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Raumschiff Rubikon 38 Das letzte Zeitalter

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Raumschiff Rubikon 38 Das letzte Zeitalter

Manfred Weinland


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.


Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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postmaster@alfredbekker.de






1.


»Ich messe ein mit Hypergeschwindigkeit heranrasendes, energetisches Phänomen an. Sein Vernichtungspotenzial kann nicht beziffert werden, aber möglicherweise wird es alles zerstören, was ihm in die Quere kommt. Es gibt nicht den Ausgangspunkt – und es zielt auch nicht auf unsere jetzige Position. Es scheint aus allen Richtungen zugleich zu kommen und dabei alles zu überrollen...«

Die Worte der Schiffs-KI hallten noch in Jarvis nach, als die Welle auch schon da war, über das Angksystem und alles, was sich darin befand, hinwegrollte wie ein schwerer Brecher auf hoher See, der eine Nussschale unter sich begrub.

Der Vergleich hinkte. Weil das, was die RUBIKON traf, schlichtweg mit nichts vergleichbar war, was dieses Universum jemals zuvor hervorgebracht hatte. Im Moment des Kontaktes mit der dunklen Kraft, die den Kosmos durchraste, setzten Jarvis’ kybernetische Systeme aus. Ein Blackout verschlang sein Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, um sich blickte, wusste er im ersten Moment nicht, ob Sekunden, Stunden oder Tage verstrichen waren.



Noch vor jedem anderen Empfinden war er einfach nur verblüfft, überhaupt noch zu existieren. Seine letzte Wahrnehmung und Erinnerung bezog sich auf den Einschlag der unbekannten Kraft, die die Bordsysteme hatten heranrasen sehen, aber offenbar nicht einmal in enger Kopplung mit der KI in der Lage gewesen waren, daraus noch einen Nutzen und wirksamen Schutz für das Schiff aufzubauen.

Und nun…

treibe ich im All! Entweder ist mir die RUBIKON unter dem Hintern weggebrochen und ich wurde herausgeschleudert, oder…

Dieses Oder hielt den Funken Hoffnung am Leben, den er brauchte, um überhaupt aktiv werden zu können, denn seine erste Regung nach dem Erwachen war gewesen: Warum ich? Warum musste ausgerechnet ich davon kommen, während alle anderen –

Aber wäre die RUBIKON tatsächlich zerstört worden, hätten dann nicht Trümmerteile durch die Umgebung treiben müssen? Eine Umgebung, die Jarvis so über die Maßen entsetzte, dass die Coolness, die ihn sonst auszeichnete, in den ersten Minuten nach seiner Rückkehr ins Bewusstsein chancenlos und schlichtweg nicht existent war.

Seine optischen Module fingen das Licht einer fernen Sonne auf, bei der es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um das Zentralgestirn des Angksystems handelte. Das Lichtspektrum unterschied sich so stark davon, dass die einzig logische Schlussfolgerung daraus lauten musste: Ich bin transitiert .

Wahrscheinlich hatte sein Unterbewusstsein den Sprung ausgelöst, weil es die Kraft, von der die RUBIKON getroffen worden war, als so furchtbar eingestuft hatte, dass es keine andere Rettung mehr sah.

Jarvis spürte noch immer den Nachhall dessen, was auch ihn getroffen hatte – und was sich wie ein echter Tod angefühlt hatte, ähnlich wie damals, als er durch die Hand eines Foronen-Oberhaupts gestorben war und lediglich sein Bewusstsein hatte bewahrt werden können. Es war in die Cyberhülle gepflanzt worden, in der es sich bis heute aufhielt. Die Hülle, die in jüngster Zeit dank der Hilfe des Pseudo-Bractonen Rogar so hatte präpariert werden können, dass sie sich nicht nur für Außenstehende lebendig – wie aus Fleisch und Blut – anfühlte (obwohl sie ihre kybernetische Substanz nicht verloren hatte), sondern auch für Jarvis selbst. Das, was anfänglich reine Maskerade gewesen war, holografische Schminke, hatte einen so radikalen Wandel erfahren, dass Jarvis jederzeit in der Lage war, zwischen zwei Arten von Sinneswahrnehmungen zu wählen: den technisch-nüchternen seiner Sensoren oder dem, was er aus seinem früheren Leben kannte und was über Rezeptoren begreif- und spürbar gemacht wurde, die die Sinnesorgane eines lebendigen Menschen simulierten. So perfekt simulierten, dass es Jarvis wie ein Wunder erschien.

Und so hatte sein erster Reflex, nach dem Realisieren der veränderten Umgebung, auch darin bestanden, die bioneuronalen Empfindungen umgehend auszublenden, weil die Weltraumbedingungen, in denen er sich wiederfand, jeden organischen Körper, der ihnen schutzlos ausgesetzt war, zerrissen und schockgefrostet hätten.

In dieser Reihenfolge.

Vermutlich.

Jarvis seufzte in den luftleeren Raum hinein. Die Reichweite seiner Cyberortung war nicht mit der eines Raumschiffs vergleichbar, betrug maximal rund eine Milliarde Kilometer. Und auf diesen Radius weitete er seinen Umgebungsscan sofort aus, in der vagen Hoffnung, dabei auf einen Blip zu stoßen, hinter dem sich die RUBIKON verbergen konnte – auch wenn der gesunde Menschen- und Maschinenverstand die Wahrscheinlichkeit, fündig zu werden, fast schon in den minusprozentualen Bereich verbannte.

Dass sein transitionsfähiger Robotkörper einen Verzweiflungssprung ausgeführt hatte, mochte noch nachvollziehbar sein. Dass die RUBIKON synchron dazu ihre eigene Transition durchgeführt hatte, die schlussendlich beide, ohne vorherige Abstimmung, in ein Gebiet gebracht haben sollten, das Jarvis ortungstechnisch erfassen konnte, war nicht zu erwarten. Trotzdem wollte er nichts unversucht lassen, um sich seinen Gefährten auf dem Rochenschiff bemerkbar zu machen. Parallel zu seinen Scanbemühungen setzte er deshalb einen breit gefächerten SOS-Funkruf ab.

Noch bevor an den Empfang einer möglichen Antwort zu denken war, gingen erste Ergebnisse seiner Umgebungssuche ein. Ein massereiches Objekt am Rande von Jarvis’ Erfassungsbereich, mutmaßlich ein Planet von ungefährer Erdgröße. Hinzu kam ein zweiter, verwaschenerer Blip , der keine tausend Kilometer von Jarvis’ derzeitiger Position auf ein weiteres Objekt hinwies, dessen Masse wesentlich kleiner war und sich aus mehreren Einzelkomponenten zusammenzusetzen schien. Genauere Werte erhielt Jarvis auch nicht, als er sich ausschließlich auf das kleinere Gebilde konzentrierte, von dem er nur annehmen konnte, dass es sich um ein Raumschiff handelte.

Tausend Kilometer schreckten ihn selbst in seiner aktuell lädierten Verfassung nicht. Er wartete noch eine Weile, ob eine Antwort auf seine Funksignale eintraf. Als dem nicht so war, transitierte er kurz entschlossen zu seinem angepeilten Ziel.

Der Sprung gelang, fühlte sich aber anders an als alle räumlichen Versetzungen davor. Jarvis kam es so vor, als arbeite er gegen einen Widerstand, der ihm ihn dieser Form bei früheren Transitionen noch nie begegnet war. Ob dieses Gefühl bloßer Einbildung entsprang oder einen realen Hintergrund hatte, konnte der ehemalige GenTec nicht stichhaltig belegen. Auf der Positivseite war jedenfalls zu verbuchen, dass die Rematerialisation ohne Abweichung von den zuvor programmierten Zielkoordinaten erfolgt zu sein schien.

Und dass seine optischen Systeme bereits genügten, um ihm einen ersten Eindruck von dem Technokonstrukt zu verschaffen, das scheinbar zum Greifen nah vor ihm im Samtschwarz des Alls trieb.

Jarvis erste Assoziation beim Anblick skelettartigen Quaders war: Der Aquakubus! Nur ohne Wasser…

Doch handelte es sich tatsächlich um die »ausgeschlachtete« Hinterlassenschaft der Foronen, die zu ihrer Glanzzeit Maßstäbe gesetzt hatte?

Während Jarvis sich immer noch erfolglos um eine Kontaktaufnahme mit der RUBIKON bemühte, bewegte er sich mit dosierten A-Grav-Schüben auf das bizarre Hightech-Gebilde zu.



Zur gleichen Zeit

Der Donnerschlag, der nicht nur die RUBIKON, sondern das Universum an sich bis in die Grundfesten erschüttert zu haben schien, hallte noch in John Cloud nach, als sich sein Bewusstsein mühsam den Weg zurück ans Licht bahnte. Die Dunkelheit, die ihn eben noch einzementiert hatte, als wollte sie ihn nie wieder freigeben, bröckelte ab, als würde sich ein Riese innerhalb einer tönernen, Laute und Helligkeit abschirmenden Hülle zu regen beginnen, in die er gesperrt worden war.

Es dauerte eine Weile, bis Cloud begriff, dass er sich innerhalb des geschlossenen Sarkophagsitzes befand; die Erinnerung daran, wie es zum Schließen des Gehäuses gekommen war (ob er selbst den Befehl dazu erteilt hatte oder Sesha tätig geworden war), fehlte auf ganzer Linie. Das Letzte, woran er sich entsann, war, dass die KI Hochalarm ausgelöst hatte, weil etwas von allen Seiten zugleich auf das Raumschiff zugerast war und eingedroschen hatte.

Nicht nur auf das Schiff, korrigierte er sich, auf das ganze hiesige Sonnensystem… mindestens!

Was dieses Etwas gewesen war, hatte sich in der kurzen Spanne zwischen Ortung der Bedrohung und der Konfrontation mit derselben nicht mehr ermitteln lassen.

Und jetzt?

Noch bevor Cloud den Kommandositz der RUBIKON öffnete, nahm er Kontakt zur KI auf.

»Sesha?«

Versuchte er, Kontakt zur KI aufzunehmen. Aber Sesha ignorierte sein Bemühen so hartnäckig, dass in Cloud die Befürchtung aufkam, der Einschlag von was auch immer könnte die KI nachhaltig beschädigt haben.

Er zögerte nicht länger, sondern öffnete den Deckel des Sarkophags. Er bildete sich so rasend schnell zurück, dass das menschliche Auge kaum zu folgen vermochte. Das gedimmte Licht der Bordzentrale drang zu Cloud vor. Die Sitzlehne schnellte aus der fast waagrechten Position steil nach oben, sodass der Commander bequem saß und gleichzeitig einen unverstellten Blick auf die Holosäule hatte, die sich im Zentrum zwischen den sieben kreisförmig angeordneten Kommandositzen vom Podestboden bis hinauf zur Decke schraubte.

Das Hologramm zeigte die Umgebung der RUBIKON, und auf den ersten flüchtigen Blick wirkte alles weitgehend normal.

»Sesha!«, versuchte Cloud es erneut, nun schon merklich ungeduldiger.

Obwohl die bordinternen Systeme, die unter anderem für Luft, Licht, Wärme und künstliche Schwerkraft zuständig waren, zu arbeiten schienen, blieb die KI stumm und, soweit feststellbar, inaktiv.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Cloud in seinen Bart, während sein Blick zu den anderen Sitzen schwenkte, von denen nur noch einer offen war wie derjenige, aus dem sich Cloud gerade stemmte. Nur noch Jarvis’ Sitz war ohne jene Abdeckung, die dafür sorgte, dass der Insasse geistig mit dem Schiff verschmelzen und quasi in ihm »aufgehen« konnte. Wobei auch dieses »Aufgehen« Abstufungen hatte: John Cloud war der Einzige, der in seiner Funktion als Commander Zugang und Zugriff in sämtliche Bereiche hatte, die das künstliche Nervensystem der RUBIKON durchzog.

Dass Jarvis’ Sitz leer und verlassen war, obwohl Cloud geschworen hätte, ihn im Moment des Einschlags noch neben sich gesehen zu haben, deutete darauf hin, dass der Freund entweder gar keinen Blackout erlitten hatte oder einen, aus dem er wesentlich früher als seine Mitstreiter erwacht war.

Fragt sich nur, warum er dann nicht alles daran gesetzt hat, unser Erwachen zu beschleunigen.

Cloud trat neben den Sitz zu seiner Linken und betätigte den Mechanismus zum manuellen Öffnen. Der Deckel bildete sich ebenso schnell und umfassend zurück wie zuvor bei Clouds Sarkophag. Zum Vorschein kam Scobee, die offenbar immer noch ohne Bewusstsein war. Ihre Züge wirkten verkrampft, und es arbeitete darin, als träumte sie schlecht.

Cloud zögerte kurz, dann beugte er sich zu Scobee hinunter und rüttelte sie sanft an den Schultern. Die Zeiten, da Scobees Brauenhaare weggelasert und durch adäquate Tätowierungen ersetzt gewesen waren, gehörten zu Clouds Freude der Vergangenheit an. Die Tattoos hatten Scobee immer ein bisschen wie eine Mangafigur des 21. Jahrhunderts wirken lassen, dem sie beide – und Jarvis – ja tatsächlich entstammten, auch wenn ein seltsames Schicksal sie weit in die Zukunft geschwemmt hatte. Zukunft war zu Gegenwart geworden, und manchmal, nicht oft, trauerte Cloud immer noch den verlorenen Zeiten nach. Bevor er Astronaut geworden und zum Mars aufgebrochen war, damals, 2041, hatte seine Welt noch einen entscheidenden Vorteil gegenüber der von heute gehabt: Sie war wesentlich überschaubarer, vielleicht auch provinzieller, gewesen. Aber auf eine angenehme, wohltuende Weise.

Die Überschaubarkeit war spätestens seit dem Kontakt mit den Ganf und der Erkenntnis, dass dieses Universum ohne ihre Äonen zurückliegenden Aktivitäten niemals entstanden wäre, flöten gegangen.

Wir sind kosmisch geworden , dachte Cloud selbstironisch. Darauf hätte ich verzichten können .

Von Kindheitstagen an hatte es ihn ins All gezogen. Sein Dad, Nathan Cloud, hatte es ihm vorgelebt. Aber um seine hochgesteckten Träume zu erfüllen, hätte es nicht die Gigantomanie gebraucht, in die er nach seiner Ankunft auf dem Roten Planeten verstrickt worden war. Nicht nur eine, mehrere Nummern kleiner hätten es, wäre es nach ihm gegangen, auch getan. Aber dann hatten sich die Ereignisse überstürzt, die Erde hatte sich einer Invasion ausgesetzt gesehen, wie sie bis dahin nur als Handlung in einem SF-Film oder -Roman denkbar gewesen wäre. Doch die Master hatten keinen Zweifel an ihrer Realität gelassen – und daran, dass sie ganz eigene Vorstellungen davon hatten, wie sich die Erde samt ihren Ureinwohnern künftig präsentieren sollte.

Verdammt! Wie er es hasste, wenn sich seine Gedanken in Extremsituationen wie dieser verselbstständigten, obwohl er sich besser auf das Hier und Jetzt fokussiert hätte. Die Vergangenheit konnte ihm aktuell nicht helfen. Also , dachte er, abhaken! Sofort!

Scobees Lider flatterten. Dann sprangen sie auf. In ihren Augen löste zögerndes Erkennen die zunächst dominierende Verwirrung ab. »John…«

»Willkommen im Klub.«

»Klub?« Sie richtete sich auf.

»Nun, du bist nicht die Einzige, die ratlos ist. Offenbar fragst du dich auch, was überhaupt passiert ist.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Frag Sesha. Von ihr kam die Warnung. Nur war die Vorlaufzeit verdammt kurz. Zeit zum Reagieren blieb nicht mehr.« Seufzend fuhr Scobee sich über den Nacken. »Was in Dreiteufelsnamen war das?« Sie sah sich immer noch leicht desorientiert um. »Na, wenigstens hat das Schiff es überstanden. Schadensbilanz?«

Cloud schnitt eine Grimasse. »Ich kann es dir nicht sagen. Dein ›frag Sesha‹ mag im Normalfall ein guter und auch naheliegender Tipp sein, aber in unserem speziellen scheitert er bereits im Ansatz.«

»Was soll das heißen?«

»Soll heißen: Versuch du dein Glück. Vielleicht ist dir Sesha mehr gewogen als mir.«

»Quatsch.«

» Versuch es.«

Scobee folgte seiner Aufforderung, obwohl ihr Blick nach einer Erklärung von ihm verlangte. »Also dann: Sesha?« Und nach einer Weile schon merklich schärfer: »Sesha!«

»Ich hatte es befürchtet.«

»Schweigt sie auch auf deine Versuche?«

»Seit ich zu mir kam.«

Scobees Blick schweifte über die Sitze des Kommandostands. Vier waren noch geschlossen, drei offen. Die drei offenen waren die Stammplätze, die vier geschlossenen wurden variabel besetzt, aktuell von Jiim, Algorian, Assur und Aylea.

»Wo ist Jarvis?«

Sie wusste den dritten offenen und verwaisten Sitz sofort zuzuordnen.

»Auch das kann ich dir nicht sagen. Er war schon offen und leer, als ich meinen öffnete.«

»Wieso sind sie überhaupt geschlossen gewesen? War Jarvis das? Oder Sesha?«

»Vielleicht waren wir es selbst«, äußerte Cloud eine weitere Möglichkeit.

»Daran erinnere ich mich nicht.«

»Dito. Trotzdem schließe ich es nicht aus.«

»Du meinst, wir haben möglicherweise noch Handlungen ausgeführt, als wir schon nicht mehr bei Sinnen waren?«

»Ich kann es dir nicht sagen, solange ich nicht weiß, was überhaupt vorgefallen ist. Und um es herauszufinden, brauchen wir Sesha. An der KI führt kein Weg vorbei.«

»Dass sie schweigt, deutet darauf hin, dass es sie auch erwischt hat – oder?«

»Wie immer ›erwischt‹ zu definieren ist.«

Scobee zeigte erneut auf Jarvis’ Platz. Und während sie es tat, überwand sie die Distanz dazu und bückte sich, als würde sie auf dem Boden der Sitzkonstruktion nach etwas suchen.

»Was tust du?«, fragte Cloud.

»Ich schaue nach, ob er nicht doch da ist.«

»Du meinst…?«

»Als amorphe Masse – als Nanopfütze… Es wäre nicht das erste Mal.«

Cloud wunderte sich, dass er selbst noch nicht darauf gekommen war. »Und?«

Kopfschüttelnd richtete sie sich wieder auf. »Nichts. Kein Krümel.«

»Dann wollte er die Zeit bis zu unserem Erwachen vielleicht nutzen, um nach dem Rest der Besatzung zu sehen. Nach den Angks…«

»Möglich.«

»Du glaubst nicht dran?«

»Wir brauchen Sesha. Unsere Spekulationen bringen uns nicht weiter. Das Einzige, was wir tun können – was du tun kannst, solange sie sich nicht meldet, denn du hast die höchste Autorisation…«

»Ja?«

»Du könntest mit dem Schiff verschmelzen und versuchen, auf diese Weise Antworten zu erhalten. Vorrangig Antwort auf die Frage nach dem Grund für Seshas Schweigen. Aber auch die nach Jarvis’ Verbleib und der Befindlichkeit der übrigen Crew.«

Cloud verlor keine Zeit, Scobees Ratschlag zu folgen. »Sieh du derweil nach den anderen…« Er nickte zu den noch geschlossenen Sitzen hin. Dann tauchte er zurück in seinen eigenen und gab den Schließbefehl.



Je näher Jarvis kam, desto mehr schwand jede Ähnlichkeit des anvisierten Objektes mit dem Aquakubus, die er spontan in seine Entdeckung hineininterpretiert hatte. Als einzige Übereinstimmung entpuppte sich in der Tat die Quaderform, die aber, anders als bei Tovah’Zara, nicht nur mittels acht »Eckstationen« erreicht wurde, die energetische Dämme zum Zweck des Wasserrückhalts projizierten, sondern von Dutzenden zusätzlichen »Streben« und »Knotenpunkten« ergänzt wurden, deren Zusammenhalt wahrscheinlich über künstliche Anziehungskraft erreicht wurde. Anhand des verwendeten Metalls, der Farbgebung oder anderer Details ließ sich nicht auf die Herkunft des Gebildes rückschließen, zumal Jarvis immer noch im Unklaren über seine galaktische Position war. Nachdem er das Angksystem ausgeschlossen hatte, konnte es sich höchstens noch um ein benachbartes Sternensystem handeln, auch wenn ihm lichtjahrweite Transitionen bislang nur in den seltensten Fällen geglückt waren.

Das Konstrukt setzte sich aus Kugeln, Quadern und Rechtecken zusammen, wobei das Beeindruckendste daran seine zwar nicht mit Tovah’Zara vergleichbare, aber immer noch beachtliche Abmessung war. Jarvis’ Sensoren ermittelten Werte, die in der Lage gewesen wären, einen Planeten von Merkurgröße zu umschließen.

Ob die einzelnen Komponenten bewohnt waren, war von außen nicht erkennbar. Möglich schien es, dass sie Lebensformen beherbergten, wen auch immer.

Jarvis überlegte, ob er einen Sprung ins Innere eines der großen Eckpfeiler riskieren sollte, aber im Innern mochten Bedingungen herrschen, denen selbst seine Widerstandsfähigkeit nicht die Stirn bieten konnte. Seine Intuition tippte eher auf Energieerzeuger als auf Behältnisse, die Lebewesen vor den widrigen Bedingungen des Weltraums schützten. Aber wofür genau diese Konverter Energie erzeugten, blieb ebenso rätselhaft wie alles andere.

Wie das größte Rätsel überhaupt: Wo bin ich – und wo ist verdammt noch mal die RUBIKON abgeblieben?!?

Während er in Sichtweite des Gebildes schwebte, von dem sich letztlich herausgestellt hatte, dass es wesentlich kleinere Dimensionen hatte als der Aquakubus und nicht einmal ansatzweise Wassermassen umschloss, setzte er pausenlos seine Funksignale ab. Bislang ohne jede Resonanz.

Doch das sollte sich ändern.



Im Idealfall spürte Cloud die Bord-KI sofort, nachdem die neuronale Verknüpfung seines Gehirns mit dem Schiff hergestellt worden war. Sesha hatte der RUBIKON ihren Stempel selbst den verborgensten Dingen und komplexesten Systemen aufgedrückt. Und auch bei seinem Erwachen aus der Ohnmacht war er sicher gewesen, die Präsenz der KI zu fühlen – sie hatte nur nicht auf sein Verlangen reagiert, in direkten Kontakt mit ihm zu treten.

Aber rückblickend war Cloud sich dann doch nicht mehr so sicher, ob er die empfangenen Schwingungen tatsächlich richtig gedeutet hatte. Umso erleichterter war er, als sich nach Schließen des Sarkophagdeckels augenblicklich das vertraute Gefühl einstellte, der KI nahe zu sein.

Obwohl…

Etwas schien anders geworden zu sein, sich verändert zu haben. Was genau ihn störte, vermochte Cloud nicht zu sagen – noch nicht jedenfalls.

Sesha? Sesha – antworte! Ich bin dein Commander. Du musst gehorchen!

Sein mentaler Appell fruchtete ebenso wenig wie die vorausgegangenen Versuche, woraufhin Cloud seinen Geist durch das Geflecht künstlicher Adern jagte, das die RUBIKON durchzog. In einem Tempo, das ihm in persona – also physisch – nicht einmal annähernd möglich gewesen wäre, suchte er zunächst die exponierten Orte auf, von denen er sich Nervenberuhigung erhoffte: das Angkdorf, den hydroponischen Garten, Pseudokalser, den Cy-Memorial-Park – allesamt Bereiche des Schiffes, wo sich im Regelfall die meisten Besatzungsmitglieder aufhielten. Und darum ging es vorrangig: sich schnell einen Überblick über den Gesundheitszustand und die Einsatzfähigkeit der Crew zu verschaffen. Solange er sich nicht vom Gegenteil überzeugt hatte, rechnete Cloud lieber mit dem Schlimmsten.

Doch zu seiner grenzenlosen Erleichterung präsentierte sich die Situation bei den Angks ähnlich wie in der Bordzentrale: die Straßen vor den Quartieren waren gefüllt mit Menschen, die entweder gerade aus ihrer Ohnmacht erwachten und sich aufrappelten – oder schon eine Weile wieder bei sich zu sein schienen und sich um jene kümmerten, die es ärger getroffen hatte. Bis auf ein paar Schrammen und Platzwunden bemerkte Cloud bei seiner Kundschaftung, die von den Angks unbemerkt blieb, weil er mit den Sensoren auf sie blickte, derer sich sonst nur Sesha bediente, nichts.

Jarvis hielt sich nicht bei den Angks auf. Damit wollte Cloud sich aber nicht zufriedengeben und wandte sich deshalb aus dem Off an die Bewohner des Dorfes, befragte sie nach dem Vermissten.

Keiner konnte ihm die Frage nach Jarvis’ Verbleib beantworten. Dafür bedrängten sie Cloud, ihnen zu sagen, was vorgefallen war. Er vertröstete sie auf später, versprach aber, sie nicht länger als nötig im Ungewissen zu lassen.

Erst muss ich mir selbst einen Überblick verschaffen. Ohne Seshas Assistenz merke ich erst, wie viel sie uns sonst abnimmt.

Cloud wechselte zunächst zum hydroponischen Garten, wo er Jelto ins Gespräch mit Alcazar vertieft antraf. Mensch und Arachnide zeigten einen Grad der Erregung, der nahelegte, dass wohl auch sie vorübergehend außer Gefecht gesetzt gewesen waren.

Von Jarvis keine Spur.

Cloud begab sich mental nach Pseudokalser und nutzte die dortigen Systeme, die sowohl die Holotechnik und die Arbeit der Dimensatoren als auch die Umweltbedingungen kontrollierten. Reale Personen konnte er nicht entdecken, nicht im Baumdorf am Schrund, nur die »Hologespenster«, wie Cloud die Nachahmungen von Jiims längst verstorbenen Freunden nannte.

Der Vollständigkeit halber suchte er auch noch das Cy Memorial auf, obwohl er sich davon am allerwenigsten versprach. Er kam gerade an, als ihn eine Nachricht erreichte, die eine Weiterführung der Suche unnötig machte.

Über die Antennen der RUBIKON erreichte ihn ein Funkspruch mit der unverwechselbaren Signatur von Jarvis.

Cloud eruierte sofort die exakten Koordinaten, von denen das Signal abgestrahlt wurde – und war völlig konsterniert, als er erkennen musste, dass sie aus einer Entfernung von mehreren Milliarden Kilometern eintrafen.

Das erklärte, warum er Jarvis vergeblich an Bord gesucht hatte – aber nicht, wie und warum er dorthin gelangt war.

Ohne Jarvis’ Rufe zu beantworten, übernahm Cloud die Steuerung der RUBIKON und brachte sie auf Rendezvous-Kurs mit der Quelle der empfangenen Signale.




2.


Die Bewegungsmelder seiner Module arbeiteten einwandfrei, und so wurde Jarvis augenblicklich gewarnt, als ein Objekt mit hoher Geschwindigkeit in deren Erfassungsbereich eindrang. Das Objekt hielt genau auf Jarvis zu, der sich kampfbereit machte, um sich gegen alle Eventualitäten zu wappnen. Doch verhältnismäßig schnell wurde klar, dass es sich bei dem Ankömmling um das Raumschiff handelte, nach dem er bisher vergeblich Ausschau gehalten und gefunkt hatte.

»Verdammt! Wenn das ein Scherz sein soll… Warum habt ihr nicht auf meine Rufe geantwortet, wenn ihr sie doch offenbar empfangen konntet? John!«

»Wenn hier jemand Erklärungen schuldig ist, dann wohl du!«, kam es postwendend zurück. »Kannst du an Bord springen oder sollen wir dich einfangen und zu uns holen?«

»Ich komme! Falsch: Ich bin schon…«

Das »… da!« erreichte den Commander erst, als Jarvis schon leibhaftig auf dem Kommandopodest der RUBIKON stand und die Szenerie, in der er sich wiederfand, auf sich wirken ließ.

Bis auf einen waren alle Sarkophagsitze offen. Davor tummelten sich die Crewmitglieder, die auch schon die Erinnerungsbilder füllten, die Jarvis mit seinen letzten bewussten Sekunden an Bord in Verbindung brachte: Assur, Algorian, Jiim, Aylea, Scobee.

Der Einzige, der fehlte, war der, der just mit ihm kommunizierte: der Commander.

Was zu dem Sitz passte, dessen Gehäuse geschlossen war.

»Steckst du da drin?«, fragte er, ohne sich länger auf die Übermittlung seiner Worte via Funk zu beschränken. Die Umstehenden, von denen ihn Aylea und Scobee mit großem Hallo begrüßten, zuckten unter seinem lauten Organ zusammen. Er kümmerte sich nicht darum, sondern stiefelte zu Clouds Sitz und hämmerte mit der Faust gegen den Gehäusedeckel.

Metall dröhnte auf Metall.

»Hey! Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Stopp! Hör sofort auf!«

Scobee stürmte auf ihn zu und wollte ihn vom Sitz des Commanders wegreißen. Allerdings übersah sie dabei ein entscheidendes Detail: Die Person, die Jarvis mithilfe überlegener Technologie nach außen hin darstellte, war er schon lange nicht mehr. Sein Körper wog, wenn er es wollte – und in dem Fall wollte er –, mehrere Tonnen. Selbst eine durchtrainierte Frau wie Scobee war dann machtlos. Sie hätte ebenso gut versuchen können, einen hausgroßen Felsbrocken mit bloßer Muskelkraft zu bewegen.

Ihr Scheitern machte sie nur noch erboster. »Was ist denn los mit dir?« Im gleichen Rhythmus wie Jarvis den Deckel bearbeitete, bearbeitete sie jetzt ihn mit ihren Fäusten.

Dann ging Jarvis’ Schlag plötzlich ins Leere – und nur seiner permanenten Aufmerksamkeit war es zu verdanken, dass der Hieb nicht statt des Deckels John Clouds Kopf traf.

Jarvis wich zurück, offenbar hatte er nicht mit dieser Reaktion gerechnet, sondern darauf gewartet, dass der Commander ihn zunächst über den offenen Funkkanal vor- oder ver warnte.

»Alles unter Kontrolle, John, alles unter Kontrolle«, beteuerte er.

Scobees Augen funkelten zornig wie noch nie. Sie eilte zu Cloud und fasste ihn am Arm. »Alles in Ordnung? Fast hätte dieser Wahnsinnige dich erschlagen!«

»Unsinn.« Cloud streifte ihre Berührung ab und erhob sich schwungvoll aus dem Sitz. »Wir sollten froh sein, ihn wiederzuhaben.« Er zwinkerte Jarvis zu. »Ist es nicht so?«

Jarvis nickte hin- und hergerissen. »Fragt sich nur«, murrte er, »warum ihr mich so lange schmoren gelassen habt, wenn ihr froh über meine Rückkehr seid.«

»Rückkehr?«, echote Scobee. »Wo genau war er denn?« Sie wandte sich an Cloud, und aus dem Hintergrund näherte sich jetzt auch Assur, die die gleiche Frage stellte, allerdings an Jarvis selbst gerichtet.

»Wir müssen einiges bereden«, sagte Cloud. »Vor allen Dingen aber müssen wir herausfinden, was überhaupt passiert ist – vorrangig, was mit Sesha passiert ist. Denn offenbar hat das, was über uns gekommen ist – über uns alle –, sie so nachhaltig beschädigt, dass sie sich noch immer in einer Art Katalepsie befindet.«



»Durch meine Erinnerung geistern Bilder, die ich nicht zuordnen kann. Sie versuchen mir einzureden, ich sei nicht einfach ohnmächtig gewesen, sondern gestorben . Hört sich verrückt an, was?« Jarvis wirkte völlig durch den Wind.

»Du bist nicht gestorben«, beruhigte ihn Cloud. »Nur das zählt.«

Der Ausdruck in Jarvis’ holografischen Augen jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Die Melancholie darin schien hervorbrechen und sich über jeden ergießen zu wollen, der in unmittelbarer Nähe des ehemaligen GenTec stand. Die Art und Weise, wie der Freund vom Sterben sprach, legte nahe, dass ihn die Ereignisse, die dem Kraftausbruch, der nach der RUBIKON gegriffen hatte, gefolgt waren, traumatisiert hatten.

Aber was genau daran? Wir alle waren davon betroffen. Außer dem Blackout, der ein paar Minuten gedauert haben mag, scheinen wir keine Folgeschäden davongetragen zu haben. Soweit sich bislang überschauen lässt, sind die Einzigen, die es ärger erwischt hat, Jarvis und Sesha.

Wobei Sesha nach wie vor das Hauptproblem war. Ohne eine funktionierende KI war die RUBIKON nur die Hälfte wert. Zwar ließ sie sich über die Kommandositze auch manuell navigieren, aber das erforderte die beinahe permanente Verschmelzung mit den Schiffsorganen, und das wiederum würde auf Dauer nicht nur an den Kräften desjenigen zehren, der sich dafür hergab, sondern ihn auch von anderen Pflichten fernhalten.

Wenn es nur übergangsweise ist , dachte Cloud, könnte ich damit leben. Aber solange wir nicht wissen, was genau Sesha fehlt, lässt sich ein Ende dieses Malheurs gar nicht absehen.

»Bilanz klingt gut. Ich beginne«, sagte Jarvis. Und erzählte, wie er sich im Weltraum wiedergefunden hatte, ohne dass er die geringste Spur der RUBIKON hatte ausfindig machen können. An diesem Punkt angelangt, fragte er: »Wie habt ihr mich gefunden? Durch meine Funksprüche? Wie weit liegt dieses Sonnensystem vom Angksystem entfernt? Es muss die weiteste Instinkt-Transition gewesen sein, die ich je absolviert habe.«

Die Worte ließen keinen Zweifel daran, dass es Klärungsbedarf gab. »Du glaubst, du bist in ein anderes Sonnensystem gesprungen? Wie kommst du darauf? Wir befinden uns immer noch im Angksystem. Ich dachte, das sei dir klar.«

Ein neuer Ausdruck trat in Jarvis’ Augen: Verwirrung. »Ist das ein Test?«, fragte er unbehaglich.

»Warum sollten wir dich testen wollen?«

»Keine Ahnung. Aber wenn du behauptest, wir seien immer noch im –«

»Warum«, unterbrach Cloud ihn, »glaubst du, es müsse anders sein?«

»Nun, die Sonne«, sagte Jarvis. »Ich kenne die Spektralklasse des Angk-Gestirns. Wir sind nicht zum ersten Mal hier. Und du weißt, dass meine optischen Systeme unbestechlich sind.«

»Worauf willst du hinaus

»Während ich im All trieb, hatte ich viel Zeit, meine Umgebung zu studieren. Die Reichweite meiner überlichtschnellen Ortung ist auf eine runde Milliarde Kilometer beschränkt. Das trifft aber nicht auf meine optischen Sensoren zu. Mit ihnen habe ich das Zentralgestirn dieses Systems betrachtet und, als mir Widersprüche auffielen, einer Spektralanalyse unterzogen. Im Resultat gibt es überhaupt keinen Zweifel, dass es sich bei dieser Sonne hier um einen Stern handelt, der sich bereits in der Heliumfusionsphase befindet, nicht mehr wie das Angk-Gestirn in seiner Wasserstofffusionsphase. Heliumfusion bedarf einer deutlich höheren Temperatur als Wasserstofffusion – mindestens zehn Millionen Grad.«

»Du musst dich täuschen. Wir sind im Angksystem. Wir haben es zu keinem Moment verlassen. Du hast deine Signale vom äußersten Rand aus verschickt – das ist immer noch eine beachtliche Distanz, die du dich von der RUBIKON entfernt hattest, aber wir sprechen immer noch nicht in Lichtjahren, allenfalls in Lichtstunden.«

»John, warum tust du das?«

» Was

»Ich halte mich an Fakten, während du krampfhaft versuchst, mir Irrationalitäten einzureden, die jeder Tatsache entbehren und sich auch leicht widerlegen lassen.«

»Wie?«

»Dazu bedarf es keiner KI. Du brauchst nur die Bordinstrumente bemühen. Sie werden dir deinen Irrtum aufzeigen. Wir befinden uns nicht mehr im Angksystem. Offenbar habe nicht nur ich transitiert, sondern auch die RUBIKON!«

Cloud ersparte sich weitere Diskussionen. In Absprache mit seinen Freunden tauchte er erneut in den Sarkophag ein und richtete sämtliche infrage kommenden Instrumente auf den Stern, der das Zentrum des einstigen Rückzugssystems der Ganf markierte. Den Stern, den einmal sieben Planeten auf identischer Umlaufbahn, mit identischer Geschwindigkeit und in absolut gleichmäßigem Abstand zueinander umkreist hatten.

Das Angksystem war einmalig im ganzen bekannten Universum: Mehrere Planeten auf der gleichen Umlaufbahn um ihre Sonne – das wäre ohne die Fabeltechnik, die darüber wachte, dass die Abstände der einzelnen Welten zueinander exakt eingehalten wurden, niemals möglich gewesen, hätte über kurz oder lang in Katastrophen enden müssen. In der Kollision besagter Welten miteinander. Oder auch nur damit, dass einzelne Mitglieder der Planetenfamilie aus dem Verbund ausgeschert und in den Stern, den sie umkreisten, getaumelt wären.

Dass es dazu auch nach dem »Ausfall« von Portas nicht gekommen war, konnte eigentlich nur bedeuten, dass die Steuertechnik, die die Angkwelten »auf Kurs« hielt, auch nach der Eroberung des Angksystems durch die Auruunen immer noch reibungslos arbeitete – so reibungslos sogar, dass sie Mittel und Wege gefunden hatte, den Verlust eines der überwachten Planeten auszugleichen.

Cloud konnte die sechs verbliebenen Planeten während seiner Verschmelzung mit der RUBIKON mühelos orten und sich von der Intaktheit des Verbunds überzeugen. Doch damit endeten die guten Nachrichten auch schon. Und so lautete sein Statement, als er die Verbindung zum Schiff aufhob und zu seinen Gefährten »zurückkehrte«, zunächst: »Ich hatte recht!« Woraufhin Jarvis so energisch aufstampfte, dass das Podest erbebte. Aber bevor er seinen Unmut auch in Worte kleiden konnte, relativierte Cloud die eigene Behauptung auch schon, indem er nachschob: »Aber du auch.«

Spätestens ab diesem Moment durfte er sich der Aufmerksamkeit aller Versammelten sicher sein.

»Was soll das werden?«, brummte Jarvis missmutig. »Wir können nicht beide richtig liegen. Entweder ich kann meine körpereigenen Module in der Pfeife rauchen – oder du hast ein Pfeifchen geraucht, das dir die Sinne vernebelt!«

Jarvis’ Wortwahl zauberte ein kaltes Lächeln auf Clouds Gesicht. »Doch«, sagte er. »Wir liegen beide richtig. Du, wenn du sagst, dass die Spektralmessung der hiesigen Sonne keine Übereinstimmung mit den Werten ergibt, die dir aus der jüngeren Vergangenheit vorliegen – und ich, wenn ich dir versichere, dass ›unpassende‹ Sonne dennoch das Zentrum des Angksystems bildet.«

Er nahm ein paar Schaltungen an seiner Sitzkonsole vor, und in der Holosäule erschien eine Großdarstellung des Sterns, von dem er sprach. Und der Jarvis recht zu geben schien, so schaurig fortgeschritten seine Lebensphase war. Cloud zoomte ihn zurück, bis die Umläufer mit ins Bild rückten – und deren Aneinanderreihung auf der gleichen Bahn, im exakt gleichen Abstand zueinander und zu ihrem Zentralgestirn, entsprach zweifelsfrei der des Angksystems. Sechs Welten, wobei zwischen zweien von ihnen ein doppelt so großer Abstand wie zwischen den anderen herrschte. Dafür war in der Mitte dieser Lücke stilisiert das Modell der EWIGEN KETTE eingefügt worden. Nicht von Sesha, die sonst für diese Umsetzungen zuständig war, sondern von Cloud, während er mental im Bordkreislauf unterwegs gewesen war.

»Das ist kein Beweis«, sagte Jarvis. »Das ist eine Simulation, oder?«

Cloud nickte.

»Ich kann auch alle möglichen Szenarien als Hologramm aufleben lassen«, sagte Jarvis gereizt.

»Unterstellst du mir Betrug?« Cloud schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich so etwas tun? Nur um recht zu behalten?« Er seufzte. »Du müsstest mich besser kennen.«

Jarvis lenkte ein. »Schon gut. Aber wenn das wirklich die Sonne des Angksystems wäre, müssten wir Milliarden Jahre weit in die Zukunft geschleudert worden sein. Sag nicht, dass es das ist, was du uns ›schonend‹ beizubringen versuchst!«

»Ich fürchte«, sagte Cloud, »es ist viel simpler - und zugleich auch viel schrecklicher.«

»Will heißen?«, fragte Scobee.

»Alles deutet darauf hin, dass die wichtigste Mission, auf der wir uns je befanden, brutal gescheitert ist. Offenbar ist es uns nicht gelungen, die Katastrophe, die Raiconn einleitete, zu stoppen. Unser Versuch, die Manipulationen im Steuersegment der EWIGEN KETTE rückgängig und ungeschehen zu machen, könnte den Prozess, den die Auruunen anstrebten, sogar noch beschleunigt haben.«

Jetzt war es heraus.

»Du… du meinst, die Sonnenveränderung ist ein Indiz dafür, dass Raiconns Sabotage schon Wirkung zeigt?«, fragte Aylea. Ihre Miene war starr vor Entsetzen.

»Ich habe leider unwiderlegbare Beweise.« Nie waren Cloud Worte schwerer über die Lippen gekommen als in diesem Moment. »Und ich meine damit nicht nur die Daten, die mich vom hiesigen Stern erreichten. Ich habe sofort auch einen Abgleich mit den hinterlegten Daten jener Sterne vorgenommen, die innerhalb der Reichweite unserer Hyperortung liegen. Das Ergebnis ist niederschmetternd.«

»Niederschmetternd heißt?«, mischte sich Scobee ein, um Sachlichkeit bemüht.

»Es ist, als wären sämtliche Sterne der Milchstraße in ein anderes Lebensstadium übergewechselt – als wären sie von einem Moment auf den anderen um Jahrmilliarden gealtert.«



Nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, fragte Aylea: »Und wenn Jarvis doch recht hat? Wenn wir von dem nach wie vor ungeklärten Phänomen, das uns getroffen hat, Jahrmilliarden weit in die Zukunft geschleudert worden sind?«

Cloud zuckte mit den Achseln. »Rein theoretisch denkbar, infolge der feststellbaren Umstände aber weniger wahrscheinlich als meine These.« Er lächelte halbherzig, weil ihm klar war, dass Ayleas IQ den seinen um Längen übertraf – aber manchmal war IQ nicht alles. Oder standen kleine Genies auf dem Schlauch – wie in diesem Fall.

»Von welchen Umständen redest du, Commander?«, fragte die Vollwaise, die in der Crew eine Ersatzfamilie gefunden hatte; aber das war schon so lange her, dass es kaum noch der Erwähnung bedurfte. Cloud freute sich immer wieder, wenn er sich erinnerte, was aus dem scheuen Vogel, den sie einst von der Master-beherrschten Erde mit an Bord gebracht hatten, über die Jahre geworden war. Aylea sprang das Selbstbewusstsein fast aus den Augen. Und dass sie dabei nicht einmal in Situationen, die förmlich dazu einluden, Überheblichkeit versprühte, konnte er ihr gar nicht hoch genug anrechnen. Leicht gekränkt in ihrer Eitelkeit fühlte sie sich aber dennoch, und so beeilte er sich auch, ihre Frage zu beantworten.

Er nahm neue Schaltungen an seiner Konsole vor, und in einem Separatfenster der Holosäule wurden die Angkwelten noch dominanter und detailreicher dargestellt als bisher.

»Hätten wir wirklich Jahrmilliarden überbrückt… oder übersprungen, wie immer du es nennen willst…, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich nur die Sonne des Systems verändert hat, doch extrem gering – oder? Ich meine: Gerade aufgrund der Zerstörung von Portas und ohne die permanente Pflege der Technik, die die Planetenbalance aufrechterhält, hätten sich die verbliebenen Angkwelten kaum so perfekt in der Spur halten können, wie es augenscheinlich der Fall ist. Für die Pflege waren die Ganf zuständig, vielleicht auch die Bractonen. Ihrer beider Schicksal ist zwar noch nicht endgültig geklärt, aber wir müssen nach jetzigem Kenntnisstand davon ausgehen, dass sie die Einnahme des Angksystems nicht überlebt haben. Und was die hier beheimateten Menschen angeht…« Er merkte, wie nahe ihm der Gedanke ging, dass auch sie von den Auruunen ausgelöscht worden waren, und sah sich Hilfe suchend nach Assur um. Dass er sie nicht fand, irritierte ihn. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sie seit seiner Rückkehr aus dem Sarkophag nicht mehr bemerkt hatte.

»Was ist?« Scobee bemerkte seine Verunsicherung.

»Wo ist Assur?«

»Sie wollte ins Dorf.«

»Ins Dorf? Jetzt? Warum?«

»Sie sagte, die Zeit, die du abwesend – körperlich abwesend, du verstehst schon – bist, wolle sie nutzen, um sich mit den anderen Angks zu besprechen – und nach Winoa zu sehen.«

»Besprechen?«, echote Cloud und überlegte, ob er Assur über die interne Sprechanlage kontaktieren sollte, die auch ohne Seshas Zutun arbeitete.

Scobee zuckte mit den Achseln, während Aylea krähte: »Klingt plausibel, Commander. Also kein Zeitsprung. Aber wie kann es zugehen, dass Sonnen so schnell und extrem altern, ihre Planeten und alles andere, was sich sonst noch im gleichen physikalischen Raum befindet – letztlich also auch wir –, davon unbetroffen bleibt?« Sie legte ihre Stirn in Falten.

Cloud nickte ihr zu. »Sag du es mir.«

»Ich habe keine Ahnung. Oder eine so vage jedenfalls, dass sie sich kaum als Theorie bezeichnen lässt. Wenn ich deiner Idee folge, hängt es mit der EWIGEN KETTE zusammen, den CHARDHIN-Perlen. Wenn wir davon ausgehen, dass sie tatsächlich einst unser Universum erschufen und seither über seinen Bestand und eine ›normale‹ Entwicklung wachten, dann könnten sie eventuell auch zu so selektiven Eingriffen fähig sein, wie wir sie gerade erleben.«

»Dass Sterne altern, der Rest aber nicht?«, fragte Jarvis so in sich gekehrt, als würde er zu sich selbst sprechen. »Mit Verlaub: Das klingt bescheuert.«

»Hast du eine bessere Idee?«, giftete Aylea ihn an.

Jarvis zuckte zusammen. Erst jetzt schien ihm bewusst zu werden, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte. Sein Verhalten war ungewöhnlich für ihn, weil er sonst eher extro- als introvertiert war.

»Wie meistens: nein«, übernahm es Cloud, für Jarvis zu antworten. »Oder, Großer? Komm, überrasche mich.« Als Jarvis weiterhin verhalten blieb und nicht reagierte, sagte er, an Aylea gewandt: »Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen, und das heißt in unserem Fall tatsächlich, dass wir bei all unserem Bemühen, die Auruunen-Sabotage zu beheben, vielleicht noch mehr Schaden angerichtet haben als sie – und dadurch den Kollaps des Universums, den Raiconn anstrebte, sogar noch beschleunigt haben könnten…« Er seufzte. »Aber das sind fruchtlose Spekulationen. Vielleicht wäre die Katastrophe ohne unser Eingreifen ja sogar noch schneller und umfassender in Gang geraten. Wir wissen es nicht. Uns fehlt grundlegendes Wissen, grundlegendes Verständnis der Dinge, an denen gerührt wurde. Wären die Ganf noch da, gäbe es vielleicht noch eine klitzekleine Chance, die Spirale der Vernichtung zurückzudrehen. Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Auruunen ihre Widersacher verschont haben?«

»Gering«, sagte Scobee. »Trotzdem müssen wir jede einzelne Angkwelt absuchen. Vor Seshas Ausfall wurden bereits Sonden losgeschickt, um die Verhältnisse auf den sechs noch existierenden Planeten zu eruieren. Hattest du bei deiner Verschmelzung mit dem Schiff Kontakt zu ihnen, John?«

Cloud verneinte, räumte aber ein, sich darauf auch nicht konzentriert zu haben. Prinzipiell gab er Scobee recht. Wenn überhaupt noch jemand die Reißleine hätte ziehen können, dann die Ganf.

Aber ob die noch existierten – wenigsten ein paar von ihnen – stand mehr in den Sternen als alles andere.

»Dann sollten wir«, sagte Scobee, »versuchen, manuell mit ihnen in Kontakt zu treten. Erst wenn wir Detailwissen über die Lage auf den Angkwelten erhalten, können wir mit Gewissheit beurteilen, ob nicht auch sie etwas von dem rapiden Alterungsprozess abbekommen haben, der ihre Sonne befallen hat.« Sie blickte Cloud erwartungsvoll an. »Sind wir da einer Meinung?«

Er nickte.

»Dann kümmere ich mich jetzt darum. Oder will jemand anders das übernehmen?« Sie wandte sich explizit in Jarvis’ Richtung.

Jarvis reagierte nicht. Er saß mit geschlossenen holografischen Augen in seinem Sitz, verzog keine Miene.

»Meditierst du?«, fragte Cloud.

Nicht einmal davon ließ der Freund sich aus der Reserve locken.

Cloud wurde endgültig stutzig, stand auf und trat neben Jarvis. Mit ausgestreckter Hand rüttelte er am Arm seines Mitstreiters. »Jarv! Hey! Ich hoffe, das ist kein blöder Scherz von dir…« Er merkte, dass die anderen aufmerksam wurden, und fügte hinzu: »Beziehungsweise: Ich hoffe, es ist nur ein blöder Scherz! Sag was!« Auch seine andere Hand fasste jetzt nach der Schulter des ehemaligen GenTec. »Jarv!«

»Was ist?« Scobee tauchte neben ihm auf, gefolgt von Algorian.

Cloud nickte dem Aorii-Telepathen zu. »Sei so nett und checke Jarvis. Sein Gefasel vom Sterben, nachdem wir ihn endlich wieder bei uns hatten, liegt mir im Magen. Ich hoffe nicht, dass es sich um eine böse Vorahnung handelte und er…« Den Rest des Satzes sparte er sich.

Er richtete sich auf und machte Platz für den spindeldürren Aorii, der keine zehn Sekunden brauchte, ehe er meldete: »Tot ist er nicht.«

Cloud atmete auf, aber Algorian relativierte seine Aussage bereits: »Das war die gute Nachricht. Aber es geht ihm schlecht. Er scheint uns nicht wahrzunehmen. In seinem Geist geht es drunter und drüber. Ich hatte Sorge, den Verstand zu verlieren, wenn ich noch länger darin gestöbert hätte. Er ertrinkt schier in Bildern, die sich tatsächlich um das drehen, was du sagtest, Commander.«

»Tod? Sterben?«

Algorian bejahte, während er sich den Nacken massierte. »Die dominierenden Bilder zeigen merkwürdigerweise Bractonen und…«

»Und?«

»… Gloriden«, sagte Algorian.

»Bractonen und Gloriden?«, hakte Scobee nach. »Und weiter? Was genau zeigen seine Heimsuchungen? Sind es Träume oder tatsächliche Erinnerungen? Ist er ohnmächtig, oder wie kann man seinen Zustand beschreiben? Du sagtest, er nimmt uns nicht wahr. Dann kann er nur bewusstlos sein. Aber träumt man in so einem Zustand?«

Algorian wirkte so ratlos wie sie alle. »Ich kann nur sagen, was ich espere. Und das sind Denkprozesse, die eines zu garantieren scheinen: Jarvis ist nicht tot! Aber damit hat es sich auch schon, was an Positivem zu vermelden wäre. Der Rest erinnert an einen Albtraum, den ich gezwungen war, kurze Zeit mitzuträumen.«




3.


Das Dorf ruhte verschlafen in der hellen Mittagssonne, als Assur es erreichte – zumindest hätte ein Fremder, der zufällig des Weges gekommen wäre, dies glauben können.

Aber damit fing es schon an: Tief im Bauch des Rochenraumschiffs kam so gut wie nie jemand zufällig bei den ungewöhnlichen Quartieren der Angk-Geborenen vorbei. Ungewöhnlich war die ganze Anmutung des Komplexes, für den sich die Bezeichnung »Dorf« eingeschliffen hatte. Erwartete man auf einem Raumschiff normalerweise Kabinen mit mehr oder weniger luxuriöser Ausstattung, so war es schon außergewöhnlich, dass die Unterkünfte der Angks einer pittoresken Ortschaft nachempfunden waren, die mit leichten Abänderungen so auch irgendwo auf der Erde des 20. oder 21. Jahrhunderts hätte stehen können. Jedes der alleinstehenden Häuschen verfügte über ein kleines Grundstück, und jedes beherbergte eine bis mehrere Personen, von denen einige nur miteinander befreundet waren, andere aber auch in festen Partnerschaften lebten. Es gab eine Hauptstraße, von der immer wieder auch Nebenstraßen abzweigten, und sogar einen »Dorfmittelpunkt«, für dessen Begrünung Jelto zuständig war. Die Schäden, die während einer zeitweiligen feindlichen Übernahme des Schiffes entstanden waren, hatte der Florenhüter längst wieder beseitigt, und so dufteten und blühten die unterschiedlichsten Pflanzen entlang der Wege.

Anders als während Johns erster Inspizierung des Schiffes, hielt sich keine Menschenseele »im Freien« unter der täuschend echten Kunstsonne auf. Wovon sich Assur aber nicht verunsichern ließ. Sie nahm an, dass die Angks in ihre Häuser gegangen waren, mit denen noch ein anderer Aspekt verknüpft war als der des bloßen Wohnens.

Möglicherweise haben sie es ebenso gespürt wie ich.

Assur steuerte zielstrebig ein ganz bestimmtes Haus an – ihres. Die Tür öffnete sich automatisch, als Assur nur noch wenige Schritte davon entfernt an. Ohne ihr Tempo zu verringern, marschierte sie bis ins Wohnzimmer. Erst dort blieb sie stehen – einerseits verwundert, andererseits erfreut.

»Wi! Mit… mit dir habe ich nicht gerechnet!« Sie setzte sich wieder in Bewegung und umarmte ihre Tochter, die ebenso überrascht schien. »Bist du allein?«

Bevor Winoa antworten konnte, klangen aus Winoas Schlafraum Schrittgeräusche auf, und Yael erschien im Türrahmen. Er war nur mit einem Handtuch bekleidet, das er um die Lenden geschlungen hatte. In jeder Hand hielt er ein Trinkglas, dessen Inhalt er fast verschüttete, als er offenbar ahnungslos auf Assur traf.

Yaels flügelloser Körper war immer noch gewöhnungsbedürftig für Assur – noch gewöhnungsbedürftiger aber war das, was ihre Fantasie ihr einflüsterte, als sie das junge Paar so vor sich sah. Und das, obwohl Assur die Beziehung zwischen dem Nargen und ihrer Tochter guthieß.

Trotzdem. Darauf, sie – und mich auch! - in Verlegenheit zu bringen, hätte ich verzichten können!

»Oh. Hi, Yael. Ich wollte nicht stören. Ich gehe gleich wieder.« Sie ließ ihrer Ankündigung Taten folgen und machte auf dem Absatz kehrt. Wollte es zumindest. Aber Winoa hielt sie am Arm fest. »Sei nicht kindisch.« Sie nickte Yael zu, und offenbar verstand er prompt, was sie von ihm erwartete. Rasch stellte er die Getränke auf den Tisch vor der Sitzgarnitur, murmelte »Für euch!« – und war auch schon wieder auf nackten Sohlen im Nebenraum verschwunden, wo hörbares Rascheln darauf hindeutete, dass er sich im Eiltempo von seinem mehr als lässigen Outfit verabschiedete und in das schlüpfte, was er in der Öffentlichkeit zu tragen pflegte.

»Jetzt sind wir quitt«, sagte Winoa und lenkte ihre Mutter zu der bequemen Sitzlandschaft.

»Quitt?«, stellte sich Assur begriffsstutzig, obwohl sie sofort ahnte, worauf ihre flügge gewordene Tochter anspielte.

»Du brauchst gar nicht so zu tun – ich weiß , dass du dich erinnerst.«

»Erinnere? Woran?«

»Daran, dass ich dich auch einmal in einer ›verfänglichen‹ Situation erwischte – mit John.«

Assur legte den Kopf schief, als müsse sie angestrengt überlegen. Dann seufzte sie: »Tut mir leid, beim besten Willen – ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.«

»Okay. Verzichten wir auf Details. Wir sind quitt.« Winoa griff nach den Gläsern und reichte eines davon ihrer Mum. »Darauf sollten wir anstoßen.«

Yael kehrte zurück, nicht nur vollständig angekleidet, sondern ebenfalls mit einem vollen Glas. Während er sich eng neben Winoa setzte, prostete er Assur mit geröteten Wangen zu.

Assur erwiderte die Geste und nippte an dem pfefferminzlastigen Drink. »Es freut mich, dich in so guter Verfassung zu sehen«, sagte sie und meinte es nicht die Spur anzüglich – auch wenn sie sich eingestehen musste, dass es für andere Ohren doppeldeutig hätte klingen können.

Yael schien es nicht zu bemerken. »Ja, mich auch. Das ist Winoas guter Pflege zu verdanken. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um mich, aber das weißt du ja.«

»Was führt dich zu uns?«, fragte Winoa.

Assur lächelte. »Eigentlich dachte ich, dass ich hier immer noch wohne. Aber korrigiere mich ruhig.« Sie lächelte.

»So war es nicht gemeint. Klar wohnst du hier. Mehr eigentlich als ich. Yael und ich kommen gerade aus Kalser. Ich bat ihn, mich herzubegleiten – offen gestanden weiß ich selbst nicht, was genau ich hier wollte. Es gibt keinen besonderen Grund. Vielleicht war es einfach Heimweh. Du kennst mich. Manchmal überkommt es mich.«

Assur schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Warum schüttelst du den Kopf? Natürlich kennst du mich. Ich brauche viel Nestwärme. Und ehrlich gesagt hoffte ich, dass du hier bist. Als dem nicht so war, sprang Yael unter die Dusche und wir wollten es uns gemütlich machen.« Winoa stellte ihr Glas ab und wedelte mit ihren Armen durch die Luft. »Mit anderen Worten: Ich freue mich wirklich, dich zu sehen. Erzähl, gibt es Neuigkeiten?«

Assurs Blick wechselte zwischen Winoa und Yael hin und her, ohne sich entscheiden zu können, bei wem er verharren sollte. Schließlich sagte sie: »Wo zur Hölle wart ihr die letzten Stunden? Ihr scheint überhaupt keine Ahnung zu haben, was inzwischen passiert ist!«

»Passiert?« Winoa wurde schlagartig ernst. Der Tonfall ihrer Mutter ließ nichts Gutes erahnen. »Sag schon – was ist los?«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr nichts davon mitbekommen habt…«

»Wir waren in Kalser.«

Ich dachte, John hätte gesagt, die Kalser-Sphäre sei verlassen gewesen, als er nach dem Rechten sah. Merkwürdig.

»Was habt ihr dort gemacht?«

»Warum interessiert dich das?«

Assur winkte ab. »Um zu deiner eigentlichen Frage zurückzukommen: Wir haben ein Problem. Falsch: Wir haben nicht nur ein Problem – aber um eines wollte ich mich von hier aus kümmern. Deshalb bin ich gekommen. Und wenn du schon da bist, bitte ich dich, mich zu unterstützen. Im Gegensatz zu dir glaube ich nämlich nicht, dass du in diesem Fall aus purem Heimweh hierhergekommen bist.«

»Sondern?« Winoa sah sie mit großen Augen an.

»Weil du dasselbe spürst, wie ich spüre – und womöglich jeder andere Angk an Bord auch.«

»Und was soll das sein?«

»Seshas Not. Die KI braucht unsere Hilfe – dringender denn je.«



Yaels Verlegenheit ob des unverhofften Auftauchens von Winoas Mutter rückte angesichts dessen, was sie zu berichten hatte, vollständig in den Hintergrund.

»Sesha tot?«, rief er bestürzt, als Assur auf die Befindlichkeit der KI zu sprechen kam.

»Stumm – tot wollen wir nicht hoffen. Dann hätten wir zu allen anderen Problemen noch ein weiteres sehr ernsthaftes. Allerdings wird momentan alles von unserem Hauptproblem überstrahlt…« Assur schüttelte den Kopf. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass ihr nichts davon mitbekommen habt. Gar nichts. Weshalb sollte Kalser als einziger Ort im Schiff davor geschützt haben, ebenso einen Blackout zu erleiden, wie er uns außer Gefecht setzte?«

Darauf wussten weder Yael noch Winoa eine stichhaltige Antwort, Yael spekulierte jedoch vorsichtig: »Vielleicht erzeugen die Dimensatoren ein schützendes Feld.«

»Das ganze Schiff wird von Dimensatoren ›gestützt‹«, erwiderte Assur. »Dann müssten wir alle davongekommen sein. Aber vielleicht bekommen wir die fehlenden Antworten, wenn uns gelingt, was ich vorhabe. Den anderen sagte ich, ich wolle nach dir sehen, Liebes.« Sie nickte Winoa zu. »Aber das war insofern vorgeschoben, als ich zunächst Kontakt mit den Angks des Dorfes aufnehmen wollte.«

»Ich bin auch eine Angk«, sagte Winoa. »Und ich bin froh, dass ich zur Stelle bin, wenn es hier für mich etwas zu tun gibt, das helfen kann, die Lage an Bord zu stabilisieren. Was genau hast du vor, Mum?«

Yael lauschte der Unterhaltung mit wachsendem Unbehagen, behielt seine Besorgnis aber – zunächst jedenfalls – für sich. Und so erfuhr auch er, was Assur plante. Und wofür Winoa sofort Feuer und Flamme war – ungeachtet der damit verbundenen Risiken.

»Ihr wollte in die angktypische Verbindung mit der RUBIKON treten?« Er wusste, wie das aussehen würde. Der im Angksystem geborene Teil der Besatzung, den die Ganf dazu auserwählt hatten, die Crew aufzustocken, war genetisch so präpariert worden, dass er in Krisensituationen all seine Kraft an das Schiff abgeben und es in einer Weise unterstützen konnte, die etwas Symbiontisches hatte. Als wäre die RUBIKON selbst ein Lebewesen, das unter bestimmten Bedingungen auf die Energien der Angks zugreifen und daraus Nutzen ziehen konnte.

Ungeklärt war bislang, welche Rolle Sesha bei dieser Symbiose spielte. Und genau das war es, was Yael nun doch intervenieren ließ. »Ich bin dagegen! Was ihr vorhabt, könnte schreckliche Folgen haben!«

»Wie kommst du darauf?« Winoa musterte ihn verblüfft. »Wir machen das nicht zum ersten Mal. Und Mums Idee ist gut. Unsere Art, eins mit dem Schiff zu werden, ist einzigartig. Nicht einmal der Commander kann in seinem Sarkophag eine so enge Verbindung zu allem herstellen, was die RUBIKON ausmacht.«

Yael nickte. »Daran zweifele ich nicht.«

»Sondern?«, fragte Assur deutlich ruhiger als ihre Tochter.

»Ich gehe vom schlimmsten Fall aus.«

»Und der wäre?«

»Dass Sesha aus unbekannten Gründen komplett gelöscht wurde.«

Winoa und Assur schüttelten synchron die Köpfe, um ihren Unglauben zu bekunden. Assur sagte jedoch: »Okay, gesetzt den Fall, du hättest recht – was befürchtest du für uns?«

»Das müsstet ihr besser wissen als ich. Aber ich vermute, dass die KI bei eurem Einswerden mit dem Schiff im Normalfall mitwirkt. Wenn sie außer Gefecht gesetzt ist, vielleicht sogar eliminiert, fällt dieser Einfluss nehmende Faktor weg. Und was dann passiert, sobald ihr die übliche Prozedur ausführt, kann niemand voraussehen.«

Winoas Miene verfinsterte sich, als sie zu erkennen glaubte, dass Yaels Worte Nachdenklichkeit bei ihrer Mutter hinterließen. »Das ist völliger Unsinn!«, erklärte sie, ohne dafür auch nur ein einziges Argument aufzuführen, das ihre Behauptung untermauert hätte.

Assur schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Das ist weit davon entfernt, Unsinn zu sein. Dein Freund ist ein kluger Kopf. Und ich bin mir der Risiken auch durchaus bewusst. Denn: Ja, es gibt eine Verbindung mit Sesha, während wir in die Metamorphose treten, die uns mit der RUBIKON eins werden lässt. Aber genau das ist auch unsere Chance. Und was mir am meisten Hoffnung gibt, ist dieses Gefühl, das mich immer wieder beschleicht, seit ich aus meiner Ohnmacht erwachte. Es… es kommt mir vor, als würde unablässig etwas versuchen, zu mir zu sprechen. Nicht geistig, sondern emotional. Ich musste förmlich ins Dorf kommen.« Sie sah Winoa an und nickte ihr zu. »Und wenn ich dich vorhin richtig verstanden habe, Liebes, ist es dir doch ganz ähnlich ergangen. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, ob die anderen Ähnliches empfinden. Und deshalb in ihre Häuser verschwunden sind.«

»Wollt ihr von Haus zu Haus gehen und an die Türen klopfen?«, fragte Yael enttäuscht, dass seine Bedenken nicht so fruchteten, wie er es sich erhofft hatte.

»Das wird nicht nötig sein«, versicherte Assur.

»Sondern?«

»Von jedem Quartier aus ist es möglich, mit anderen Quartieren zu interagieren.«

»Und interagieren heißt?«

»Hören wir auf zu reden«, mischte sich Winoa ein. »Wenn jemand versteht, was Dringlichkeit heißt, dann doch wohl du, Yael!« Ihre Blicke trafen sich. »Oder?«

»Ich wollte nur meine Bedenken anmelden, dass euer Vorhaben nicht so reibungslos ablaufen wird wie gewohnt. Dafür solltest du Verständnis haben – oder muss ich dich daran erinnern, wie oft du mich gewarnt hast, meine übernatürlichen Fähigkeiten anzuwenden?«, erwiderte er. »Ich mache mir Sorgen um euch. Euch beide.«

Auf Winoas Gesicht erschien ein Lächeln. »Dafür liebe ich dich ja auch.« Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn.

Sofort wurde Yaels Körper von einer Wärme durchströmt, die nur Winoa in ihm entfachte.

Nach dem Kuss wandte sich Winoa sofort ihrer Mutter zu und sagte: »Lass es uns tun. Ich weiß genau, wovon du gesprochen hast. Dieses… Gefühl – dass Sesha nicht nur Hilfe braucht, sondern sie sich von uns erhofft – es wird immer stärker. Wir müssen uns mit den anderen zusammenschließen, bevor…«

»Bevor?«, fragte Yael fast mechanisch. Er gewann mehr und mehr den Eindruck, längst nicht mehr im Fokus des Geschehens zu stehen, sondern zur Randfigur degradiert worden zu sein.

»… es für Sesha zu spät ist.«



Von einem Augenblick zum nächsten veränderte sich die Stimmung im Haus total. Niemals zuvor hatte Yael ein Gefühl wie dieses beschlichen: dass er sich plötzlich von Winoa – und auch ihrer Mum – entfernte, ohne dass sich an ihrer Sitzverteilung und realen Distanz zueinander etwas änderte. Er saß nach wie vor neben seiner Freundin und so nah gegenüber Assur, dass er ihre Augenfarbe erkennen konnte. Sie selbst – beide! – schienen von der atmosphärischen Veränderung auch nichts zu bemerken…

oder wollte sie nur nicht, dass er davon Wind bekam, vorzeitig?

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924640
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon zeitalter
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Titel: Raumschiff Rubikon 38 Das letzte Zeitalter