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Raumschiff Rubikon 20 Tovah‘Zara

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Raumschiff Rubikon 20 Tovah‘Zara

Manfred Weinland

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …


1.


Eine 13 Milliarden Jahre alte Galaxie, zu der die Treymor in besonderer Beziehung standen ...

Scobee spürte, wie sich ihre Magennerven beim Gedanken an eine solch gewaltige Entfernung zusammenzogen.

13 Milliarden Jahre brauchte das Licht Eleysons, bis es die Optik eines Teleskops in der Milchstraße erreichte. Und nur ein naives Kind mochte glauben, dass das Gebilde, das auf diese Weise am Nachthimmel einer Welt oder in der Schwärze des Weltraums sichtbar wurde, sich auch real noch dort befand, wo seine Position lag. Alle Galaxien waren in Bewegung. Das Universum expandierte unaufhörlich. In den 13 Milliarden Jahren, die die Photonenausschüttung brauchte, um zur Milchstraße zu gelangen, bewegte sich die Quelle unaufhörlich in die Richtung der Galaxiendrift.

Ein optisches Sternenteleskop hätte also niemals den wirklichen Standort eines von ihm erfassten Objektes gezeigt – nur seinen »Nachhall«.

Aber die Position – ob real oder augenscheinlich – war es auch nicht, was Scobee dieses Flirren im Bauch verursachte. Es war die ans Aberwitzige grenzende Entfernung .

13 Milliarden Lichtjahre … daran zerschellte jede Vorstellungskraft.

Zumindest meine.

Immerhin war so viel bekannt, dass die Käferartigen, glaubte und folgte man Taurts Aussage, eine Nachricht zu jener unfassbar fernen Sternenballung geschickt hatten, die Taurt Eleyson nannte. Mittels einer Technik geschickt, die allem überlegen war, womit die RUBIKON-Crew und selbst das uralte foronische Wächterwesen jemals konfrontiert worden waren.

Es sollte sich um ein Signal handeln, das Lichtjahrmilliarden quasi in Nullzeit überwand.

Das zumindest hatte Taurt behauptet.

Und als sich die Verblüffung – auch über den fast banal anmutenden Inhalt der entzifferten Nachricht: Kommt – sie sind hier! – etwas gelegt hatte, hatte das uralte Geschöpf aus Protomaterie ihnen seinen Plan unterbreitet, wie ihr Commander, wie John Cloud samt ihrem Schiff aus den Fängen der Treymor befreit werden sollte.

Alles deutete darauf hin, dass John ins wahrhaftige Zentrum des Aquakubus verbracht worden war, an einen geheimnisvollen Ort namens Silberstadt , den die neuen Herren des Kubus, die Treymor, dort etabliert hatten.

Die Ewige Stätte , dachte Scobee. Auch der Gedanke an die Vakuumkugel im Herzen Tovah’Zaras verursachte ihr Bauchgrimmen. In dieser Sphäre hatten sie vor – subjektiv! – Jahren die Arche der Foronen gefunden und zu ihrem Raumschiff »gemacht«. In einem langwierigen, nicht immer reibungslos verlaufenden Prozess.

Und nun war dieses Schiff, die RUBIKON, ebenso gekidnappt wie der Mann, der es aus seinem Winterschlaf erweckt und unter seine Kontrolle gebracht hatte.

John.

Es war schmerzhaft, sich zu erinnern, was sie beide – okay, Jarvis durfte, nein musste auch noch dazu gerechnet werden – seither erlebt und durchlitten hatten.

In der Gegenwart, in der sie sich heute befanden (nach diversen Zeitkapriolen und -sprüngen) gab es die Erde, die sie hinter sich zurück gelassen hatten, nicht mehr. In den Jahrzehntausenden, die aufgrund Darnoks Manipulation des Zeitflusses in der Milchstraße verstrichen waren, während »draußen« die Uhren im Normaltempo weitergelaufen waren, hatte sich die Bühne der galaktischen Völker vollkommen verändert. Zivilisationen waren unter dem Kreuz des Technikbanns entweder komplett untergegangen oder komplett verändert worden. Das machtpolitische Bild war nicht mehr wiederzuerkennen, die Karten waren neu gemischt worden.

Eine zu Zeiten des Bündnisses organischer Völker – CLARON – noch völlig unbekannte Spezies machte von sich reden.

Insektoiden.

Die Treymor.

An den unwahrscheinlichsten Orten war die RUBIKON-Crew auf sie oder ihr besorgniserregendes Tun gestoßen. Und nun hatten sie sich auch noch in einem der größten Mythen eingenistet, die die Milchstraße kannte – im Aquakubus.

Um das aber tun zu können, hatten sie den Kubus zunächst einmal vor Darnoks Zerstörungswut schützen müssen – und wie ihnen das gelungen sein sollte, darüber gab es bislang kaum mehr als wilde Spekulationen.

Einer aber musste dazu mehr wissen.

Taurt.

Denn Taurt hatte seine Augen – Spione! – überall. Nicht zuletzt den Kleinen Arto, der sich als Taurts »Ableger« herausgestellt hatte. Und der sich in Erinnerung brachte, kaum dass Scobee mit Taurt die Details zu John Clouds Befreiung zu besprechen begonnen hatte.

»Hübsch-Hässliche mir folgen!«, quietschte das vermeintliche Kleinkind, in das die von Taurt abgespaltene Protomasse sich verwandelt hatte – mehr schlecht als recht, denn im hellen Licht war auf den ersten Blick erkennbar, dass der Kleine Arto kein Mensch sein konnte. Die Maske war viel zu nachlässig ausgeführt, was wiederum den Schluss zuließ, dass weder Taurt noch sein »Spross« Wert auf eine glaubwürdige Täuschung legten. Der Kleine Arto wechselte sein Erscheinungsbild ganz nach Belieben, war mal fischähnlich, dann wieder humanoid – aber eines war er absolut nicht: höflich.

Scobee stand kurz davor, ihm im Beisein seines »Schöpfers« einen Tritt zu verpassen.

»Was will diese Schande für dein ästhetisches Empfinden von mir?«, wandte sie sich mit erzwungener Ruhe an Taurt. »Kannst du nicht mal zwischendurch regulierend in seine Programmierung eingreifen? Allmählich, das gebe ich frank und frei zu, geht er mir gehörig auf den Geist!«

Taurts wie aus weichem Glas gegossen wirkendes Gesicht verzog sich in schmerzlicher Resignation. »Ich fürchte, du missverstehst seine Existenz. Der Kleine Arto ist ein Ableger meiner eigenen Biomasse. Aber er ist weder Lakai noch ›Maschine‹. Wodurch auch der Begriff ›Programmierung‹ falsch ist. Ich betrachte ihn tatsächlich als das Pendant zu einem Kind, wie du und andere Spezies es gebären können. Er ist noch jung und wird vieles erst lernen müssen. Keine Frage auch, dass er extrem ungezogen ist – was ich mir wohl ankreiden muss. Ich bin nicht streng genug in Erziehungsfragen. Vielleicht auch zu beschäftigt. Er hatte nie das, was Säugetiere als ›Nestwärme‹ kennen. Er wurde von mir sehr schnell ins kalte Wasser der gefahrenreichen Wirklichkeit des Kubus’ geworfen und musste sich früh behaupten. Sei nachsichtig mit ihm, ich bitte dich. Und hab Vertrauen: Er handelt in meinem Auftrag und Interesse. Er würde nie etwas tun, was seine ›Familie‹, zu der auch du jetzt gehörst, gefährden könnte.«

Bei der Vorstellung, in irgendeinem »Verwandtschaftsverhältnis« zu dem fischigen Ding in der Maskerade eines Kindes zu stehen, hob es Scobee den Magen. Aber tapfer schluckte sie herunter, was ihr schon auf der Zunge gelegen hatte. »Dir ist schon klar, dass du ihm gerade einen Freifahrtschein für sein Benehmen ausgestellt hast?«, wandte sie sich an Taurt. »Du hast wirklich noch weniger Ahnung von Erziehung als ich.« Sie ließ Taurts betretene Miene auf sich wirken, dann fragte sie: »Wohin will er mich bringen? Ich dachte, wir hätten hier eine wichtige Besprechung? Du sprachst von einem Plan zur Befreiung von Johns. Aber –«

»Der Kleine Arto bringt dich in eine Kammer, in der du alles erfahren wirst. Ich habe eine Simulation vorbereitet. Es ist einfacher, sie zu erleben , als sie in Worte zu pressen.«

»Simulation?«, fragte Scobee.

»Vertrau ihm. Er zeigt dir die Kammer. Und den Weg, der uns Zugang zur Ewigen Stätte verschaffen wird.«

»Warum übernimmst nicht du das?«

»Das tue ich. Ich bin er. Leg nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage. Er hat einen guten Kern. Und er mag dich.«

Speziell die letzte Bemerkung veranlasste Scobee, die Augen zu verrollen. Aber letztlich entschied auch der Faktor Zeit über Erfolg oder Misserfolg einer Befreiungsaktion. Seufzend ersparte sie sich weitere Diskussionen.

»Na dann …« Sie wandte sich dem Kleinen Arto zu, der sie feixend, aber auch voller Ungeduld anstarrte. »Dann zeig mir mal diese … Simulation. Ich hoffe, sie überzeugt mich. Oder noch wichtiger: Sie wird auch der harten Realität standhalten. Die Treymor werden nicht leicht zu übertölpeln sein.«

Taurt schwieg. Aber sie spürte beim Verlassen des Raumes seine Anspannung.

Taurts bis dato geheime Widerstandsorganisation war dabei, ihre Deckung zu verlassen. Und niemand wusste besser als Taurt selbst, was das bedeutete.

Die Treymor hatten Wind von einem Gegner bekommen, der bislang nicht auf ihrer Rechnung stand. Und damit war die Jagd auf jegliche Opposition eröffnet.



Scobee folgte dem Kleinen Arto mit gemischten Gefühlen. Sie wäre lieber bei Taurt geblieben. Das uralte Protowesen war für sie in der gegenwärtigen Situation ein Fels in der Brandung. Jemand, dessen Stärke so viel Sicherheit ausstrahlte, dass sie sich unwillkürlich selbst stärker fühlte.

Seit Johns Abwesenheit war ihr einiges klarer geworden. Sie hatte erkannt, wie wichtig dieser Mann für sie – für sie alle, die ganze Crew – war. Denn dieses Fels-in-der-Brandung-Charisma strahlte normalerweise er aus.

Taurt war im Grunde nur Ersatz.

Aber kein billiger , relativierte sie sofort für sich selbst. Sie war ehrlich froh, dass es ihn gab. Natürlich war sie das. Ohne Taurt …

befänden wir uns längst alle in der Gefangenschaft der Treymor – wenn sie uns nicht schon umgebracht hätten.

»Du verrätst mir sicher nicht, wo wir uns eigentlich befinden, Kleiner, oder? Ich meine die Koordinaten dieses Stützpunkts, der verblüffender Weise offenbar all die Zeit an den Treymor vorbeigemogelt werden konnte.«

»Hübsch-Hässliche hat sich die Antwort schon selbst gegeben«, kicherte das groteske »Kind«, das vor Scobee herlief. »Das Sicherheitsrisiko wäre zu groß, wenn sie dich kriegen. Du müsstest dich selbst killen, um einem Verrat zuvorzukommen. Das trau ich dir nicht zu. Du hängst zu sehr am Leben. Alle … Echten tun das.«

»Was meinst du mit Echte?«

»Weißt schon. Geborene. Keine … Geschaffenen – wie mich.«

Es klang traurig.

Zum ersten Mal – und auch nur für einen flüchtigen Moment – gewährte der Kleine Arto einen klitzekleinen Einblick in seine Gefühlslage.

Scobee wusste selbst nicht genau, warum sie das rührte, wo diese Nervensäge nicht gerade ein Vorbild an Höflichkeit und Feingefühl darstellte.

»Ich wurde auch eher … erschaffen als im konventionellen Sinn geboren – wusstest du das?«

Der Kleine Arto blieb abrupt stehen und drehte sich ihr zu.

Auch Scobee hielt mitten auf dem Gang, durch den sie gerade schritten, inne.

»Das sagst du bestimmt nur so.«

»Warum sollte ich?«

»Um mich zu trösten. Kleiner Arto lässt sich … na ja, lässt sich übrigens gerne trösten.«

»Das passt zum Kleinen Arto«, grinste Scobee. »Aber ernsthaft: Ich wurde in-vitro gezeugt. Du weißt, was das heißt.«

»Im Reagenzglas.« Die Augen des Kleinen Arto wurden ganz groß. »Brrrrrrr!« Er schüttelte sich. »Wie eklig!«

Scobee bedauerte bereits, ihrem Mitleidsimpuls nachgegeben zu haben.

Aber da lachte Taurts Ableger prustend und stemmte die kleinen Fäuste in die schmalen Hüften. »Bist schon wieder drauf reingefallen! Haha! Ich leg dich rein, wie ich will. Ich hab’s drauf. War echt nur Spaß, Unechte wie ich! Und ehrlich – diesmal gaaaanz ehrlich –, ich mag dich. Bist nett. Und … grrr, ich wollt’s eigentlich nich’ sagen … na, dann eben doch: Ja, bist hübsch. Sehr schön sogar, regelrecht bezaubernd.«

Scobee ballte die Hände zu Fäusten und trat drohend auf die Kindgestalt zu. »Du tust es schon wieder! Willst mich verulken. Aber das treib ich dir aus. Weshalb sollte ich Skrupel haben, einen Klumpen Protogewebe zu vermöbeln?«

Mit blitzenden Augen erreichte sie ihn.

Der Kleine Arto duckte sich ängstlich und schielte mit schützend nach oben gereckten Armen zu Scobee hoch. »Nicht hauen! Bin ehrlich, Hübsch-Hä… äh, Hübsche!«

Scobee blitzte ihn noch eine Weile an, genoss sein Zittern und ließ dann die Arme sinken, um – mit einem gewissen Widerwillen – sacht über den haarlosen Schädel des Kleinen Arto zu streicheln. »Du bist unmöglich. Aber wahrscheinlich auch total liebenswert. Da hat dein ›Vater‹ etwas Tolles großgezogen.«

»Das ist wahr«, krähte die Kindgestalt … und wand sich unter Scobees Hand heraus. Schnell wandte er sich wieder in die zuvor eingeschlagene Richtung. »Sind gleich da. Sollten uns beeilen. Simulation das eine – sie umzusetzen, was völlig anderes. Kostet Zeit. Und Nerven …« Er seufzte so abgrundtief wie ein Greis, der soeben das Ende einer vielstufigen Treppe erreicht hatte.

Kopfschüttelnd folgte Scobee ihm. Und wenig später erfuhr sie dann, was der Kleine Arto – und sein »Vater« – unter einer Simulation verstanden.

Die winzige Kammer, die sie betraten, verwandelte sich mir nichts, dir nichts in einen bestimmten Sektor des Aquakubus. Die Darstellung war so täuschend echt, dass Scobee geschworen hätte, im Wasser zu treiben … in unmittelbarer Nähe eines Giganten, der einmal eine Welt gewesen war, eine Welt mit Atmosphäre, die eine Sonne umlief.

»Wo befinden wir uns?«

Arto nannte die Koordinaten, aber Scobee wusste damit wenig anzufangen, bis eine zweite Struktur in die Umgebung eingebettet wurde. Sie zeigte den Aquakubus insgesamt, jenen würfelförmigen Weltenraum, indem Wasser statt Vakuum dominierte. Das Zentrum, die Ewige Stätte, war ebenso markiert wie sämtliche bedeutsamen Objekte, zu denen auch dieses gehörte. Es befand sich an der Peripherie des Würfels.

»Aha. Danke. Und was hat es damit auf sich?«

»Das ist unsere Falle«, sagte der Kleine Arto wichtigtuerisch.

»Für wen?«

»Ihr wollt doch dahin …« Eines seiner Ärmchen verlängerte sich und wucherte dem Zentrum der 3-D-Skizze entgegen, die zwischen Scobee und ihm eingeblendet worden war.

»In die Ewige Stätte, richtig. Dort vermuten wir John – und die RUBIKON.«

»Na also.«

»Ich weiß immer noch nicht, was das mit dieser Randwelt zu tun hat.«

»Dann schau halt hin – genau, bitte. Es geht nämlich jetzt los. Da … es kommt schon.«

»Was kommt schon?«

Der Kleine Arto war offenbar zu bequem, es ihr zu erläutern. Aber die Bilder sprachen für sich.

Ein Fahrzeug, das ebenfalls Teil der vorbereiteten Simulation war, tauchte aus der Ferne auf, wurde rasch größer. Sein Weg führte nah an der Weltenkugel vorbei.

»Sie haben festgeschriebene Routen für ihre Patrouillen«, bequemte sich der Kleine Arto doch noch zu einem Kommentar.

Es war ein X-Schiff, dessen Konturen sich herausschälten.

Scobee beschloss, auf Zwischenfragen zu verzichten. Sie tauchte völlig in die Simulation ein …

und wurde Zeuge, wie das X-Schiff bei seiner größten Annäherung an den Planeten von dort mit einer breitgefächerten Strahlung beschossen wurde – zuerst das und dann von einem ebenfalls farbig dargestellten Zugstrahl erfasst und auf die Oberfläche der Welt hinab gezogen, wo es kurz darauf in einem von vielen tiefen Gräben verschwand, die den Planeten durchfurchten.

Die Simulation erlosch. Scobee stand wieder mit Taurts Sprössling in einer eher unscheinbaren Kammer.

»Wow«, spottete sie. »Das war ja grandios.«

»Nicht wahr!«

»Das war ironisch.«

»Wow.«

Sie begriff, dass der Kleine Arto das wohl schon selbst gemerkt hatte und nun seinerseits sie veralberte.

Das Übliche also.

»Was ich gesehen habe, war, wie ein Treymor-Patrouillenschiff offenbar von einer der toten Welten des Kubus aus beschossen und dann zur Landung gezwungen wurde.«

»So weit korrekt.«

»Und was weiter?«

»Das wird euer Schiff sein. Euer Ticket ins Zentrum.«

»So einfach soll das gehen? Wir kapern ein Treymorschiff und gehen als Blinde Passagiere an Bord?«

»Es ist der einzige Weg, überhaupt ins Zentrum zu gelangen – in einem ihrer Schiffe. Alles andere würde scheitern.«

»Sagt wer?«

»Sagt Taurt.«

»Na dann.«

»Ironie«, erriet der Kleine Arto eifrig.

»Sarkasmus«, erwiderte Scobee. »Wann soll diese feine Plan denn umgesetzt werden?«

»Sobald ihr euch einig geworden seid, wer von euch an dem Einsatz teilnimmt. Sagt –«

»– Taurt, schon klar.« Scobee verzog das Gesicht. »Und von ihm erhalte ich offenbar auch die Details dieses taktischen Meisterstücks, bei dem nur noch die Treymor mitspielen müssen. – Habt ihr etwas Derartiges schon jemals probiert? Gibt es Erfahrungswerte?«

Der Kleine Arto kicherte, als hätte sie einen Witz gemacht.

Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte er: »War das deutlich genug?«

Scobee versetzte ihm einen Tritt in den Allerwertesten, der ihn fast an die nächste Wand kickte. Aber noch in der Luft verwandelte sich Arto in etwas, das er wahrscheinlich für einen Vogel hielt. Das groteske Etwas flatterte wild durch die Luft und wandte sich dann der Tür zu.

»Kommst du?«

Scobee trabte resignierend hinterher. Sie fragte sich ernsthaft, ob solche Verbündete wirklich besser waren als gar keine.



2.


Das Leben war Sterben. Vom ersten Atemzug an. Und keiner wusste das besser als Farrak, der täglich mit beidem – Leben und Tod – um sich warf. Sowohl unter seinen Mittreymor als auch unter den Geschöpfen, zu deren Herren er und sein Machtzirkel sich erhoben hatten. Täglich gab es solche, die sich ein (Weiter-)Leben verdienten … oder ein jähes Ende. Wobei, darüber machte sich Farrak keine Illusionen, das Leben nicht immer nur Segen darstellte – und der Tod nicht unbedingt Strafe war.

Voller Faszination dachte er dabei an das Volk der Luuren, dem unter all den Geknechteten, über die Farrak regierte, eine Sonderrolle zufiel. Schon die Spezies, die vor den Treymor Macht über Tovah’Zara ausgeübt hatten, die Vaaren, hatte auf makabre Weise auf die Luuren Einfluss genommen. Eine exakt bemessene Lebensspanne hatten sie dem »Normal-Luuren« zugestanden, Geschöpfen, die allein Kraft ihres Geistes eine Art Urstoff, sogenannte Protomaterie, zu formen vermochten. Die von den Vaaren kontrollierte »innere Uhr« der Luuren lief nach exakt fünf Pren – umgerechnet in die Zeitvorstellungen eines Treymor – ab. Lediglich bei Luuren, denen eine besondere Bedeutung zukam, den Ersten Verwertern, die die Protowiesen verwalteten, war diese Spanne zum Lohn ihrer verantwortungsvollen Aufgabe verdoppelt worden. Doch jederzeit (und genau das war das eigentlich Faszinierende daran) hatten die Treymor einem Luuren, der auffällig im Sinne von »schädlich für das System« geworden war, die Lebensuhr auch schon vor Erreichen der üblichen Spanne anhalten können. Auf diese Weise hatten sie eine nahezu allumfassende Kontrolle über ihre Untertanen ausüben können …

bis die Treymor gekommen waren und den Platz der Vaaren in der Hierarchie Tovah’Zaras eingenommen hatten. Und mit der Herrscherrolle hatten die Treymor auch das groteske Instrumentarium übernommen, mit denen sie absolutistische Macht über die sonderbegabten Luuren gewannen.

Bei seiner Entdeckung hatte der durch den Kosmos ziehenden Wasserwürfel die Treymor zunächst durch seine schiere Größe beeindruckt – eine Kantenlänge von einer Lichtstunde, das übertraf selbst die Vorstellungskraft seines an Gigantonomie gewöhnten Volkes um einiges.

Zunächst.

Doch wie stets hatten die Treymor den Fund rasch zu relativieren vermocht. Die Technologie, die eine ungeheure Menge Wasser in Kubusform zwängte, wirkte schon damals veraltet. Wie sie jedoch zum Einsatz gebracht wurde, das nötigte selbst den Kindern Jovs Respekt ab. An den Eckpunkten des Würfels befanden sich gewaltige Stationen, deren energetische Felder die Flüssigkeit im Inneren des von ihnen umschlossenen Raumes daran hinderten, in den eisigen Weltraum zu gelangen, wo sie zu bizarren Strukturen gefroren wäre. So aber banden die Eckstationen die unvorstellbare Menge an Wasser und erzeugten zudem genügend Wärme im Inneren des Würfels, um dort für die Bewohner lebensfreundliche Umweltbedingungen zu erzeugen. Noch viele andere Aufgaben fielen den Stationen zu – Gravitations- und Druckkontrolle, Sauerstoffanreicherung, Filterung und Bestrahlung schädlicher Keime, Bakterien und Viren …

Farrak wusste aus den Annalen der Treymor, dass früh die Direktive an die Entdecker des Kubus erging, dieses Gebilde mit Hochdruck zu modernisieren und auf den Stand einer Technik zu bringen, die alles in den Schatten stellte, was zur ursprünglichen Ausstattung der Eckstationen gehört hatte.

Die Treymor hatten diese anspruchsvolle Arbeit in kürzester Zeit bewältigt …

und gerade noch rechtzeitig, um Tovah’Zara vor der Vernichtung zu bewahren.

Damals … als die Zeit in ihrer Heimatgalaxie entartete … und ein Wesen namens Darnok sämtliche Hochzivilisationen in den technologischen Kollaps trieb. Alle, bis auf …

uns , dachte Farrak, mit einem Gefühl tiefer Befriedigung.

Dabei vergaß er nicht, wem sie diesen Sonderstatus verdankten.

Aber auch nicht den, der den Völkermord von damals zu verantworten hatte … und der durch seine, Farraks Schuld, nunmehr durch das Heute geisterte.

Darnok.

Darnok, der Verheerer, wie die Annalen der Treymor ihn schimpften.

Seine Entdeckung an Bord des Legendenschiffes – das die Menschen RUBIKON nannten – hatte Farrak dazu verleitet, ihn aus dem Staseblock zu lösen, der seinen schlafenden Körper vor Alterung und Verfall bewahrte.

Und schneller als irgendeiner der Verantwortlichen hatte reagieren können, war es Darnok gelungen, sich dem weiteren Zugriff der Treymor zu entziehen. Vor ihren Augen hatte er sich scheinbar in Nichts aufgelöst.

In Wahrheit war er geflohen – und befand sich noch immer auf der Flucht.

Wenn sie Glück hatten innerhalb der RUBIKON.

Wenn sie Pech hatten – irgendwo in der Silberstadt. Dem zentralen Punkt innerhalb des Aquakubus. Dort, wo zukunftsweisende Dinge geschahen, Forschungen betrieben wurden … und der Empfang derer vorbereitet wurde, die man gerufen hatte.

Mit verkrampften Kieferzangen, die borstigen Arme über die Chitinflanken schabend, fragte sich Farrak, was geschehen würde, wenn die Gerufenen noch schneller erscheinen würden als erwartet. Und eine Situation vorfanden, in der die Treymor nicht mehr die allumfassende Kontrolle über den Kubus inne hatten.

Rasch würden sie den Verantwortlichen für die Instabilität erkannt haben.

Farrak.

Meine Stunden sind gezählt , fühlte sich der Treymor an das Los der Luuren erinnert. Es sei denn, ich finde und beseitige Darnok vor der Ankunft der –

Lomax’ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken: »Der Gefangene wäre dann soweit. Du könntest ihn befragen, Gesegneter, falls deine Zeit es erlaubt ...«



Sie hatten Quarsolen getötet.

Sie hatten Mingox liquidiert.

Kaltblütig umgebracht worden waren beide – sie und noch viele mehr. Jeden, der sich an Bord des Rochenschiffes befunden hatte, in dem John Cloud in Sicherheit gebracht werden sollte, hatte es getroffen.

Sicherheit war zu einem surrealen Begriff geworden.

Dafür fühlte sich die Nähe des Todes umso realer an, hatte eine erdrückende Qualität und Intensität erlangt. Seit Quarsolens brutaler Hinrichtung lähmte Cloud die Überzeugung, niemals einem lebensverachtenderen Angriff beigewohnt zu haben. Die Tayaner waren niedergemetzelt worden wie Schlachtvieh.

Und alles nur, um mich in die Hand zu bekommen.

Es war diese Erkenntnis, die ihn nachhaltig paralysierte. Zumal sie mit einem riesigen Fragezeichen verbunden war.

Mich? Warum zum Teufel ausgerechnet mich?

Aber er hätte sich diese Frage nicht mehr stellen können, wenn es nicht um ihn gegangen wäre, ihn ganz speziell. Darauf deuteten auch die vorausgegangenen Manipulationen hin, die mithilfe der Protopartikel möglich geworden waren, die ihm bei seinem ersten Betreten des Aquakubus implantiert wurden. Inzwischen war er ihrer ledig. Mingox hatte sie vor seinem Tod aus Cloud entfernt. Restlos, wie er versprochen hatte.

War dem zu trauen? Und wie hatten die Treymor Cloud dann trotzdem aufspüren können? Oder hatten sie die Tayaner angegriffen, ohne zu ahnen, welcher Fang ihnen ganz nebenbei ins Netz gehen würde?

Die Tayaner … Von Quarsolen hatte Cloud erfahren, wer hinter den Echsenwesen stand, die zu Zeiten der Vaarenherrschaft noch nicht im Kubus ansässig gewesen waren.

Taurt.

Ein Geschöpf aus Protomaterie, von den Foronen einst als Hüter des Kubus installiert … eine Aufgabe, der er offenbar auch heute noch gerecht zu werden versuchte.

Cloud rief sich in Erinnerung, dass für Taurt Jahrzehntausende seit der ersten Begegnung mit Menschen vergangen waren. Zumindest – und davon ging Cloud aus – wenn der Kubus sich während Darnoks Wüten in der Milchstraße befunden hatte.

Geschätzte dreißigtausend Jahre waren die Welten der heimatlichen Galaxie außerstande gewesen, Leben zu beherbergen, das sich mittels technischer Krücken der Schwerkraftfesseln seiner Planeten hatte entledigen und ins All vorstoßen können. Zahllose Zivilisationen, die dies bereits geschafft hatten, waren durch die Einflussnahme des übergeschnappten Keelon zerschlagen worden.

Zu den wenigen inzwischen bekannten Ausnahmen zählten die Treymor und das Erste Reich der Bractonen … und offenbar auch die Kubusbewohner. Und so wie sich bei den Treymor die Frage stellte, wie sie es hatten bewerkstelligen können, den von Darnok freigesetzten Kräften Paroli zu bieten, so stellte sie sich auch beim Aquakubus.

Aber vielleicht, dachte Cloud, liegt die Antwort ja auch auf der Hand: Die Treymor haben den Kubus für sich erobert und gegen die verhängnisvollen Energien, die Darnok freisetzte, geschützt.

Sie selbst waren bis zu einem gewissen Grad immunisiert gewesen, sonst hätten sie Butterfly M2, Darnoks Versteck, nicht anfliegen und – fast – erreichen können …

Streiflichtartig blitzten die Erinnerungen an die Fahrt der RUBIKON mit Kargor an Bord in Cloud auf. Es war gelungen, den einstigen Freund und Mentor Darnok auszuschalten … und damit das dunkelste Kapitel in der bekannten Milchstraßengeschichte zu beenden. Seither lag Darnok »auf Eis«. Im Staseschlaf. Cloud hatte bislang nicht gewagt, ihn daraus zu erwecken. Weil ein wacher Darnok Maßnahmen erfordert hätte. Strafe. Therapie.

Und vor allen Dingen Schutzmaßnahmen, die verhinderten, dass irgendjemand an Bord der RUBIKON oder draußen in den Weiten des Alls noch einmal unter den unheimlichen Fähigkeiten des Keelon zu leiden hatte.

Nein, Darnok war ein heißes Eisen, an dem sich jeder, der es anfasste, unweigerlich die Finger verbrennen musste.

Aber Darnok, glaubte Cloud, war aktuell kein Problem. Würde vielleicht nie mehr eines werden. Denn die RUBIKON war in unerreichbare Ferne gerückt. Sämtliche Besatzungsmitglieder waren im letzten Moment dem Zugriff der Treymor entzogen worden – dank des Eingreifens von Taurts Soldaten. Doch auf Dauer, auch daran hegte Cloud kaum Zweifel, würde Taurts Macht nicht ausreichen, die Crew ohne Schiff zu schützen. Der Grund, weshalb er den Treymor nicht schon früher offenen Widerstand geleistet hatte, konnte nur der sein, dass er ihnen im direkten Kampf hoffnungslos unterlegen war. Und daran würden auch die paar tausend Angks nichts ändern. Oder Scobee. Jarvis … all die Freunde eben, von denen Cloud getrennt worden war.

Er wünschte, er hätte bei ihnen sein können.

Bei ihnen und wieder an Bord der RUBIKON.

Aber er war an einem ihm unbekannten Ort.

In einem Raum, der nur eine Folterkammer sein konnte, denn schon beim Öffnen der Augen erwartete Cloud ein Effekt, der als gezielter Angriff auf seine Psyche gewertet werden musste.

Die Wände ringsum waren keine Konstante. Das Muster darauf war in ständiger, die Sinne verdrehender Bewegung. Spiralen, Zickzackgebilde, sich überschneidende Linien und Formen, die sich allesamt so schnell und unvorhersehbar veränderten, dass es schon nach wenigen Augenblicken an Clouds Verstand nagte. Er schloss die Augen – natürlich, er war kein Narr –, aber das Chaos schien sich schon in seine Sehnerven eingebrannt zu haben, lief unaufhörlich weiter ab, schraubte sich bis in die Tiefen seines Geistes.

Und dann – plötzlich – war alles vorbei.

Vorerst zumindest.

Cloud fand sich wimmernd am Boden, wo er auch schon vorhin zu sich gekommen war. Nur dass die Wände jetzt erstarrt waren in ihren Mustern und Figuren. Dadurch wurde es erträglich.

Die Gestalt bemerkte Cloud trotzdem erst, als sie ihn mit einer befremdlichen Extremität antippte. Er schrak zusammen, sah hoch …

und begriff.

Der Treymor war etwa einssechzig groß. Ohne Fühler. Sie mitgerechnet, erreichte er gewiss zwei Meter. Bullig kam er daher. Dazu gekleidet in etwas, das wie ein Schuppenpanzer aus handtellergroßen Metallplatten aussah. Die Rüstung, Uniform oder was immer es darstellte wirkte grün oxidiert, wie von einer krustigen Patina überzogen. Wobei von dieser Schicht eine beklemmende Stimmung verbreitet wurde, beklemmender fast, als die eigentliche Gestalt sie zu erzeugen vermochte.

»Johncloud, ich grüße dich.«

Durch Cloud ging ein Ruck. Er weigerte sich, vor dem Treymor wie eine gebrochene Kreatur aufzutreten. Noch immer lastete dumpfer psychischer Druck auf ihm, aber er kämpfte dagegen an und rappelte sich auf. Leicht schwankend positionierte er sich vor dem Käferwesen, das ihn nicht daran hinderte.

»Wer bist du?« Cloud erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Krächzend holperten die Worte über seine Lippen, geformt von einer Zunge, die sich wie ein klumpiger Fremdkörper in seiner Mundhöhle bewegte.

»Ich heiße Farrak.«

»Farrak … aha. Meinen Namen kennst du ja offenbar.«

»Du bist Legende. Genau wie dein Schiff.«

Im ersten Moment wusste Cloud nicht, ob der Treymor ihn nur verhöhnte oder tatsächlich meinte, was er da sagte.

»Ja …« Er grinste, obwohl ihm nicht danach war, absolut nicht. »Das wollte ich schon immer sein. Legende klingt gut.« Mit einem Satz war er bei Farrak, packte und schüttelte ihn. »Schon mal von einer Legende in den Arsch getreten … oder den Hals umgedreht bekommen?«

Er holte aus, um die Faust in die groteske Insektenfratze krachen zu lassen. Nichts von dem, was er tat, entsprang kühler Logik oder auch nur Vernunft. Es waren die Bilder der Toten, die ihn die Kontrolle über sich verlieren ließen. Die Bilder des Mordens an Bord des ehemaligen Vaaren-Rochenschiffs. Quarsolen! Mingox! All die Namenlosen …!

Aber er hätte ebenso gut versuchen können, einen tonnenschweren Fels bewegen oder gar umwerfen zu wollen. Farrak stand unbeeindruckt und unbeweglich da, trotzte scheinbar mühelos, spielerisch, Clouds wutentbranntem, mit bloßen Händen geführtem Angriff …

und reagierte auf eine Weise, wie es nur Geschöpfe taten, die keinerlei Selbstzweifel kannten, die bis in die letzte Faser ihres Seins von ihrer Unbesiegbarkeit überzeugt waren.

Clouds Hände begannen unvermittelt zu brennen, als hätte er sie in Säure getaucht. Dort, wo er die auffällige Patina berührte, wechselte etwas auf ihn über, das alles sein konnte: Energie, chemisches Gift, Gas, das über seine Haut an die Nervenbahnen gelangte … Für das Resultat spielte es keine Rolle, was es letztlich war. Der Effekt jedenfalls war unwiderstehlich.

Cloud zuckte vor dem Treymor zurück, riss die Hände an sich und drehte sie so, dass er die Innenflächen betrachten konnte, die … unversehrt waren.

Sofort klang auch der Schmerz ab, der brutal gewesen war.

»Du suchst das Feuer, an dem du dich verbrannt hast?« Farraks Stimme zirpte. »Ich kann es jederzeit neu erwecken. Dass du es wagtest, mich zu berühren, hat Konsequenzen. Mikroskopisch kleine Teilchen haften dir nun an. Über sie kann ich dir Schmerz schicken, wann immer ich will. Es ist fast so wie bei den Protopartikeln, die in deinem Blut kreisten. Du hast dich ihrer entledigt. Inzwischen wissen wir, wie du das erreichen konntest. Der Verräter wurde hingerichtet. Ich spreche von Mingox.«

Cloud ließ die Hände sinken. Sein Blick bohrte sich regelrecht in die Facetten von Farraks Sehorganen. »Ja, sprechen wir von Mingox. Und all denen, die auf deinen Befehl hin starben, feige niedergemetzelt wurden …« Er krümmte sich, als neuer Schmerz durch seine Handflächen stach, so als würden sich glühende Nadeln hineinsenken. Er ignorierte es, versuchte es zu ignorieren. Mit Tränen der Wut in den Augen trat er wieder einen Schritt auf Farrak zu. Und zum ersten Mal bemerkte er eine leichte Unsicherheit an dem Treymor, der einen Schritt weit zurückwich, offenbar überrascht von der Willensstärke, mit der Cloud gegen die Marter anging. »Ich …«, keuchte er, »… halte dich … und deinesgleichen … für eine zutiefst … amoralische Spezies!«

Farraks Fühler erzitterten, was ebenso gut Ausdruck von Amüsement sein konnte wie Betroffenheit. Wahrscheinlicher aber war, dass er den Vorwurf für ein Kompliment hielt und die Erregung des Menschen schlichtweg komisch fand.

»Wir haben unsere Prinzipien«, sirrte er unerwartet. »Wie deine Art auch. Aber unterscheiden sie sich wirklich so frappant?«

»Was treibt euch an?«, fragte Cloud. Er hatte sich gefasst. Er wusste, dass ein erneuter Angriff schwerere Folgen für ihn gehabt hätte als der erste. Möglicherweise würde Farrak ihn ohne Skrupel umbringen, selbst wenn er sich noch einen Nutzen von ihm versprach. Dieser Treymor hier überstrahlte jeden anderen, den Cloud jemals aus der Nähe gesehen hatte, an körperlicher und geistiger Präsenz. »Warum wart ihr im Milchstraßenzentrum, beim dortigen Schwarzen Loch? Warum wolltet ihr verhindern, dass die Bractonen …« Er machte eine Pause, dachte nach, schürzte die Lippen und fuhr fort. »Dass sie hinter den Ereignishorizont gelangten? Es war von eminenter Bedeutung, dass sie es schafften – mit einer der Kugeln, die ihr angegriffen habt.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Der Schmerz in den Händen war abgeebbt, trotzdem wirkte er nach. »Ich habe keine Zweifel, dass ihr die Bedeutung der Operation kanntet. Wir, meine Crew und ich, waren in der Zwischenzone, in der weder Raum noch Zeit in der uns bekannten Form existieren, dafür etwas, was die Bractonen eine CHARDHIN-Perle oder Tridentische Kugel nennen … Ich sage dir nichts Neues. Oder?«

»Sprich weiter.«

»Und was ist mit der Antwort – auf meine Frage, was ihr dort wolltet? Warum wolltet ihr die Reparatur der entarteten Perle im Milchstraßenzentrum verhindern? Danach zumindest sah es aus. In welcher Beziehung steht ihr zu den Kräften, die die Negaperle etablieren wollten?«

»Mich wundert, wie bereitwillig du über Dinge redest, von denen man glauben sollte, sie wären … streng geheim.«

»Halte mich nicht zum Narren.«

»Wie meinst du das?«

»Das weißt du ganz genau, Farrak. Ihr habt die RUBIKON. Und damit habt ihr auch alles Wissen, alle Informationen, die jemals in den Logbüchern gespeichert wurden. Oder …« Ein lauernder Unterton drängte sich in Clouds Stimme. »… leistet sie Widerstand?«

»Sie? Das Schiff?«

»Die Künstliche Intelligenz darin. Wir nennen sie Sesha. Nach dem ursprünglichen Namen der foronischen Arche … Auch das wisst ihr inzwischen. Nichts ist vor euch verborgen geblieben, oder doch?«

»Warum sollte ich es dir vorenthalten? Ja, wir haben das Schiff in unserer Gewalt. Ja, jeder Widerstand dort – auch der eurer Bord-KI – wurde gebrochen. Es bedurfte keines Kraftakts. Die Technologie ist veraltet. Bis auf …«

»Bis auf was ?« Cloud reagierte auf das Stocken. Zumal er den Eindruck hatte, dass Farrak zwar von einer auf ganzer Linie erfolgreichen Übernahme der RUBIKON sprach, es aber möglicherweise doch ein paar Probleme gab oder zumindest gegen hatte.

Vielleicht war aber auch nur der Wunsch der Vater des Gedankens.

Schlagartig jedoch veränderte sich Farraks Körpersprache. Die Dominanz, die er die ganze Zeit über ausgestrahlt hatte, schien sich zu verflüchtigen.

»Die Stase-Kammer. Die dortigen Gerätschaften sind … erstaunlich.«

»Ihr habt nichts Vergleichbares?« Cloud war überrascht.

»Noch nicht, nein. Doch mithilfe der Vorlage aus dem Schiff werden wir in Kürze darüber verfügen.«

Cloud zuckte mit den Schultern. Ihn interessierten andere Dinge. Doch plötzlich fiel ein Schatten über sein Gesicht. »Wenn ihr die Stase-Kammer gefunden habt …« Er unterbrach sich.

Aber Farrak wusste bereits, worauf er hinauswollte, wie seine nächsten Worte verrieten. »Korrekt. Dann haben wir auch ihn gefunden. Den Verheerer.«

»Er ist euch ein Begriff?« Cloud nickte auf seine eigene Frage hin. »Natürlich ist er das. Ihr wart dort. Dein Volk. Als wir Darnok aufspürten und unschädlich machten. Wir hatten einen ERBAUER an Bord und flogen im Schutz eines ganz speziellen Konstrukts.« Er dachte mit Wehmut an Prosper Mérimée, der lebenden Zeitanomalie, mit deren Hilfe die RUBIKON unangetastet durch die Unbilden des von Darnoks entfesselten Zeitsturms gelenkt worden war. »Aber wie konntet ihr ihn aufspüren? Fast hättet ihr es geschafft, zu ihm zu gelangen. Die Kluft, die euch noch trennte, war minimal für kosmische Verhältnisse. Damals wurden wir zum ersten Mal von eurer Hartnäckigkeit, eurer Finesse und eurem Vermögen verblüfft.«

»Der Verheerer war einmal ein Freund der Menschen«, sagte Farrak, ohne auf Butterfly M2 einzugehen.

»Das«, sagte Cloud mit Bitterkeit in der Stimme, »ist richtig.«

»Niemand kennt ihn besser als ihr.«

»Das glaubte ich einmal, ja. Aber –«

»Wie gefährlich schätzt du ihn heute noch ein?«

Die Frage irritierte Cloud. Aber nur kurz. »Nach allem, was geschehen ist, nach allem, was er tat, wäre es fahrlässig, ihn für ungefährlich zu halten. Deshalb liegt er in Stase. Er wäre eine tickende Zeitbombe, ein unkalkulierbares Risiko, wenn man ihn …« Er verstummte. Die Art, wie Farraks Facetten ihn anstarrten, weckte ein Unbehagen, das er zunächst verleugnen wollte. Doch es gelang ihm nicht. »O nein«, seufzte er. »Das wäre verrückt. Das wäre … sag, dass das nicht stimmt. Ihr habt doch nicht …?«

Immer noch keine Reaktion.

»Ihr müsst wahnsinnig sein! Wie konntet ihr nur?«

»Es ist wahr.« Farraks Stimme klang, als würde in einem fort klirrend Glas zerspringen. »Er wurde … geweckt. Und ist seither verschollen …«



3.


Cloud versuchte sich die Tragweite des Gehörten klar zu machen.

Darnok verschwunden – war ein größerer Gau überhaupt vorstellbar? Sie hatten ihn auf Butterfly M2 überwältigt und schnellstmöglich in die Stase an Bord der RUBIKON geschickt. Womit das eigentliche Problem – wie nun mit Darnok umgehen ? – bis auf unbestimmt vertagt worden war. Im Grunde hatten alle, die Darnok von früher, aus guten Tagen, kannten, den geistig entarteten Keelon zu vergessen versucht. Die Selbstlüge, der Verheerer der Milchstraße könnte eines Tages therapiert und als geheilt in ein neues Leben entlassen werden, war von allen Beteiligten vorgeschoben worden, um sich vor der Verantwortung zu drücken … und vor der bitteren Wahrheit. Eine Wahrheit, die da hieß: Niemals würden sie es wagen dürfen , Darnok noch einmal die Freiheit zu schenken. Das Risiko eines Rückfalls, ganz gleich wie genau dieser dann aussähe, war definitiv zu groß.

Sein Staseschlaf war in Wahrheit eine Vorstufe des Todes, der irgendwann eingetreten wäre. Irgendwann, wenn die RUBIKON auf einen Gegner getroffen wäre, der sie im Kampf vernichtet hätte (und mit ihr alles, was sich darin befand). Oder irgendwann, wenn John Cloud vielleicht eigenhändig den Hebel umgelegt hätte, der einen gleitenden Übergang von der Stase in den biologischen Tod eingeleitet hätte – weil Umstände es erforderten.

Hätte ich das? An Cloud nagten Selbstzweifel. Er war kein Henker. Kein Vollstrecker. Wahrscheinlich wäre dieser hypothetische Fall also nie eingetreten. Aber erfahren würde er es nun vermutlich nicht mehr, denn Darnok hatte das Heft des Handelns an sich gerissen, nachdem die Treymor ihm aus Unwissenheit die Chance dazu gegeben hatten. Er musste blitzschnell realisiert haben, was er tun konnte, um sich jedem Zugriff zu entziehen. Und dazu hatte er sein Magoo eingesetzt, jenes nur bei Keelon zu findende Organ, das ihnen ermöglichte, kraft ihres Willens die Zeit zu manipulieren.

»Ihr wisst nicht, was ihr angerichtet habt …«, kam es über Lippen, die sich wie taub anfühlten. Eine bleierne Schwere und Kälte schien sich durch Clouds Adern zu wälzen. »Ihr habt keine Ahnung …«

»Doch«, widersprach Farrak. »Die haben wir. Und deshalb sind wir alarmiert und haben Vorkehrungen getroffen, die verhindern werden, dass der Verheerer das Legendenschiff verlässt. Eine wirkliche Katastrophe wäre, wenn ihm das gelänge. Die Silberstadt beherbergt unersetzliche Werte.«

»Euch«, sagte Cloud sarkastisch. Langsam beruhigte sich sein Puls wieder. Dennoch kreisten seine Gedanken weiterhin um Darnok. Wo mochte er gerade sein? Welche Pläne mochte er schmieden? War er noch immer von Zerstörungswut getrieben? Würde er sich an denen rächen wollen, die ihn aus seiner Bastion geholt und vorübergehend unschädlich gemacht hatten? Denen es zu verdanken war, dass der Zeitfluss der Milchstraße sich wieder normalisiert, dem restlichen Universum angepasst hatte und die Hightech unterdrückende Strahlung Geschichte war?

»Uns?« Farraks Facettenaugen schienen zu irrlichtern. »Ist das Humor? Ich habe in den Datenbänken deines – ehemaligen – Schiffes Einträge gefunden, die von Unlogik nur so strotzen. Wir Treymor haben keinen Humor und kennen ihn bislang auch nicht. Ist das ein Makel, was meinst du?«

»Humor ist, wenn man trotzdem lacht«, erwiderte Cloud launig.

»Wie?« Farraks Fühler zitterten. Dann schien ihm einzufallen, dass es Wichtigeres gab als den Humor von nichtinsektoiden Lebensformen oder deren sonstigen Mentalitätsunterschiede zu seiner eigenen Art. »Du hast vielleicht einen Tipp für uns, wo sich der Verheerer versteckt halten könnte.«

»Nein«, sagte Cloud.

»Bist du sicher?«

»Ja.«

»Du willst nicht kooperieren? Obwohl …« Ein kratzendes Geräusch löste sich aus dem Mandibelmaul des Treymor. »… die RUBIKON auf dem Spiel steht? Sie wird der Keelon als Erstes vernichten.«

»Das ist möglich.«

Farrak starrte ihn stumm an.

»Aber ebenso gut möglich ist, dass er das Schiff längst verlassen hat und dort ist, wo du ihn am allerwenigsten haben willst. In deiner ach so bedeutsamen ›Silberstadt‹.« Er lächelte ohne jeden Humor. »Ich befinde mich in der Ewigen Städte, in der Vakuumkugel im Zentrum des Aquakubus, oder? Dorthin habt ihr mich nach dem feigen Mord an der Rochenbesatzung gebracht.«

»Wir leben und arbeiten hier«, bestätigte Farrak ohne Scheu. »Der Rest des Kubus interessiert uns nur … nun, als Reservoir, als Ressource. Für unsere Arbeit.«

»Und was heißt das?«

»Das wollte ich dir ohnehin zeigen. Du bist mein Gast. Unser Gast. Die Neun haben gemeinsam entschieden, dir zu offenbaren, was auf das Leben, auch die Bewohner deines Heimatplaneten, zukommt.«

Cloud hörte kaum noch zu. »Du sagtest gerade ›Heimatplaneten‹. Meinst du damit die Erde? Ihr wart dort mit euren Schiffen, als wir die … die Hohlwelt besuchten. Warum? Ich verstehe nicht, was –«

»Die Erde ist wichtig. Aber nicht das Wichtigste. Wir haben größere Ziele. Erst recht die, die hinter uns stehen.«

Die, die hinter uns stehen …

Cloud hatte sich oft gefragt, wer das sein könnte. Wer den Treymor geholfen hatte, von einer vergleichsweise unbedeutenden, im Milchstraßenzentrum ansässigen Macht zu einer Größe aufzusteigen, die selbst den Bractonen gefährlich werden konnte.

Aber er wurde enttäuscht, wenn er hoffte, mehr darüber zu erfahren. Farrak wiegelte alle diesbezüglichen Versuche ab, vertröstete ihn mit dem Hinweis: »Wenn es soweit ist, sprechen die Ereignisse für sich.«

»Damit kommt ihr nicht durch«, murmelte er, wie um Kraft aus den eigenen Worten zu schöpfen. »Niemals kommt ihr damit durch. Ihr macht die Rechnung ohne den Wirt. Die RUBIKON mögt ihr in eure Gewalt gebracht haben – aber die Besatzung ist euch entwischt. Das wird euch noch übel aufstoßen. Ihr habt uns unterschätzt. Und letztlich wird das eure Niederlage besiegeln.«

»Niederlage?« Farraks Augen schienen jetzt zu glühen. »Von welcher Niederlage redest du, Kreatur? Wir haben dich. Wir haben dein Schiff. Und die armselige Besatzung werden wir auch finden. Und dann gnade ihnen das, was ihr Gott nennt!« Fauchend trat er auf Cloud zu, der für einen Moment glaubte, der Treymor wolle ihn mit den bloßen Extremitäten umbringen.

»Was …«, fragte Cloud, der weder zusammenzuckte noch auswich, »… habt ihr vor? Was ist euer Ziel als Volk? Die Erde? Die interessiert euch doch nur peripher, mach mir nichts vor. Was ist das wahre Ziel?«

»Die Herrschaft«, erwiderte Farrak, der sich wieder gefangen hatte. »Die Herrschaft derer, denen wir dienen. Mit allem, was wir sind und haben!«

Wieder die ominösen Unbekannten.

»Haben diese Herrscher einen Namen?«

Farraks Körpersprache drückte fast greifbar Mitleid aus. Mitleid, wie man es für verblendete Geschöpfe empfand.

»Hass«, sagte er schließlich. »Nenn sie Hass – und als solcher werden sie über euch kommen. Über alle, die mit ihnen paktieren … und über sie selbst.«



Er meinte die Bractonen – die ERBAUER, wie sie in den alten Mythen genannt wurden. Für Cloud gab es keinen Zweifel. Aber wer sollten diese ominösen Herren der Treymor sein, deren Herrschaft diese offenbar akribisch vorbereiteten.

Ging man vom Wahrheitsgehalt der Aussagen aus, ergab sich ein neues, sehr viel klareres Bild der gegenwärtigen Milchstraßen-Situation. Nach dem Verschwinden CLARONs und der anorganischen, von den Jay’nac angeführten Liga war ein Machtvakuum entstanden, in das die Treymor offenbar mit Vehemenz drängten – als Vorbereiter , wie Farrak gerade eingeräumt hatte, für eine Macht, über die es bislang so gut wie keine Informationen gab. Außer der, dass sie offenbar in einer blutigen Fehde mit den Bractonen lagen, die ihre Wurzeln weit in der Vergangenheit haben musste.

Wer die ERBAUER kannte, der wusste, dass sie bei ihren Aktionen selten Rücksicht – auf ihrer Meinung nach – niedere Lebensformen nahmen. Selbst von einem grausamen Schicksal gestraft, waren sie dazu verurteilt, in diesem von ihnen erschaffenen Kosmos auszuharren, ohne allzu große Aussicht auf eine Rückkehr in den Lebensraum, aus dem sie einst gekommen waren.

In die Bemühungen, es dorthin zu zurück vielleicht doch noch aus eigener Kraft zu schaffen, war in jüngster Zeit Bewegung gekommen. Kargor hatte sich mit einer Vielzahl von Bractonen, die das Risiko nicht scheuten, aufgemacht, um über Portas – die sogenannte Schwellenwelt – doch noch einen Weg nach Hause zu finden. Dort hatten sich offenbar die Anzeichen verdichtet, dass die andere Seite tätig geworden war und die Voraussetzungen für eine Heimkehr der Verschollenen zu schaffen versuchte.

Was aber genau hinter den rätselhaften Vorgängen auf dem rätselhaftesten Planeten des Angksystems überhaupt steckte, wusste gegenwärtig niemand so genau – am allerwenigsten die im System verbliebenen und über die sechs anderen Angkwelten verstreuten Bractonen, die sich dort in einem friedvollen Miteinander den Lebensraum mit dort angesiedelten Menschen teilten. Aktueller Stand war jedoch, dass das Angksystem hinter einem undurchdringlichen Schleier aus Chaos und nicht identifizierbarer Energie verschwunden war. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass das ERSTE REICH der Bractonen gar nicht mehr existierte und das sichtbare Inferno sich aus den Kräften nährte, die beim Untergang des Systems freigesetzt worden waren.

All das mochten die Treymor zwischenzeitlich an Information aus den Speicherbänken der RUBIKON gezogen haben. Aber Farraks Worten zufolge glaubten sie nicht an eine Vernichtung des Erzfeindes.

Für Cloud durchaus tröstlich, wenn er an all die Lebewesen und Wunder dachte, die das Angksystem beherbergte und es so einzigartig machte.

Aber auch Treymor konnten sich irren.

»Wir Menschen haben eine Redensart, wonach Hass kein guter Ratgeber ist«, sagte Cloud, ohne sich von seinem Einwand allzu viel zu erwarten.

»Ihr Menschen habt ja auch Humor .« Auf Farraks insektoiden Zügen zeichnete sich ein neuer, wiederum kaum deutbarer Ausdruck ab. »Und vielleicht seid ihr genau deshalb so schwach.«

»Sehr witzig.« Cloud schnitt eine Grimasse. »Wer sind diese Nutznießer, für die ihr Treymor offenbar die Drecksarbeit erledigt? Woher stammen sie?«

»Du hast nichts verstanden«, kanzelte ihn Farrak ab. »Wir sind Gesegnete. Weil wir ihnen dienen dürfen . Wo stünde mein Volk heute ohne sie?« Er machte eine Geste, die offenbar seinem Unmut Ausdruck verleihen sollte. »Wir verdanken ihnen alles. Deshalb können sie sich unserer ewigen Treue sicher sein.«

Cloud sah ein, dass Farrak nicht beizukommen war, weder mit Argumenten noch mit irgendetwas sonst. Die unbekannten Drahtzieher schienen ihm heilig zu sein. Und um an dem Bild, das der Treymor in sich trug und bewahrte, ernsthaft rütteln zu können, brauchte es mehr Informationen, mehr Fakten. Farrak jedoch demonstrierte nachdrücklich, dass er nicht bereit war, hier und jetzt mit Cloud über die »Segenbringer« zu diskutieren.

»Ich wundere mich«, lenkte er das Gespräch in andere Bereiche.

Farrak wartete gute zwei Minuten, ehe er fragte: »Worüber wunderst du dich?«

»Dass du mich so behandelst, beinahe … rücksichtsvoll. Warum? Was versprichst du dir von mir?«

Fast unerwartet ging Farrak auf seine Frage ein. »So wie wir dienen, haben auch wir Diener, wie du weißt. Lebende Werkzeuge, die dazu beitragen, dass wir das Hohe Ziel so rasch wie möglich erreichen.«

»Und wie lautet dieses … Ziel? Wollt ihr die Milchstraße unter eure Kontrolle bringen?«

Aus Farraks Brust drang ein rasselnder Ton. »Das ist selbstverständlich.«

»Ach?« Cloud fand die Arroganz, die Farrak an den Tag legte, beinahe schon sobekwürdig – mit anderen Worten zum Kotzen.

»Zweifelst du?«

Cloud zuckte mit den Achseln. »Und welche Rolle spiele ich dabei?«

»Sie ist immerhin groß genug, dass ich es – noch – verantworten kann, dich am Leben zu lassen.« Farrak rasselte erneut. »Aber die Details dazu erfährst du später. Ich verabschiede mich für den Moment. Aber das heißt nicht, dass du allein bleiben musst. Ein loyaler Diener wird sich deiner annehmen. Und korrigieren, was der Verräter zunichtemachte …«

Mit diesen Worten wandte Farrak sich ab und ließ einen ratlosen John Cloud zurück. Doch als bald darauf ein Luure in der Gefolgschaft mehrerer Treymor auftauchte, überkam Cloud eine ungute Ahnung. Die sich bitter bewahrheiten sollte …



4.


Das Schiff wimmelte von Feinden.

Und auch das Schiff selbst war sein Feind. Dessen war sich Darnok bewusst. Es würde ihn jagen und aufspüren. Und wieder dorthin zwingen, von wo er gerade geflohen war.

Aber nur, wenn er es zuließ.

Was denke ich da? Warum tue ich mir das an? Ich sollte mich ihnen ergeben – oder auf der Stelle umbringen. Ich sollte die Chance nutzen, meine Schuld zu sühnen.

Die Schuld, die unendliche Schuld.

Ein Teil von ihm dämmerte immer noch in der Stase dahin, während das Wenige, das erwacht und aktiv geworden war, sein Heil in blinder Flucht suchte.

Darnok hatte sich auf ein anderes Zeitlevel begeben. Dadurch wurde er unfassbar für seine Jäger. Unsichtbar, zum Phantom.

Aber er tat es mit nur einem seiner zwei Herzen – halbherzig, sozusagen. Denn etwas in ihm drängte, die Schuld anzunehmen, die Sühne dafür anzutreten … weil das der einzige Weg war, um jemals wieder zu sich selbst zu finden. Er hatte eine ganze Galaxie an den Abgrund getrieben. Er hatte vermutlich mehr Leben auf dem Gewissen als jeder Tyrann und Massenmörder vor ihm, auch wenn er all diese gesichtslosen, anonymen Geschöpfe nur indirekt – ohne sich die Strünke schmutzig zu machen – getötet hatte.

Monster. Ich bin ein Monster. Mir graut vor mir selbst.

Er wusste, dass die Reue zu spät kam. Und er erinnerte sich noch genau, welche wirren Gedanken – und Hoffnungen – ihn dazu verleitet hatten, sich zum Henker ganzer Zivilisationen aufzuspielen.

Bevor er zu der Monstrosität entartet war, als die er die Milchstraße das Fürchten gelehrt hatte, war er selbst Opfer unvorstellbarer Gewalt geworden. Physischer und psychischer Gewalt.

Gegen seinen – und gegen Arabims – Willen war er mit dem obersten Keelon-Master der Erde verschmolzen worden … und zu Darabim geworden. So hatten die Jay’nac es bestimmt. Von der Verschmelzung hatten sie sich neue Erkenntnisse versprochen. Aber er hatte sie hinters Licht geführt. Alle. Auch den vermeintlich beherrschenden Geist des Zwitters Darabim …

Die Erinnerung schmerzte und schlug ihre Bilder wie schartige Krallen in sein Bewusstsein. Darnok stöhnte und verlor fast die Kontrolle über die Zeit, die er, wie jeder Keelon, zu biegen und zu beugen gelernt hatte.

Ich bin ein Geist, ein Gespenst – für alle, die im normalen Zeitfluss leben. Vielleicht wäre es das Beste, für immer der Spuk zu bleiben, der sie narrt. Aber das ist Wunschdenken. Meine Manipulation kostet Kraft. Energie, die mir nicht unendlich zur Verfügung steht. Ich merke ja bereits, wie sie mich verlässt. Nicht mehr lange, und sie haben leichtes Spiel mit mir.

Bis es aber so weit war, wollte er ihnen die ein oder andere Niederlage zufügen, Verletzungen, die ihnen zu schaffen machen, Narben, die sie noch lange an ihn erinnern würden.

Sie.

Er kannte sie. So wie er dieses Schiff kannte, auf das … sie nicht gehörten.

Und auf das ich nicht gehöre. Ich habe jedes Recht verwirkt, hier zu sein. Die Freunde von einst, sie …

Ein gallebitteres Gefühl brachte den Gedanken zum Erliegen. Der Korridor, durch den er sich bewegte, war wie erstarrt – alles darin. Was daran lag, dass er schneller als das übrige Leben auf der RUBIKON war, so viel schneller, dass dieses »langsame« Sein ihn gar nicht zu erfassen vermochte. Nicht einmal die Bordsysteme vermochten das offenbar, obwohl Darnok damit gerechnet hatte, dass sie sich auf seinen Zeitfluss einpegeln würden.

Früher oder später würde das gewiss auch geschehen. Entweder würde die altforonische Technik ihn aufspüren, oder die Mittel und Möglichkeiten der Käferartigen würden dies.

Vergeblich wartete Darnok darauf, irgendwo einem Menschen zu begegnen. Überall nur insektenhafte Krieger, die wie Statuen über das Schiff verteilt waren.

Sie waren etwa menschengroß, ansonsten aber nur rudimentär humanoid. Darnok überlegte, ob er seine momentane Überlegenheit dazu nutzen sollte, jeden Fremden, den er antraf, zu töten. Seine Opfer würden überhaupt nicht merken, wer oder was sie umbrachte. Sie würden sterben, ohne ihn gesehen zu haben …

Aber hätte er das getan, hätte er nahtlos dort weitergemacht, wo er vor seiner Festnahme durch die rechtmäßige Crew dieses Schiffes aufgehört hatte.

Und das wollte er nicht.

Nein? Bist du dir da so sicher?

Die Jahre in Einsamkeit hatten schizoide Züge an ihm herausgebildet. Manchmal schauderte ihn vor der Stimme, die sich ohne jede Vorwarnung in ihm zu Wort meldete. Mal war sie der »bessere«, mal der »schlechtere« Darnok. Ganz unterschiedlich.

Früher hatte er geglaubt, sie als »Gesellschaft« sei besser als nichts. Doch inzwischen sehnte er die Stille in sich herbei. Die Leere, in die es ihn in seiner Gesamtheit zog …

Bring dich um. Warum zögerst du, wenn dich alles so anwidert – insbesondere du dich selbst?

Aber die Endgültigkeit eines Suizids schreckte ihn, wie er inzwischen wusste. Andere dem sicheren Tod auszuliefern, war ihm leichter gefallen.

Es gab nichts, womit er sich je davon reinwaschen konnte. Vielleicht handelte er auch jetzt völlig falsch. Vielleicht waren die insektoiden gar nicht seine Feinde. Sie hatten ihn aus der Stase geholt. Vielleicht – um ihn zu befreien … mit ihm in friedlichen Dialog zu treten …

Vielleicht ahnten sie nicht einmal, wer er war.

Aber wo sind die Persönlichkeiten, die du mit dem Schiff in Verbindung bringst? Wo ist John Cloud, wo Scobee und Jarvis und all die anderen?

Darnok hatte sich bereits instinktiv in die Richtung gewandt, wo er vielleicht Antwort auf diese Fragen erhalten würde – er war auf dem direkten Weg zur Kommandozentrale der RUBIKON. Und wenn er dort immer noch keine Menschen fand, denen er sich zu stellen bereit war (ihnen, aber nicht diesen Insekten!), hatte er endgültig ein Problem. Dann würde es noch schwerer für ihn werden, einen gangbaren Ausweg aus seinem Dilemma zu finden.

Vorbei an einer weiteren Schwadron von käferartigen Geschöpfen erreichte er das logistische Herz des Raumschiffs. An wie versteinert wirkenden Fremden vorbei betrat er die Zentrale. Den gewaltigen Raum, dessen Blickfang das Podest in der Mitte bildete, auf dem sieben Sitze und eine bis zur Decke reichende Holosäule angeordnet waren. Das Hologramm war wider Erwarten aktiviert; es zeigte die bizarre Umgebung, in der die RUBIKON vertäut worden war von unsichtbaren Gravitationsfesseln. Offenbar kommunizierte das Schiff mit einer externen Stelle, denn die Holoszene zeigte den Rochenraumer innerhalb des komplexen Riesengebildes, an dem er festgemacht worden war. Es sah aus wie eine gigantische Raumstation, groß wie eine Stadt, silbern schimmernd. Ansonsten dominierte völlige Leere die Umgebung. Sie war von weißem Licht durchdrungen, scheinbar bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet … aber dabei ohne jeden Orientierungspunkt. Einzige Ausnahme war die Silberstadt mit der RUBIKON.

Darnok vertiefte sich eine Weile in den Anblick, doch das hinderte seinen Verstand nicht daran, die Erkenntnis zu gewinnen, dass auch die Zentrale des Schiffes absolut bar jeder bekannten Gestalt war. Es gab keine Spur von John Cloud oder einem anderen Mitglied der Crew, die den Rochenraumer eigentlich hätte bevölkern müssen. Stattdessen überall nur Insektoide.

Wie viel Zeit mag vergangen sein, seit ich in die Stase gebettet wurde? Bislang war er davon ausgegangen, die bekannten Gesichter antreffen zu müssen – weil zwischen seinem Gang in die Stase und dem Erwachen daraus allenfalls ein paar Monate oder Jahre vergangen sein mochten.

Doch jetzt musste er eine andere Möglichkeit in Betracht ziehen: Die RUBIKON hatte nach den Foronen auch die Menschen überdauert. John Cloud und seine Gefährten existierten nicht mehr – dafür die Käfer.

Er kannte sie von ihrem Wirken her, aber nicht als Zivilisation, als Spezies. Von ihrer Kultur wusste er so wenig wie von ihren Motiven, die sie dazu verleitet hatten, Butterfly M2 anzusteuern. (Wie lange war das her? Alles, was damit zusammenhing, war so surreal, als gehörte es zum Leben eines anderen …)

Darnok wusste, dass er seine Flucht in der bisherigen Form nicht mehr lange würde durchhalten können. Entweder er versuchte, von Bord zu gelangen (aber wohin ?) – oder er ergab sich.

In beiden Fällen waren die Folgen nicht wirklich vorhersehbar.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Käfer ihm tatsächlich wohl gesonnen waren, lag nahezu bei null.

Dennoch … je länger er über seine Möglichkeiten nachdachte, desto mehr kam er zu dem Entschluss, zu müde zu sein und zu wenig am Leben zu hängen, um sich den begonnenen Widerstand weiterhin antun zu wollen.

Sollen sie mit mir tun oder lassen, was ihnen gefällt …

Er fürchtete nur die Folter. Dennoch war er fest entschlossen, das Risiko, einem erbarmungslosen Gegner in die Hände zu fallen, einzugehen.

Er konzentrierte sich, um das Zeitfeld, in das er sich mit großer Anstrengung hüllte, auf das Level der Umgebung zurückzufahren.

In diesem Moment bemerkte er eine Bewegung zwischen all dem Starren, das ihn umgab.

Kein Insektoide rührte sich bislang. Darnok hielt immer noch seine Eigenzeit aufrecht.

Aber woher kam dann die Bewegung?

Seine vielen Augen blinzelten. Dort, wo er etwas bemerkt zu haben glaubte, war nichts. Er hatte sich geirrt. Die Anstrengung forderte bereits ihren Tribut. Einbildung, reine Einbildung …

Aus einer anderen Richtung erfasste eine Anzahl seiner Augen erneut eine Aktivität, die so nicht hätte erfolgen dürfen.

Diesmal entging Darnok der Verursacher nicht – aber womöglich nur deshalb, weil der sich ihm zeigen wollte .

»Wer – bist du?« Darnok trippelte automatisch auf die Gestalt zu.

Diesmal versteckte sie sich nicht wieder.

»Wir müssen etwas tun«, sagte sie in klar verständlicher Sprache. »Dieses Schiff wurde vom Feind erobert. Du und ich sind die Einzigen, die sich ihm widersetzen konnten.«

Für einen Moment suchte Darnok vergeblich nach Worten, die seinem Gegenüber klar machten, dass er sich den völlig Falschen ausgesucht hatte, wenn er sich von ihm tätige Unterstützung gegen irgendwelche Feinde erhoffte. Er, Darnok, war der größte Verbrecher von allen. Aber das schien der Humanoide nicht zu wissen.

»Du … du weißt nicht, wer ich bin. Sonst würdest du nicht –«

»Ich weiß, wer du bist, Darnok, natürlich weiß ich das. Aber du kennst mich nicht, oder?«

Darnok machte eine keelonische Geste der Verneinung, ohne zu erwarten, dass der Unbekannte sie zu deuten wusste. »Du bist ein Mensch, so viel steht fest. Auch wenn ich mich frage, wie du …«

»Wie ich mich so schnell bewegen kann wie du?« Die schlanke, kahlköpfige Frau in der bläulich schimmernden, eng anliegenden Kleidung lächelte. »Während die Treymor im Dunkeln tappen?«

Treymor musste der Name für die insektoide Spezies sein.

»Ich bin nicht in der Stimmung, um –«

Die Frau nickte. »Du bist schwach. Und wirst immer schwächer. Aber es gibt einen Ort, wo du deine Gabe nicht bemühen musst und dich ausruhen kannst. Für eine Weile zumindest. Komm.« Sie streckte den linkten Arm aus. »Komm, ich führe dich hin. Dort reden wir weiter. Du hast sicher ein immenses Defizit an aktueller Information.«

Darnok zögerte.

Es konnte auch eine Falle sein. Eine Falle der … Treymor.

Aber was hatte er zu verlieren? Er war drauf und dran gewesen, sich ihnen ohnehin zu ergeben.

»Wohin … bringst du mich?«

»Folge mir einfach. Und warte nicht zu lange. Es werden bereits Anstrengungen unternommen, dich zu lokalisieren. Der Feind ist nicht zu unterschätzen.«

Tausend Gedanken rasten durch Darnoks Hirn. Schließlich hatte er seine Entscheidung getroffen. Er ging auf die fremde Frau zu, die sich umdrehte und sich ebenfalls in Bewegung setzte.

»Es ist nicht weit«, sagte sie mit warmer Stimme. »Hab Vertrauen.«

Vertrauen.

Darnok schauderte, weil ihm das Wort fremder vorkam als jedes andere, das ihm seit seinem Erwachen aus der Stase in den Sinn gekommen war.

Aber er blieb der Frau dicht auf den Fersen. Und erreichte den Ort, wo alle Last von ihm abfiel. Ermattet schlief er ein.



Darnok erwachte, weil ein fremder Arm in seinem Leib steckte.

Erschrocken fuhr er auf.

Die Frau zuckte zurück. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Darnok starrte auf die Stelle, aus der sich ihr Arm zurückgezogen hatte. »Was hat das zu bedeuten? Ich –«

»Es war kein Akt der Feindseligkeit. Das schwöre ich dir. Du musst mir vertrauen.«

Der Schlaf hatte neue Kräfte in Darnok freigesetzt. Er war versucht, in der Zeit zurückzuspringen und …

»Tu das nicht. Es würde alles verderben. Zumindest, wenn es so unüberlegt erfolgt. Lass uns reden und beratschlagen. Ich stehe auf deiner Seite – falls du auf meiner stehst.«

Darnok fluchte in Keelonmanier. Er konnte sich kaum erinnern, wann er die unbotmäßigen Worte zum letzten Mal ausgesprochen hatte. Dennoch kamen sie ihm leicht über die Lippen. »Du liest in meinen Gedanken? Wie? Bist du eine Telepathin?«

»Ich bin alles, was du dir wünscht.«

»Wie bitte?«

»Ich richte mich gern nach deinen Erwartungen – solange sie nicht im Widerspruch zum Ziel stehen.«

»Und das Ziel ist …?«

»Ich dachte, das sei klar.« Ein Hauch von Enttäuschung legte sich über die femininen Züge. Menschliche Züge. Die sich unvermittelt änderten.

Fassungslos, dem Trommelfeuer seiner beiden Herzen ausgesetzt, starrte Darnok auf die Keelonfrau, die sich vor ihm aus den Umrissen des zerfließenden Menschenweibs herausschälte.

»Li-see …«

Was geschah mit ihm? Träumte er das alles nur, angefangen mit dem Erwachen aus der Stase? Oder war sein Verstand bereits so zerrüttet, dass die Wahnvorstellungen ihn wie eine endlose Abfolge von Lawinen überrollten?

Einen Moment zuvor hatte er an sie gedacht, an Lisee, und jetzt stand sie vor ihm.

»Sie ist eine Illusion«, sagte Lisee und meinte offensichtlich sich selbst. »Ich fand ihr Bild in dir, als ich gerade in dir war … Ich wollte dir einen Gefallen tun. Ein vertrautes Äußeres, zu dem du große Zuneigung empfindest – immer noch, nach so langer Zeit …«

Also doch: eine Telepathin!

Zugleich aber auch eine … Suggestorin – oder Gestaltwandlerin.

»Warum?«, ächzte er. Lisees Anblick schürte ein längst erloschen geglaubtes Feuer. Er wurde seiner Emotionen kaum Herr. »Warum … tust du mir … das an?«

Die Lisee-Erscheinung formte sich zurück zu der Menschenfrau. Sie war neutral. Darnok beruhigte sich.

»Wer bist du?«, verlangte er mit Nachdruck zu wissen. »Ich begreife nicht, was du von mir willst. Und warum du mir diese Bilder vorgaukelst. Das ergibt keinen Sinn.«

»Ich biete dir eine Zuflucht«, erinnerte die Frau ihn. »Ist das nichts?«

»Aber du tust es aus Eigennutz. Du willst etwas von mir. Sag mir was

Sie nickte, trat auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen. Darnok spürte ihre Präsenz, als hätte er ein Wesen aus Fleisch und Blut vor sich. Doch tief in seinem Innern hegte er daran große Zweifel.

»Du hast recht, und du verdienst es, die Wahrheit zu erfahren. Ich wollte dir Zeit geben, dich an mich zu gewöhnen – an mich in dieser Form. Aber ich erkenne, dass du stark genug bist, dich mit den gegebenen Umständen auseinander zu setzen.«

»Was willst du von mir?«

»Du sollst mir helfen.«

»Wobei?«

»Das Schiff zurückzuerobern.«

»Die RUBIKON.«

Sie nickte. »So tauften die Menschen sie. Ja.«

»Die Menschen, von denen du sprichst, sind verschwunden. Ohne Ausnahme … von dir einmal abgesehen.«

»Ich bin kein Mensch.« Die Bereitwilligkeit, mit der sie das zugab, verblüffte ihn einmal mehr.

»Was dann?«

»Hast du das noch nicht begriffen?« Sie lächelte freundlich, wie er es bei Menschen oft gesehen hatte. Bevor sie begonnen hatten, ihn zu verachten. »Ich bin die kybernetische Instanz dieses Schiffes. Sesha. Aber niemand da draußen …« Sie zeigte auf die Energieblase, die den Ort umspannte, an dem sie sich aufhielten. »… darf das erfahren.«



»Warum sollte ich dir glauben?«

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924466
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon tovah‘zara
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Titel: Raumschiff Rubikon 20 Tovah‘Zara