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Raumschiff Rubikon 34 Alte Erde, neue Erde

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Raumschiff Rubikon 34 Alte Erde, neue Erde

Manfred Weinland


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.


Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …



Copyright


Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de














































Prolog

Vergangenheit I



Während die Ringarmada Eleyson entgegenjagte, drehten sich längst nicht alle Gedanken von Croxgk um den bevorstehenden Rachefeldzug. Ein Grund für diese Nachlässigkeit war sicherlich, dass er keinen ernsthaften Widerstand erwartete. Schon ein einziges Ringschiff stellte ganze gegnerische Flotten der Niederen vor schier unlösbare Aufgaben. Was sollten sie da gegen die zehntausendfache Zahl ausrichten?

Nein, eine spezielle Taktik brauchte er sich nicht zurechtzulegen. Es genügte, wenn er sich die Umstände seines Todes in Erinnerung rief, um eine ausreichende Motivation zu haben, ein ganzes Volk dafür büßen zu lassen; noch dazu ein Volk, von dem die Auruunen angenommen hatten, dass es schon vor Äonen – bald nach ihrer Ankunft hier – ausgestorben war. Wie so viele andere der Alten Zivilisationen dieses Sektors, so hatte man geglaubt, waren auch die Abrogaren nicht in der Lage gewesen, der erdrückenden Präsenz der Auruunen standzuhalten.

Nein, um die Abrogaren machte sich Croxgk keine Sorgen. Er würde ihnen seine Vernichtung heimzahlen. Raiconn hatte ihm diese Möglichkeit zum Geschenk gemacht, nachdem Vrongk es gewesen war, der die »Sicherheitskopie« von Croxgk Bewusstsein nach Scharan gebracht hatte.

Vrongk!

Um ihn kreisten sämtliche Überlegungen von Croxgk, die sich nicht mit dem Feldzug beschäftigten.

In der fernen Galaxie, in der nach Äonen der Suche jene hatten gestellt werden können, die den Einsatz der Auruunen herausgefordert hatten, war Croxgk maßgeblich am Erfolg beteiligt gewesen. Er hatte die Flotte angeführt, die schließlich das Rückzugssystem der Ganf überrannte und besetzte. Und schon vorher hatte er die strukturellen Voraussetzungen für diesen Sieg geschaffen, indem er fähige Hilfsvölker rekrutierte und strategisch wichtige Basen eroberte – den gigantischen Wasserwürfel einer seltsamen Zivilisation etwa oder den in einer Hohlkugel versteckten Planeten, in dem die absurdesten Bedingungen herrschten, die er je bei organischen Lebensformen vorgefunden hatte.

Dort auf der Außenfläche jener Hohlwelt hatte er ein Projekt initiiert, das selbst für Auruunen nicht alltäglich war und eine Herausforderung bedeutete: Die Oberfläche der Kugel, die nach außen wie ein öder, atmosphäreloser Riesenplanet ausgesehen hatte, war binnen kürzester Zeit umgeformt und bewohnbar gemacht worden. Von dort aus hatte Croxgk in die entscheidende Phase gegen die Ganf gehen wollen. Denn besiegt hieß in ihrem Fall immer noch nicht, dass die Auruunen auch erreicht hatten, was es um jeden Preis zu erreichen galt. Der allerletzte Schritt, der alles entscheidende Triumph, stand noch aus. Ihn zu meistern, hätte Croxgk vorbehalten sein sollen. Das war seine feste Überzeugung.

Doch das Schicksal hatte es anders gewollt. Das Schicksal hatte gewollt, dass er sich dazu verleiten ließ, einen Nebenkriegsschauplatz zu eröffnen, der – wie sich im Nachhinein herausstellte – mit den Abrogaren zusammenhing.

Als er blindwütig mit seinem Flaggschiff durch das Weltennetz gegangen war, um zu einer auffällig gewordenen, bis dahin unbekannten Gegenstation zu gelangen, war er über einem Planeten materialisiert, in dessen Atmosphäre zahllose Avatare dahintrieben, die offenbar im Stile des Weltennetzes funktionierten, aber nicht von Auruunen erschaffen worden waren.

Sondern von Abrogaren. Von unwertem Spinnengezücht!

Der Name des Volkes, das das Auruunen-Weltennetz widerrechtlich angezapft hatte, war ihm damals noch nicht bekannt gewesen. Erfahren hatte er ihn erst nach seiner Reinkarnation. Raiconn hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Informationen aus erster Hand zu den damaligen Vorkommnissen besessen, weil ihm Angehörige des Abrogarenvolks in die Hände gefallen waren und er ihre Gehirne bis auf die letzte nützliche Information ausgepresst hatte.

Einer der Abrogaren war Augenzeuge der Ereignisse gewesen, die zu Croxgk Tod und der Vernichtung seines Flaggschiffs geführt hatten. Und von diesem Augenzeugen stammten die Koordinaten, zu denen die CROXGK – das neue Flaggschiff des Auruunen – nun unterwegs war. Sie und Tausende baugleiche Ringe, von denen jeder einzelne in der Lage gewesen wäre, Welten zu verbrennen.

Aber das war das Ziel: ein Exempel zu statuieren. Wie eine Urgewalt über eine Spezies zu kommen, die geglaubt hatte, einen Partisanenkampf gegen jemanden führen zu können, dessen Beweggründe sie weder kannten noch verstanden hätten.

Die Abrogaren hatten ihr Recht auf Existenz verwirkt, auch wenn es keine wirkliche Notwendigkeit gab, sie zu vernichten. Denn früher oder später wären sie ohnehin…

Croxgk gestattete sich nicht, diesen Gedanken weiterzuverfolgen.

Er war ein Auruune. Ein stolzer Auruune. Und seinen Tod nahm er den Abrogaren übel. Er würde die Ausrottung dieser Spezies als Referenz nehmen, um bei Raiconn durchzusetzen, dass er – er und kein anderer, schon gar nicht Vrongk! – wieder in die Milchstraße zurückgeschickt wurde, um sein altes Amt wieder einzunehmen.

Vrongk, der Emporkömmling, würde wieder ins zweite Glied rücken oder…

Offiziell gab es keinen Hierarchiestreit unter Auruunen. Aber die Jagd nach den Ganf hatte sie verändert. Nicht nur Croxgk, alle Auruunen hatten sich nach und nach vom Ideal ihres Urbildes entfernt. Und es war nicht abzusehen, wo diese Entwicklung enden würde.

Die Armada näherte sich Eleyson mit aberwitziger Geschwindigkeit. Es bedurfte nicht des Weltennetzes, um eine so geringe Distanz zu überbrücken. Die Antriebe der Ringe waren für ganz andere Herausforderungen gemacht.

Schon bald erreichte die Flotte die Koordinaten, die der Abrogare Scutor während seiner hochnotpeinlichen Befragung preisgegeben hatte.

Die Dunkelwolke war schwarz wie in der Kälte geronnener Rauch.

»Echo in Richtortung!«, meldete ein Auruune an den Konsolen.

Richtortung bedeutete, dass die Sensoren der CROXGK die ungefähre Position dessen kannten, was sie ausfindig machen sollten.

In dem Fall eine Station am Rand der Wolke, von denen es laut Scutor etliche geben sollte. Sie alle überwachten Zugänge ins Innere der gewaltigen Ansammlung kosmischen Staubs und sollten bei einer Annäherung feindlicher – also auruunischer – Einheiten Alarm schlagen und ein Minenfeld aktivieren, das den Gang sprengen sollte, durch den bis dahin ein Vordringen ins Wolkeninnere möglich war.

Durch die Verwirbelungen infolge der Explosionen sollte dieser Gang »verschüttet« und unpassierbar gemacht werden.

Eine putzige Vorstellung, wie Croxgk fand.

Er machte sich einen Spaß daraus, genau diese Reaktion zu provozieren, indem er einen einzelnen Auruunenring ohne jedes Tarnfeld auf die Abrogarenfestung zufliegen ließ.

Nach Unterschreitung einer bestimmten Entfernung eröffnete die Festung das Feuer auf den Ring.

Mehr als Nadelstiche kamen dabei nicht heraus. Der Ring hielt unbeeindruckt weiter auf den »gesicherten« Tunnel zu.

Wenig später orteten die Instrumente der CROXGK eine Serie von Detonationen von respektabler Stärke, die aber die von den Abrogaren erhoffte Wirkung missen ließen.

Amateure , dachte Croxgk und erteilte dem Provokateur den Befehl, das Feuer der Festung zu erwidern.

Worauf die Festung verstummte.

Und verglühte.

Croxgk orderte die Vorauseinheit zurück, und geschlossen drangen sie in die Dunkelwolke ein. Eine staubfreie Passage benötigten sie nicht. Die Auruunenringe bohrten sich in das Dunkel wie ein Lichtstrahl in finstere Nacht.

Croxgk hoffte, dass die Festung noch Gelegenheit gefunden hatte, einen Alarm auszulösen. Er hoffte auf möglichst große Gegenwehr.

Die Rache ist mein , dachte er.



Zur gleichen Zeit, im Abrogarenreich

Emmeriz erfuhr von der Zerstörung des Raumforts, das einen der Kanäle ins Innere des Verstecks sichern sollte, während er sich Aufzeichnungen von Phaeno ansah; Phaeno vor der Zerstörung, die der letzte Ausweg gewesen war, um Schlimmeres zu verhindern.

Aber was konnte schlimmer sein, als Träume zu begraben? Eine Vision in den Wind schießen zu müssen, auf die Emmeriz gesetzt hatte, um die Zukunft seines Volkes zu sichern, selbst für einen Fall wie…

er jetzt einzutreten schien!

Ausgerechnet jetzt!

HOCHALARM.

Aus allen Richtungen des Reichs kamen schon erste Nachfragen, während Emmeriz sich selbst erst ins Bild über die Geschehnisse setzen musste. Offenbar steckte hinter der Vernichtung des Vorpostens ein Auruunen-Geschwader unbekannter Stärke. Zwar hatten die Minen gezündet werden können, doch ob sich der Feind dadurch aufhalten lassen würde, war fraglich.

Hochalarm hatte es während Emmeriz’ Amtszeit nur einmal gegeben – als das Auruunenschiff über Phaeno materialisiert war.

Hochalarm bedeutete in letzter Konsequenz, dass Emmeriz Schritte einleiten musste, die im Extremfall – sollten die Auruunen nicht nur den äußeren Rand des Dunkelwolkenverstecks attackieren, sondern tatsächlich auch ins Innere vordringen – keinen Sieger kennen würden.

Er prüfte die Lage. Von außerhalb kam eine neue Meldung, die Emmeriz‹ Entsetzen in einer Weise schürte, dass er eine Weile wie paralysiert war. Ein Wachtfort, das Lichtjahre von der Position des vernichteten entfernt lag, wollte Tausende von Ringschiffen geortet haben, die kurz nach der Zerstörung des Außenpostens in breiter Front in die Dunkelwolke eingeflogen waren.

In breiter Front? Die passierbaren Kanäle ignorierend?

Insgeheim hatte er immer gefürchtet, dass die Technologie der Auruunen der abrogarischen so weit überlegen war, dass der Feind sich seinen Weg durch den Staubmantel bahnen würde, wann und wo immer er wollte. Voraussetzung dafür würde allein sein, dass der Feind wusste, was sich in der Wolke verbarg und dass es wert war, dieses Verborgene heimzusuchen.

Scutor!

Er wusste nicht, warum, aber sein erster Gedanke, als er nach einer Erklärung suchte, wie die Auruunen das Versteck hatten finden können, galt dem Kommandanten der FADEN DER VORSEHUNG, die zusammen mit dem Menschenschiff RUBIKON aufgebrochen war, um die Situation in diesem Sektor des Universums näher zu erforschen.

Dabei muss er den Auruunen in die Hände gefallen sein. Und es versäumt haben, die Notschaltung auszulösen, die nichts übrig gelassen hätte, woraus der Feind unsere Position hätte ermitteln können.

Emmeriz merkte, wie ihn nach anfänglicher Hektik eisige Ruhe überkam.

Er setzte die Kontaktstellen auf sämtlichen Welten des Reichs über die Vorgänge in Kenntnis. Und noch während er dies tat, meldete sich DIE KOMMISSION – der zentrale Rechner des GESPINSTs. DIE KOMMISSION wies ihn darauf hin, dass es einen Notfallplan gab, den er zu befolgen habe und dessen einzelne Schritte unverzüglich eingeleitet werden mussten.

Noch während Emmeriz sich damit auseinandersetzte, meldeten die Ortungsinstrumente mehrerer Raumschiffe und planetarer Anlagen übereinstimmend, zahllose Ringschiffe seien im Begriff, die Kaverne zu überschwemmen. Den Hohlraum, über den die Sonnen und Planeten der Abrogaren verteilt waren, umgeben von einem lichtjahrdicken Mantel aus Staub und Gasen.

Indes erfuhr Emmeriz staunend, was seine Vorfahren für den Ernstfall an Präventivmaßnahmen vorgesehen hatten – nur leider in der irrigen Annahme, es bliebe noch Zeit, sie in die Tat umzusetzen.

Das war nicht der Fall.

Der erste Auruunenring tauchte über Corax auf, als Emmeriz gerade einmal damit fertig war, die Vorkehrungen seiner Ahnen geistig zu erfassen. Im nächsten Moment erschütterte bereits ein Volltreffer die südliche Hemisphäre des Planeten und damit das GESPINST. Weitere folgten.

Emmeriz befand sich unter den ersten Opfern und erlebte nicht mehr mit, wie die Sonnen des Reichs von Auruunenringen aufgeheizt und zum Ausbrennen gebracht wurden. Wie alles, was den Abrogaren lieb und teuer war, ein Opfer unvorstellbarer Glut wurde, sie selbst eingeschlossen…



»Das war leicht. Fast schon zu leicht«, sagte Croxgk, während er sein Flaggschiff durch ein Schlachtfeld lenkte, das keine Überlebenden kannte. Das Wabern der ausbrennenden Sterne, auf deren Planeten die Abrogaren über Jahrhunderttausende ihren Lebensraum konsolidiert hatten, erhellte das Innere des Staubkokons, der den Spinnenartigen zum Grab geworden war.

Nein, zum Krematorium , dachte Croxgk schadenfroh und bar jeglichen Mitleids.

Nun, da er seine Rache hatte, merkte er, dass sie fad schmeckte. Der erhoffte Widerstand hatte sich auf ein paar wenige Salven abrogarischer Schiffe und Festungen beschränkt. Zu wenig, um die Ringarmada auch nur ansatzweise in Bedrängnis zu bringen.

Nachdem Croxgk sich ein Bild vom Ausmaß der Zerstörung gemacht hatte, gab er den Rückzugsbefehl. So schnell und unbehelligt, wie sie in Eleyson eingebrochen waren, verließen sie die Galaxie auch wieder und kehrten nach Scharan zurück.

Im ZENTRALEN ELEMENT wurde Croxgk von Raiconn beglückwünscht, der ihm zugleich eine Belohnung für den reibungslos verlaufenen Feldzug in Aussicht stellte.

»Du erinnerst dich, worüber wir bei unserer letzten Begegnung sprachen?«

»An jedes Wort.«

»Gut. Dann nimm zur Kenntnis, dass ich einverstanden bin. Dein Wunsch, den du mit ähnlicher Vehemenz vorgetragen hast wie den, persönlich gegen die Abrogaren ins Feld ziehen zu dürfen, sei dir gewährt.«

»Wirst du es ihm sagen oder soll ich…?«

»Es ist bereits geschehen. Das Feld ist bestellt. Doch um auch die Ernte einbringen zu können, bedarf es noch eines allerletzten Schrittes…«


1.



In jenen Tagen schien selbst das Licht Trauer zu tragen.

Reuben Cronenberg, Lordkanzler von Auruunen Gnaden, flog mit seinem Vakanzgleiter – einem persönlichen Geschenk derer, in deren Dienste er getreten war – über die Wipfel des Psiwaldes hinweg.

Es war die graue Dämmerstunde früherer Zeitalter, die längst keinen Bestand mehr hatte, seit allgegenwärtiges Zwielicht die lebensnotwendige Präsenz jener Kraft sichtbar machte, ohne die kein Leben auf Erden – oder dem restlichen Raum der Hohlwelt – mehr möglich wäre. Nicht unter den gegebenen Umständen jedenfalls. Besagte Kraft wurde von praktisch jedem einzelnen Menschen der neuen Gattung Homo sapiens posteritas abgesondert, ausgeschieden… wie immer man es nennen wollte. Die Bewohner der Hohlwelt, selbst Cronenberg, wenngleich er nur in geringem Maße, fungierten wie lebende Batterien, die darauf geeicht waren, die Wirkung ihrer Energie – Psi! – auf eine bestimmte Reichweite zu beschränken.

Unter den aktuell lebenden Menschen gab es Psi-Emitter unterschiedlichster Ausprägung. Die leistungsstärksten waren in Kadern zusammengefasst, die in Emitter-Stätten rund um den Globus und auf Luna lebten. Dort bestand ihr hauptsächlicher Lebenszweck darin, die eigene Kraft und die der minderbegabten Bevölkerung zu einem homogenen Ganzen zusammenzuweben, das die Bedingungen für ein Leben und Überleben ohne natürliches Sonnenlicht und Sonnenwärme schuf.

Seit Langem schon war der Erde-Mond-Komplex abgeschottet von dem Gestirn, das über Jahrmilliarden dafür zuständig gewesen war, dass auf dem dritten Planeten seines Systems überhaupt hatte Leben entstehen und sich entfalten können.

Cronenberg selbst hatte die Abschottung dereinst initiiert. Aber seine Einstellung dazu hatte sich geändert. Spätestens, seit Vrongk ihm offenbart hatte, wie er, der Auruune, die Zukunft der Hohlwelt beurteilte.

Er sieht keine Zukunft für das hier… Cronenberg ließ seinen Blick verbittert über die endlos scheinende bewaldete Fläche schweifen, die in ihren Ausmaßen dem früheren Amazonas-Regenwald entsprach.

Den er, Cronenberg, noch mit eigenen Augen gesehen hatte.

So alt bin ich schon. So alt.

Manchmal bildete er sich ein, dass seine Haut knisterte, wenn er sich bewegte. Wie eine vertrocknete Mumie, die bewegt wurde . Es war verrückt und entsprach in keiner Weise den Tatsachen. Aber er konnte es nicht abstellen. Seine Fantasie spielte ihm immer wieder diesen Streich. Als wollte sie ihn daran erinnern, wie unnatürlich, ja absurd sein Dasein nach so langer Zeit war. Kein Mensch hatte je so viele Jahre durchlebt. Bei wachem Verstand und ohne Kunstkniffe wie Kryoschlaf oder Hightechstase.

Ich bin ein Unikat. Ein Fossil. Aber sie bauen auf meine Erfahrung. Meinen Wissensschatz, den ich über Jahrzehntausende angehäuft habe. Sonst hätten sie mir nicht das hier geschenkt.

Er blickte an sich herab und meinte nicht den Vakanzgleiter, dessen Kristallstruktur sich des Psilichts bediente und als Antriebskraft nutzte. Der Gleiter funktionierte nur innerhalb der Hohlwelt, zum Erreichen der Oort-Erde über einen der Verbindungskamine hätte Cronenberg das Gefährt wechseln müssen.

Aber dorthin drängte ihn momentan nichts. Seit Vrongks Hiobsbotschaft gab es für ihn keine höhere Priorität, als nach Wegen zu suchen, den Untergang des Erde-Mond-Verbunds zu verhindern.

Alle Überlegungen mündeten dabei stets in ein und dieselbe Lösung, zu der es keine Alternative zu geben schien, die aber zugleich auch unrealisierbar erschien. Diese »Lösung« lautete: Töte, was dich töten will – und sei verdammt noch mal schneller als es!

Das Problem dabei war, dass es um die Auruunen ging, die keine Schwachstelle zu haben schienen.

Auf den ersten Blick zumindest nicht.

Seit dem ersten Kontakt hatten sie nie auch nur den geringsten Zweifel an ihrer Stärke und der kompromisslosen Durchsetzung ihrer Ziele gelassen.

Und dennoch sind sie eben nicht unbezwingbar. Das hat Croxgks Ende bewiesen.

Croxgk war der Vorgänger von Vrongk gewesen und damit der erste Auruune, mit dem Cronenberg es persönlich zu tun bekommen hatte. Zugleich auch jener Auruune, der ihm ein weit wertvolleres Geschenk gemacht hatte als diesen Gleiter, mit dem er einen – wie er es nannte – »Meditationsflug« absolvierte. Auf Croxgks Geheiß hin hatten die fähigsten Mediziner der Auruunen Cronenberg von der Gewebemasse des Residenz-Gigahirns befreit, mit der er über die Jahrtausende verwachsen und verschmolzen war und die es ihm überhaupt erst ermöglicht hatte, eine so lange Zeit zu überdauern.

Croxgk hatte ihm seinen menschlichen Körper und die damit verbundene Mobilität zurückgegeben, mehr noch: diesen Körper optimieren lassen. Es gab zahlreiche Gimmicks, mit denen er sich bis zu einem gewissen Grad in die Informationsströme der Auruunen einloggen konnte, jederzeit und überall. Gleichzeitig hatte er diese Gimmicks aber auch im Verdacht, dass sie den Auruunen – oder ganz konkret Vrongk – permanent Informationen über ihn lieferten. Ob die vermutete Spionage so weit ging, dass seine geheimsten Gedanken ausgelesen wurden, vermochte Cronenberg nicht zu beantworten. Falls dem so war, stand er fraglos auf der Schwarzen Liste der Auruunen. Spätestens seit Vrongks Eröffnung, die Hohlwelt »aufgeben« zu wollen und das Leben auf die Außenschale der neuen Oort-Erde zu verlagern.

Wobei nicht alles Leben gemeint war. Vrongk hatte erklärt, nur jene Menschen auf der Oort-Erde zu dulden, die ihm und seinem Volk Nutzen brachten, vorrangig demnach die Fraktalen, von denen sich der Oberste Auruune eine Schlagkraft für seine Flotte erhoffte, die alles bisher da Gewesene in den Schatten stellte.

Er will tatsächlich das alles hier… Cronenbergs Blick sog die Schönheit des Psi-Waldes in sich ein. … dem Untergang preisgeben. Dieser kleine Bastard!

Wut war im Normalfall kein guter Berater. In diesem speziellen aber sah Cronenberg das anders. Er zog Kraft und Entschlossenheit aus dem Zorn, den Vrongks Ankündigung in ihm entfacht hatte und der seither auch nicht mehr erloschen war. Im Gegenteil: Von Tag zu Tag brannte er heißer und nötigte Cronenberg förmlich, sich Gedanken zu machen, wie der Super-GAU verhindert werden konnte.

Immer wieder verhakten sich seine Überlegungen dabei in den Fraktalen. Die wollte Vrongk um jeden Preis.

Was also lag näher, als sie ihm zu geben?

Wenn auch in etwas… anderer Form als von ihm erwartet?



Tage später

Über das Implantat erreichte Cronenberg die Aufforderung, sich zur Oberfläche zu begeben. Dorthin, wo eine neue Welt entstanden war, die die alte in vielem jetzt schon ausstach. Zumindest mochte ein Betrachter so urteilen, der keinerlei persönliche Bezüge zur Urerde hatte.

Cronenberg hatte bis zu dem Tag, da er die neue Erde kurz vor ihrer Fertigstellung sah – als ihre künstlich geformten ozeanischen Becken bereits mit den Wassern des Aquakubus gefüllt worden waren, um endgültig den Anschein eines lebensbejahenden Planeten zu erwecken –, nicht von sich gewusst, dass er zu Sentimentalitäten fähig war. Doch der Anblick der von Auruunen bis ins Detail geplanten und gestalteten Welt auf der Außenfläche der Oortschale hatte ihn eines Besseren belehrt. Trotz ihrer gewaltigen Größe lag die Schwerkraft nur minimal über einem Gravo, was den Technoparks zu verdanken war, die sich über den »Planeten« verteilten. Diese Technoparks erzeugten nicht nur ein Idealmaß an Schwerkraft, sondern auch ein optimales Atmosphärengemisch und sogar, wie Cronenberg jüngst erst erfahren hatte, ein Magnetfeld, das schädliche Weltraumstrahlung abfing.

Als Vrongk ihm Letzteres eröffnet hatte, war sofort der Gedanke da gewesen, dass die entsprechenden Generatoren im Ernstfall wahrscheinlich noch sehr viel mehr zu leisten imstande waren; wahrscheinlich konnten sie einen regelrechten Schutzschirm um die Oort-Erde legen, der selbst dem Beschuss modernster Waffen standhielt.

Darauf angesprochen hatte Vrongk dies nicht bestätigen wollen.

Aber er hat auch nicht dementiert , dachte Cronenberg, während das Shuttle durch einen der Kamine fegte, die Hohlwelt und Oort-Erde miteinander verbanden.

Wenig später erreichte er das Gebäude, in dem Vrongk auf ihn wartete. Gleich bei Betreten des Empfangsraumes hatte Cronenberg ein so eigenartiges Gefühl, dass er fast damit rechnete, aufgeflogen zu sein. Aber Vrongks düstere Ausstrahlung schien andere Gründe zu haben – oder er wollte Cronenberg noch in Sicherheit wiegen –, denn er begrüßte ihn mit warmen Worten.

»Ich bin überaus zufrieden, wie du meine Wünsche umsetzt.«

Cronenberg schwieg abwartend.

»Ich spreche von den Fraktalen«, sagte der Auruune. »Die ersten Hundertschaften verlassen bereits deine Kaderschmieden. Damit lässt sich arbeiten. Das ist umso löblicher, als du bislang gar nicht weißt, wozu wir sie brauchen. Wobei Extremkrieger natürlich immer und überall ihre Einsatzmöglichkeiten fänden.«

»Ich bin sicher, Ihr habt ein klares Einsatzziel vor Augen«, sagte Cronenberg.

»So ist es. Und willst du gar nicht wissen, welches?«

»Wenn Ihr mich für würdig erachtet, es zu erfahren…«

Vrongk trat auf ihn zu. »Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass dein Verhalten manchmal so devot ist, dass man sich fragt, wie ernst du es meinst?«

Cronenberg zuckte innerlich zusammen. »Nein«, sagte er. »Noch niemand.«

»Dann sage ich es dir jetzt. Ich vertraue dir. Das war nicht von Anfang an so, wie du dich erinnern magst. Zu Beginn wusste ich wahrlich nicht, warum Croxgk ausgerechnet dich als Statthalter erwählt hat. Ich hätte jemanden genommen, der nicht schon so viel auf dem Buckel hat wie du. Und der nicht erst aufwendig hätte präpariert werden müssen, um von der riesigen Geschwulst befreit zu werden, die ihn an seinen Turm fesselte. Einen jungen Hungrigen. Aber du hast Leistung für sich sprechen lassen. Inzwischen könnte ich mir keinen besseren Kooperationspartner vorstellen.« Er trat noch näher. »Macht dich das glücklich?«

Cronenberg stellte einmal mehr seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis. »Ich versuche lediglich, einen Teil dessen zurückzugeben, was ich erhalten habe. Ihr wisst, wovon ich spreche. Schon meine wiedererlangte körperliche Unversehrtheit ist etwas, von dem ich weiß, dass ich eine Gegenleistung zu erbringen habe. Anfangs dachte ich, es sei ein Geschenk. Aber das ist falsch.«

»Falsch?«

Er hatte Vrongks Interesse geweckt.

»Wenn es deiner Meinung nach kein Geschenk ist – was dann?«

»Ein Vorschuss. Lohn für Leistung. Leistung, die ich noch lange nicht in dem Maße erbracht habe, wie es aufwiegen könnte, was Ihr für mich getan habt. Wenn dieses Bewusstsein Euch wie Devotion erscheint, kann ich es nicht ändern. Denn ich werde Euch immer verpflichtet sein.«

Wie leicht die Lügen von seinen Lippen kamen. Er war zufrieden. Aber das zählte nicht. Vrongk musste ihm auf den Leim gehen.

Nach einer Weile sagte der Auruune: »Ich bin beeindruckt. Aber jetzt komm. Ich habe dich nicht gerufen, um Komplimente auszutauschen.«

Sondern?, lag es Cronenberg auf der Zunge. Lass endlich die Katze aus dem Sack.

Und dann schaffte es Vrongk ihn in einer Weise zu verblüffen, wie er es nie erwartet hätte. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit.

»Ich habe dich gerufen, um mich persönlich von dir zu verabschieden. In Kürze werde ich abgelöst. Ein anderer wird meine Stellung übernehmen. Ich wollte nicht, dass du vor vollendete Tatsachen gestellt wirst. Und soweit ich es vorherzusagen vermag, wird sich an deinen Befehlen auch nichts ändern. Das Ende der Hohlwelt ist beschlossen und von einem Gremium abgesegnet, dem nicht nur ich unterstehe, sondern auch der, der mir folgen wird. Er ist dir im Übrigen kein Unbekannter.«

Cronenberg konnte den Auruunen nur anstarren. In seinem Kopf tobte das Chaos.

»Croxgk. Die Rede ist von ihm. Croxgk wird zurückkehren und seinen Platz wieder einnehmen. So wurde es auf höchster Ebene entschieden.«



»Ich fürchte, ich verstehe nicht. Croxgk? Ihr selbst sagtet mir, Croxgk sei tot…«

»Das war er auch. Das war er.« Vrongk gab Cronenberg zu verstehen, dass er ihm folgen solle. Er wandte sich um und nahm in einem nur schemenhaft sichtbaren A-Grav-Sessel Platz. Er wies Cronenberg an, sich in einen zweiten zu setzen, sodass sie sich gegenübersaßen.

»Du weißt«, sagte er, »dass dein Körper, wie er sich jetzt präsentiert, auf eine Initiative meines Vorgängers zurückgeht. Es war sein Vorschuss an dich, wenn man so will. Nun, da klar ist, dass ich abdanken muss, habe ich entschieden, dir ebenfalls eine Belohnung zukommen zu lassen, von der ich allerdings nicht weiß, welche Folgen sie nach Croxgks Rückkehr für dich haben wird.«

»Wie meint Ihr das, Herr?« Die Verwirrung hielt Cronenberg fest im Griff.

»Ich habe entschieden, dir Einblicke in größere Zusammenhänge zu gewähren. Einblicke, die einem deiner Stufe eigentlich nicht zustehen. Croxgk könnte das missfallen, sobald er es erfährt.«

Ein Anflug von Verwegenheit ließ Cronenberg fragen: »Muss er es denn erfahren?«

Ihm war, als würde Vrongk lächeln, obwohl dessen Physiognomie das nicht hergab. »Du wirst mutig. Aber es gibt auch den Übermut. Du musst stets genau abwägen, ob du die Grenze nicht schon überschreitest…«

»Es –«

»Ich will nicht hören, dass es dir leidtut! Wenn du wüsstest, wie leid mir manches tut. Aber das bleibt in mir verschlossen.«

»Ja, Herr.«

»Fangen wir bei Croxgk an, von dem du zu Recht dachtest, er sei unlängst umgekommen. Während eines Einsatzes wurde sein Raumschiff vernichtet. Kein Besatzungsmitglied überlebte und so auch nicht Croxgk.«

Vrongk war sich des Widerspruchs in sich völlig bewusst, mehr noch, er spielte damit. Schien Cronenberg auf die Folter spannen zu wollen.

»Aber Auruunen sterben nicht wie niedere Wesen«, fuhr Vrongk fort.

Wie ich, meint er wohl. Denn das bin ich für ihn nach wie vor, er hat nie einen Zweifel daran gelassen: ein niederes Wesen.

»Sondern?«

»Sie können jederzeit neu anfangen – auch wenn das von gewissen Bedingungen abhängt. Die Entscheidung darüber obliegt dem GREMIUM.«

»Verzeihung, Herr, reden wir tatsächlich von Auferstehung? Auferstehung vom Tode?«

»Du verbindest es mit Religion, aber das ist falsch.«

»Was wäre dann… richtig?«

»Die genauen Hintergründe werde ich dir nicht offenbaren. Aber das ist auch nicht nötig. Warte, ich zeige dir etwas…«

Cronenberg rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her, was nichts mit mangelnder Bequemlichkeit zu tun hatte. Halb erwartete er, Vrongk würde ihm ein Bild seines Vorgängers zeigen, Croxgk, was Cronenberg als wenig sinnvoll erachtet hätte, weil für ihn noch immer ein Auruune wie der andere aussah. Unterscheiden konnte er sie lediglich an ihrem Gehabe. Wenn er zu Vrongk bestellt wurde, präsentierte sich ihm auch Vrongk. Hätten die Auruunen es gewollt, hätten sie ihn jederzeit täuschen können.

Aber warum sollten sie?

Zwischen Cronenberg und Vrongk manifestierte sich ein Hologramm. Es zeigte eine sattgrüne Landschaft, aus der ein funkelnder Bau aufragte.

»Du weißt, wo das ist?«

»Hier? Auf der Oort-Erde?«

»So ist es. Und das Bauwerk? Hast du so etwas schon einmal gesehen?«

Wie eine Häufung von riesigen glitzernden Stalagmiten ragte das gleißende Bauwerk auf. Seine Oberfläche wirkte wie aus unzähligen Glasfacetten zusammengesetzt, die das Sonnenlicht reflektierten.

»Nein. Was ist das?«

»Wir nennen es KRISTALLARIUM.«

»Was ist ein KRISTALLARIUM?«

»Eine Auffang- und Verwahrstation.«

»Ein Gefängnis

»Nein. Ich habe mich missverständlich ausgedrückt, wenn auch nicht falsch. Wir waren bei Croxgk und dass Auruunen nicht wie niedere Wesen sterben. Sie sterben – mitunter kommt es zu Umständen, die das nicht verhindern lassen. Aber in allen Galaxien, in allen Sektoren, wo wir tätig sind, errichten wir als eine unserer ersten Maßnahmen KRISTALLARIEN. Ihre Oberfläche wirkt wie ein Magnet. Nur dass er kein Metall anzieht, sondern…«

»Sondern?«

»Informationen. Im weitesten Sinn Informationen.«

Cronenberg verstand immer noch nicht, was das mit Croxgk und seiner »Auferstehung« zu tun haben sollte.

»Ich spreche natürlich von ganz speziellen Informationen. Impulse, die von den Gehirnen aller Lebewesen abgestrahlt werden, die über ein Bewusstsein verfügen. Nun gibt es Möglichkeiten, diese Bewusstseine mit einer bestimmten Technologie zu erfassen und permanent anzuzapfen. Das geschieht in den KRISTALLARIEN, die jedoch auf eine einzige Bewusstseinsart einjustiert sind.«

»Auruunen«, sagte Cronenberg.

»Auruune, richtig. Während wir uns hier unterhalten, wird, ohne dass ich das merke, ein permanentes Back-up meines Bewusstseins erstellt und im hiesigen KRISTALLARIUM…«, er zeigte auf das Bauwerk, »… abgelegt. Das Gleiche geschieht mit allen Auruunen im Erfassungsbereich des Archivs.«

»Was genau heißt das? Nehmen wir an, Ihr sterbt – was der Himmel verhüten möge! Aber nehmen wir es an. Euer Körper wird so schwer geschädigt, dass das Leben aus ihm weicht und eure Seele – so nennen wir das Informationspaket, von dem Ihr nüchtern sprecht – erlischt. Was dann? Dann gibt es ein… ein Back-up im KRISTALLARIUM… so weit, so gut. Aber hilft Euch das?«

»Wenn das GREMIUM befindet, dass ich noch von Nutzen sein kann – ja.«

»Inwiefern?«

»So, wie es jüngst mit Croxgk geschah. Ich weilte eine Weile fern der Erde, weil ich ins ZENTRUM abberufen wurde.«

»Was ist das ZENTRUM?«

Vrongk erweckte nicht den Eindruck, als wollte er das näher spezifizieren.

»Bevor ich fortging, besuchte ich das KRISTALLARIUM. Dort erhielt ich einen Kristall mit Croxgks… nun, um bei deiner Sprechweise zu bleiben… mit Croxgks Seelen-Back-up.«

»Und das brachtet Ihr ins…«

»Ins ZENTRUM, ja.«

»Wo liegt dieses ZENTRUM? Ich nehme an, es ist eure Heimatwelt.«

Vrongk stieß ein seltsames Geräusch aus. Cronenberg nahm nicht an, dass es die Bejahung seiner Frage war.

»Jedenfalls brachte ich das, was von Croxgk blieb, an einen Ort, an dem es mit einem Körper verwoben wurde, in dem Croxgk schließlich wiedererwachte.«

»Auferstand?«, hauchte Cronenberg, dem von dem Gehörten schwindelte. Was waren diese Auruunen für Wesen? Sie betrogen selbst den Tod – und damit die Natur als solche.

»Ja, auferstand. Wie mir nun mitgeteilt wurde, bewährte sich der neue Croxgk in einer Weise, die es unmöglich macht, ihm seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen.«

»Was ist sein sehnlichster Wunsch?«

»Hierher zurückzukehren. Dort weiterzumachen, wo er unterbrochen wurde.«

»Aber… aber Ihr habt Euch ebenso bewährt – sieht dieses GREMIUM das anders?!« Cronenberg machte einer Empörung Luft, die er in diesem Augenblick auch empfand – wenngleich nicht aus echter Loyalität Vrongk gegenüber, sondern weil ihm sein Gefühl sagte, dass Vrongk von zwei Übeln doch das merklich kleinere gewesen wäre.

»Offenbar. Aber es geht nicht um Eitelkeiten. Lass mich fortfahren. Lass mich dir die Augen öffnen, was unsere wahre Größe und die Größe unserer Mission angeht.«

Cronenberg bekam einen trockenen Mund. Wann immer er in der Nähe von Auruunen weilte – speziell natürlich in Vrongks Nähe –, bekam er einen trockenen Mund, weil er nie wusste, wie eine solche Begegnung ausgehen würde. Im Grunde schloss er jedes Mal schon im Vorfeld mit seinem Leben ab. Und war hinterher regelrecht überrascht, wenn es ihm nicht an den Kragen gegangen war.

Auch jetzt hatte er das Gefühl, keinen Speichel mehr im Mund zu haben. Vrongks Andeutungen veranlassten ihn, sich zu fragen, ob er Geheimnisse einer solchen Dimension, wie Vrongk offenbar im Begriff stand, ihm zu enthüllen, überhaupt erfahren wollte.

Was wenn das die Falle ist? Wenn Vrongk mich noch genauso verachtet wie zu Anfang und alles Gegenteilige geheuchelt war? (So, wie ich selbst ja auch heuchele – unentwegt!) Was, wenn er mir all diese Dinge nur anvertraut, weil er weiß, dass Croxgk bei seiner Rückkehr höchst ungehalten darüber sein wird, dass ich über Hintergründe Bescheid weiß, von denen ein »Niederer« nie etwas erfahren sollte?

Auf seine Frage jedenfalls, ob Croxgk denn erfahren müsse, dass Vrongk ihn eingeweiht hatte, war kein klares Bekenntnis gekommen.

Cronenberg überlegte, ob er die Flucht nach vorn antreten sollte. Sollte er Vrongk erklären, er fühle sich unwürdig, mit so viel Insiderwissen beschenkt zu werden?

Aber es zwar zweifelhaft, dass Vrongk dies akzeptieren würde. Erst recht nicht, wenn er den Plan verfolgte, den Cronenberg befürchtete.

Um die drohenden Konsequenzen nicht auch noch heraufzubeschwören, entschied er, den Dingen ihren Lauf zu lassen, Vrongk nicht misstrauischer zu machen, als er von Natur aus war.

Stumm wartete er, dass der Auruune fortfuhr und über welches weitere Geheimnis seines Volkes auch immer berichtete.

Er war auf alles gefasst – glaubte er.

Aber Vrongk verblüffte ihn erneut. »Um dir zu erklären, warum wir Auruunen nicht nur hierher, sondern auch an andere Orte des Universums gekommen sind, will ich nicht erneut auf Hologramme zurückgreifen. Lass uns jene Stätte besuchen, wo das Modell unseres Gegners errichtet wurde.«

»Ein Modell Eures Gegners?«

»Warte ab. Sobald wir dort sind, erkläre ich es dir. Hast du jemals von den Ganf gehört?«

Cronenberg schüttelte den Kopf.

»Wie nennt ihr die Schöpfungskraft, die die Welt erschaffen hat?«, fragte Vrongk. »Gott?«

Cronenberg zögerte, dies zu bejahen. Das mochte vor ewig langer Zeit unter Menschen so gewesen sein, aber mittlerweile…

Vrongk wartete seine Antwort nicht ab. » Wir jedenfalls nennen sie Ganf



Cronenberg war überrascht, als Vrongk mit ihm in ein Shuttle stieg, das steil in den Himmel aufstieg und rasch die Atmosphäre hinter sich ließ. Zum ersten Mal sah er die Oort-Erde aus dem freien Weltraum, und der Anblick übertraf alles, was er sich vorgestellt hatte. Bislang war er davon ausgegangen, dass die Auruunen ihre künstlich erschaffene Basiswelt nach dem Vorbild ihres Heimatplaneten gestaltet hatten – nun sah er zu seiner großen Verwunderung, dass kein ihm selbst unbekannter Himmelskörper als Vorlage gedient hatte, sondern einer, der sich den Blicken entzogen in nächster Nähe befand.

Die Erde. Sie haben die Erde nachgebildet, nur »in größer«.

Die Verteilung der Landmassen in Bezug auf die Wasserflächen. Die Konturen der Kontinente. Je länger Cronenberg auf die gewaltige Kugel hinabstarrte, desto überzeugter war er, dass die Auruunen sie im wortwörtlichen Sinn terra formt hatten.

Es blieb die Frage nach dem Warum.

Für eine Weile glaubte er, dass Vrongk ihm nichts anderes als das hatte zeigen wollen. Doch dann erinnerte er sich der Ankündigung, ihn mit einem »Modell ihres Gegners« konfrontieren zu wollen – was mehr als ominös klang.

Wenn die Ganf besagter Gegner waren, handelte es sich dann um eine Plastik eines solchen Wesens? Und wo sollte sich die befinden? Irgendwo im Orbit? Oder würde das Shuttle erst richtig Fahrt aufnehmen und sonst wohin fliegen?

Gegenwärtig umrundete es in einem hohen Orbit die Oort-Erde.

»Du wirkst überrascht«, sagte Vrongk.

»Das bin ich. Und Ihr wisst, warum.«

»Es lag nahe«, sagte der Auruune.

» Räumlich nahe?«

»Das auch. Aber das war eher unerheblich.«

»Habt ihr keine Welt, die eurem Ideal, was die Form und Verteilung der Land- und Wassermassen angeht, näher käme?«

»Macht es dich nicht stolz, deine Heimatwelt in der Megaversion zu sehen?«

»Doch, natürlich.«

»Du findest es befremdlich, das ist mir klar. Dennoch wollte ich es dir zeigen, bevor wir uns mit dem befassen, was ich ankündigte.«

Also doch , dachte Cronenberg. Das war nur das Präludium. Das Vorspiel.

Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dies ein Moment wäre, in dem er es wagen könnte – wagen könnte, Vrongk auf die beabsichtigte »Schließung« der Hohlwelt anzusprechen.

»Herr…«

»Was liegt dir auf dem Herzen?«

»Es ist keine Kritik…«

»Sprich.«

»Ihr wollt die Urerde, auf der ich geboren wurde, aufgeben… Nein, aufgeben ist das falsche Wort. Sie soll, wenn ich Euch richtig verstanden habe, sogar zerstört werden…«

»Das hast du richtig verstanden.«

Er erbleichte. »Ich frage mich nur…«

»Ja?«

»… warum

»Ich sehe dir deine Frage nach, weil du wahrscheinlich gar nicht beurteilen kannst, wie krank dieses Gebilde ist, in dem du es gewohnt bist zu hausen.«

»Krank, Herr?«

»Durch und durch! Wir Auruunen verabscheuen das Zwielicht, in dem ihr lebt. Es beeinträchtigt unser Wohlbefinden. Sieh doch nur, was es aus euch gemacht hat! Was für absonderliche Kreaturen es hervorgebracht hat!«

Cronenberg verstand den Sinneswandel nicht, den Vrongk gerade durchzumachen schien. »Vorhin habt Ihr die Fraktalen noch gelobt…«

»Als Krieger«, bestätigte der Auruune, »sind sie großartig. Doch auch ihnen haftet das an, was jedem Lebewesen im Innern der Schale anhaftet – erstaunlicherweise dir, der du am längsten darin lebst, am wenigsten.«

»Was sollte das sein? Anhaftet… Ich verstehe nicht…«

»Psi. Ihr nennt die Kraft Psi. Wir nennen sie Krankheit. Dort, woher wir kommen, existiert solches nicht. Und das aus gutem Grund.«

»Aber –«

»Darüber will und werde ich nicht diskutieren.«

»Ja, Herr.«

Der Auruune wurde und benahm sich immer merkwürdiger. Ob es der Schock um seine bevorstehende Ablösung war, was ihn so unberechenbar machte?

»Gut, dann sieh auf den Monitor. Wir sind gleich da. Es umkreist den terraformten Planeten wie dein Mond in der Hohlwelt die alte Erde.«

Noch während Cronenberg über die Bedeutung der Worte nachdachte, tauchte vor ihnen, in Fahrtrichtung, das irritierendste Objekt auf, das er je zu Gesicht bekommen hatte. Es stellte selbst den Aquakubus in den Schatten, der inzwischen dort geparkt war, wo sich früher der Gasriese Jupiter befunden hatte. Jupiter existierte schon lange nicht mehr. Aber der Kubus war, zumindest in Sachen Exotik, ein mehr als würdiger Ersatz.

»Was – ist das?«

Vrongk schien stolz auf die Wirkung zu sein, die schon der Anblick aus großer Distanz auf Cronenberg hatte.

»Wie sieht es für dich aus?«

»Wie ein Gewimmel aus Kugeln, die wahllos ins All geschüttet wurden und sich hier zu einer zufälligen Anordnung zusammengefunden haben. Ist das das Modell, von dem Ihr gesprochen hattet?«

»Ja und nein.«

Wieder eine typische Vrongk-Antwort.

»Es wirkt wie ein Modell und deshalb nannte ich es so. Aber es ist komplizierter.«

»Wahrscheinlich bin ich nicht in der Lage, es zu verstehen. Ich wünschte, ich wäre es.«

»Vielleicht solltest du dir lieber wünschen, es nicht zu verstehen. Aber ich habe mich nun einmal entschlossen, es dir zu zeigen – und in seinen Grundzügen zu erklären. Man nennt es die EWIGE KETTE. Auch wenn es für dich nicht aussehen mag wie eine solche. Damit jedenfalls wurde vor Äonen das Universum erschaffen. Dieses Universum, um präzise zu sein.«



An diesem Punkt geriet Cronenberg endgültig ins Schwimmen. So sehr Vrongk auch immer wieder betonte, keine Religion wie »niedere Wesen« zu besitzen, so stark erinnerten seine eben geäußerten Worte doch genau daran: an Mystik und Aberglaube. Dies entsetzte ihn umso mehr, als er die Auruunen für ein in allen Belangen hoch entwickeltes, mächtiges Volk gehalten hatte, das allenfalls den Gott Fortschritt und sich selbst als anbetungswürdig erachtete.

Wie um seine Äußerungen zu rechtfertigen und gleichzeitig noch einen draufzusetzen, sagte Vrongk: »Ich spreche von unumstößlichen Fakten.«

Natürlich. Und die Erde ist eine Scheibe.

Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Das Konstrukt aus scheinbar beliebig angeordneten Kugeln übte eine starke, aber nicht näher bestimmbare Faszination auf Cronenberg aus. Aber daraus abzuleiten, was Vrongk gerade in den Raum gestellt hatte, war mehr als absurd.

»Herr…«

»Du glaubst und verstehst es nicht.«

»Herr…«

»Rede offen!«

»Wie ich schon sagte: Mein Intellekt lässt sich nicht mit dem Euren vergleichen. Wenn Ihr mir sagt, dass es sich so verhält, wie könnte ich dies dann in Zweifel ziehen?«

»Du glaubst mir nicht.«

Cronenberg merkte, dass er in ein gefährliches Fahrwasser geraten war. Alles, was er sagte, konnte gegen ihn ausgelegt werden.

»Gut«, sagte Vrongk schließlich. »Dann will ich dir noch etwas zeigen. Hier, an Ort und Stelle.«

Das Bild auf dem Monitor veränderte sich. Die golden schimmernden, ins Nachtschwarz des Alls eingebetteten Kugeln wurden plötzlich von etwas Vertrautem überlagert – wenngleich dieses Vertraute auch dort, wo Cronenberg lebte, über Äonen vom Firmament verbannt gewesen war.

Galaxien.

Über jedes Objekt des Schwarms, der die Oort-Erde wie ein bizarrer, in Einzelteile zerfallener Mond umkreiste, legte sich eine Galaxie: elliptische, linsenförmige, irreguläre, spiral- oder balkenförmige…

»Was bedeutet das?«, fragte Cronenberg beklommen. Wieder glaubte er, einen Hauch kosmischer Wunder über sich hinwegwehen zu spüren, ohne dass er hätte sagen können, warum. Waren nicht alles nur Taschenspielertricks, mit denen der Auruune ihm ein abstruses Weltbild zu vermitteln versuchte?

»Was siehst du?«

»Galaxien, die die Kugeln überlagern. Ihr habt die Sterneninseln so verteilt, dass sie passgenau auf den Objekten liegen.«

»Genau da beginnt schon dein Denkfehler. Ich habe sie nicht so verteilt, dass sie passen. Sie passen, weil ihre Anordnung aus dem gleichen Blickwinkel aufgenommen wurde, wie die EWIGE KETTE sich von einem bestimmten Punkt des Universums verteilt.«

»Welchem Punkt?«, fragte Cronenberg, ohne viel mehr zu begreifen als zuvor.

»Vom Angksystem aus. Dem Ort, wohin die Ganf einst flohen.«

»Aber wenn die Ganf das Universum geschaffen hätten, müssten sie doch nicht…«

»… vor uns fliehen?« Vrongk strahlte plötzlich fast greifbare Kälte aus. »Wenn du wüsstest.«



Die goldenen Kugeln sind Miniaturen sehr viel größerer Objekte, die auch CHARDHIN-Perlen oder Tridentische Kugeln genannt werden«, fuhr Vrongk nach einer Pause fort. »Die Perlen in ihrer Gesamtheit bilden die EWIGE KETTE, von der ich schon sprach.«

»Von der Ihr meintet, dass damit das Universum erschaffen worden sei«, warf Cronenberg ein. »Er hatte noch nie über Dinge von solcher Dimension gesprochen. Und auch wenn er kein Experte in Kosmologie war, wusste er doch ein paar Eckmarken, wie das Weltall tatsächlich einmal entstanden sein sollte. Vor rund 14,5 Milliarden Jahren. Aus einem Urknall heraus.

Was vor diesem Big Bang existiert hatte, darüber schieden sich die Geister. Aber die Urknalltheorie war allgemein anerkannt gewesen in den Kreisen, in denen er einst verkehrte.

Und jetzt kam ein Angehöriger eines wolkenkratzerhoch überlegenen Volkes daher und behauptete ganz nebenbei, dass er das im Schornstein rauchen konnte?

»Ich höre immer noch deine Skepsis, aber ich versichere dir: Ja, die EWIGE KETTE initiierte diesen Kosmos. Das, was sich heute als riesige Galaxien darstellt, wurde in seinen Ursprüngen von den Perlen generiert.«

»Woher stammt dieses revolutionäre Wissen, Herr?«

»Aus erster Hand.«

»Von den Ganf also.«

Der Auruune bejahte weder noch widersprach er.

»Und dieses Modell hier? Welchen Sinn hat es? Warum hat Ihr es gebaut? Warum umkreist es die neue Erde?«

»Wir haben es aus dem Angksystem mitgebracht«, sagte Vrongk. »Dort war es auf einem Planeten namens Portas verborgen.«

»Und was bezweckt Ihr damit?«

»Darüber darf ich dir nichts sagen. Nur so viel: Es ist ein Schloss, zu dem uns – noch – der Schlüssel fehlt. Sobald wir ihn haben, ändert sich alles. Nichts wird mehr sein wie zuvor.«

»Es dient dazu, Eure Macht noch mehr auszuweiten oder zu festigen?«

Vrongk schwieg. Schließlich sagte er: »Wir kehren um. Was ich dir zeigen wollte, habe ich gezeigt. Bis zum Erhalt des Schlüssels können noch Monate, vielleicht Jahre oder Jahrhunderte vergehen. Bis dahin gilt es, das zu konsolidieren und zu schützen, was wir erreicht haben. Und dazu will ich deine Fraktalen. Sie sind den Körpern überlegen, die wir bislang haben. Fernziel muss es sein, sie zum Standard zu machen.«

»Zum Standard? Ihr wollt…?«

»Wir sind auf ständiger Jagd nach Optimierung. In allen Belangen. Warum sollten wir vor unseren Hüllen haltmachen. Das Bessere ist der Feind des Guten – du kennst dieses Sprichwort?«

»Ich kenne es.«

»Dann solltest du dich ihm ganz und gar verschreiben. Um deiner selbst willen. Denn Croxgk duldet, mehr noch als ich, nur Perfektion in seinem Umfeld. Eine entscheidende Voraussetzung, ihm zu gefallen, bringst du aber ganz gewiss mit.«

»Welche, Herr?«

»Die Bereitschaft, dich bedingungslos zu unterwerfen.«

Mehr sagte Vrongk nicht mehr, bis sich ihre Wege an der Oberfläche trennten. Ein wortloser Gruß war alles, dann war Cronenberg entlassen. Das Shuttle brachte ihn zurück in die Hohlwelt.



Warum war die Oort-Erde exakt so modelliert wie die Urerde? Warum nahmen ausgerechnet Machtwesen wie die Auruunen sich den Planeten einer »niederen Spezies« – wie sie nicht müde wurden zu betonen – als Vorbild für die Kreation ihrer Basiswelt?

Und was hatte es wirklich mit dem Modell auf sich, das die EWIGE KETTE darstellen sollte?

Wenn Cronenberg in sich lauschte, musste er erkennen, dass ihn mehr noch als diese Dinge etwas anderes nachhaltig erschüttert hatte: Vrongks Aussage, die Fraktalen betreffend. Er hatte in einer Weise von ihnen geschwärmt, dass Cronenberg sich ernsthaft fragte, ob sie den Auruunen mittel- oder langfristig tatsächlich als neue »Gefäße« für ihre Bewusstseine dienen sollten.

Die Erläuterungen Vrongks zum KRISTALLARIUM erweckten den Anschein, als verfügten die Auruunen nicht nur über die Technologie, Seelen im Moment des körperlichen Todes »aufzufangen«, sondern generell Seelen zu verpflanzen .

Schon die bloße Vorstellung verstörte ihn.

Nach diesem Tag mit Vrongk schienen ihm die Auruunen sogar noch größere Ungeheuer zu sein, als bislang vermutet.

Und dann noch die Ankündigung von Croxgks Rückkehr als Ablösung für Vrongk, der dann… wohin gehen würde? Zurück ins ominöse ZENTRUM, das mehrfach Erwähnung bei ihm gefunden hatte?

Das Shuttle landete eine Ebene unterhalb des Turmbereichs, in dem Cronenberg residierte – nahe der Spitze. Ein Lift brachte ihn hinauf. Von hier aus hatte er einen Überblick über die Stadt, die sich rings um das ehemalige Äskulapschiff der Keelon gebildet hatte.

Seine Rückkehr blieb nicht unbemerkt. Fast lautlos näherten sich Schritte. Ein Adept. Ein hagerer, zwei Meter großer Kastrat, dessen Vergeistigung sich in jedem Blick, jeder Geste niederschlug. Die Parakräfte des Bleichen waren phänomenal, auch wenn sein Weg ihn nicht in eine der Kaderschmieden für Fraktale geführt hatte. Mit einem Adepten hätte Vrongk sich nicht anfreunden können, so gut kannte er ihn inzwischen. Cronenberg hingegen genoss die Aura dieser weiteren Gattung Mensch, die sich in den Hohlweltjahrtausenden entwickelt hatte. Als er noch in die entartete Hirnmasse eingebunden war, hatten sich die Adepten aufopferungsvoll um ihn gekümmert. Sie hatten ihn nicht nur mit Nahrung versorgt, sondern mit etwas fast ebenso Lebensnotwendigen: mit Trost. Dazu hatten sie keine Worte bemühen müssen, nur da sein.

Sola war sein engster Vertrauter unter den Adepten. »Kann ich helfen?«, zwitscherte sein Stimmchen, als er bei Cronenberg anlangte. Das weite Gewand umschmeichelte einen Körper, der zwischen den Falten förmlich verschwand. Als wäre er nicht nur hager, sondern fast nicht vorhanden. Ein Geist. Ein Gespenst…

»Nein«, sagte Cronenberg. »Nein, ich glaube nicht.«

Aber Sola entnahm schon seinem Tonfall, dass er gebraucht wurde. Und so ließ er sich auch nicht abwimmeln. Wie ein Schatten blieb er in Cronenbergs Nähe und salbte ihn mit Psischauern, die bis in die Kerne seiner Zellen, bis auf den Grund seiner Seele drangen.

Spät an diesem Tag sagte Cronenberg zu seinem Schatten: »Ich danke dir. Es geht mir jetzt besser. Wirklich besser. Wenn du dich entfernen willst…«

Sola blieb.

Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Cronenberg noch nicht wieder zu seinem inneren Gleichgewicht zurückgefunden hatte.

Der Tag mit Vrongk schwang immer noch unheilvoll in ihm nach.

Auruunen, die nicht sterben konnten… Ein Universum, das von einer unbegreiflichen Technologie erschaffen worden sein sollte… Croxgk bevorstehende Rückkehr…

Mir bleibt weniger Zeit, als ich dachte. Ich muss handeln. Schnell und doch mit Bedacht. Ein Balanceakt sondergleichen.

Aber war er nicht genau dafür, dass er das beherrschte, immer gefürchtet gewesen?

Als er sich zur Ruhe bettete, lag zum ersten Mal seit vielen Stunden wieder die Andeutung eines Lächelns um seine Lippen.

Zuversicht.

Auch dafür war Solas Nähe der Quell.

Zum Ende dieses Tages wich der Schock neuem Tatendrang, neuer Entschlossenheit.

Danke , dachte Cronenberg dem Bleichen hinterher, der sein Gemach lautlos verließ.



2.



»Mir graut davor.«

Dass ausgerechnet jemand, dessen bloßes Erscheinungsbild ausreichte, um bei manchem Zeitgenossen Furcht und Entsetzen auszulösen, dies sagte, war nicht frei von Ironie, fand Jelto.

Der Anblick eines Abrogaren konnte selbst für erfahrene Raumfahrer, die es gewohnt waren, Extraterrestriern zu begegnen, harter Tobak sein.

Jelto hatte damit von Anfang an kein Problem gehabt. Anderenfalls wäre es wahrscheinlich auch nie dazu gekommen, dass Alcazar sich ausgerechnet im hydroponischen Garten – Jeltos »Heiligtum« – häuslich niedergelassen hätte.

»Warum tust du es dann?«, fragte der Florenhüter und blickte hinauf ins Geäst des Vaschganenbaumes, wo sich Alcazars Wohnkokon spannte und wo der Arachnide seine letzten Vorbereitungen zum Aufbruch traf.

Das Fauchen, das sich hinter den Mandibeln des Abrogaren bildete, hatte beinahe aggressiven Charakter.

Jelto zuckte unmerklich zusammen, wusste aber zugleich auch, dass er sich die harsche Reaktion des Spinnenwesens selbst zuzuschreiben hatte.

»Entschuldige«, rief er zur Baumkrone hinauf. »Das war dumm von mir. Ich an deiner Stelle würde nicht anders handeln – auch wenn mir vor der Größe der Aufgabe graute.«

Alcazar ließ sich an einem Faden herab. Er war etwas kleiner als Jelto, aber das machte er mit der Aura wett, die ihn umgab.

Keine reale Aura, wie der Florenhüter sie zu zünden vermochte, um damit auf pflanzliches Leben einzuwirken oder sogar in geistigen Kontakt mit ihm zu treten. Ausstrahlung traf es vielleicht eher. Charisma.

Wobei Alcazar bei seiner Ankunft an Bord der RUBIKON noch einen eher unscheinbaren, introvertierten, ja, verstörten und angegriffenen Eindruck erweckt hatte. Inzwischen hatte er sich jedoch eingelebt und haderte auch nicht mehr unablässig mit dem Schicksal, das ihm so übel mitgespielt hatte, dass er von seinem Volk in die Verbannung geschickt worden war. Oder zumindest von denjenigen, die in seinem Volk das Sagen hatten.

Alcazar blickte Jelto unstet mit seinen schwarzen Perlenaugen an. »Ja«, sagte er. »Die Aufgabe ist gewaltig. Ganz besonders für mich. Vielleicht sollte ein anderer – eine neutrale Person – sie übernehmen. Die Vorbehalte gegen mich werden riesig sein. Ich –«

»Du hast Artovayn bei dir. Du bist nicht allein. Außerdem werdet ihr den Anführern deines Volkes mit den entsprechenden Beweisen entgegentreten, die eure Warnung ausreichend untermauern dürften.«

»Du kennst Emmeriz schlecht.«

»Den Obersten Rat?«

Alcazars Augen schienen düsterer dreinzublicken, als noch einen Moment zuvor. »Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich meine Verfehlungen nicht nur mit Verbannung, sondern mit der Todesstrafe sühnen müssen. Er ist so etwas wie ein Intimfeind, und deshalb bin ich sicher, dass er sich selbst von stichhaltigen Beweisen nicht davon abhalten lassen wird, mir Fäden zu durchschneiden.«

»Fäden zu durchschneiden? Das entspricht wohl dem menschlichen Spruch ›Knüppel zwischen die Beine werfen‹?«

Der Abrogare schwieg.

»Noch einmal«, sagte Jelto. »Artovayn wird dir beistehen. Er hat es selbst angeboten. Nutze die Chance, die John dir gewährt. Du hast nichts zu verlieren. Auch wenn es grausam klingen mag, aber dein Volk ist bereits vernichtet. Das ist die aktuelle Realität. Was wäre das Schlimmste, was dir widerfahren kann?«

»Dass Emmeriz mir gar nicht erst Gehör schenkt, sondern liquidiert.«

Jelto seufzte. »Das wird er nicht wagen. Weil er dann auch Artovayn liquidieren müsste. Aber selbst wenn wir von diesem schlimmsten aller Fälle ausgehen, lautet die einzige Frage, die du dir im Vorfeld selbst beantworten musst: Bist du bereit, dein eigenes Leben auch dann in die Waagschale zu werfen, wenn du das deines Volkes nur vielleicht wirst retten können?«

»Das frage ich mich die ganze Zeit.«

»Und? Hast du eine Antwort gefunden?«

Er fuchtelte in einer Weise mit der Hälfte seiner Gliedmaßen, dass es in Verbindung mit den folgenden Worten wohl seine Bejahung unterstreichen sollte.

»Mir graut davor. Aber ich werde es riskieren. Mein Volk bedeutet mir alles. Im Gegensatz zu meinem Volk, dem ich nichts zu bedeuten scheine.«



Artovayn empfing den Abrogaren in dem Hangar, in dem das goldene Schiff schwebte, mit dem sie den Abgrund zwischen den Galaxien überwinden und nach Eleyson gelangen wollten. Zuvor galt es den Äther Scharans hinter sich zu lassen und – als Allererstes – die Portalschleuse der wiedergenesenen CHARDHIN-Perle zu passieren. Nur so konnten sie die Realzeit verlassen und einen Ausflug in die nahe Vergangenheit unternehmen – was der Schlüssel zu ihrer heiklen Mission war. Ohne den angestrebten Zeitenwechsel hätte eine Reise nach Eleyson und in das dortige Dunkelwolken-Versteck der Abrogaren keinen Sinn gemacht.

Wir würden nur die Schlacke ausgebrannter Sonnen und verheerter Planeten finden. Genau das hatten wir aber schon. Ich habe da keinen Wiederholungsbedarf.

Obwohl dem Abrogaren, der gemessenen Schrittes auf den Scharan-Gloriden zukam, von der eigenen Spezies übel mitgespielt worden war, hatte er nicht lange überlegen müssen, als Artovayn ihm das Angebot unterbreitet hatte, mit ihm gemeinsam eine Rettungsmission zu starten. Zunächst aber hatte Commander John Cloud seine Einwilligung geben müssen. Alcazar lebte an Bord seines Schiffes und war Teil seiner Mannschaft, die sich aus über fünftausend Individuen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzte. Die meisten Crewmitglieder der RUBIKON – so der Name des extragloridischen Schiffes – waren Menschen wie Cloud selbst, nur dass sie nicht auf dem gleichen Planeten geboren worden waren. Clouds Heimat hieß, wie Artovayn erfahren hatte, Erde. Die Ursprungswelten des Gros der Besatzung gehörten dem sogenannten Angksystem an, in das sich die legendären ERBAUER der CHARDHIN-Perlen – und damit der EWIGEN KETTE – zurückgezogen hatten.

Allein diese Verbindung zwischen Menschen und ERBAUERN war aus Artovayns Sicht sensationell. Hinweise darauf hatten sich schon auf der RUBIKON finden lassen, wo eindeutig URVÄTER-Technologie verbaut worden war. In einer nachträglichen Aufrüstaktion allerdings, denn das Rochenschiff war von einer technologisch längst nicht so hoch entwickelten Spezies konstruiert worden: den Foronen.

»Sei mir willkommen«, begrüßte der Gloride den Arachniden und besah sich, was offenbar Alcazars Gepäck für die anstehende Reise war. »Ist diese Box alles, was du mit an Bord der GOLDENE HOFFNUNG nehmen willst?«

»GOLDENE HOFFNUNG«, fragte Alcazar, »ist das der Name deines Schiffs?« In dem Moment, als der Abrogare stehen blieb, stoppte auch der Bot, der sein Gepäck trug – eine Metallspinne, wie sie, soviel wusste auch Artovayn längst, zu Aberhunderten, vielleicht sogar Abertausenden auf der RUBIKON vorkamen.

Artovayn bejahte, verschwieg aber, dass er das Kugelschiff speziell für diese Mission so getauft hatte. Den ursprünglichen Namen hatte er gar nicht erst versucht, in Erfahrung zu bringen. Wie die Perle selbst, waren auch sämtliche Einrichtungen – die Beiboote inbegriffen – über Äonen dem schleichenden Verfall ausgesetzt gewesen. Erst in jüngster Zeit hatte sich die Begegnung mit der RUBIKON und ihrer Mannschaft als Initialzünder erwiesen, um dem Verrotten der Heimatperle Einhalt gebieten zu können. Vergessenes Wissen war wieder ins Bewusstsein der hier lebenden Gloriden gehoben worden. Das Wissen etwa, wie eng Artovayns Spezies mit den CHARDHIN-Perlen der ERBAUER verflochten war; so eng nämlich, dass deren über die Jahrtausende gewachsene Gleichgültigkeit ihrer Heimat gegenüber deren Verfall erst ermöglicht hatte. Gloriden waren traditionell mit der Pflege und Wartung der über das ganze Universum verstreuten einzelnen Glieder der EWIGEN KETTE beauftragt. Nachdem die hiesige Perle aber von ihrem ursprünglichen Standort im Zentrum Scharans – im dortigen Mega-Black-Hole – entfernt und in einem anderen Bereich der Spiralgalaxie verankert worden war, hatten die Gloriden ihre Pflichten vernachlässigt, sodass das unsichtbare Band zwischen ihnen und ihrer Welt immer brüchiger geworden war. Der Moment, in dem es vollständig zerrissen wäre, so viel ahnte Artovayn heute, hätte auch den Moment der völligen und unwiderruflichen Zerstörung bedeutet.

Das hatte gerade noch abgewendet werden können. In einer flammenden Rede hatte Artovayn an seine Artgenossen appelliert – mit nicht für möglich gehaltenem Erfolg. Seither genas die Perle von ihrer »Erkrankung«. Und durch die Genesung funktionierten mittlerweile selbst so komplexe Einrichtungen wie die Portalschleuse, mit deren Hilfe Objekte – selbst Raumschiffe – aus der Gegenwart in frei wählbare Abschnitte der Vergangenheit transferiert werden konnten. Noch arbeitete dieses System nicht so leistungsstark wie zu seinen besten Zeiten. Aber ein Transfer über ein paar Wochen oder Monate war möglich – und mehr bedurfte es nicht, um den Rettungsplan, den Artovayn dem Abrogaren und Commander Cloud unterbreitet hatte, in die Tat umzusetzen.

Alcazars Ungeduld war ebenso zu spüren wie seine Nervosität.

»In Ordnung«, sagte Artovayn. »Begeben wir uns also an Bord. Der Bot kann jetzt umkehren, den restlichen Weg trage ich dein Gepäck gerne für dich.«

Alcazar verwahrte sich dagegen. »Der Bot ist ein Geschenk von Sesha. Von der KI. Sie erwartet ihn nicht zurück. Und er ist absolut anspruchslos, wie mir versichert wurde. Autarke Energiezelle. Geringer Platzbedarf.«

Artovayn machte eine Geste, die sein Einverständnis zum Ausdruck brachte. »Überhaupt kein Problem. Die GOLDENE HOFFNUNG ist groß genug.« Er setzte sich zu dem Aufzug in Bewegung, der zur Schleuse hinaufführte.

»Wie groß ist die Besatzung?«, fragte Alcazar.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924602
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon alte erde
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Titel: Raumschiff Rubikon 34 Alte Erde, neue Erde