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Raumschiff Rubikon 24 Die Schwellenwelt

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de


Raumschiff Rubikon 24 Die Schwellenwelt

Manfred Weinland




1.


Die RUBIKON raste der Hölle von Angk III entgegen.

Schon einmal hatte das Rochenschiff das Wagnis auf sich genommen, in die Atmosphäre der verbotenen Welt Portas vorzustoßen – als es galt, den Jungnargen Yael von dort zurückzuholen, zu bergen. Yaels Ungestüm oder eine unbekannte Macht hatten die tief in Jiim Sprössling schlummernde, besondere Gabe aktiviert, über die er seit Geburt verfügte. Und die ihn in die Lage versetzt hatte, nach Portas zu »teleportieren« – etwas in der Art jedenfalls. Genau geklärt worden war nie, welche Kräfte frei gesetzt wurden, um Yael nach Portas zu tragen. Aber letztlich zählte nur, dass man ihn hatte aufspüren und zurückholen können.

Ich habe ihn aufgespürt und zurückgeholt , dachte John Cloud. Ich war mit dem Schiff und seiner Künstlichen Intelligenz, mit Sesha, verschmolzen, als wir hinab tauchten in sturmumtoste Gebiete, gegen die jeder Hurrikan wie ein laues Lüftchen anmutet. Ich weiß heute nicht mehr, wie wir es von Portas zurückschafften. Die Gewalten, die an der RUBIKON – und an mir – zerrten, waren mörderisch. Doch nun …

nun wusste er erst recht nicht, wie ihm geschah, weil die RUBIKON gerade eine »Schicht« durchbrochen hatte, unter der alles anders war als darüber.

Darüber kochte die Luft des Planeten, herrschten infernalische Zustände und Gesetzmäßigkeiten, die bei jedem, der dem Planeten zu nahe kam und der bei geistiger Gesundheit war, einen sofortigen Fluchtreflex hätten auslösen müssen.

Darunter aber …

HIER!

war keine Spur mehr von Inferno, und spontan glaubte Cloud, die RUBIKON müsse durch eine unbekannte Technologie entstofflicht, räumlich versetzt und über einem ganz anderen Planeten rematerialisiert worden sein.

»Das ist nicht mehr Portas – oder?«, meldete sich prompt auch Jarvis in diesem Sinne zu Wort. Sein Freund in dem aus Nanomaterial geformten Kyberkörper, der aber dank »bractonischem Tuning« auf die meisten Betrachter wie eine lebendige Hülle aus Fleisch und Blut wirkte – genauer gesagt wie Jarvis’ früherer Originalkörper – war kaum zu bremsen. »Hagel und Granaten! Die haben uns gelinkt!«

Wen er damit meinte, stand außer Frage.

Diejenigen, die John Cloud erst dazu gebracht hatten, Portas überhaupt anzusteuern.

Eine Höllenwelt.

Eine Welt, die selbst den Bractonen Bauchschmerzen bereitete – weil sie sie zu diesem Chaosplaneten gemacht hatten, sie und ihre unseligen Versuche, von dort aus eine Rückkehrmöglichkeit in ihr angestammtes Kontinuum zu öffnen, um nach Jahrmilliarden endlich wieder dorthin zurückkehren zu können …

Alles Lüge , dachte Cloud. Alles Lüge, haben sie gesagt. Und ich bin ihnen auf den Leim gegangen.

Ihnen – den Ganf.

Lange hatte er die Ganf nur aus Erzählungen des Nargen Jiim gekannt. Dessen Volk hatte einst, bevor ein riesiges Stück ihres Mondes Maron zum gezielten Absturz auf Kalser, ihre Heimatwelt, gebracht worden war, in friedlicher und sich gegenseitig befruchtender Koexistenz mit den Ganf gelebt. Die Ganf waren riesige Wesen, die laut Jiim schneckenhausartige Gebilde mit sich herumgetragen hatten. Diese Gehäuse waren auch nach dem Niedergang der Zivilisation noch vielerorts auf Kalser zu finden gewesen. Aber kein Narge konnte sagen, wohin die dazugehörigen Geschöpfe verschwunden waren – ob sie bei der planetenumspannenden Katastrophe umgekommen waren oder vielleicht noch rechtzeitig von Kalser hatten flüchten können. Denn die Mittel dazu, das hatte sich ganz allmählich und lange im Nachhinein herausgestellt, hatten sie offenbar besessen. Die Ganf waren viel mächtiger und in kosmologischen Fragen versierter, als die unbedarften, in vielerlei Hinsicht völlig naiven Nargen es sich je hätten erträumen lassen.

Irgendwann aber war Jiim in der Toten Stadt – einer der verlassenen Pyramidenkomplexe aus der Zeit vor der Katastrophe – offenbar noch einmal einem lebenden Ganf begegnet. Der hatte ihm eine Rüstung geschenkt … und eine Transmitterverbindung geöffnet, die Jiim bis in die Große Magellansche Wolke versetzt hatte, wo er schließlich mit der RUBIKON-Besatzung zusammengetroffen war.

Das alles war Jahre her.

Ebenso wie der Konflikt zwischen Satoga und Dex, zwischen CLARON und den Anorganischen, zwischen …

HIER!

Noch einmal schnitt der Gedanke wie eine glühende Klinge durch Clouds Gedanken. Erinnerungen zählten in diesem Moment nicht. Er musste sich dem Hier und Jetzt stellen.

War dies noch Portas – so unwahrscheinlich es auch erscheinen mochte – oder eine fremde Welt? Oder vielleicht einfach nur einer der anderen Angkplaneten?

»Sesha?«

»Commander?«

»Analyse! Positionsbestimmung! Wo befinden wir uns? Noch im Angksystem, noch über Angk III, oder …?«

»Negativ.«

» Was ist negativ?«

»Ich bin nicht in der Lage, die Frage zu beantworten.«

»Deine Sensoren …«

» … sind schon seit unserer Ankunft in der Stasezone extrem in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt.«

Die Stasezone.

Ein weiteres Absurdum, dem sie sich gegenübersahen, seit die RUBIKON Einlass ins Angksystem gefunden hatte, das von einer protochaotischen Wolke wie von einem Schutzschild gegen die es belagernden Einheiten abgeschirmt wurde.

Gegen die Flotten eines Gegners, von dem sie bislang wenig mehr als den Namen kannten.

Auruunen.

Das Angksystem unter dieser Wolke, die wie ein Schutzwall wirkte, jedenfalls präsentierte sich seit dem letzten Besuch wie unter einer dicken, unsichtbaren Eisschicht erstarrt.

Das Eis der Zeit , dachte Cloud. Oder ihrer Abwesenheit …

Grob waren ihnen die Zusammenhänge von einem Ganf namens Tecum erklärt worden. Und ebendieser Tecum hatte John Cloud auch dafür gewinnen können, Kurs durch den Raum ohne Zeit auf Portas zu nehmen. Dorthin sollte eine makabre Fracht überführt werden – eine Fracht, die zugleich Last und Bedrohung war. Zumindest für die RUBIKON und ihre Besatzung. Oder die Welt, von der sie geborgen worden war.

Kentyr.

Seither befand sich an Bord die Leiche eines Ganf, deren schädliche Ausstrahlung mühevoll von den angkgebürtigen Crewmitgliedern eingedämmt werden musste, damit sie nicht auch hier Schaden anrichtete.

Denn was der Begriff Leiche bei den Ganf bedeutete, hatten sie auf besagtem Planeten Kentyr erfahren müssen, wo eine Zivilisation nach und nach von den Träumen des Toten vergiftet und die Bewohner auf eine andere Realitätsebene verschoben worden waren.

Ein vergleichbares Szenario wollte auf der RUBIKON niemand manifestiert sehen.

»Du kannst unsere Position also nicht bestimmen? Weder bestätigen noch dementieren, dass wir uns weiter über Portas befinden?«

»Korrekt. Ich verfüge seit dem Eintauchen in die Atmosphäre nur noch über die Bilder, die auch ihr in die Holosäule geliefert bekommt – Bilder der normaloptischen Kameras.«

»Denen zufolge können wir nicht mehr über Portas sein!«, mischte sich Scobee ein, die Cloud neben Jarvis am längsten kannte. Sie drei hatten den Sprung in eine Zukunft vollzogen, in der nichts mehr so war, wie sie es von ihrem »ersten Leben«, wie sie es nannten, her kannten.

»Die reine Logik lässt auch mich zu diesem Schluss kommen«, sagte die KI. »Aber ich kann nur wiederholen – Bestätigung finde ich über keines meiner Instrumente.«

»Gibt es Anzeichen für eine Transition oder eine andere Technologie, die zum normalen Repertoire der RUBIKON gehört?«, fragte Cloud.

»Negativ.«

»Dann wären wir nach Adam Riese immer noch über der Tabuwelt – auch wenn wir ihre charakteristischen Merkmale ›vermissen‹.«

»Wer ist Adam Riese?«, fragte Sesha.

»Der Freund von Eva Zwerg«, konnte Jarvis sich nicht verkneifen, die KI zu foppen.

»Eva …?«

»Lass dich nicht auf den Kindskopf ein«, wandte sich Cloud an die KI. »Es handelt sich um eine Redensart. Nicht weiter wichtig. Aber Orientierung ist wichtig. Also: Sonden …« Er verstummte, weil er sich bei einem Fehler ertappt zu haben glaubte. Sofort korrigierte er sich: »Okay, ich schätze Sonden sind unmöglich. Sie würden das verlassen, was uns gegen die Zeit-Abwesenheit da draußen schützt – Darnok, die Nabissschicht, die darin aufgegangenen Sternlinge …« Im Grunde rekapitulierte er gerade für alle noch einmal, was alles hatte geschehen müssen, um die RUBIKON überhaupt ins Angksystem zu bringen und hier manövrierfähig zu halten.

»Wäre aber auch eine Möglichkeit, herauszufinden, ob wir uns noch im Angksystem befinden«, schlug Assur vor, die ebenfalls auf dem Kommandostand Platz genommen hatte. »Wenn die Sonden scheitern, ist klar, dass wir noch innerhalb der Zone sind, die von irgendwelchen Kräften erzeugt und manipuliert wird.«

Cloud fand an der Argumentation nichts auszusetzen. »Gute Idee«, sagte er. »Sesha? Wir setzen nur eine Sonde aufs Spiel, das aber gleich. Ist alles bereit für eine solche Aktion?«

»Bereit«, sagte die KI.

»Dann Start mit der üblichen Modifikation für Planetenerkundung. Bilder der Sonde – also Bilder, die sie zeigen und solche, die sie überträgt – in die Säule!«

Das zylinderförmige Hologramm spannte sich vom Boden des Kommandopodests bis hinauf zur Decke. Dreidimensional war darin die äußere Umgebung der RUBIKON abgebildet. In diesem Fall der Blick auf eine nicht weiter auffällig wirkende Wolkenschicht, von der nur geschätzt werden konnte, wie weit sie von der Oberfläche entfernt lag. Es gab jedenfalls keine Spur von all den Schrecknissen ihres ersten Portas-Besuches, was schon erstaunlich genug war.

Sesha erzeugte ein paar zusätzliche Holofenster innerhalb der Säule, mit denen sie ab dem Moment, da Cloud den Start befohlen hatte, die ausfliegende Sonde verfolgen konnten.

Da rückte sie auch schon ins Bild.

»Start gelungen«, meldete Sesha in neutralem Ton. »Sonde entfernt sich. Bilder kommen.«

»Wie weit reicht das Neutralisationsfeld um die RUBIKON?«, fragte Assur.

»Dessen Grenzen wurden bereits überschritten«, antwortete Scobee anstelle von Cloud. »Die Sonde muss längst aus ihm heraus sein.«

»Aber sie fliegt weiter. Kein Systemausfall, oder Sesha?«, fragte Assur, bereits halb jubelnd.

»Nicht, was ihren Antrieb angeht«, gab die KI zur Antwort.

»Aber?«

»Mich erreichen keine Bilder.«

»Was bedeutet das?«, fragte Jarvis. »Sind wir demnach also weiterhin im Einflussbereich der Zeitlosigkeit?«

»Wäre es so, müsste die Sonde außerhalb der RUBIKON zum Stillstand kommen. Tut sie aber nicht«, sagte Scobee. »Also?«

»Hm.« Cloud las die Dateneinblendungen der noch funktionierenden Außensensoren. Sie fliegt weiter. Aber ihre Systeme können keine Bilder oder Messungen zu uns übertragen. Vielleicht ein Sondenfehler? Riskieren wir eine zweite. Sesha?«

»Gestartet.«

Wieder wurde ein Flugobjekt sichtbar, das sich von der RUBIKON löste. Es verschwand ebenso wie die erste Sonde in der Ferne, ohne auch nur ein Bild übertragen zu haben.

»Vielleicht ein Störfeld, das Übertragungen verhindert und das wir nicht lokalisieren können. Aber jedenfalls keine Abwesenheit von Zeit «, sagte Jarvis.

»Mit welcher Geschwindigkeit gleiten wir durch die Atmosphäre, Sesha?«, fragte Cloud die KI.

»Moderate tausend Stundenkilometer.«

Sie hatte es kaum gesagt, geschah etwas Aufsehenerregendes: Teile der Zentrale schienen sich zu verwandeln. Die Wände überwucherten mit etwas Porösem von vielfältiger Ausprägung; binnen weniger Sekunden sah dieser Bereich wie der Teil eines Korallenriffs aus, der komplett von Wasser befreit worden war.

»Verdammt!«, fluchte Jarvis in Erwartung dessen, was nun passieren würde.

Und auch schon passierte.

Vor dem Hintergrund der strukturellen Umwandlung materialisierte die Gestalt eines Ganf.

»Tecum!« Cloud war aufgesprungen.

Der Ganf kam mit beschwichtigender Geste näher. Eine Geste, die zu einem Menschen gepasst hätte, nicht aber zu einer riesigen Schnecke mit Gliedmaßen.

»Es ist an der Zeit, euch zu leiten«, sagte er. »Da ihr mich bereits kennt, fiel die Wahl der Ganf an Bord auf mich.«

Ganf an Bord – auch so ein Ding, das eigentlich unmöglich hätte sein müssen. Doch inzwischen wussten sie, dass die Ganf die RUBIKON schon vor längerem für ihre Zwecke präpariert hatten – in einer nach wie vor kaum begreiflichen Weise. Fakt schien allerdings: Seither gab es zwei Schiffe … oder besser gesagt: zwei Seiten derselben Medaille. Durch eine normalerweise nicht überschreitbare Dimensionsgrenze unsichtbar, existierte auf der RUBIKON eine Ebene, auf der sich die Ganf eingenistet hatten. Vor kurzem erst hatten sie sich bemerkbar gemacht und teilweise erklärt. Durch sie war man nach Kentyr gelangt, durch sie hatte man den Ganf-Leichnam geborgen, und durch sie war man überhaupt erst ins abgeschottete Angksystem gelangt.

Und auch dass die RUBIKON das Wagnis eingegangen war, Portas anzusteuern, lag letztlich an Versprechungen der Ganf, sich dort des Leichnams entledigen zu können und weitere Erklärungen zu erhalten, die die Gesamtsituation betrafen.

Bis dahin hatte Tecum die Crew bereits mit der Aussage konfrontiert, dass die Bractonen eins mit Sicherheit nicht waren – die Schöpfer des Universums nämlich, wie sie es von Anfang an behauptet hatten.

Waren die Schöpfer im Rückschluss dann aber jene, die diese Überzeugung erst in die Bractonen gepflanzt hatten, die Ganf also? Darüber war noch nicht gesprochen worden, aber es war darüber zu sprechen. Vielleicht bot sich jetzt eine Gelegenheit dazu.

»Commander …« Tecum kam Cloud entgegen. »Darf ich das Schiff übernehmen?«

Die Frage überraschte Cloud nicht einmal. »Wozu?«, fragte er nur.

»Um sie zu ihrem Ziel zu steuern.«

»Wir befinden uns also noch im Angksystem?«

»Und über Portas – natürlich.«

»Warum können dann plötzlich Sonden weiterfliegen, nachdem sie die RUBIKON verlassen haben? Ich dachte, die Vorkehrungen, um die Zeitstarre zu egalisieren, wirken nur auf die RUBIKON?«, verlangte Cloud nach Erklärungen.

»Die Zeitstarre gilt für alles in diesem System – ausgenommen Portas.«

»Und das soll eine Erklärung sein?«, mischte sich Jarvis ein.

»Also könnten wir hier über Portas darauf verzichten, Darnoks Kräfte anzuzapfen?«, fragte Cloud.

»Er wurde bereits ausgeklinkt. Ihn hier aktiv zu belassen, würde sich sehr nachteilig für Schiff und Besatzung auswirken.«

»Auch für euch?«

»Auch für uns.«

»Und die unterbrochene Verbindung zu den Sonden? Davon weißt du doch sicher auch längst.«

»Wie vermutet – ein Störfeld.«

»Und wozu diese Störung?«

»Wir wollen selbst bestimmen, was ihr zu sehen bekommt und was nicht.«

»Habt ihr kein Vertrauen zu uns?«

»Wir sind … wie würdet ihr sagen? Nun, wir sind gebrannte Kinder, wenn ihr versteht.«

»Euer Vertrauen wurde schon einmal enttäuscht? Von wem?«

»Das tut nichts zur Sache. Ich übernehme jetzt.«

Der Ganf trat nicht wie ein wirklicher Bittsteller auf, aber auch das war Cloud, waren alle an Bord inzwischen gewöhnt.

»Du kannst meinen Sitz übernehmen«, sagte er. »Wie lange wirst du brauchen, um uns dorthin zu lenken, wohin es den Ganf beliebt?«

»Wenige Minuten eurer Zeitrechnung.«

»Dann los.« Cloud zeigte zu seinem Sitz.

Er ignorierte die wenig erfreuten Blicke seiner Gefährten, allen voran Assur und Scobee.

Tecum bewegte sich geschmeidig auf den Kommandositz zu, nahm dann aber etwas umständlich darauf Platz. Offenbar wies die Konstruktion ergonomische Mängel für einen Ganf auf. Letztlich störte ihn das aber nicht und hinderte ihn auch nicht an seinem Vorhaben.

Cloud übergab die Autorisation »offiziell« an Tecum, wobei er bezweifelte, dass es dessen bedurft hätte. Von der »anderen« Schiffsseite aus hatten die Ganf schon derart drastische Eingriffe ins Gefüge der RUBIKON genommen, dass er davon ausging, dass es Tecum nur ein müdes Lächeln gekostet hätte, die volle Kontrolle an sich zu reißen.

Aber Tecum erinnerte in vielem an Kargor, der auch einmal nach Belieben an Bord geschaltet und gewaltet hatte. Das war lange her, aber in Erinnerung geblieben. Kargor …

Zum ersten Mal wurde Cloud die Möglichkeit bewusst, dass sie dem Bractonen auf Portas über den Weg laufen würden. Seit die Tridentische Kugel nach Angk III vorgestoßen und hinter den Atmosphäreschleiern verschwunden war, hatte niemand mehr etwas von der Expedition gehört, die Kargor anführte. Erklärtes Ziel des Bractonen war es gewesen, durch eine Art »Tor« in das angestammte Kontinuum zu gelangen. Dieses Tor hatte irgendwann in der Vergangenheit zu jener Katastrophe geführt, nach der Portas zur Tabuwelt erklärt worden war. Dennoch war Kargor vor seinem Abflug der Überzeugung gewesen, dass er es schaffen könnte, die Alte Heimat zu erreichen.

Nach den eigenen Erfahrungen, die Cloud und seine Crew gerade machten, musste allerdings die Frage erlaubt sein, ob es dieses Tor überhaupt gab – und was mit Kargor und seiner Tridentischen Kugel passiert war. Hatten sie auch das laut Tecum wahre Gesicht von Angk III schauen dürfen? Oder waren sie so getäuscht worden wie die RUBIKON bei ihrem ersten Besuch?

Cloud wartete ab, bis Tecum die Steuerung des Rochenraumers erkennbar übernommen hatte, dann trat er neben ihn und sagte: »Dir ist hoffentlich klar, dass die RUBIKON nicht landen kann. Wir sollten eine bestimmte Höhe nicht unterschreiten.«

Tecum schien diesen Hinweis nicht einer Antwort für wert zu befinden.

Die RUBIKON ging tiefer. Ziel des Ganf im Kommandositz war es offenbar, die Wolkenschicht zu durchstoßen, was Cloud grundsätzlich begrüßte, da er es kaum erwarten konnte, mehr Informationen über den Planeten zu erhalten, der sich bislang allen Erkundungsversuchen erfolgreich entzogen hatte.

»Bist du immer noch überzeugt, das Richtige zu tun?«, wandte sich Scobee mit gefurchter Stirn an ihn.

»Ja.«

»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Ein simples Ja?«

»Du hast gefragt, ich habe geantwortet. Wenn ich nein meinen würde, würde ich nein sagen. Aber ich bin überzeugt. Genügt das?«

»Nein.«

»Ach. Ein simples Nein? Ist das alles, was du –«

»Idiot!« Sie richtete demonstrativ den Blick in die Holosäule.

»Idiot, Sir ! Wenn ich bitten darf.« Cloud lächelte kurz. Er wusste, was er an Scobee hatte. Ein »Idiot!« mehr oder weniger machte daran keinen Unterschied. Gegenseitiger Respekt drückte sich in anderen Dingen aus.

Als er kurz zu Assur sah, grinste sie ihn herausfordernd an.

»Noch jemand, der das Kommando übernehmen will?«, fragte er in die Runde.

»Es wurde bereits übernommen – nur falls es dir entgangen sein sollte, Commander«, merkte Jarvis süffisant an.

In diesem Moment durchstieß die RUBIKON die Wolkenschicht, und unter ihnen lag der Planet unverhüllt vor ihnen.

Cloud fühlte sich fast auf die Erde versetzt, als diese noch keine Hohlwelt und noch nicht von den Keelon annektiert gewesen war. Sie bewegten sich auf sattgrünen Regenwald zu, wie er 2041 noch weite Teile Südamerikas geprägt hatte.

»Der blaue Planet …«, rann es über seine Lippen, ohne dass er es zurückhalten konnte.

»Ja«, stimmte sofort Scobee in den gleichen Tenor ein. »So sieht es wirklich aus – als flögen wir über den fruchtbarsten Zonen der guten alten Erde.«

»Atemberaubend.« Jarvis wollte auch nicht zurückstehen. »Der Ozean unter uns … aber erst recht dort: Das Festland, auf das wir zuhalten. Was ist das? Insel oder Kontinent?«

»Wir werden langsamer. Tecum drosselt die Geschwindigkeit«, interpretierte Assur die Werte, die in die Holosäule eingeblendet wurden.

Weit vor ihnen, noch vor der Küste, schwebten etwa drei Dutzend Gebilde am Himmel. Es waren Objekte von unterschiedlichster Form und Größe, und je näher die RUBIKON kam, desto mehr erinnerten sie an Obelisken, die von unsichtbaren Kräften dicht über den Meereswellen gehalten wurden.

»Ist das unser Ziel?«, fragte Cloud.

»Unsere erste Station«, erwiderte Tecum. »Es wird höchste Zeit für Shayol.«

»Shayol?«

»Mein toter Bruder – der sich nach Zejna sehnt. Dem Ort seiner letzten Erfüllung.«

2.


Varx spürte die Erschütterungen in sich ab dem Moment, da das Raumschiff, auf dem er sich befand, in die Atmosphäre von Portas eintauchte.

Die Erschütterung ereignete sich tief in ihm – dort, wo sich ein eigener Kosmos, begrenzt von nachtschwarzer Haut, befand.

Der Sternling blieb abrupt stehen und schrie auf, und da der Schrei nach innen gerichtet war, zerschmetterte er Planeten und Monde, ließ Sonnen zu Supernovae entarten.

Noch nie zuvor war Varx von solchen Gefühlen übermannt worden.

Da er aber nicht allein war, sondern in Gesellschaft von Aylea, mit der er kürzlich unter ganz besonderen Umständen Freundschaft geschlossen hatte, versetzte er seine Begleiterin in Angst und Schrecken.

»Varx!«

Ihr Schrei war nach außen gerichtet.

Und deshalb konnte er Varx für eine lange Zeit nicht erreichen …



Aylea starrte fassungslos auf ihren Begleiter, mit dem sie eine Minute zuvor durch ein Schott getreten war, das in eine komplexe autarke Welt an Bord der RUBIKON führte.

Nach Kalser.

Pseudokalser.

Die Holo-Nachbildung der Nargen-Heimat hatte Aylea und Varx mit einem klaren Himmel empfangen. Der Blick reichte weit über die Baumhäuser am Schrund hinaus, bis hin zu den eisigen Feldern aus Permafrost. Aber sie hatten die Strecke zum Dorf noch nicht einmal zur Hälfte zurückgelegt gehabt, als eine unheimliche Verwandlung mit Varx vonstattenging.

Vor Ayleas Auge bekam die Haut des Freundes Risse. Und aus diesen Verletzungen quollen Sternennebel und Galaxien hervor …

Varx war von einem Schritt auf den nächsten wie zur Salzsäule erstarrt.

Ayleas Schrei alarmierte Yael, der über ihr Kommen unterrichtet war und sie bereits zusammen mit Winoa erwartet hatte.

Sekunden später landete der geflügelte Freund, von Ayleas Schrei angelockt, neben ihr – und starrte zunächst ebenso entgeistert wie sie auf Varx.

»Wie … ist das passiert?«, keuchte er. Hinter ihm kam Winoa angerannt.

»Ich weiß es nicht. Aber er braucht dringend Hilfe! Vielleicht stirbt er …«

»Können Sternlinge überhaupt sterben?«

»Was weiß ich?«, rief sie ungeduldig. »Hast du so etwas jemals gesehen? Es ist, als würde er auslaufen. Als wäre in ihm eine Flüssigkeit, die durch ein Leck entweicht. Und mit ihr alles, was darin schwimmt …«

»Ich kann nichts tun. Und mein Orham ist nicht hier. Er wollte in die Zentrale. Sesha muss helfen. Sesha?!«

»Yael?«

»Siehst du, was hier passiert?«

»Du meinst den Sternling?«

»Ja! Wen sonst?«, schrie Aylea so ungehalten, dass sie sich sofort danach die Hand vor den Mund hielt, als hätte sie Sorge, dass der Schrei Varx Haut noch mehr Risse zufügen könnte – wie ein hochfrequenter Ton Glas zum Zerspringen brachte.

»Ich fürchte, ich kann nichts tun«, sagte die KI. »Ein solcher Fall ist noch nie vorgekommen.«

»Könnte Tecum dahinterstecken?«, fragte Winoa, als sie ihre Freunde außer Atem nach dem Spurt, den sie hingelegt hatte, erreichte. Sie war ebenso wie Yael von Aylea haarklein über alles unterrichtet worden, was die Freundin und Varx im Cy Memorial und auf Arrankor erlebt hatten.

»Nein«, sagte Aylea kopfschüttelnd. »Uns wurde vom Commander versichert, dass Varx unter seinem persönlichen Schutz steht – und er das jedem, auch dem Ganf, unmissverständlich zu verstehen gibt!«

»Dann hat er das auch getan. Du hast recht«, lenkte Winoa sofort ein. »Auf John ist Verlass – sagt jedenfalls meine Mutter ungefähr dreihundert Mal am Tag. Okay, gefühlte dreihundert Mal.« Sie grinste, obwohl auch sie nur Augen für Varx und das hatte, was mit dem Sternling geschah. Es sah tatsächlich so aus, als blute er Sterne und Planeten .

Doch dann …

schien jemand auf eine Rückspultaste zu drücken, und alles, was aus Varx bis dato herausgeströmt war, floss innerhalb von Sekunden wieder in ihn zurück.

Am Ende stand er scheinbar unversehrt vor ihnen. Und auch die Lähmung fiel von ihm ab.

»Was ist?«, fragte er scheinbar arglos. »Warum schaut ihr mich so komisch an? Ist was?«



»Du kannst dich wirklich nicht erinnern?«

»Ich erinnere mich schon – aber nicht an das, was ihr mir gerade erzählt habt.«

»Und an was erinnerst du dich?«

»Ich verlor kurz das Bewusstsein. Ein Schwindelgefühl. Chaos. Schreckliche Laute … Ich glaube, ich habe sie selbst ausgestoßen …«

»Du warst vollkommen stumm. Die ganze Zeit – während es aus dir herauslief.«

»Aus mir kann nichts herauslaufen.«

»Sesha ist unser Zeuge!«

Varx blickte betreten auf die Schar von neuen Freunden, die er seit seiner Rückkehr auf die RUBIKON dank Ayleas »Vermittlung« gefunden hatte. Sie hatte ihn mit Winoa und Yael zusammengebracht, weil es Freunde von ihr waren. Und diese hatten Varx ohne jeden Vorbehalt auf Anhieb akzeptiert und in ihre Clique aufgenommen.

Eine Clique – das hatte Varx zuvor noch nicht einmal in der Theorie gekannt.

Es war für ihn ein erhebendes Glücksgefühl, wie ein Mensch behandelt zu werden – obwohl er definitiv keiner war. Aber diese Redensart, jemanden »wie einen Menschen behandeln«, war auch für ihn klar begreiflich. Vielleicht war es das, wonach er sich immer so gesehnt hatte, seit … ja, seit wann eigentlich? Wann hatte sein Sein, seine Existenz eigentlich begonnen?

Nach menschlichen Maßstäben war er uralt. Er war dabei gewesen, als die ersten Menschen im Angksystem angekommen waren. Und er hatte einige von ihnen bei ihren anfangs noch unsicheren Versuchen, sich eine Lebensgrundlage auf den Angkwelten zu schaffen, begleitet. Er hatte Sahbu persönlich kennengelernt, die Lange Paula … und natürlich Prosper. Prosper Mérimée. In ihm waren so viele Erinnerungen, so viele Geschichten hinterlegt, dass er jahrelang pausenlos davon hätte erzählen können.

Er war es gewesen, der Prosper Mérimée damals, als dieser längst Wurzeln geschlagen und eigenen Nachwuchs gezeugt hatte, nach Portas gelotst hatte.

Ja, Portas.

War es nicht verrückt, dass er all die Zeit nie mehr daran gedacht hatte, dass er dort schon einmal gewesen war? Wie hatte er das vergessen können?

»Varx? Varx! Was ist mit dir? Du bist so still. Fängt es etwa schon wieder an?«

»Nein, nein«, beruhigte er Aylea, die ehrlich besorgt um ihn schien. Er mochte sie sehr. »Es ist nur …«

»Was?«

»Ich musste gerade an damals denken.«

»Damals?«

»Als ich mit Prosper zusammen nach Angk III ging, in ihrem Auftrag.«

»Prosper? Du meinst nicht etwa Prosper Mérimée ?«, fiel Aylea aus allen Wolken. »Aber wie könntest …? Wie alt müsstest du sein? Tausend? Zehntausend Jahre?«

Varx wollte ihr antworten. Aber in diesem Moment kam der nächste Schub. Es war, als hätte die erste Erschütterung Dämme niedergerissen, und nun kamen lawinenartig die Erinnerungen über ihn. Erinnerungen an Portas. An Prosper Mérimée … und die Dinge, die sie erlebt hatten. Damals, als Prosper seine Bestimmung gefunden hatte – so groß das persönliche Opfer auch gewesen, so schwer es ihm auch gefallen war.

»Prosper …«

Varx erstarrte vor den Augen seiner Freunde abermals zur Statue. Diesmal jedoch bildeten sich keine Risse, die äußerlich erkennbar gewesen wären. Diesmal blutete er nach innen


3.

Vergangenheit


Prosper Mérimées Blick war so starr auf den vor ihm aufragenden Koloss gerichtet, als bestünde dieser Blick aus einem permanenten Strom mikroskopisch kleiner Eisenspäne, die von einem Supermagneten angezogen wurden.

Prospers Blick klebte förmlich an dem Gebilde, das groß wie ein mehrstöckiges Haus war und kein lebendiges Wesen sein konnte . Und doch hatte es gerade zu ihm gesprochen. Worte, die sich wie Feuer in seinen Geist gebrannt hatten. Worte in einer Sprache, die er noch niemals gehört zu haben meinte und dennoch verstand. Fließend verstand.

Für einen Moment zweifelte er an der realen Existenz von allem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte – seit »Roddy« auf Arrankor aufgetaucht war, der Welt, auf der Prosper fast beschaulich mit seiner Familie gelebt hatte. Den Resten seiner Familie. Denn mit Sarahs Tod war der gefühlte Mittelpunkt dieser Familie weggebrochen.

Mithilfe von Varx, einem Sternling, der sich der Roddy-»Maske« bedient hatte, um Prosper leichter zur Teilnahme an diesem Himmelfahrtskommando überreden zu können, waren sie nach Portas gelangt.

Hierher .

Portas galt seit jeher als die verbotene unter den sieben Angkwelten – auf ihr, so munkelte man, war irgendwann in grauer Vorzeit ein extrem wichtiges Experiment der ERBAUER so grundlegend gescheitert, dass danach der gesamte Planet in eine Sperrzone hatte verwandelt werden müssen. Was genau auf Portas passiert oder fehlgeschlagen war, darüber gab es die wildesten Gerüchte. Prosper hatte sich nie großartig an diesbezüglichen Spekulationen beteiligt, während Sarah ganz fasziniert von der Thematik gewesen war. Sie hatte damit auch ihre Kinder infiziert, und selbst nach dem Tod ihrer Mutter hatte Prosper sie oft über Angk III reden und fantasieren hören. »Roddys« Auftauchen und Ankündigung, Prosper mit nach Portas nehmen zu müssen , weil sonst dem gesamten Sieben-Welten-System eine Katastrophe drohte, hatte die Gedanken des ehemaligen Zirkusdirektors und Bewohner des Erdghettos fast schmerzhaft abrupt auf Angk III fokussiert.

Er hatte sich von dem falschen Roddy überreden lassen. Weil er alles getan hätte, um seinen Kindern und Enkelkindern eine heile Welt zu erhalten. Sie hatten das Glück, wie selbstverständlich auf einer Angkwelt groß zu werden. All den Gefühls- und Erinnerungsballast, den ihre Eltern und Großeltern mit sich herumtrugen, weil sie irgendwo doch von den Umständen, wie sie einst zu den ERBAUERN gelangt waren, traumatisiert wurden, schleppten sie gar nicht erst mit sich herum. Und das war gut so. Arrankor war ihre Heimat. Dort hatten sie ihre Wurzeln, weil Prosper und Sarah sich vor Jahrzehnten an einer der Meeresküsten niedergelassen und ein wundervolles Wunschhaus gebaut hatten – Wunschhaus deshalb, weil es aus einer speziellen Materie hergestellt war, die überall auf Arrankor in sogenannten Depots gelagert war. Sie stand den menschlichen Siedlern zur Verfügung. Es war ein intelligentes Baumaterial, das sich allein kraft der Gedanken formen ließ. Und wenn er zufrieden mit dem Resultat war, konnte der »Architekt« bestimmen, dass es in der erzielten Form stabil blieb. Andere vermochten dann nicht mehr daran zu rütteln; nur der kreative Kopf eines Werks selbst, indem er die »Sperre«, die es sicherte, bewusst wieder aufhob. Dann konnte er den ganzen bau verwerfen oder selektiv Änderungen vornehmen.

Das war in den Jahrzehnten mehrfach geschehen. Nur nicht mehr seit Sarahs Tod, da sie gemeinsam mit Prosper als autorisierte Erbauerin in der Nanostruktur des Gebäudes verankert war. Es hatte stets ihrer beider geistiger Einwilligung bedurft, um Änderungen vorzunehmen. Nun war das Haus fast so etwas wie ein Denkmal für Sarah geworden. Was die Familienangehörigen aber nicht daran hindern würde, sich eigene Häuser in der Nähe oder irgendwann auch weiter fort zu errichten. Mit einem eigenen Depot.

Prosper hing nur einen Sekundenbruchteil in Gedanken dem nach, was er hinter sich gelassen hatte, um hierher zu kommen. Und noch wusste er nicht, wie er auf den Betrug mit Roddy reagieren sollte – oder was er überhaupt von der Situation halten sollte, in der er war und die sich ihm völlig anders darstellte, als er es je hatte erwarten können.

Portas.

Die Tabuwelt.

Sie galt als eine Art Vorhölle, die nicht einmal mehr von den ERBAUERN selbst betreten wurde.

Und nun war er hier, und alles … sah so verdammt friedlich aus.

Bis auf den Koloss vielleicht, dessen Worte Prosper nicht aus dem Kopf gingen. Denn er hatte prophezeit, Portas würde zu genau der Hölle werden , die Prosper vorschwebte, wenn er, Prosper, dies nicht verhindere!

Punkt.

Ausrufezeichen!

Endlich gelang es ihm, den Blick von dem unglaublichen Geschöpf zu lösen, in dessen Schatten er stand. Hilfesuchend hielt er Ausschau nach Varx, die ihn schließlich hierher gebracht hatte. Aber Varx schien verschwunden.

Prosper wandte sich mit geballten Fäusten wieder dem Koloss zu. »Wer bist du?«

Er erwartete eine Antwort, die ebenso prompt kam wie die Behauptung von vorhin, mit der Prosper sich so rein gar nicht unter Druck gesetzt fühlte.

Ironiemodus aus , dachte er gequält.

Und musste dann mit ansehen, wie der möglichen Antwort erst einmal eine Verwandlung vorausging.

Vor seinen Augen begann der Gigant … zu schrumpfen.

Am Ende des Prozesses blieb ein Wesen übrig, das genauso groß – oder klein – war, wie Prosper, nur völlig anders geformt.

Prinzipiell war das Geschöpf vor ihm offenbar mit einer irdischen Schnecke verwandt; zumindest sprach dafür die ölig glänzende, absolut glatte Haut und die teleskopartig abstehenden Stiele, an deren Enden sich »Augen« zu befinden schienen. Augen, die Prosper so unverwandt und interessiert anschauten, als sähen sie ihn auch gerade zum ersten Mal aus der Nähe. Was sogar gut sein konnte, denn zuvor hatten sie sich zwanzig, dreißig Meter über ihm befunden.

»Ich bin ein Ganf«, sagte das geschrumpfte Wesen.

Prosper spürte, dass er etwas erwidern sollte, aber die Hemmschwelle war größer. Die Stimme des nun Gleichgroßen transportierte immer noch so viel Überlegenheit, als wäre es noch der Koloss von zuvor.

»Ein Ganf …«

»Ganf ist die Bezeichnung für die Art , der ich angehöre. So wie du dich Mensch nennst«, sagte das schneckenartige Wesen.

»Und wie heißt du?«

»Varol«, sagte der Ganf.

»Ich bin –«

»Wir wissen, wer du bist. Du bist gekommen, weil wir dich brauchen und nach dir geschickt haben.«

Das hatte Prosper beinahe vergessen. Er war immer noch wie benommen. Fast noch erstaunlicher als der Ganf waren die Bedingungen, unter denen er mit ihm zusammentraf. Wenn das hier wirklich Portas war – wozu kamen dann all die Horrormärchen, die sich auf Angk III bezogen?

Erinnere dich – dieses »Märchen« werden von keinem ERBAUER dementiert, sondern eher bekräftigt. Die Tavner sind das Sprachrohr der Bractonen. Bractonen hatte Varx die ERBAUER genannt. Auch sie sprachen oft von der Ausnahmestellung der dritten der Angkwelten. Sie warnten vor ihr. Portas dürfte nicht so sein wie … wie das hier!

Varol schien seine Gedanken zu erraten. »Der Schein trügt manchmal. Ich sehe, wie es hinter deiner Stirn arbeitet. Aber es gibt für alles eine Erklärung.«

»Liest du meine Gedanken?« Prosper trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Nein«, behauptete der Ganf. »Aber dein ganzer Körper spricht unablässig zu mir, jede Geste, jedes Muskelzucken, jeder Blick.«

»Selbst innerhalb ihrer Spezies«, erwiderte Prosper verhalten, »fällt es Menschen oft schwer, die Mimik und Körpersprache eines Gegenübers zu deuten. Und du willst sagen, dass du sie bei einem Artfremden wie mir mühelos verstehst? Und fast so perfekt, als wäre es Gedankenlesen?«

»Du bist mir nicht fremd. Keiner von denen, die mit dir kamen und sich über die Welten verstreuten, blieb uns fremd. Wir beobachten und studieren euch, seit ihr kamt. Es war ein langwieriger Lernprozess. Aber er fruchtete, wie du siehst.«

»Ihr habt uns … beobachtet?« Prospers immer stärker werdender Argwohn weckte auch instinktive Abneigung. Er wich noch zwei Schritte zurück. » Ausspioniert

»Bleiben wir bei ›beobachtet‹«, sagte Varol. »Wir waren euch stets zugetan, eure Förderer.«

»Die … die ERBAUER sind unsere Förderer! Sie brachten uns gegen unseren Willen hierher – man könnte auch sagen, Kargor hat uns entführt und im Angksystem ausgesetzt. Aber das habe ich und haben ihm wahrscheinlich alle anderen Betroffenen, von denen die meisten noch leben, längst verziehen. Inzwischen sehen wir das Schicksal, das uns aufgezwungen wurde, als Chance. Wahrscheinlich hätten wir nie irgendwo in der Galaxie unter ähnlich ›kontrollierten‹ und behüteten Bedingungen ansässig werden können wie auf Arrankor, Gismo und wie die Angkwelten sonst noch heißen. Wir sind den Bractonen dankbar. Zumindest überwiegt der Dank gegenüber allem, was man ihnen vorwerfen kann und vielleicht auch muss. Aber dazu müsste man sie erst einmal vor die Nase bekommen. Das ist uns … mir zumindest … in all den Jahrzehnten seit der Aussetzung nicht gelungen. Kargor war der erste und letzte ERBAUER, den ich zu Gesicht bekam.«

»Kargor ist ein Kapitel für sich«, sagte Varol. »Vielleicht sprechen wir eines Tages einmal darüber. Aber wahrscheinlicher ist, dass es keinen Sinn machen würde.«

Prosper war verblüfft, in welcher Art und Weise der Ganf über die ERBAUER im Allgemeinen und Varol im Speziellen redete.

»Nichts hier macht einen Sinn!«, sprudelte es aus ihm heraus. Ich bin fast sogar geneigt, an nichts von dem, was ich hier zu erleben meine, zu glauben! Kann es sein, das sich brutal getäuscht werde? Hat Varx mich unbemerkt unter Drogen gesetzt? Halluziniere ich hier munter vor mich hin?!«

»Das traust du uns – und ihm – zu?«

»Ich traue Leuten, die ich nicht die Spur kenne, prinzipiell jede Schandtat zu!«

»Eine gesunde Einstellung.«

»Für eine Halluzination nimmst du den Mund ganz schön voll!«

»Vielleicht weil ich keine Halluzination bin.«

»Beweise es!«

»Meinst du, das lässt du zu?«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass jemand unbedingt seine bereits gefestigte Überzeugung bewahren will, sich auch von den allerbesten Argumenten nicht umstimmen lässt – weil er für jedes Argument Indizien findet, die es infrage stellen.«

»Das ist jetzt aber eine billige Art, sich vor Argumenten zu drücken.«

»Ich hatte ohnehin vor, dich mitzunehmen – wozu sonst wärst du hier?«, sagte Varol. »Und dort, wohin ich dich bringe, wartet das, was dich hoffentlich davon überzeugt, dass Realität ein unverkennbares und unverfälschliches Erkennungsmerkmal hat.«

»Ach ja? Ich bin gespannt. Welches?«

»Man kann sie greifen

Varol winkte Prosper zu sich heran.

Noch während Mérimée überlegte, ob er dem Wink Folge leisten sollte, schwebte von links etwas auf den Ganf zu. Es sah aus wie ein Würfel, der aus nichts anderes zu bestehen schien als aus so hoch verdichtetem Licht, dass es davon seinen blendenden Glanz etwas verloren hatte, matter und damit zugleich auch fassbarer geworden war. Der Würfel verhielt in Reichweite eines der dünnen Ärmchen des Ganf, und dieser griff hinein.

Prosper sah nicht, dass sich irgendwo eine Öffnung bildete. Für ihn hatte es den Anschein, auch durchdringe Varols Hand die offenbar doch nur vorgegaukelte Substanz.

So viel zum Thema ›greifbarer Beweis‹, konnte Prosper sich den bissigen Gedanken nicht verkneifen.

Doch dann leistete er innerlich Abbitte, denn als Varol seine Finger zurückzog, hielt er dazwischen etwas offenbar durchaus Handfestes.

Erneut winkte der Ganf den Menschen zu sich heran und hielt ihm zugleich den Metallreif entgegen.

Der Würfel entfernte sich wieder, als habe er seinen Dienst erfüllt.

Prosper nahm sich nicht die Zeit, dem davonschwebenden Quader nachzuschauen. Der Reif in Varols Hand schien ihm bedeutsamer.

»Was ist das?«

»Eine Hilfe.«

»Eine Hilfe für wen und wofür?«

»Für dich. Damit du mich dorthin begleiten kannst, wo ich und andere, die sind wie ich, leben und wohnen.«

»Und das kann ich ohne dieses Ding da nicht?«

»Du würdest dich sehr unwohl fühlen.«

»Sagt der, der jede Geste, jedes Muskelzucken, jeden Blick von mir versteht. Wenn man dich so hört, muss man glauben, du bist unheimlich besorgt um mein Wohl.«

»Das steht außer Zweifel.«

»Deinem vielleicht, meinem nicht. Noch mal: Was ist das für ein Ding.«

Der Ganf trat langsam auf Prosper zu, und obwohl dessen erster Impuls war, die vorherige Distanz wieder herzustellen, beherrschte er sich und erwartete Varol, der dicht vor ihm stehen blieb, den Reif immer noch zwischen seinen feingliedrigen Fingern.

»Nimm. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will dir nicht schaden. Das hätte ich längst tun können, wenn ich es vorhätte.«

Prosper, der Wert auf gute Argumente legte, musste sich eingestehen, dass dieses schwer zu widerlegen war.

Er hob die rechte Hand und führte sie bis auf wenige Zentimeter an den Reif heran. Er glaubte, eine Art zu spüren, der davon ausging. Zugleich bildete er sich ein, wie seine Finger langgezogen wurden, wie bei einem Special Effect in einem Film, den er vor sehr langer Zeit geschaut hatte.

Er zuckte zurück, keuchte. »Was war das?«

»Hat es weh getan?«

»Nein, aber –«

»Dann lass es an dich heran.«

»An mich heran? Ich werden den Teufel tun!«

Plötzlich begann Varol vor ihm zu wachsen. Binnen Sekunden wurde er wieder der Koloss, der er bei der ersten Sichtung gewesen war.

Prosper musste die Beine in die Hand nehmen, um vor dem expandierenden Geschöpf, das ihn sonst geschoben hätte, zu flüchten.

»Heh!«

Von weit oben kam die Frage: »Und das gefällt dir besser?«

Prosper fluchte, ohne den Zusammenhang zu seiner Frage nach Sinn und Zweck des Reifs herstellen zu können.

»Es gefällt mir natürlich nicht besser! Komm wieder runter!«

Zu seiner Überraschung gehorchte Varol. Aber er wirkte um einiges ungeduldiger, als er jetzt wieder zu Prosper trat. »Nimm!«, verlangte er. »Es ist nötig. Sonst können wir nicht auf Augenhöhe und in einer für alle akzeptablen Atmosphäre über das reden, was dich hierher geführt hat.«

»Das nenne ich Erpressung. Nötigung.«

»Ein winziger Sprung nur«, lockte Varol, als müsste er ein kleines Kind überreden. »Über deinen eigenen Schatten. Deinen Stolz, Mensch, den dir niemand nehmen will. Nimm den reif, und er erklärt sich von selbst.«

Prosper überwand seine Zweifel und griff zu. Der Effekt von zuvor blieb aus, sodass er glaubte, Varol hätte ihn zuvor gezielt eingesetzt.

Der Reif fühlte sich kühl und großartig an.

Großartig? Was denke ich da? Bin das überhaupt noch ich?

Verblüfft sah er zu, wie er sich den Reif über die linke Hand schob, bis hinauf zu Oberarm. Wie die Hand das selbsttätig tat, ohne dass er es bewusst vorgehabt hatte.

Er rang nach Luft. Da entfaltete sich aber schon die Wirkung des Reifs.

Prosper begann zu wachsen – und der Reif mit ihm.

Gebannt ließ Prosper den Rollentausch mit sich geschehen. Für kurze Zeit war er der Gigant und Varol der Wicht!

Prosper blickte zu dem Ganf hinab und bekam ein Gefühl dafür, wie es war, die Umgebung von dieser Warte aus zu erleben. Es fühlte sich … gut an. Für einen Moment verfiel er der Verlockung, die dieser Zustand fast automatisch mit sich brachte – er kam sich erhaben und jedem, selbst dem Ganflein da unten, überlegen vor.

Dann aber explodierte der Wicht förmlich zu derselben Größe, die auch Prosper gerade innezuhaben glaubte.

Varol sagte: »Wie ist es für dich – akzeptabel?«

Prosper hätte lügen müssen, es abzustreiten. »Worum geht es dir dabei?«, fragte er. »Was hast du davon, wenn ich mich auf diese Ebene begebe, scheinbar zumindest.«

»Du weißt, wie es funktioniert?«, fragte der Ganf.

Prosper schüttelte den Kopf. »So ein Genie bin ich nicht.«

»Dafür hast du andere Qualitäten«, schmeichelte ihm Varol.

»Mag sein. Aber woher willst du das wissen?«

»Weil du deiner Qualitäten wegen hier bist. Aber zurück zu deiner Verwandlung. Der Reif um deinen Arm ermöglicht dir, was wir Ganf von Natur aus können.«

»Und das wäre? Nach Belieben wachsen und wieder verkleinern?«

Varol machte eine Geste, die Prosper als Bestätigung deutete. »Genauso ist es.«

»Warum sollte die Natur sich so etwas einfallen lassen?«

»Vielleicht hatte sie an dem Tag, an dem sie unser Erbgut festlegte, gerade Langeweile?«

Prosper lachte kurz und hart auf. Er war aber nicht amüsiert, sondern eher eigentümlich berührt.

»Der Reif«, fuhr Varol fort, »imitiert auf technischem Weg, was wir allein mit unserem Willen bei uns hervorzurufen vermögen. Es handelt sich um ein energetisches Spannungsfeld, das deine sämtlichen Sinne auf die Größe ›aufbläht‹, die du jetzt einnimmst. Anders erklärt: Du ›siehst‹ dadurch aus der Höhe, in der sich deine Augen befinden würden, wenn du tatsächlich diese Größe hättest. Du hörst aus der Position, wo deine Ohren wären. Mich erreichen deine gesprochenen Worte so, als befände sich dein Mund tatsächlich in Höhe meines eigenen Kopfes. Du riechst sogar von dort aus, wo deine Nase wäre , wenn du plötzlich ein echter Riese geworden wärst.«

Prosper hatte Zweifel, ob er das alles verkraften würde. »Das sind nicht alle meine Sinne – wie steht es mit dem Tasten? Das kann nicht funktionieren, oder?«

»Probiere es aus. Mir würdest du es vermutlich ungeprüft nicht glauben, also trau dir selbst. Berühre mich. Hier zum Beispiel.« Varol zeigte auf eine Stelle in Höhe von Prospers Brustkorb – der Ganf selbst hatte keine Brust im eigentlichen Sinn.

Prosper streckte vorsichtig Hand aus. Seine Hand. Wenn er an sich herabblickte, hatte er den Körper eines Riesen, obwohl ihm sein Verstand sagte, dass er immer noch zwergisch klein irgendwo tief da unten stand, einen Reif um den Arm, der ihm all das nur vortäuschte.

Er stieß auf Widerstand. Der Ganf fühlte sich an wie ein gerade aus dem Wasser gezogener Fisch. Das Gewebe war straff, die Haut nicht glitschig, aber von einer Flüssigkeit bedeckt, die als permanenter dünner Film erkennbar war.

Als Prosper die Finger zurückzog, verflüchtigte sich die Feuchtigkeit darauf augenblicklich.

»Und?«, fragte Varol, als interessiere es ihn tatsächlich, was Prosper zu dem Versuch sagte.

»Ich bin überrascht.«

»Nur überrascht? Du solltest überwältigt sein.«

»Darauf legst du es an? Mich zu überwältigen?«

»Beeindrucken ist vielleicht das treffendere Wort.«

»Wenn ihr selbst keine technische Krücke dafür braucht«, sagte Prosper nach kurzem Nachdenken kritisch, »warum solltet ihr dann überhaupt ein Gerät entwickeln, das zu etwas imstande ist?«

»Ganz einfach«, sagte Varol. »Du bist nicht der Erste, mit dem wir Kontakt haben und der sich bei unserem normalen Erscheinungsbild hoffnungslos unterlegen fühlen muss. Wir sind … oder waren zumindest … immer ein geselliges Volk. Es gab eine Zeit, da waren wir auf vielen Welten der Milchstraße präsent. Wir wählten stets Planeten aus, die schon eine eigene vernunftbegabte Spezies hervorgebracht hatten. Dort bildeten wir eine Art Parallelgesellschaft – aber nicht, wie du vielleicht denken magst, um die Ureinwohner zu unterdrücken oder zu bevormunden. Nein, wir sahen uns stets als Mentoren, als Förderer. Niemand musste jemals bereuen, sich mit uns eingelassen zu haben. Doch die Zeiten und Bedingungen änderten sich. Es kam der Tag, an dem wir uns von den meisten Welten zurückzogen.«

»Warum – und wohin?«, fragte Prosper. »Hierher etwa, ins Reich der ERBAUER?«

Der Ton, der sich Varols Körper entrang, klang entfernt wie ein Seufzer. »Du legst den Finger genau auf die Wunde.«

»Welche Wunde?«

»Auf das Kardinalproblem, das für dich einem tieferen Verständnis, mit wem du es bei uns Ganf zu tun hast, im Wege steht. Erst wenn dein größter Irrtum ausgeräumt ist, kannst du beginnen zu verstehen. Die Wahrheit zu verstehen.«

»Wessen Wahrheit? Deine? Die, die du mich glauben machen willst?«

»Wahrheit ist universell«, sagte der Ganf. »Aber leider auch ihre Kontrakraft. Die Lüge.«

Spätestens in diesem Moment begann es Prosper Mérimée zu dämmern, dass ein steiniger Weg vor ihm lag. Die Verständigung mit diesem Wesen war, obwohl es kein Sprachproblem gab, extrem schwierig.

»Wieso spreche ich überhaupt deine Sprache?«, fragte er. »Ich höre sie und weiß, wie ungewohnt und fremd sie mir sein müsste, aber gleichzeitig setzt irgendetwas in meinem Gehirn sofort jedes Wort in einen Begriff um, den ich eben doch verstehe. Das ist doch nicht normal. Ich hatte nie mit Ganf zu tun, und doch ist es, als wäre ich mit deiner Sprache groß geworden!«

»Sie wurde dir schon vor langer Zeit – lange im Verständnis deiner Spezies –, ohne dass du es bemerkt hast, erfolgreich vermittelt. Du hattest bislang nur noch nie Anlass, sie in dir abzurufen.«

»Blödsinn!« Allmählich flammte Ärger in ihm auf. »Ich und meine Kinder hatten Lehrer, die uns von den Bractonen gestellt wurden. Tavner. Warum hätten sie uns hintergehen sollen?«

»Tavner!« Varols Ruf klang beinahe belustigt. Als würde er die Schildkrötenmenschen nicht als ernstzunehmende Spezies betrachten.

»Warum so hochmütig?«, fragte Prosper. »Sie waren immer freundlich zu uns. Es gab nie Probleme. Warum gibst du dich so arrogant, wenn ich über sie rede?«

»Wir sprechen von den Dienern der Diener«, stellte Varol klar. »Es hat nichts mit Hochmut zu tun. Aber man kann Tatsachen beim Namen nennen.«

»Diener der Diener?« Prosper überlegte, ob er die Anspielung wirklich richtig verstanden hatte. Aber da war Portas – als Welt, die allem widersprach, was man sich dort, woher er kam, darüber erzählte. War das nicht Indiz genug, um sofort und intuitiv zu begreifen, was Varol andeutete?

»Die Bractonen«, sagte der Ganf. »Sie sind unser verlängerter Arm. Wir bedienen uns ihrer seit einer Ewigkeit …«



4.


»Shayol? Du kennst sogar den Namen des Leichnams, den wir von Kentyr mitbrachten?« Scobee machte kein Hehl aus ihrer Überraschung.

Tecum erwiderte nichts darauf; er näherte die RUBIKON vorsichtig der Luftlandschaft aus schwebenden Obelisken an.

In einer Entfernung von maximal einem halben Kilometer vor dem nächstgelegenen Objekt stoppte das Schiff schließlich und kam völlig zum Stillstand.

Die Außenkameras waren jetzt in der Lage, selbst kleinste Details an den wie schwerelos schwebenden Gebilden hochauflösend in die Holosäule zu liefern.

»Schriftzeichen … Sind das Schriftzeichen?«

»Was überrascht dich daran?«, fragte Tecum mit unverhohlenem Stolz. »Es sind die Zeichen von Zejna.«

»Zejna?«

»Der Ort der Letzten Erfüllung.«

»Glauben Ganf eigentlich an einen Gott?«

Tecum schwieg. Er wirkte geistesabwesend. »Es wird geschehen«, sagte er nach einer Weile. »Sie sind unterwegs.«

»Hast du eine Nachricht erhalten?«, fragte Cloud. »Sesha? Gab es messbare Funkaktivität?«

»Negativ.«

Er hatte nichts anderes erwartet. »« Was wird geschehen?«, wandte er sich wieder an den Ganf, der immer noch auf seinem Sitz thronte. » Wer ist unterwegs?«

»Wir sind an der Letzten Stätte angekommen«, sagte Tecum.

»Letzte Stätte?«, echote Jarvis. »Das klingt ebenso wie dieses ›Zejna‹ verdammt nach Friedhof.«

»Es ist ein Friedhof. Friedlicher geht es nicht«, sagte Tecum.

Cloud ahnte, worauf es hinaus laufen würde. »Ich hatte fast vergessen, dass wir einen Toten an Bord haben, der begraben werden will.«

»Begraben? Er darf für immer träumen – ohne jemals wieder eine Gefahr für andere, anderes Leben, zu werden.«

»Und was genau wird mit ihm geschehen?«

»Die Antwort«, sagte der Ganf, »nähert sich uns bereits von dort …« Er nahm eine Schaltung vor, und ein seltsames Geschehen füllte das Hauptsegment der Säule aus. Die Darstellung zeigte die RUBIKON als Mittelpunkt, der aus allen Richtungen nicht identifizierbare Schemen anzog. Zuerst hielt Cloud sie für Vögel. Doch je näher sie kamen und je mehr Details erkennbar wurden, desto klarer wurde, dass es sich viel wahrscheinlicher um Geister handelte.

Geister? Verlier nicht den Verstand. Warte die endgültige Annäherung ab!

Auch seine Gefährten wurden aufmerksam.

»Besteht Gefahr für das Schiff?«, fragte Jiim. Seit er sein Nabiss verloren hatte, wirkte er um einiges entspannter als früher. Cloud war froh, einen seiner ältesten Freunde in solch guter Verfassung zu sehen. Zwischenzeitlich hatte er durchaus Anlass zur Sorge gegeben.

»Ich gebe die Frage an Tecum weiter«, sagte Cloud, als der Ganf nicht sofort reagierte.

Tecum stemmte sich mit seinen dünnen, aber nichtsdestotrotz kräftigen Ärmchen aus dem Kommandositz. Geschmeidig verließ er das Rund und platzierte sich vor Cloud. »Nein. Keine Gefahr. Sie werden Abstand halten, bis die Übergabe vollzogen ist. Und dann werden sie tun, was ihre Pflicht ist.«

Endlich waren die Schemen nah genug, um sie in allen Einzelheiten betrachten zu können. Sie wirkten wie schwarzer Rauch, der ein unstetes Eigenleben führte.

Nein , korrigierte sich Cloud wenig später – und erschrak fast ein wenig, weil sein Verstand eine Verbindung herstellte, mit der Cloud nicht gerechnet hatte. Nicht wie Rauch. Wie das Weltall. Bei den ERBAUERN – was soll das bedeuten? Sie sehen aus wie … wie Sternlinge. Nur ohne humanoide Gestalt. Aber auch in ihnen treiben Himmelskörper – Sonnen, Sternhaufen, ganze Galaxien. Das kann kein Zufall sein. Aber was bedeutet es?

Er überlegte, Varx in die Zentrale zu beordern. Er war der einzige Sternling, den sie noch dazu hätten befragen können . Alle anderen einmal an Bord befindlichen waren mit der nabissüberzogenen Außenhülle der RUBIKON verschmolzen.

»Ich begebe mich jetzt zu meinem toten Bruder und werde die Übergabe vorbereiten.«

Tecum setzte sich in Bewegung, stieg vom Podest und ging auf den Ausgang zu.

»Halt!«, versuchte Cloud ihn aufzuhalten. »Es ist inakzeptabel, uns so in der Luft hängen zu lassen. Ich erwarte, dass die Ganf uns ins Bild setzen, was hier genau passiert – und wie der geplante Ablauf der Geschehnisse ist.«

»Geduldet euch noch etwas. Ich kehre zurück. Vorher wird sich am Status Quo nichts ändern. Bewahrt Ruhe. Es droht keine Gefahr. Nicht von unserer Seite. Das versichere ich euch.«

»Du willst Shayol hier bestatten?« Cloud stieg ebenfalls vom Podest und holte Tecum kurz vor dem Ausgang ein.

»Ihr würdet es bei einem der Euren so nennen, vermutlich.«

»Wie lange wird es dauern?«

»Die Vorbereitungen sind rasch abgeschlossen. Aber wir können die Letzte Stätte nicht verlassen, bis die Hülle fertiggestellt ist.«

»Welche Hülle.«

»Geduldet euch. Nur noch kurze Zeit.«

Tecum hatte kurz innegehalten, doch nun setzte er den unterbrochenen Weg fort.

Vor ihm bildete sich ein Transmitterfeld im Türrahmen des Ausgangs.

Der Ganf tauchte hinein. Kurz darauf erlosch das Feld.

»Wo ist er hin? Sesha?«

»Zu den Angks«, berichtete die KI. »Die den Leichnam behüten.«

Fast alle angkgeborenen Crewmitglieder waren dazu abgestellt worden, mit ihren besonderen Kräften zu verhindern, dass das Traumgift des toten Ganf Schaden an Bord anrichten konnte.

Der Tote entfaltete auf metaphysischer Ebene immer noch enorme Kräfte. Wie es ohne das regulierende Moment der Angks hier auf Portas mit ihm weitergehen sollte, konnte sich Cloud bislang noch nicht wirklich vorstellen. Aber offenbar waren sie tatsächlich bei dem ganfschen Äquivalent eines Friedhofs angekommen. Die schwebenden Obelisken mochten die Grabmale darstellen. Aber wo war das Grab? Irgendwo unter ihnen im Meer? Wurden verstorbene Ganf wieder rituell zum Ursprung allen organischen Lebens zurückgeführt, ins Wasser?

»Soll ich ihm folgen?«, erbot sich Jarvis »uneigennützig« vom Podest aus.

»Wozu sollte das gut sein?«, spöttelte Scobee. »Willst du dir eine Abfuhr einhandeln? Oder ihm ›helfen‹?«

»Helfen natürlich. Ich war ja wohl bereits eine Hilfe.«

»Stimmt, ohne dich läge die Leiche immer noch auf Kentyr begraben.«

»Der Hund«, sagte Jarvis.

»Wie bitte?«

»Die Redensart heißt ›der Hund liegt begraben‹.«

»Das bringt uns jetzt ungemein weiter«, seufzte Cloud und ging zu dem Sitz, in dem Assur saß. Er beugte sich zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter.

Niemand störte sich an der vertrauten Geste, auch Scobee nicht, obwohl sie vielleicht etwas zu bemüht Gelassenheit demonstrierte.

»Ist euch auch die Ähnlichkeit der Fetzen da draußen mit Sternlingen aufgefallen?«, fragte Jarvis.

Die Schemen als »Fetzen« zu titulieren, brachte auch nur er fertig.

Cloud nickte. »Ich hatte schon überlegt, Varx hierher zu beordern. Ihr wisst, dass er der einzige noch verbliebene Sternling hier an Bord ist.«

»Du meinst, er könnte uns etwas zu der Identität oder Bedeutung der Schemen sagen?«, fragte Scobee. Sie brachte sich mit einem langen Blick in die Holosäule auf den neuesten Stand, was den Zulauf des Phänomens aus allen Himmelsrichtungen anging. »Der Zustrom scheint ins Stocken geraten zu sein. Wahrscheinlich sind die meisten dieser geisterhaften Erscheinungen, in denen sich Vergleichbares widerspiegelt wie in den Sternlingen, inzwischen eingetroffen.«

»Was tun sie?«, fragte Assur, während sie versuchte, die Antwort darauf selbst zu finden. »Oh. Nichts. Sie hängen einfach nur rum.«

»Hey! Das wollte ich gerade sagen«, beschwerte sich Jarvis.

»Du meinst also, du hast ein Patent auf flapsige Sprüche?«, fragte Assur lächelnd.

»Eher ein Monopol«, antwortete Scobee für ihn.

»Ihr habt ja keine Ahnung. Ich habe eben meinen eigenen Stil. Im Gegensatz zu euch. Ihr redet einfach wie alle reden – und findet das auch noch prickelnd.«

»Zurück zu Varx«, versuchte Cloud das Gespräch wieder in seriöse Bahnen zu lenken.

»Ich finde die Idee, ihn hinzuziehen, nicht schlecht«, sagte Assur. »Unterstütze das.«

»Okay«, sagte Cloud, als kein Argument dagegen kam. »Sesha? Wir brauchen Varx. Den Sternling. Verständige ihn. Er soll so schnell wie möglich zu uns in die Zentrale kommen.«

»Das dürfte problematisch werden«, sagte die KI.

»Warum?«

»Er befindet sich in der Obhut von Yael, Winoa und Aylea. Auf Pseudokalser. Er hatte einen … ich glaube, man könnte es Zusammenbruch nennen.«

»Warum erfahre ich das erst jetzt?«, wunderte sich Cloud.

»Ich hielt es für nicht von elementarer Bedeutung – nicht in der Phase, die Tecum diktierte.«

»Er diktierte nicht, er navigierte«, versuchte er, der KI begreiflich zu machen.

»Das mag Interpretationssache sein«, erwiderte Sesha gelassen.

Jarvis feixte. Offenbar gefiel ihm die hintersinnige Formulierungskunst, mit der ihm Sesha augenscheinlich aus dem Herzen sprach.

»Wie ernst ist Varx’ Zustand? Geht es ihm schlecht? Hast du Maßnahmen ergriffen, ihm zu helfen?«

»Sein Zustand ist stabil. Aber er ist momentan offenbar nicht bei Bewusstsein.«

»Nicht bei Bewusstsein – aber gleichzeitig nicht von elementarer Bedeutung, na, ich danke«, lästerte Jiim. »Heißt das, man muss hier erst tot umfallen, bevor man sich die Aufmerksamkeit und Beachtung der KI verdient? Und was heißt, er ist in der Obhut meines Jungen? Hat Yael irgendetwas mit Varx’ Krise zu schaffen? Ich verlange Aufklärung!«

Cloud verstand Jiims Erregung. »Du hast es gehört, Sesha. Wir verlangen alle Aufklärung. Hast du Bilder für uns?«

»Aktuelle oder die des Vorfalls?«

»Vorfall? Du meinst den Moment, als sich der Kollaps ereignete?«

»Es gab zwei Ereignisse. Das erste war schon dramatisch – aber der Sternling fing sich kurzzeitig wieder. Seit dem zweiten, den ich als Kollaps bezeichne, ist er ohne Bewusstsein und nicht mehr ansprechbar.«

»Vitalwerte?«

»Sternlinge haben keine Vitalwerte. Jedenfalls keine, die ich zu deuten vermag.«

»Zeig uns Varx von der ersten Auffälligkeit bis zum Fall in die Bewusstlosigkeit«, verlangte Cloud.

Sofort generierte Sesha die aufgezeichneten Szenen. Ihre Cyberaugen reichten bis in die fernsten Winkel des Schiffes, selbst in so spezielle Bereiche wie Pseudokalser.

Fassungslos verfolgten die Gefährten, wie Varx’ Körper plötzlich »undicht« zu werden schien und wie sich Inhalte daraus in die Umgebung ergossen … bis etwas den Vorfall stoppte und wieder umkehrte. Kurzzeitig schien er sich wieder erholt zu haben. Dann erstarrte er erneut.«

»Wir müssen Tecum einschalten. Sofort!«, sagte Assur. »Varx ist ein lieber Kerl. Ihr wisst, welche Ängste er noch vor kurzem ausstand. Und dass Aylea vielleicht gar nicht mehr am Leben wäre, wenn er nicht …«

»Du vergisst, dass er Aylea erst in den Schlamassel geritten hatte. Aber Schwamm drüber«, sagte Cloud. »Ich stimme dir zu. Vollinhaltlich.«

»Sag noch mal jemand, ich würde mich gewöhnungsbedürftig ausdrücken«, sagte Jarvis und grinste.

»Ich sehe ihn mir an. Begleitest du mich?«, wandte sich Cloud an Assur.

»In die Nargen-Enklave?«

Er nickte. »Jiim, du willst sicher auch mitkommen. Und dich, Algorian, hätte ich ebenfalls gerne dabei.«

»Was ist mit mir?«, fragte Jarvis, während sich Narge und Aorii bereits von ihren Plätzen erhoben.

»Du hältst hier die Stellung. Einer muss die ›Fetzen‹ da draußen schließlich im Auge behalten. Sollte sich da draußen zwischen den Obelisken eine Entwicklung abzeichnen, verständige mich umgehend. Scobee?«

»Schon gut, ich weiß. Ich soll bleiben. Einer muss dem Burschen ja auf die Finger schauen.«

»Meint die mich?«, empörte sich Jarvis.

Cloud verzichtete auf eine Antwort. Seite an Seite mit Assur und gefolgt von Algorian und Jiim verließ er die Zentrale.

Sesha schaltete eine Transmitterverbindung zu der Gegenstation, die Pseudokalser am nächsten lag.

Zwei Minuten später betraten sie bereits die Holowelt, in der drei Jugendliche der Verzweiflung nahe und voller Sorge waren.

Als sie bemerkten, wer sich ihnen näherte, schienen sie im ersten Augenblick erleichtert. Doch die Angst um Varx kehrte sofort wieder zurück.

Mit den Worten »Sesha sagt, sie könne nichts für ihn tun. Das geht doch nicht!« kam Winoa ihrer Mutter entgegengerannt.

»Ich will ihn mir ansehen«, sagte Cloud. »Was wir tun können, werden wir tun. Lasst mich mal zu ihm. Tretet ein Stück zurück. Algorian?« Er winkte den Telepathen nah zu sich heran und fragte ihn: »Hast du schon mal einen Sternling geespert?«



Varx stand da wie seine eigene, lebensecht nachgebildete Statue.

Er hält sich aufrecht, selbst in diesem Zustand , dachte Cloud. Er wartete darauf, dass Algorian eine erste Stellungnahme abgab. Seit gut fünf Minuten hatte sich der Aorii direkt vor dem Sternling postiert und die Augen geschlossen. Bislang hatte er sich noch nicht wieder aus seiner Trance gelöst.

»Hoffentlich wirkt Varx’ Befindlichkeit nicht ansteckend«, flüsterte Assur. »Nicht dass auch noch Algorian …«

Wie auf Stichwort schlug der Aorii die Augen auf. Er wankte leicht. Offenbar hatte er Mühe, sich wieder zurechtzufinden.

»Konntest du etwas herausfinden?«, fragte Cloud.

Der Aorii legte beide Handflächen gegeneinander – die Geste der Bejahung.

»Was? Was ist los mit dem Sternling? Ist es ernst? Ist er krank? Oder etwa schon …« Cloud verstummte. Erst an seinem eigenen Verhalten merkte er, wie wichtig ihm der Sternling tatsächlich war.

»Er schwebt in keiner akuten Gefahr – soweit ich es beurteilen kann. Allerdings hat er sich komplett von seiner Umgebung abgeschottet«, sagte Algorian. »Momentan nimmt er uns nicht wahr. Trotzdem ist sein Bewusstsein hyperaktiv.«

»Ich dachte, er sei bewusstlos«, warf Aylea ein.

Algorian verneinte. »Er … wie soll ich es sagen? Er … er schwelgt in Erinnerungen. Sehr intensiven Erinnerungen. Sie überrollen ihn wie eine Lawine. Irgendetwas hat es ausgelöst. Ich kann aber nicht feststellen, was. Ich bin lediglich in der Lage, die Auswirkungen zu erspüren. Er durchlebt gerade etwas, das offenbar von einschneidender Bedeutung für ihn war und ist regelrecht gefangen darin. Wann und wie er sich daraus wieder lösen wird …«

» … und ob überhaupt?«, fragte Cloud.

» … und ob überhaupt«, bestätigte der Aorii, »kann ich nicht sagen. Es tut mir leid.«

»Aber Erinnerungen können doch keine Verletzungen hervorrufen, wie wir sie sahen«, meldete Winoa Zweifel an. »Varx platzte auf, als würden Nähte an seiner Haut reißen. Das, was in ihm ist, diese Sternbilder … ihr wisst schon – es strömte einfach aus ihm heraus.«

»Das wissen wir«, sagte Assur und nahm ihre Tochter fester in den Arm. »Sesha stellte uns die Bilder zur Verfügung. Noch mysteriöser scheint zu sein, dass die Verletzungen wieder heilten. Zumindest ich fand es zwar erleichternd, aber auch gespenstisch.«

Cloud hatte zugehört, dabei den Blick über die Jugendlichen schweifen lassen. »Was macht ihr eigentlich alle hier in der Enklave? Schön, dass ihr euch untereinander gut versteht und auch Varx dabei einschließt, aber gab es einen besonderen Grund, euch hier zu treffen?«

Yael trat vor. »Ich bin der Grund«, sagte er.

Über Jiim Gesicht huschte bei diesen Worten ein seltsamer Ausdruck. Bei einem Menschen hätte er »Bitte! Nicht schon wieder! Lass es eine harmlose Erklärung geben!« bedeuten können.

Offenbar bei Nargen auch.

»Inwiefern?«, fragte Cloud. »Oder ist es ein Geheimnis?«

»Nein«, sagte Yael. »Auch wenn es mir etwas peinlich ist, es zuzugeben.«

»Lass mich reden«, erbot sich Winoa, löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter und stellte sich demonstrativ neben Yael. Eng neben ihn.

Cloud war nicht unbekannt, dass die beiden mehr füreinander empfanden als pure Freundschaft. Zwischen ihn herrschte eine traute Eintracht, wie vielleicht nur die zarten Bande einer ersten Liebe sie knüpfen konnten.

»Ich höre«, sagte er.

»Er wollte nicht allein sein, wenn die RUBIKON Portas erreicht. Und er wollte die Enklave nicht verlassen. Also sind wir zu ihm gekommen.«

»Ihr wolltet es ihm leichter machen, nach Portas zurückzukehren ?« Cloud verstand sofort, was Yael bewegte. Dass er im Vorfeld nicht daran gedacht hatte, mit ihm oder wenigstens Jiim zu sprechen, beschämte ihn. Nun wandte er sich wieder direkt an den Jungnargen. »Beschäftigt es dich immer noch so sehr? Ich meine, dass du schon einmal auf Angk III warst? Du hast immer noch daran zu knabbern?«

Yael kniff den lippenlosen Mund zusammen. Seine hinter ihm aufragenden Flügel erzitterten leicht. Schließlich sagte er: »Es war mehr eine vorbeugende Maßnahme. Ich wusste nicht, wie es werden würde.«

»Und wie ist es geworden?«

»Ich …« Ein schwaches Lächeln erschien auf seinen Zügen. »Ich merke bislang nichts davon. Dafür hat er …« Er zeigte auf Varx. » … offenbar an etwas zu knabbern – was aber wahrscheinlich nichts mit Portas zu tun hat. Oder?«

Cloud zuckte mit den Achseln. »Das können wir noch nicht sicher sagen. Vielleicht kann – vor allem aber will – Tecum uns mehr darüber sagen, sobald er … nun ja, sobald er fertig ist. Er kümmert sich gerade darum, den Ganf-Leichnam zu überführen.«

»Nach Portas?«, fragte Yael. »Aber Portas … ist ein schrecklicher Ort. Ich glaubte mich damals in –«

»Beruhige dich«, sagte sein Orham Jiim. »Portas ist anders, als wir alle glaubten. Auch anders, als du seinerzeit glaubtest. Etwas muss dich und uns getäuscht haben. Wir parken mit der RUBIKON vor einer Art Friedhof – der Ganf nennt es Zejna , was bei ihnen wohl ›Ort der Letzten Erfüllung‹ bedeutet.«

Yael blieb skeptisch. Der gerade Begriff schien ihm jedoch nichts zu sagen – wie auch? »Vielleicht werdet ihr jetzt getäuscht.«

Cloud schüttelte den Kopf. »Um Portas scheint eine Abschirmung zu liegen, die selbst den Bractonen vorgaukelt, eine ihrer Welten für immer verloren zu haben.«

»Den Bractonen? Das hieße, dass sich mitten in ihrem Reich jemand versteckt hält, der …«

»Offenbar«, fiel Jiim ihm ins Wort, »sind die Bractonen nicht die, die wir bislang in ihnen sahen.«

»Schlimmer«, sagte Assur, »sie sind nicht einmal die, die sie selbst zu sein glauben.«

In knappen Sätzen unterrichteten sie die Jugendlichen von den neuen Erkenntnissen.

Besonders Yael schien Probleme zu haben, sich darauf einzulassen. Aber er war auch der Einzige von ihnen, der so hautnah mit der vermeintlichen Hölle Portas in Berührung gekommen war.

»Was geschieht jetzt weiter mit Varx?«, fragte Aylea, die vielleicht die engste Beziehung zu dem Sternling aufgebaut hatte. »Kann er hier bleiben? Können wir uns um ihn kümmern – auf ihn aufpassen?«

»Sesha?«, wandte sich Cloud an die KI. »Hast du einen Platz, wo Varx eher geholfen werden kann?«

»Ich habe nicht einmal eine Möglichkeit, ihn zu diagnostizieren«, erwiderte die KI. »Ich könnte blind experimentieren. Aber das würde ihm unter Umständen beträchtlich mehr Schaden zufügen als diese Art von Erstarrung, in die er gefallen ist. Ich schlage vor, den Fall an die Ganf zu übergeben. An Tecum. Sobald dieser wieder Kapazitäten frei hat.«

»Ihr habt es gehört«, wandte sich Cloud an die drei Jugendlichen. »Aber wollt ihr es auch wirklich auf euch nehmen? Es bedeutet auch Verantwortung …«

»Jeder Schritt hier an Bord bedeutet Verantwortung«, meinte Aylea altklug. »Hallo? Wir sind schon groß.«

»Zumindest das Mundwerk ist schon riesig«, bestätigte Assur mit einem Lächeln, das selbst Aylea entwaffnete.

Algorian trat vor. Der spindeldürre Aorii hielt sich die meiste Zeit seines Lebens bescheiden im Hintergrund. Manchmal hatte Cloud das Gefühl, dass er dies selbst, wenn er allein war, fertig brachte.

»Ja, Algorian? Was ist?«

»Ich würde gerne auch hierbleiben. Bei Varx. Falls es für euch in Ordnung ist.« Er blickte fragend zu Aylea, Winoa und Yael.

Offenbar überraschte es ihn, wie freudig sie bejahten.

»Konntest du das, was Varx gerade durchlebt, so sortieren, dass es für dich einen Sinn ergibt?«, fragte Cloud. »Sind seine Gedanken lesbar?«

»Das ist es, was ich probieren will«, erklärte der Aorii. »Bei meinem ersten Versuch musste ich aufpassen, nicht selbst in den Sog der Bilder zu geraten, die sein Bewusstsein durchwirbeln. Mit etwas mehr Zeit und Muße könnte ich vielleicht tatsächlich ein wenig von dem verstehen, was er gerade nacherlebt.«

»Er kann auch jederzeit wieder zu sich kommen. Wir wissen so gut wie nichts über seine Befindlichkeit.«

»Ich wünsche mir nichts mehr als das. Denn dann könnte er uns selbst, mit seinen Worten, erzählen, was ihm durch den Kopf ging – und warum all das gerade jetzt mit solcher Intensität über ihn hereingebrochen ist …«

Sesha meldete sich aus dem Off.

»Ich soll eine Nachricht von Jarvis übermitteln – an den Commander.«

»Ich höre.«

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924503
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon schwellenwelt
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Titel: Raumschiff Rubikon 24 Die Schwellenwelt