinkerte ihr zu.

»Wo warst du gerade in Gedanken?«

Er winkte ab und widmete sich den eingehenden Bildern, die von der Angk-KI in die Holosäule geleitet wurden. »Grundgütiger – was ist denn das

Erst jetzt bemerkte er die Atemlosigkeit, die auch die anderen auf dem Kommandostand befallen hatte. Jelto, Aylea, Algorian… sie alle starrten völlig konsterniert auf das Gebilde, von dem anzunehmen war, dass es die Basis darstellte, von der die Torpedoraumer ausgeschwärmt waren.

Das Trägerschiff. Eins, wie ich noch keines gesehen habe…

Intuitiv strich er die Treymor endgültig von der Liste möglicher Hintermänner.

Das Objekt, das außerhalb der Detail-Ortungssysteme der RUBIKON »parkte«, mutete so konträr zu dem an, was ihnen mit den Torpedoraumern vor die Geschütze gekommen war, dass Cloud unter anderen Umständen und Vorzeichen niemals auch nur auf die Idee gekommen wäre, beide hingen in irgendeiner Weise zusammen. Die zerstörten Einheiten waren Raumschiffe im urtümlichsten Sinn, fast schon primitiv anmutend, jedenfalls wenn man sie mit den Filigranringen etwa der Auruunen verglich. Und selbst in der direkten Gegenüberstellung mit der Form der RUBIKON, die einem Tiefseerochen entlehnt schien, schnitten die Torpedos schlecht, nachgerade archaisch ab.

Das genaue Gegenteil war das, was die Aufklärungssonden gerade den Augen der RUBIKON-Crew enthüllten.

»Ja«, hörte er Scobee flüstern. »Was ist das? Ich wünschte, ich könnte es dir… uns allen sagen. Es… es scheint instabil zu sein, ständiger Veränderung unterworfen… Verrückt.«

Ständiger Veränderung unterworfen , wiederholte Cloud in Gedanken. Genauso ist es. Das Ding transformiert. Morpht unablässig…

In seinem Geist schienen sich bei der Betrachtung des absurden Objekts die Gedankenstränge zu verheddern. Zu verknoten.

»Vorsicht!«, warnte er die anderen. »Schaut nicht zu angestrengt darauf. Es macht etwas mit einem, wenn man sich darauf einlässt. Ich weiß nicht, ob es das bezweckt oder lediglich die menschliche Psyche dafür anfällig ist…«

»Ich stelle es ebenfalls fest«, meldete sich Algorian zu Wort. »Und man kann mir vieles nachsagen, aber nicht, dass ich ein Mensch bin.«

»Mit viel Fantasie könnte man ihm ebenfalls Zigarren- oder Torpedoform zubilligen«, sagte Cloud. »Man muss sich nur die Auswüchse wegdenken, aber davon gibt es so viele, dass sie an eine Sonne mit ihren ständigen Protuberanz-Auswürfen erinnern. Auch hier sieht es aus, als würde Materie zeitlupenhaft von der Grundform weggeschleudert und fiele nach einiger Zeit wieder auf den Grundkörper zurück… aber nur, um sofort wieder neue Materie abzusondern. Genau genommen sieht das Ding weniger wie ein Raumschiff aus als vielmehr…«

»… wie ein Organismus«, warf Jelto ein. »Ein lebendiges Wesen, das permanent neue Pseudopodien ausbildet, sie negiert, wieder neu formt, wieder negiert…« Er schüttelte vehement den Kopf. » Das soll die Torpedoschiffe geschickt haben? Das kann ich nicht glauben. Das eine hat doch nicht das Geringste mit dem anderen zu tun.«

Cloud schielte, während Jelto die Bilder kommentierte, zur Einblendung der ständig verfeinerten Sondendaten. Demnach maß das Objekt gute zehn Kilometer in der Länge und hatte an der dicksten Stelle ohne Auswüchse einen Durchmesser von gut vierhundert Metern. Mit den variierenden Pseudoaufbauten erreichte es zwischenzeitlich gerne mal das Doppelte.

»Wenn ihr wissen wollt, woran mich das Ding erinnert, sage ich es euch. Aber lacht mich nicht aus.« Aylea verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sag schon«, drängte Algorian. »Du kannst es ohnehin nicht vor mir verbergen, wenn ich nicht will.«

In Ayleas Augen blitzte es auf. »Gab es nicht irgendwann mal einen Ehrenkodex, dem du dich freiwillig unterworfen hast, Bohnenstange?« Als der Aorii nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Ich meine die Abmachung, dass du die Privatsphäre eines jeden Crewmitglieds respektierst!« Ihr Blick wechselte zu Cloud. »Commander – du musst es ihm verbieten. Er kann nicht ständig in unseren Hirnen rumspuken!«

Cloud nickte, relativierte aber zugleich: »Du lässt dich zu leicht ins Bockshorn jagen, Aylea. Algorian respektiert unsere Privatsphäre. Er will dich nur foppen.«

Sie löste die Verschränkung ihrer Arme und stemmte stattdessen die Fäuste in die Hüften. »Ich foppe ihn auch gleich!«

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924657
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon neue herren
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Titel: Raumschiff Rubikon 39 Neue Herren