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Raumschiff Rubikon 16 Die Negaperle

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Raumschiff Rubikon 16 Die Negaperle

von Manfred Weinland


Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …








Prolog


Jiim erwachte durch das Wimmern seines Sprösslings. Yael hing in seinem Nachtgeschirr, und in unregelmäßigen Abständen zuckte sein Körper so heftig, dass die Vorrichtung, in der er schlief, leise klirrte. Die Schwingen fächelten Luft, der Balken, an dem das Geschirr verankert war, knarzte. Von draußen schien Marons eitrig gelbes Licht in die Baumhütte.

Es reichte aus, um Yaels Gesicht einigermaßen klar erkennen zu lassen. Es war verzerrt, aber die Augen waren geschlossen. Aus dem Mund drang abermals ein Wimmern.

Jiim rutschte aus der Schlafvorrichtung, die den Bedürfnissen eines Nargen Rechnung trug. Mit drei Schritten war er bei Yael, um ihn zu wecken. Dabei bemerkte er, dass das Gefieder seines Sprosses wie mit flüssigem Gold bestrichen aussah.

Jiim schaute an sich herab … und stöhnte auf. Im ersten Moment glaubte er an eine optische Täuschung, aber als er sich berührte, bekam er Gewissheit: Das Nabiss war verschwunden!

Mehr noch: Es sah so aus, als hätte es seinen Träger gewechselt und kleide jetzt den schlafenden Yael …

Jiim wusste nicht, was er tun sollte. Yael war mit einem goldenen Gefieder auf die Welt gekommen. Für Nargen völlig untypisch.

So untypisch wie das, was Jiims Körper schon lange vor Yaels Zeugung golden gefärbt hatte: die von einem Ganf hergestellte Nabiss-Rüstung, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr von Jiim hatte abgelegt werden können – weil sie begonnen hatte, mit seinem Körper zu verwachsen , regelrecht zu verschmelzen .

Und nun … sollte sie weg sein? Beziehungsweise auf Yael »übergesprungen«?

Jiim erzitterte. Die Art und Weise, wie Yael sich wand, hin- und herwarf, wie er die feingliedrigen Hände um die Gurte legte und so fest schloss, dass sie fast weiß wurden, das alles ließ das Verhalten des Jungnargen plötzlich in ganz anderem Licht erscheinen.

Anfangs hatte Jiim geglaubt, sein Sprössling würde lediglich albträumen. Doch nun hatte es mit einem Mal den Anschein, als wehre er sich in Wirklichkeit – gegen eine handfeste Gefahr, die nach ihm griff.

Das Nabiss.

Das Nabiss umhüllte ihn und musste die Ursache aller Qual sein.

Bei Maron, dem Vernichter!, dachte Jiim, von dem der letzte Rest Schlaftrunkenheit abfiel. Und laut rief er: »Yael! Hörst du mich? Wenn du mich hören kannst – wach auf! Wach auf, aber erschrick nicht. Ich bin bei dir. Ich helfe dir. Wir werden …«

Seine Stimme versagte, weil etwas Unerwartetes geschah.

Wie eine alte Haut löste sich der Goldmantel von Yaels Gefieder und flog Jiim mit einer solchen Geschwindigkeit entgegen, dass dieser nicht mehr hätte ausweichen können, selbst wenn er es gewollt hätte.

Im nächsten Moment schien die Normalität zurückzukehren: Halb von seinem Körper absorbiert, strahlte die Rüstung an Jiims Leib. Und schwach nur reflektierte Yaels goldfarbenes Gefieder den auftreffenden Schein.

Alles war wieder beim Alten.

Yael schlug die Augen auf. Schwer atmend starrte er zu seinem Elter, den er nur zögerlich zu erkennen schien. »Ich …«, setzte er an.

»Schon gut, schon gut, beruhige dich erst einmal.« Jiim trat mit wackligen Beinen zu ihm und wünschte sich, er hätte jemanden gehabt, der beruhigend auf ihn einwirkte. »Du hattest einen Albtraum.«

Yael schälte sich aus dem Geschirr. »Ein Albtraum, ja.«

»Kannst du dich noch erinnern, wovon du geträumt hast?«

»Von Portas. Ich war auf Portas und stand vor dem Tor.«

Jiim schauderte unwillkürlich, denn Yael war wahrhaftig auf der Versiegelten Welt der Bractonen gewesen – die RUBIKON hatte ihn in einem halsbrecherischen Unternehmen von dort bewusstlos bergen können. Bis heute war nicht restlos geklärt, wie es Yael nach Portas verschlagen konnte, aber dass er dort gewesen war, war Fakt.

»Was für ein Tor?«

»Durch das Kargors Perle flog. Das Tor in die Welt, aus der er und die Seinen einst verbannt wurden. Vor Jahrmilliarden.«



Jiim war erschüttert. Weniger von Yaels Aussage selbst als von der Art und Weise, wie er sprach. In diesem Moment begriff er, dass sein Spross noch immer wie im Schlaf redete – als wäre er noch gar nicht ganz aufgewacht, auch wenn die Augen offen waren und er nun aufrecht vor ihm stand.

»Rede«, sagte Jiim. »Rede dir alles von der Seele! Nutze die Gelegenheit, mit dem fertig zu werden, was schon seit Portas in dir rumort. Die Erinnerung war verschüttet, das fraß dich auf. Nun scheint sie zurückzukehren. Wenn du willst, holen wir uns Beistand. Sesha als psychologische Instanz, John und vielleicht Scobee als Freunde …«

Durch Yael lief ein Ruck. Danach hörte das Zittern auf, aber sein Gesicht drückte immer noch namenlosen schrecken aus. »Es … ist keine Erinnerung. Nicht einmal … ein Traum …«, kam es gequält aus seinem Mund.

Jiim war ratlos. »Aber du sagtest gerade –«

»Ich sagte, ich war auf Portas. Vor den Säulen, die einen Durchgang ins Ursprungskontinuum der Bractonen ermöglichen. Oder ermöglichen sollten. Aber es war kein Traum, keine Erinnerung …«

»Sondern?«

»Ich war dort. Gerade eben, bevor du zu mir sprachst. Ich stand inmitten schrecklicher Gewalten, und alles war absolut real, dessen bin ich mir ganz sicher!«



1.


Die RUBIKON ritt auf den Wellen dunkler Materie und Energie. Samragh, wie die Foronen ihre Urheimat, die Große Magellansche Wolke nannten, lag bereits Lichtjahrzehntausende hinter dem rochenförmigen Schiff. Aber noch immer war die Kernbesatzung aufgewühlt von den Ereignissen, von den Dramen und Tragödien, die sich dort abgespielt hatten.

John Cloud konnte immer noch nicht ganz glauben, dass Sobek – ihr Intimfeind, seit sie in den Strudel kosmischer Gewalten geraten waren – nun wahrhaftig tot sein sollte. Umgebracht von Kräften, die sich jedem Versuch einer Analyse entzogen.

Sobek war lange verschollen gewesen – unverhofft wiederbegegnet waren sie ihm dann in einem Milchstraßenplaneten, auf dem sich eine unheimliche Macht etabliert hatte. Eine SESHA-Kopie, ein HAKAR, war darin in einer Anomalie eingebettet gewesen und an Bord dieses Raumschiffs, das nach dem Abbild der RUBIKON erschaffen worden war, hatte Jarvis aus dem dortigen Kommandositz den Anführer des früheren foronischen Septemvirats geborgen und an Bord der RUBIKON gebracht.

Er war sofort unter Gewahrsam gestellt worden, aber mithilfe unbekannter technischer Mittel, die offenbar auf die Schöpfer der Anomalie zurückgingen, war es ihm gelungen, das Archenschiff seines Volkes zurückzuerobern.

Doch dann waren sie in der GMW auf jenes andere Phänomen getroffen – auf ganze Sternensektoren, die von einem Moment zum anderen aufhörten zu existieren, aufhörten zu sein .

Die unmittelbare Nähe zu diesem Vorgang schien die Technologie, mit der Sobeks Körper seit dem Anomalieaufenthalt gespickt war, jäh funktionsuntüchtig zu machen – eine Gelegenheit, die seine Gefangenen genutzt und ihn getötet hatten.

Vielleicht hätte es die Möglichkeit gegeben, ihn lebend zu neutralisieren, aber wie oft hatten sie schon geglaubt, das zu können und waren jedes Mal eines Besseren belehrt worden?

Nein , dachte Cloud, während sein Blick den Gefährten so vieler Abenteuer streifte, die ihm gegenüber auf einem der anderen sieben Kommandositze Platz genommen hatte, Jarvis ist kein Vorwurf zu machen. Er hat einfach nur konsequent jedes Risiko ausschalten wollen. Auf der RUBIKON leben inzwischen mehrere tausend Menschen – sie alle schwebten seit Sobeks Rückkehr an die Macht unter permanenter Lebensgefahr – vorrangig wir von der Kerncrew. Nein, ihm ist absolut kein Vorwurf zu machen, und Samragh hat nun endlich eine reelle Chance, sich zu erholen. Die Foronen haben eine Chance. Wenn Sobek die Pest war, war Mecchit zumindest die Cholera. Siroona hingegen …

Er beendete seinen Gedankenflug. Weil er selbst nicht klar hätte benennen können, worauf seine Hoffnung fußte, dass ausgerechnet Siroona, einst Sobeks Geliebte und die Foronenfrau, die alle Eskapaden und Gräuel ihres Gefährten duldete, wenn nicht gar unterstützte, die richtige Person sein sollte, um Samragh oder das foronische Volk zu neuer friedlicher Blüte zu führen.

Er erinnerte sich noch gut an Siroonas eigene Überraschung, als Cloud ihr eröffnete, dass sie diese Chance erhalten sollte – obwohl sie eher mit der Verbannung auf eine unbewohnte Randwelt hätte rechnen können. Aber mit ihr waren die Chancen, dass das gerade erst wieder neu heranwachsende foronische Volk nicht in Bürgerkrieg und Chaos versank – was langfristig auch wieder andere Spezies gefährdet hätte – deutlich größer als ohne sie.

So war es zu dieser Entscheidung gekommen, die Cloud bestimmt nicht leicht fiel.

»Bereust du es schon?«

Scobee, die die Dritte in der Runde war, schien seine Gedanken wie ein aufgeschlagenes Buch lesen zu können.

Wie Jarvis zählte sie zu Clouds ältesten Freunden. Mit beiden war er 2041 zum Mars aufgebrochen, um das unbekannte Schicksal des ersten bemannten Fluges zum roten Planeten zu klären. Es war ihnen gelungen – aber erst viel, viel später. Nachdem sie ins kalte Wasser galaktischer Intrigen und kosmischer Wunder geworfen worden waren.

Seither war nichts mehr, wie es einst war. Seither gehörte eine Reise von Galaxie zu Galaxie fast schon zum Alltag.

Das wird es nie. Es wird immer ein unglaublicher Nervenkitzel bleiben. Ich jedenfalls habe nicht vor, mich daran zu gewöhnen. Die Gefahr ist allgegenwärtig. Ein Versagen der Schiffssysteme, und das All wird zu unserem Grab. Niemand wird uns jemals finden oder helfen, wenn wir hier draußen in der dunklen, scheinbaren Leere stranden.

Obwohl diese Katastrophe nur theoretischer Natur war, verursachte sie ihm einen Schauder.

»Nein«, beantwortete er Scobees Frage. »Ich bereue es nicht. Siroona ist ein Risiko – aber jeder andere, unbekannte Forone, der sich an die Spitze dieses Volkes gesetzt hätte und künftig das Zepter schwingen würde, wäre ein mindestens ebenso großes. Nein, Siroona ist eine Chance – du kennst sie. Sie hat einen Vorteil: Sie hat ’andere Luft’ schnuppern können – soll heißen, sie hat uns Menschen, aber auch viele andere Spezies aus nächster Nähe kennengelernt. Nicht zuletzt die Jay’nac, Intelligenzen, wie sie fremdartiger kaum vorstellbar sind. Das gibt mir Hoffnung, dass in ihr ein Nachdenken begonnen hat, ein Prozess, der vielleicht in der Einsicht gipfelt, dass ein Volk keinen Tyrannen braucht, keinen uneingeschränkten Alleinherrscher und Egomanen, sondern jemanden, der sich für den Einzelnen, dessen Wohl und Wehe interessiert. – Aber zu allzu großem Optimismus ist sicherlich auch kein Anlass. Vielleicht werden wir irgendwann in Zukunft sehen, was aus diesem ’Experiment’ geworden ist.«

»Schön, dass du es ähnlich siehst wie ich.«

Jarvis verzog sein täuschend echt wirkendes Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bereue es übrigens auch nicht – ihr wisst schon, was. Es war Notwehr. So sehe ich es. Und zwar Notwehr im Sinne der präventiven Vereitelung von Morden, die Sobek, wäre er am Leben geblieben, mit Sicherheit künftig verübt hätte – und angefangen hätte er bei uns.«

Cloud ließ es unkommentiert. Weil er wusste, dass Jarvis viel redete, wenn der Tag lang war – insgeheim, daran gab es nicht den leisesten Zweifel, hatte er sehr wohl daran zu knabbern, dass er Sobek ins Jenseits befördert hatte.

In diesem Moment betrat eine ebenso ungewöhnliche wie vertraute Gestalt die Bordzentrale.

Jiim.

Der Narge hatte das äußere Erscheinungsbild eines etwas missglückten Cherubim, insbesondere seine goldene Rüstung verstärkte diesen Eindruck des »Engelhaften«. Dabei wirkte er von seiner Physiognomie her absolut friedlich, und alles andere als kriegerisch kam er jetzt auf die Freunde zu. Vielmehr wirkte er so, wie schon häufig, seit er private Probleme zu meistern hatte. Das leben eines alleinerziehenden Elters war kein Zuckerschlecken.

»Jiim …« Jarvis wurde als Erster auf den Weggefährten aufmerksam. Sofort winkte er ihn herbei, obwohl der Narge ohnehin den schnurgeraden Weg zum Kommandopodest eingeschlagen hatte.

Auch Cloud und Scobee drehten ihm die Gesichter zu.

»Gab es Streit?«, begrüßte ihn Cloud. »Hattet ihr euch mal wieder in der Wolle, du und dein Spross?«

Jeder an Bord wusste zwischenzeitlich, dass das Verhältnis der beiden Nargen nur noch in den seltensten Fällen entspannt genannt werden konnte. Yael wuchs und reifte dramatisch schnell heran – entsprechend waren mitunter seine Allüren und pubertären Anwandlungen.

»Sieht man mir das so deutlich an?« Jiim durchquerte den hohen Raum, dessen Helligkeit stark herabgedimmt war. Den über das Rund verteilten Instrumentenkonsolen und Anzeigefeldern war das zu Eigen, was der Holosäule momentan abging: blinkende Lichter, leuchtende, nebelartige Illuminationselemente … All das eben, was eine Galaxie normalerweise ihrem Bewohner zu bieten hatte, wenn er sich ins Weltall begab und der Blick von keiner Wolke getrübt wurde.

Momentan gähnte tiefes Dunkel in der dreidimensionalen Wiedergabe der Außenwelt. Selbst die heimatliche Milchstraße war noch so weit entfernt, dass sie nur mit hohem technischem Aufwand hätte herangezoomt werden können.

Cloud verzichtete zum gegenwärtigen Zeitraum darauf.

Das Dunkel war ihm willkommen. Es half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Es half, Gespräche mit seinen engsten Vertrauten besser zu strukturieren, seine Gedanken auf das Wesentliche zu strukturieren.

Und das Wesentliche war …

Jiim.

Spätestens ab dem Moment, da er sich zu ihnen setzte – zwischen Scobee und Jarvis – war er in den Mittelpunkt gerückt. Beiseite geschoben war die Diskussion über mögliche Ursachen des Sternenverschwindens im Sektor GMW.

»Erzähl«, forderte Cloud den Geflügelten auf. »Hat es mit unserer Reise nach Kalser zu tun? Hat Yael die Begegnung mit den ’neuen’ Nargen und der dort herrschenden Situation doch nicht so gut weggesteckt, wie wir es hofften?«

Jiim suchte flügelringend nach Worten. »Kalser? Nein. Es geht nicht um Kalser. Ich … mache mir Sorgen, um seine … geistige Gesundheit. Möglicherweise hatte der Abstecher nach Portas schwerwiegendere Folgen als wir noch vor Wochen absehen konnten … Ihr wisst, wovon ich spreche.«

»Er machte nach seiner Rettung einen recht stabilen Eindruck auf mich«, warf Scobee ein. »Wenn das täuschte …«

»… dann täuschte es auch mich«, fiel ihr Jiim ins Wort. »Aber die Frage, die immer noch unbeantwortet ist, lautet: Was versetzte ihn nach Portas? Und warum? Wenn ich darauf eine Antwort hätte, könnte ich vielleicht besser gegen das wirken, was ihn jetzt ganz aktuell quält.« Er gab einen resignierten, kehligen Laut von sich. Seine Schultern sanken ebenso ein wie seine Schwingen.

»Was ist passiert?«, drängte Cloud. »Du redest viel, sagst aber nichts – wenig jedenfalls. Was hat dich so aufgelöst, dass du zu nachtschlafender Zeit in die Zentrale flüchtest? Du weißt, dass laut Bordzeit gerade kurz nach Mitternacht ist und nur diejenigen aktiv sind, die in den unumgänglichen Betrieb eingebunden sind …«

»… oder von ihrem Commander zu einem Gespräch unter zehn Millionen Augen gebeten wurden«, ergänzte Scobee mit Seitenblick auf Jarvis, dem die Anspielung galt. Denn mochte seine Optik auch noch so glaubwürdig vorgaukeln, einen Menschen aus Fleisch und Blut vor sich zu haben, wussten die Freunde es doch besser. Der wahre Körper des ehemaligen GenTec verbarg sich unter einer perfekten Maske, die von Kargors Kristall erzeugt wurde, mit dem Jarvis virtuos umzugehen gelernt hatte. Dieser Kristall täuschte beliebiges Aussehen seines Besitzers vor – und dass Jarvis sich in neunundneunzig Prozent aller Fälle für sein originales Erscheinungsbild vor seinem gewaltsamen Tod entschied, war naheliegend.

Im Grunde, ging es Cloud genau in diesem Moment durch den Kopf, war Sobeks Tötung eine späte Genugtuung … Er mied das Wort Rache. … für den Mord, den dieser an Jarvis verübte, damals über dem Mars, als die uralte Station der Foronen geborgen wurde, die einst schon meinem Vater zum Verhängnis wurde.

Jedenfalls war der momentane Körper von Jarvis hinter einer perfekten Täuschung verborgen. Eine Hülle aus unzähligen Nanopartikeln, die dem Freund eine ganze neue Art des Sehens ermöglichte – bei Bedarf über jedes einzelne »Pigment« seiner künstlichen Außenhaut.

Jiim gab sich einen sichtbaren Ruck.

Und dann erzählte er von Yaels angeblich noch ganz frischen Ausflug nach Portas.

»Der Kleine spinnt!«, platzte es aus Jarvis heraus. Behutsames Herantasten an ein Problem sah anders aus.

Dementsprechend finster war der Blick, mit dem Cloud und Scobee ihn unisono bedachten.

»Aber wenn’s doch so ist?!«

Jiim seufzte. »Genau das war auch meine erste Reaktion. Aber Yael beteuert, dass er weder träumte noch es sich sonst wie einbildete. Er war dort – sagt er. Sein Gefühl täusche ihn nicht.«

»Du hast es echt nicht leicht, alter Kumpel«, unternahm Jarvis einen neuen Vorstoß in Sachen Diplomatie und Mitgefühl.

»Mit dir«, versetzte Scobee. Viel freundlicher klang ihre Stimme, als sie sich an Jiim wandte. »Wie kommt er nur auf so eine Idee? Er weiß doch, wie weit wir vom Angksystem entfernt sind. Zu glauben, er könnte mal eben kurz auf eine der Welten gebeamt sein …«

»Gebeamt?«, unterbrach Jiim.

Scobee machte eine wegwerfende Handbewegung. »Verstehst du nicht. Geht auf eine uralte Fernsehserie auf der Erde zurück. Ist eine Art Teleportation mittels Technik …«

»Also das, was ich beherrsche«, warf Jarvis in aller Bescheidenheit ein.

»Hör gar nicht hin«, bat Scobee den Nargen. »Also: Zu glauben, er könne sich mal eben auf eine so weit entfernte Welt versetzt haben – selbst wenn wir ihm diese Gabe grundsätzlich unterstellen, wofür wir aber bis heute keine eindeutigen Beweis haben –, müsste doch auch ihm zu denken geben.«

»Er ist da sehr verstockt.«

»Soll ich mal mit ihm reden?«

Jiims Miene hellte sich auf. »Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mir genau diese Art der Hilfe insgeheim erhofft …«

»Na dann.«

»Danke.«

»Abwarten«, sagte Scobee und drohte scherzhaft: »Ich kann dir allerdings nicht versprechen, dass es, wenn ich mit ihm fertig bin, einen Grund gibt, mir zu danken.«



2.


Sie fand ihn am Rand des Abgrunds, auf einer waagerechten Felsnadel, die weit in den Schrund hineinragte. Yael saß an der Spitze, seine Füße baumelten im Nichts, und in unregelmäßigen Abständen ließ er Federn, die er sich aus den Flügeln rupfte, nach unten segeln.

Obwohl ganz Kalser an Bord der RUBIKON eine Illusion war, beeindruckte dieses ursprünglich von Jiim initiierte Projekt Scobee immer wieder aufs Neue.

Es fühlte sich echt an, und das zählte. Selbst der Wind schmeckte nach Planetenluft, und das allein zählte. Mit ein Grund dafür, weshalb sie gerne auch ohne triftigen Grund mal einen Abstecher hierher machte.

Yael bemerkte sie erst, als sie sich neben ihm hinsetzte und es ihm – was die Beine anging, Federn hatte sie ja nicht – gleich tat.

»Hallo, Großer«, begrüßte sie ihn.

Sein Gesichtsausdruck war voller Misstrauen, als er zu ihr aufsah. Sie überragte ihn um einen guten Kopf. »Schickt er dich?«

»Wer?«, tat sie arglos.

»Du weißt schon, mein Elter.«

Yaels Stimmfarbe ähnelte bereits der seines Erzeugers. Aber das wusste Scobee längst. Sie hatte Jiim seit jeher ins Herz geschlossen, und irgendwie empfand sie für Yael vom ersten Tag an so etwas wie die Gefühle einer Patentante.

Was Yael im Allgemeinen durchaus zu schätzen wusste und erwiderte.

Nein, sie verstanden sich eigentlich blendend. Und deshalb wusste sie, dass sie eine harte Nuss zu knacken haben würde.

»Warum sollte er mich denn schicken?«, fragte sie.

»Weil er mir mal wieder nicht glaubt!« Die nächste Feder verließ Haut und Hand und segelte in die Tiefe. »Weil seine Vorstellungskraft noch beschränkter als sein vertrauen in mich ist!«

»Harte Worte …«

Yael sah sie finster an. »Er macht mich so wütend!«

»Er ist nur besorgt. Wärst du das an seiner Stelle nicht?«

»Er hat also mit dir gesprochen!«

Sie hatte nicht vor zu lügen und nickte deshalb.

»Und wozu hat er dich geschickt? Konkret?«

Sie zuckte die Schultern. »Ehrlich gesagt glaube ich, das weiß er selbst nicht – und ich auch nicht. Aber er wirkte verzweifelt, ziemlich ratlos. Könnte es sein, dass du es ihm manchmal unnötig schwer machst?«

Zuerst schien er aufbrausen zu wollen, doch am Ende kam nur eine matte Geste heraus. »Er kann nicht zuhören. Er hat immer schon die seiner Meinung nach passende Antwort auf eine Frage, die er mir stellt, im Kopf. Und wenn meine davon abweicht, akzeptiert er es nicht. So kann man nicht reden. Zuhören allein bringt es nicht, wenn man nicht auch bereit ist, auf das Gehöret einzugehen, gegebenenfalls die eigene Sichtweise zu revidieren oder zu korrigieren.«

»Hey«, flachste Scobee. »Kann es sein, dass ich mich gerade vertue und mit Jiim, nicht mit Yael spreche?« Sie lachte. »Im Moment klingst nämlich du für mich eindeutig wie der erwachsenere von euch beiden.«

»Ja, ja …«, tat er ihre Behauptung ab. »Veralbere du mich jetzt auch noch. Dabei ist es gar nicht nötig. Ich habe längst allein herausgefunden, was heute Nacht passiert ist. – Na ja, vielleicht nicht ganz alleine. Aber ohne ihn …« Er meinte unzweifelhaft seinen Elter. »… ganz bestimmt!«

»Wie meinst du das?«, fragte Scobee mit ehrlichem Interesse. »Was ist denn heute Nacht passiert? Jiim sprach von Portas … Du bleibst dabei, dass du aktuell auf der Schwellenwelt der Bractonen warst? Vor … wenigen Stunden?«

»Du glaubst es auch nicht, oder?«

»Vielleicht glaube ich dir, wenn du mir erklärst, wie du das zustande gebracht hast.«

Sie wusste nicht, was sie denken sollte, wartete einfach Yaels weitere Äußerungen ab. Außerdem war sie gespannt, wie er sich aus dieser Sackgasse wieder herauslavieren wollte.

Neben Scobee, zu ihrer Linken (Yael hockte zu ihrer Rechten), materialisierte eine höchst merkwürdige Gestalt.

»Darf ich vorstellen?«, krähte Yael. »Charly. Mein imaginärer Kumpel. Du hast sicher schon von ihm gehört. Na ja, er sieht ein bisschen verändert aus, aber das kann er dir selbst erklären. Durch ihn war ich auf Portas. Durch ihn … kann ich nach überallhin.«



Natürlich kannte sie Charly. Jeder aus der Führungsriege der RUBIKON-Crew hatte zwischenzeitlich zumindest von ihm gehört. Zuletzt war er mit Yael auf Kalser unterwegs gewesen – aber irgendwie hatte sich Scobee bis zu diesem Moment stets geweigert, sich allzu tiefschürfende Gedanken über Wesen und Beschaffenheit dieses … Dings zu machen.

Früher, ganz zu Anfang, hatte er wie ein Mensch ausgesehen – was vielleicht den Verhältnissen an Bord geschuldet war, denn die flügel losen Mannschaftsmitglieder waren klar in der Minderzahl. Aber je öfter Yael ihn »materialisierte«, desto ähnlicher war er einem Nargen geworden. Und nun … saß eine Gestalt neben Scobee, die absolut mit einem der holografischen Bewohner des Baumdorfes am Schrund zu verwechseln war.

»Charly«, echote sie. »Sei mir gegrüßt.«

Charly grinste breit, sagte aber nichts. Soweit Scobee es verstanden hatte, vermochte selbst Sesha den imaginären oder »unsichtbaren« Freund von Yael nur dann wahrzunehmen, wenn dessen Schöpfer es – ganz gleich ob bewusst oder unbewusst – zuließ.

Und Charly, das merkte sie, als sie vorsichtig die Hand ausstreckte, war alles andere als »holografisch«. Er war so greifbar wie ein reales Lebewesen … oder Ding eben.

»Wie formst du ihn?«, fragte sie Yael, zu dem sie sich schnell wieder umdrehte, obwohl Charly faszinierend war.

»Wenn ich das wüsste.«

»Aber du formst ihn?«

»Es ist die einzige Erklärung, auf die ich bisher gekommen bin – zumal Charly sie unterstützt.«

»Er sagt, dass er … aus dir heraus kommt?«

»Klar tu ich das!«, meldete sich Charly erstmals mit Reibeisenstimme zu Wort. »Der Knabe ist der Hit! Wenn er wüsste, was er alles kann, würde er den ollen Kahn hier auf den Kopf stellen!«

Scobees Miene wurde säuerlich. »Na, dann bin ich ja froh, dass er es nicht weiß.« Sie überlegte, ob sie sich unbehaglich fühlte zwischen einem echten und einem beinahe echten Nargen, fand aber keine Antwort, die sie selbst überzeugt hätte. Ganz wohl fühlte sie sich aber wohl auch nicht, denn sie ertappte sich dabei, nervös hin- und herzurutschen.

»Er meint es nicht so«, sagte Yael seinerseits unbehaglich. »Ich meine, ich meine es nicht so. Keine Ahnung, warum er immer so frech und neunmalklug tut. Ich bin doch ganz anders …«

»Ganz anders«, beeilte sich Scobee zu versichern. »Aber zurück zum Kern deiner Aussage: Was hat Charly mit Portas zu tun?« Als Yael schwieg, wandte sie den Kopf. »Charly?«

»Na ja …« Er schaute in den Abgrund, als gäbe es dort etwas elementar Wichtiges zu sehen. »Eigentlich war ich dort, nicht mein Chef. Aber ich hab ihn mal wieder aufklären müssen, wozu er alles imstande ist. Ganz schön anstrengend auf Dauer, das kann ich dir flüstern. Normal wäre, dass er mir was beibringt, oder? Seit wann erziehen Kinder ihre Eltern?«

»Du … siehst dich als sein Kind?«

»Im Geiste natürlich.« Er nickte in menschlicher Manier und bewies einmal mehr, wie ambivalent sein Innenleben gestaltet sein musste. Nargen bejahten mit Gesten der Hände.

»Und du warst also auf Portas. Vor ein paar Stunden.«

»So ist es.«

»Kannst du mir das beweisen?« Sie lächelte Charly freundlich an.

»Die ist gefährlich«, wandte der sich an Yael. »Bei der musste aufpassen! Die hat Grips und Krallen.«

»Ich weiß«, sagte Yael kleinlaut.



Manchmal träumte er von der Spore. Es war kein menschliches Träumen, sondern eher vergleichbar mit einem heftigen nächtlichen Gewitter, bei dem es unaufhörlich blitzte und jeder Lichtzacken, der die Dunkelheit spaltete, für einen flüchtigen Moment eine Szene beleuchtete, die vor langer Zeit stattfand. Ein ständiges Hin und Her von Geschehnissen, die dennoch und trotz der Geschwindigkeit ihres Auftauchens und Verlöschens im Geist des Schläfers haften blieben, ihn beschäftigten und drangsalierten, lange über die Dauer des eigentlichen Aufkeimens hinaus.

Erinnerungsblitze, nannte Cy es für sich. Bilder, die sein Unterbewusstsein im Schlaf hochspülte und denen er sich hilflos ausgesetzt sah.

Dieses Leben, das einem völlig anderen zu gehören schien. Dieses Dasein, bevor CLARON seine Sucher entsandte – zu denen Algorian gehörte; so weit reichte ihre Freundschaft zurück, die ersten zarten Wurzeln und Verästelungen –, die ihn Cy zum »Auserwählten« erklärten und mitnahmen, fortbrachten zu einer schrecklichen Welt mit Wesen, die nie geatmet hatten, nie atmen würden und alt wie die Steine wurden … weil sie genau das waren, irgendwie.

Anorganische.

Jay’nac.

Damals hatten alle noch geglaubt, die Jay’nac – oder Dex, wie die Satoga sie nannten – wären abgrundtief böse; dabei waren sie selbst nur Geschundene, ewig Gejagte, die ihren Frieden nicht fanden.

Das alles war so lange her. Und dennoch war Cy immer noch verstrickt und gefangen in dem Reigen der persönlichen Sehnsüchte und Enttäuschungen, die ihn vorzugsweise im Schlaf, in seinen Träumen, heimsuchten. Wenn es eben nicht genügte, sie bei vollem Bewusstsein und im Vollbesitz seiner Willenskraft mit einem harschen Gedanken in die Schranken zu verweisen und in ferne Winkel seines Gedächtnisses zu verbannen. Nein, sie kamen wie scheues Wild aus ihren Verstecken, tasteten sich Schritt um Schritt näher an ihn heran … und verschwanden erst, wenn er aus dem Schlaf schreckte.

Er war jedes Mal ein Kampf, zurück ins Jetzt, zurück in die Realität zu finden.

Seit geraumer Zeit half Sesha ihm dabei. Auf seinen Wunsch hin, hüllte sie ihn beim Einschlafen mit einem Diagnosefeld, das anhand seiner körperlichen Veränderungen registrierte, wenn er sich in Traumgespinsten verfing, die ihm zusetzten. Dann startete ein sanftes Weckprogramm.

Wie jetzt, glaubte Cy.

»Danke«, wisperte er, als er die Sinnesknospen ausreichend durchfeuchtet hatte. Die Säfte, die seinen Pflanzenkörper durchströmten, transportierten Enzyme und Informationen in alle relevanten Bereiche.

Allmählich erhöhte sich die Intensität des indirekten Lichtes in der Kabine des Aurigen. Und dennoch …

blieb Schwärze zurück.

Schwärze, die humanoide Umrisse hatte.

»Nicht erschrecken«, bat das faszinierende Geschöpf, das Cy nicht gänzlich unbekannt war, auch wenn er nicht erwartet hatte, es hier zu sehen.

Dies war seine Privatsphäre. Niemand durfte unerlaubt –

»Ich weiß, dass ich nicht eingeladen war …«

Es klang so schuldbewusst, dass Cy sich außerstande sah, seinen Ärger aufrecht zu erhalten.

»Wer bist du? Ein Angkbewohner, schon klar. Ihr nennt euch Sternlinge, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Aber du hast sicher einen Eigennamen.«

»Ich bin Varx,

»Cy«, sagte Cy. »Aber das dürfte dir bekannt sein, oder?« Es war leichter, sich Aussehen und Namen eines halben Dutzends Mitglieder der RUBIKON-Kernmannschaft zu merken, als für besagte Kernmannschaft, Erscheinungsbild und Namen der Vielzahl von Neu-Crewmitgliedern aus dem Angksystem zu behalten.

»Durchaus. Du bist eine faszinierende Erscheinungsform.«

»Da hätten wir ja schon mal was gemeinsam.« Cy raschelte, während er sich aus seiner sandigen Schlafmulde löste und seine Nährwurzeln aus dem Untergrund zurückzog.

»Ich finde mich nicht faszinierend«, behauptete der lackschwarze Humanoide, unter dessen »Haut« Sternballungen und kosmische Nebel vorbeizogen.

»Ich mich auch nicht«, erwiderte Cy. »Vielleicht einzigartig – aber ansonsten nicht weiter herausragend.«

»Du bist einsam?«, fragte Varx in ebenso verständnisvollem wie mitfühlendem Ton.

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Ich habe es so verstanden.«

»Lenk nicht ab. Du bist hier eingedrungen – über das Wie will ich mir gar keine Gedanken machen –, und jetzt tust du, als wären wir dickste Freunde, mit denen man vermeintliche Probleme bespricht. Ich muss zugeben, ich stehe kurz davor, dich rauszuschmeißen.«

»Du willst, dass ich gehe?«

»Das weiß ich noch nicht.« Cy rückte etwas näher auf den Sternling zu. »Hängt von dir ab. Vielleicht fangen wir noch mal von vorne an, und du sagst mir als Erstes, warum du gekommen bist.«

»Ich suche ihn. Er ist schon wieder abgehauen!«

»Wen?«

Varx wirkte verunsichert. Irgendwie erweckte er den Anschein eines Wesens, das ohne groß nachzudenken in eine Situation hineingestolpert war und allmählich merkte, dass es vielleicht doch besser zuerst nachgedacht hätte .

»Sahbu. Mein Venloc. Er ist ausgebüchst.«

»Und dann suchst du ihn ausgerechnet hier?«

Der Sternling senkte den Kopf. »Nein, Das war gelogen. Nicht das mit Sahbu, der ist wirklich weg. Streunt mal wieder rum. Aber gekommen bin ich, weil ich jemanden zum Reden suche. Ich hab ja nicht viele Freunde. Außer Sahbu.«

»Und worüber willst du … reden?«

Varx straffte sich. »Über das Phänomen.«

Cy überlegte kurz, dann fragte er: »Du meinst die verlöschenden Sterne? Die uns in Samragh Rätsel aufgaben?«

Der Sternling machte eine Geste, die als Zustimmung zu verstehen sein mochte.

»Ich fürchte, da hast du dir den denkbar ungeeignetsten Gesprächspartner ausgesucht«, sagte Cy. »Ich bin von allen aus der Stammcrew wahrscheinlich derjenige mit dem geringsten astrophysikalischen Wissen. Selbst Aylea … du kennst Aylea? … schlägt mich diesbezüglich um Längen.«

»Nach diesem Kriterium habe ich nicht ausgewählt.«

»Ach? Sondern?«

»Ich sehne mich nach jemandem, der mir …« Er zögerte.

»Ja? Red schon. Ich beiße nicht.«

Ein rollendes Lachen löste sich aus Varx. »Womit auch?«, gluckste er.

Cy überlegte kurz, ob er dem Sternling eine Lektion erteilen sollte – eine, die er so schnell nicht vergaß und die es ihm vielleicht auch ein für alle Mal austreiben würde, in fremde Kabine einzudringen.

Doch dann gestand er Varx mildernde Umstände zu. Wobei er nicht einmal hätte sagen können, warum.

»Du sehnst dich also nach jemandem, der …?«

»… mir ähnlich ist«, seufzte Varx.

»Ich bin dir ähnlich?«

»Es geht nicht um Äußerlichkeiten.«

»Du kennst mich gar nicht.«

Varx gab einen seltsamen, wehmütigen Ton von sich. »Ich habe eine Gabe.«

»Und sie hat damit zu tun, dass du … mich zu kennen glaubst?«

»Ich sehe jemanden und kann ihn spüren

Cy rückte wieder ein Stück weit von ihm ab. »Geht’s genauer?«

»Ich empfange das, was du ausstrahlst.«

»Ich wusste gar nicht, dass ich ‚strahle’.«

»Du weißt schon, wie ich es meine.«

»Aber ich müsste lügen, würde ich sagen, dass mir gefällt, in welche Richtung dieses Gespräch läuft.«

»Ich will nichts Böses. Menschen sagen ‚Wellenlänge’ zu dem, was ich zu erspüren vermag.«

»Ich kenne diesen Ausdruck. Und du meinst, wir beide lägen … auf einer Wellenlänge?«

Varx bejahte mit großem Eifer. Er ging nervös auf und ab. »Du bist mir ähnlich. Wir sind beide Suchende. Einzigartig. Und … einsam.«

»Von deiner Sorte gibt es einige. Ich sah, wie ihr an Bord kamt«, hielt Cy dagegen.

»Wir sehen uns ähnlich, aber wir unterscheiden uns völlig. Kein Sternling ist wie der andere. Kein Sternling findet in einem anderen Sternling einen Freund oder …«

»Oder?«

»… Seelenverwandten.«

»Du bist seltsam. Aber am meisten wohl deshalb, weil du so seltsame Dinge redest.«

»Mag sein. Findest du mich abstoßend?«

Cy zögerte mit seiner Antwort. Nicht, weil ihm keine passende Erwiderung einfallen wollte, sondern vielmehr, weil er den Besucher bewusst erst eine Weile auf sich wirken lassen wollte. Schließlich sagte er. »Nicht einmal ansatzweise. Du bist wunderschön. Du siehst aus, als würdest du das ganze Universum in die beherbergen … oder widerspiegeln.«

»Danke«, sagte Varx. »Aber genau darum geht es.«

»Worum?«

»Seit Samragh …« Er verwendete den foronischen Namen für die Große Magellansche Wolke. »… fühle ich mich leerer. Beraubt.«

»Beraubt?«

Varx bekräftigte: »Seit das Phänomen auftauchte, dessentwegen wir unterwegs zurück zur Großgalaxie sind …«

»Die Milchstraße«, sagte Cy,

»Die Milchstraße«, bestätigte Varx. »Seit wir heim ins Angksystem fliegen, wächst das Verlustgefühl von Stunde zu Stunde. Es ist, als verlöre ich immer mehr an … Substanz.«

»Äußerlich ist davon nichts bemerken – zumindest sehe ich nichts Verdächtiges.«

»Es ist nicht zu sehen. Niemand außer mir vermag es zu bemerken. Aber ich bin sicher, dass andere meiner Art genauso darunter leiden.«

»Aber wäre das nicht Grund genug, dich doch mit eben deinen Artgenossen darüber auszutauschen?«

»Sie könnten mir nicht weiterhelfen.«

»Du bist seltsam. Auch ein bisschen stur, oder?«

»Vielleicht. Aber es tut gut, mit dir zu reden.«

»Ich kann dir nicht helfen.«

Varx wandte sich zur Tür. »Du hast mir bereits geholfen.«

»Warte. Bleib. Du willst doch jetzt nicht gehen? Wir haben gerade erst begonnen –«

Varx trat durch die Tür.

Durch die geschlossene Tür.

Cy fluchte. Er eilte zur Tür, öffnete sie und wuselte auf den Gang hinaus.

So weit er blicken konnte, lag der Korridor verlassen.

»Sesha?«

Die KI schwieg.

»Sesha!«

Endlich erfolgte eine Reaktion. »Ja?«

»Eben war ein Angkbewohner bei mir. Einer dieser … Sternlinge.«

»Und?«

»Ich möchte, dass du ihn für mich ausfindig machst. Und zurückrufst.«

»Das kann ich nicht.«

»Wie bitte? Erkläre das.«

»Sie bestehen aus keiner von mir messbaren Substanz. Ähnlich wie die Gloriden.«

»Ist das dein Ernst?«

»Habe ich jemals gescherzt?«

Cy gab es auf. Aber statt zurück in seine Kabine, begab er sich auf direktestem Weg in die Bordzentrale der RUBIKON. Er brauchte normale Gesellschaft, normale Gespräche. Seltsamerweise hatte er seine Begegnung mit Varx aber schon vergessen, als er dort ankam. An Sesha gewandt, fragte er nur, ohne zu wissen, warum: »Was ist eigentlich ein Venloc?«



3.


Auch ein Commander wurde müde, brauchte Schlaf. Cloud trug dem Rechnung, indem er seinem Körper genau die Dosis zuführte, die dieser brauchte, um voll leistungsfähig zu bleiben. Wie von jedem Besatzungsmitglied auf Wunsch, hatte Sesha seinen individuellen Schlafbedarf anhand unbestechlicher Parameter ermittelt. Demnach benötigte Cloud im Schnitt sechs Stunden und vierundvierzig Minuten, um optimal zu regenerieren. Ein wenig variierte diese Zeit in Abhängigkeit von REM-Phase und anderen Indikatoren. Aber im Allgemeinen stellte er den »Wecker« auf sieben Stunden, die Einschlafphase dazu addiert.

Knapp die Hälfte dieser Spanne mochte vergangen sein, als er unsanft aus dem Schlaf gerüttelt wurde.

»Hey, aufwachen, Schlafmütze!«

Verwirrt kam er zu sich und stellte fest, dass jemand bei ihm war.

Jemand, den er nicht kannte und der somit – wie im Übrigen auch kaum ein anderer – keinen Zutritt zu seiner Kabine hätte finden dürfen.

Zuletzt hatte er ein solches Erlebnis, als ihn ein Gloride unaufgefordert in seiner privaten Umgebung überfiel …

Daran wurde er jetzt grob erinnert.

Wobei ihm schlagartig klar wurde, dass der Eindringling gar nicht hätte existieren dürfen – es sei denn auf Kalser hatte sich ein bislang unentdeckt gebliebener blinder Passagier an Bord geschlichen.

Es gab nur zwei Nargen an Bord: Jiim und sein Spross.

Dieser hier sah keinem von beiden ähnlich, war aber auch keine Holografie, sonst hätte er Cloud nicht wachrütteln können.

»Wer …?«

»Charly! Für Freunde immer nur Charly! Endlich bist du wach. Ich dachte schon, ich müsste handgreiflich werden.«

»Warst du das nicht?«, konnte sich Cloud eine sarkastische Bemerkung nicht verkneifen. Seine nächsten Worte, als er sich schon aus der Koje schwang, waren an die KI gerichtet. »Sesha? Sofort dingfest machen, den Knaben!«

Charly … den Namen hatte er schon mal gehört. In Zusammenhang mit Yael. Aber verdammt, Jiims Sprössling würde niemals …

»Sesha!«

»Commander?«

»Warum zögerst du?«

»Womit?«

»Ich sagte: dingfest machen!«

»Wen?«

»Diesen Charly! Der bei mir eingebrochen ist!«

»Sie sind allein, Commander.«

»Du siehst ihn nicht?«

»Sehen Sie ihn?«

»Ja, verdammt!«

»Ich bin besorgt.«

Charly lachte schallend, verstummte aber abrupt, als Cloud sich ihm mit geballten Fäusten zuwandte.

»Wahren Sie Ihre Contenance, Commander, ich bitte sie«, krähte der unmögliche Narge.

»Das kommt ganz auf dich an.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Er legte den Kopf schief und musterte den Eindringling aus zusammengekniffenen Augen. »Jarvis …? Bist du das? Steckst du dahinter? Missbrauchst du den Kristall, um mir einen Nargen vorzugaukeln? Wenn das ein Ulk werden soll … Ich sag dir, ich dreh dir deinen Nanohals um, wenn du dich nicht sofort zu erkennen gibst!«

Charly blieb ungerührt. »Sie verwechseln mich Commander, bestimmt. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Mission erfüllt – man sieht sich. Schlafen Sie bitte weiter. Ihre Zeit ist kostbar, und es tut mir unendlich –«

Falls er »leid« hatte sagen wollen, so erklang dieses Wort nicht mehr in John Clouds Kabine.

Der vermeintliche Narge war wie eine Fata Morgana verschwunden.

Was aber nicht hieß, dass die Sache damit für Cloud ausgestanden war.

Im Gegenteil.

Irgendjemand würde es büßen müssen, dass er so brutal aus seinen Träumen gerissen worden war. Und er war entschlossen, den Schuldigen zu finden.

Die Spur war klar. Sie wies nach Kalser. Dem Kalser, das sich hier an Bord befand …



»Wir dachten uns, dass du kommen würdest«, empfing ihn Scobee unmittelbar hinter dem Schott, das ins Innere der Pseudowelt führte.

Clouds Schwung, mit dem er sich durch Gänge und Türtransmitter bewegt hatte, verpuffte jäh.

» Du steckst dahinter?«, fragte er, halb vorwurfsvoll, halb entgeistert.

»Nicht ganz. Ich bin nicht die Initiatorin, wenn du das meinst.«

»Du weißt, was passiert ist?« Er trat näher auf sie zu, unverhohlen grimmig nun.

»Ich habe es in dem Moment erfahren, als sich Yael als Simultansprecher betätigte.«

Clouds Blick wechselte zu Jiims Spross, der nur wenige Schritte von Scobee zusammen mit demjenigen stand, nach dem Cloud fahndete. Was Scobee ihm sagen wollte, verstand er nicht einmal ansatzweise. Darum würde er sich später kümmern. Zunächst einmal musste er sich die Täter vorknöpfen. Beide .

Er stapfte an Scobee vorbei auf Yael zu. »Weiß dein Elter, was du treibst?«, fuhr er ihn in ehrlichem Ärger an.

»N-nein.«

»Dann wird er es von mir erfahren. Das …« Er zeigte auf Charly. »… ist doch auf deinem Mist gewachsen, oder?«

Yael schwieg.

Scobee näherte sich von hinten und mischte sich ein. »Beruhig dich, es ist doch nichts weiter passiert. Wenn ich es richtig überblicke, fehlt dir im äußersten Fall ein bisschen Schlaf – wohlverdienter Schlaf, natürlich, wer würde daran zweifeln?«

Der Spott stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Augen funkelten.

Sie sah zauberhaft aus, aber Cloud wollte den Teufel tun und das zugeben.

Halb war sein Zorn schon wieder verraucht.

»Du weißt, was dahinter steckt?«, wandte er sich an Scobee.

»Ich fürchte, ja.«

»Und was?«

»Es war eine … Beweisführung. Ich hätte sie verhindert, hätte ich vorher gewusst, wie sie ablaufen soll. Aber andererseits … jetzt stell dich nicht so an. Wir haben beide schon Dinge verkraftet, die ein klein wenig brenzliger und tragischer waren, oder

»Ich möchte dich mal hören, wenn bei dir einer nachts in die Kabine einbricht.«

»Vielleicht wünsche ich mir das manchmal sogar?«

Darauf fiel ihm keine Erwiderung ein, die die Grenzen nicht gesprengt hätte.

Er seufzte. Sein Blick strich nacheinander über jeden Einzelnen des Trios, das ihn in Empfang genommen hatte. »Also? Was war los? Was steckt dahinter? Um welche ’Beweisführung’ geht es verdammt noch mal?«

»Das sag ich dir, sobald der Beweis erbracht wurde. Und auch, wenn er ad absurdum geführt wird.«

Cloud blinzelte ungeduldig. »Ich bin ein Mann mit einer Engelsgeduld, aber –«

»Sesha?«, wandte sich Scobee an die KI im Off.

»Ja?«

»Du hast alles auf Yaels Wunsch hin aufgezeichnet. Spiel es bitte für uns alle hörbar ab. Audio genügt.«

Keine Sekunde später erklang Yaels Stimme: »Jarvis …? Bist du das? Steckst du dahinter? Missbrauchst du den Kristall, um mir einen Nargen vorzugaukeln? Wenn das ein Ulk werden soll … Ich sag dir, ich dreh dir deinen Nanohals um, wenn du dich nicht sofort zu erkennen gibst!«

»Stopp!«, rief Cloud ungehalten. »Ich weiß nicht, was das soll, aber das hat nicht Yael gesagt – das habe ich gesagt. Zu ihm .« Er deutete auf Charly.

Scobee sah ihn eine Weile schweigend an. Schließlich sagte sie, den Blick auf Yael gerichtet: »Okay, du hast mich überzeugt, dass es geht. Aber es ist immer noch etwas anderes, dir zu glauben, dass es über eine begrenzte Entfernung hier an Bord funktioniert, als dir abzukaufen, dass du auf diese Weise aktuell wieder auf Portas warst.«

»Entfernung spielt keine Rolle.«

»Sagt wer?«

»Sagt Charly.«

Scobee verzog das Gesicht. Als sie Clouds Blicke auf sich spürte, seufzte nun sie. »Okay, es geht darum, dass Yael offenbar eine neue Fähigkeit entdeckt hat. Im Zusammenspiel mit … nun, mit seinem speziellen Kumpel dort.«

Cloud war vage informiert, was es mit Charly auf sich hatte. Momentan verfluchte er sich allerdings, dass er nicht längst genauere Nachforschungen hinsichtlich dieses Unwesens betrieben hatte.

»Was für eine Fähigkeit? Arglose Menschen zu erschrecken?«

»Auch. Als kleines Beiwerk sozusagen.« Sie lächelte. »Aber vorrangig wohl die: Er kann Charly überall – sagt er jedenfalls, du hast ihn ja gehört: Entfernung spielt keine Rolle – hinschicken und dabei über Charlys Augen sehen und über Charlys Ohren hören , was immer vor Ort geschieht.«

»Gut erklärt«, krähte es aus dem Hintergrund. »Ich sagte ja, die Kleine hat Grips. Davon könnte sich so mancher …« Charlys Blick suchte und fand Cloud. »… eine Scheibe abschneiden.«

Vielleicht glaubte er, sein ultrabreites Grinsen könnte ihn retten.

Er irrte.

Mit einem hörbaren Geräusch verpuffte er.

»Tut mir leid«, murmelte Yael. »Ehrlich. Er kann einfach nicht die Klappe halten, das bin nicht ich. Das macht er aus eigenem Antrieb. Ich schwöre!«



4.


»Na, komm schon. Gib dir ’nen Ruck. Bitteeee

Sie wusste um die Wirkung ihres Augenaufschlags – selbst bei einem Außerirdischen wie Algorian. Der Aorii-Zweitling seufzte fast in menschlicher Manier, schloss die Hololektüre, in die er sich im Schatten eines knorrigen Olivenbaumes innerhalb des von Jelto angelegten Hains vertieft hatte, und erhob seinen spindeldürren Körper aus der sitzenden Position.

Aylea grinste. »Danke. Du bist ein Schatz. Außerdem muss dir doch auch langweilig sein. Die Fahrt ins Angksystem dauert noch gut zwei Tage. Und Däumchendrehen ist nicht mein Ding. Mir fällt hier die Decke auf den Kopf. Ich habe Sesha schon um eine Sternenmeersimulation innerhalb meiner Kabine gebeten, weil ich den Leerraum einfach nicht mehr ertrage. Das ist einfach zuviel Leere, wenn du mich fragst … Übrigens, hast du kapiert, warum John nicht transitieren will? Wir wären doch viel schneller am Ziel!«

Algorian hatte sich längst an menschlichen Umgang gewöhnt und adaptierte fast schon unterbewusst deren Verhaltsmaßregeln. Jetzt schüttelte er den Kopf. Er wollte gar nicht mehr aufhören damit. »Aylea, Aylea … dir kann doch nicht ernsthaft langweilig sein! Dieses Schiff bietet alles für den Zeitvertreib. Und wenn du nicht in der zentrale sein willst, um dir die Überlichtfahrt durch die Ödnis des intergalaktischen Leerraums anzutun, die von der dortigen Holosäule vermittelt wird, dann beschäftige dich doch einfach, wie ich es tue.«

»Mit lesen

»So wie du es betonst, könnte man meinen, es sei eine ansteckende Krankheit.«

»Quatsch. Aber Lesen ist Zeitverschwendung. Wenn man Wissen aneignen will, gibt es doch viel, viel effizientere Methoden. Das sollte sich selbst bis zu den Aorii rumgesprochen haben.«

Algorians Gesichtsausdruck wurde zunehmend verzweifelter. »Wissensaneignung ist das eine – aber es gibt ja auch noch so etwas wie Poesie … Schon mal davon gehört?«

»Ach du scheiße, die Klassiker.« Sie rollte mit den Augen.

»Die aoriianischen Klassiker, um genau zu sein.« Nun nickte er, wobei das Nicken übergangslos aus dem letzten Kopfschütteln heraus erfolgte.

Und auch nicht mehr aufhören wollte.

»Äh, hast du einen neuen Tick?«, fragte Aylea mit säuerlicher Miene.

Das Nicken hörte abrupt auf. Stattdessen verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, von der er zu glauben schien, es sei das Äquivalent eines menschlichen Grinsens. »Eher eine Allergie. Und nur in deiner Nähe, solange du Penetranz versprühst.«

»Uuuh!« Sie wich einen Schritt zurück. »Dafür hast du aber lange geübt – um mir das verbrezeln zu können.«

»Kam ganz spontan«, wehrte er in aller aoriianischen Bescheidenheit ab.

»Na klasse. Können wir dann trotzdem langsam mal aufbrechen?«

»Ich bin schon die ganze Zeit soweit.« Algorian klopfte sich den Schutz vom Gesäß. Ein laues Lüftchen ging, hoch über ihnen hing eine der Kunstsonnen, von denen es in Jeltos hydroponischem Garten mehrere gab; jede beschien einen anderen Sektor und war genau an die Bedürfnisse der dortigen Gewächse angepasst. Ebenso verhielt es sich mit Trockenheit und Nässe. Es gab durchaus subtropische Szenarien, wo es den lieben langen Tag fast ohne Unterbrechung regnete, manchmal sogar stürmte.

Ohne den Garten wäre die RUBIKON um einiges ärmer gewesen. Hier konnte jedes Besatzungsmitglied, wann immer es sich nach purer Natur sehnte, Ruhe und Entspannung finden – solange es pfleglich mit den Anlagen umging, denn darauf legte der Florenhüter allergrößten Wert.

»Langeweile«, seufzte Algorian, während sie sich dem Rand des Gartens und dem dortigen Schleusenschott näherten. »Ich fasse es wirklich nicht, wie man sich auf der RUBIKON langweilen kann. Erst recht nicht unter den gegebenen Umständen. Du weißt schon, was ich meine.«

»Die ausgepusteten Sterne?«

»So kann es auch nur jemand wie du formulieren. Aber ja, ich meine die GMW-Sektoren, die einfach aufgehört haben zu existieren, als wir uns mit Siroona in sicherem Abstand bewegten.«

»Und wen juckt das jetzt? Oder besser gesagt: Wieso sollte es irgendetwas an meiner persönlichen Langeweile ändern?«

»Du bist doch ein kluges Mädchen. Du hättest selbst versuchen können, die gespeicherten Daten durchzugehen und dir einen Reim auf das Phänomen zu machen, dessentwegen John so überstürzt zurück ins Angksystem will.«

»Ich mag manchmal die Klappe ein bisschen weit aufreißen – aber ich leide nicht an Selbstüberschätzung«, sagte sie, ohne stehen zu bleiben. »Sesha beißt sich an dem Phänomen ihre imaginären Zähnchen aus – wie sollte jemand wie ich da glänzen können?«

Sie erreichten das Schott. Algorian berührte das Sensorfeld, das die Tür aufgleiten ließ. »John scheint an eine Verbindung zwischen jenen Kräften zu glauben, die Sobek beeinflusst und es ihm ermöglich hatten, die RUBIKON vorübergehend wieder in seine Gewalt zu bekommen, und denen, die in der GMW ganze Sternbilder zum Verlöschen brachten.«

»Eine gewagte Spekulation, oder?«

Sie traten auf den Gang hinaus, hinter ihnen schloss sich das Schott, und die ganze Nüchternheit eines Raumschiffes hatte sie wieder.

»Wir werden sehen. Eigentlich müssten die Bractonen das tatsächlich am ehesten beantworten können. Immerhin haben sie ja angeblich alles im Kosmos erschaffen.«

Aylea blieb stehen, drehte sich Algorian zu und stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften. Sie trug ein luftiges Sommerkleid. Ihr blondes, schulterlanges Haar war an den Seiten zu Zöpfen gebunden. Ihr sommersprossiges Gesicht leuchtete. »Siehst du, so gefällst du mir!«

Algorian sah sie verständnislos an.

»Ich meine dein ’angeblich’! Ich hab mir auch schon meine Gedanken gemacht, und wir alle haben Kargor nun wahrhaftig mehr als einmal als den Kotzbrocken schlechthin erlebt. Deshalb finde ich es erfrischend, wenn auch andere – in dem Fall du ! – nicht alles, was uns die Bractonen als angeblich feststehende Tatsache hinwerfen, nicht vorbehaltlos schlucken. Die Typen sind mir nicht ganz geheuer. Erfinder des Universums … ja, geht’s vielleicht auch ’ne Nummer kleiner?!«

Algorians Verwirrung verabschiedete sich aus seinen Zügen. Er legte seine Hand auf Ayleas Schulter und drückte sie sanft. »In Ordnung,. Ich geb’s zu: Meistens finde ich dich sehr herzerfrischend. Du bist eine willkommene Alternative zum Ernst des Alltags, nur …«

»Nur?«, grinste Aylea zu ihm hoch.

»… verstehe ich immer noch nicht, warum du nicht allein ins Dorf gehen kannst. Du bist doch sonst nicht so schüchtern.«

»Lies es in meinen Gedanken«, sagte sie.

»Ich espere keine Freunde.«

»Aber ich erlaube es dir.«

Er schüttelte den Kopf. »Versuch’s mal mit Worten. Also?«

»Ich fühle mich nicht sonderlich wohl in Gegenwart der Neuen . Die haben irgendwas an sich, das bei mir Beklemmungen auslöst.«

»Du magst sie nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt!«

»Dann misstraust du ihnen?«

»Viel … leicht.«

»Tja, immerhin wurden sie von Kargor geschickt. Es war seine ‚gute Gabe’ zum Abschied, bevor er nach Portas verschwand und wir nichts mehr von ihm hörten. Was wohl aus ihm geworden ist?«

»Mir egal«, maulte Aylea. »Der soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!«

Offenbar war dies für Algorian keine geläufige Redensart. Verwirrt sah er sie an.

»Lass uns weitergehen. Du interessierst dich doch bestimmt auch für die Neuen, die sich angeblich immer noch einleben müssen und mit denen man sonst wo auf der RUBIKON kaum in Kontakt kommt.«

»Willst du das denn – in Kontakt mit ihnen kommen?«

Aylea nickte.

»Dann frag mal Cy. Der wuselt schon die ganze Zeit wie Falschgeld durch die Gegend und braucht dringend Ablenkung. Äh … weißt du vielleicht, was ein Venloc ist? Damit löchert er neuerdings jeden …«



»Boah!« und »Wow!« waren noch die harmloseren Ausrufe, die Ayleas Mund entwichen, als sie, Cy an der Hand, durch das Schott ins Freie trat.

Ins Freie … Hey, genauso sah es aus: Als würde sie aus einem Gebäude heraus in eine weite, offene Landschaft treten – ähnlich wie, wenn sie Jeltos Garten betrat, nur viel – viel! – eindrucksvoller.

»Wusstest du das?«, wandte sie sich an den einstigen Sporenbewohner. Aylea hatte den Aurigen vom ersten Tag auf der RUBIKON an gemocht. Ähnlich, wie es ihr bei Jelto gegangen war – und idealerweise hatten auch die beiden ein Faible füreinander.

Aber es kam häufig vor, dass Cy und sie einfach so durch das Schiff streunten. Sie beide empfanden es wie eine Schatztruhe mit zahllosen Schubladen, doppelten Böden und anderen Geheimverstecken. Und was sollte man auch schon den lieben langen Tag tun, wenn man einerseits selten bis überhaupt nicht auf Außeneinsätze mitgenommen wurde (»viel zu gefährlich, später mal, Aylea, später – vielleicht; wir werden sehen, wird erst mal erwachsen«), aber andererseits eben genauso viele Stunden am Tag zur Verfügung hatte wie die ollen Obermotze, die sich auf jeden fremden Planeten, der ihnen in die Quere kam, und auf jedes fremde Raumschiff versetzen ließen, um dort tüchtig aufzuräumen?

Genau: Man konnte nur spazieren gehen und ein paar Dinge anfassen, ein paar Räume betreten, von denen es eigentlich hieß, dass man besser die Finger davon lassen solle …

Pah!

»Nein«, raschelte es aus den Tiefen des »Gestrüpps«, wie Jarvis den Aurigen mitunter despektierlich nannte. »Ich war noch nicht hier, seit sie eingezogen sind.«

Sie – die neuen Besatzungsmitglieder von unterschiedlichen Welten des Angksystems, Nachfahren (ja, so unglaublich es klang, wenn man die Urzelle dieser neuen Menschheitspopulation gekannt hatte) von Proper Mérimées Zirkus, dem sich auch Sarah Cuthbert angeschlossen hatte, unfreiwillig, denn auch sie hatte zu den von Kargor Entführten gehört.

»Wieso haben die keine Kabinen wie wir?«, maulte Aylea und machte zunächst einmal keine Anstalten, weiterzugehen. »Wieso haben die … so was ??«

Offenbar wusste auch Cy darauf keine Antwort. Aber es schien auch keinerlei Neid – von dem Aylea sich nicht ganz frei machen konnte – in ihm hervorzurufen.

Er war schon immer sehr genügsam gewesen.

»Das gibt eine saftige Beschwerde an die Schiffsführung, darauf kannst du wetten!« Obwohl sie weiterhin die Beleidigte mimte, hatte sie sich innerlich längst beruhigt. Die erste Überraschung klang ab.

Vor ihr lag also … das Dorf.

Oder wie sollte sie es nennen?

John musste seine Zustimmung dazu gegeben haben, sonst hätten sie nicht in dieser Weise schalten und walten und kreativ tätig werden können.

»Ich plädiere für ein internes Nachrichtensystem. Ein paar von den Spinnenbots könnten die Rolle rasender Reporter übernehmen – du weißt, was ich damit meine?« Ihr Blick streifte Cy, der sich diesmal auf ein von keinem Wort getrübtes Rascheln beschränkte. »Mit ihren Dokumentationen über die Geschehnisse an den verschiedenen Brennpunkten an Bord könnte man ein wunderbares Programm für all diejenigen gestalten, die nicht den lieben langen Tag auf Exkursionen gehen können – die Herren und Damen Außendienstler beispielsweise.«

So, das Thema war damit auch abgehakt.

»Wollen wir hier Wurzeln schlagen?«, fragte Cy. »Ich meine, nicht dass ich damit Probleme hätte, wenn der Boden ein klein wenig aufbereitet würde …«

»Manchmal könnte ich dich knutschen«, lachte Aylea. »Eine Pflanze mit Humor – wo im Universum gibt’s das denn bitteschön noch mal?«

Sie schlenderten hinab ins Tal.

Ja, es gab ein Tal. Ein wunderschönes, (kunst-)sonnenverwöhntes Tal mit einem idyllisch darauf abgestimmten Paartausendseelendorf, in dessen Straßen und Gassen sich so viele Menschen tummelten, als wäre es gesetzlich verboten, sich in den Häusern aufzuhalten.



Je näher sie kamen, desto mehr fühlten sie sich in den falschen »Film« versetzt.

»Kneif mich mal«, bat Aylea den Aurigen. »Das ist mir alles ein bisschen zu märchenhaft, was meinst du?«

»Ich kann dich pieksen, darin bin ich besser«, erwiderte Cy unschuldsvoll. »Ansonsten: Es ist doch nett hier.«

»Nett bin ich – beispielsweise. Aber eigentlich hatte ich eher an pragmatische Unterkünfte für unsere Lieben von Angk gedacht. Hieß es nicht, die wären als Ergänzung zur Besatzung gedacht? Als Crewaufstockung? Ich meine, eingewöhnen müssen ist eine Sache, aber das hier sieht für mich eher aus wie … Urlaub.«

» Du bist mit dem Konzept von Urlaub vertraut?«, fragte Cy in einer Weise, als wäre er es auf jeden Fall – was genauso abstrus war wie es von Aylea zu erwarten, die einfach gerne mal einstreute, was sie im Fundus der Datensysteme fand. Auf der Erde, auf der sie aufgewachsen war, der Erde hinter dem Schattenschirm , war »Urlaub« nicht mehr erforderlich gewesen. Die Menschheitselite in den Metrops hatte es nicht nötig gehabt, sich physisch oder psychisch zu verausgaben. So gesehen hatte sie immer Urlaub gehabt.

»Ach, lass mich in Ruhe. Ich glaube, ich bekomme meine Tage.«

Irgendwie war sie erleichtert, ihm nicht auch noch »das Konzept ihrer Tage« erklären zu müssen. Es reichte, wenn sie sich selbst damit herumärgern musste.

Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf ein Mädchen, das ihnen winkend entgegengelaufen kam, nachdem es sie offenbar gesichtet hatte.

Sie mochte in Ayleas Alter sein, elf oder zwölf.

Aylea war sofort von dem hübschen Springinsfeld eingenommen, der da heranrauschte. Das Angkmädchen hatte kastanienbraunes Haar und ein schmales, fein geschnittenes, vielleicht ein bisschen zu blasses Gesicht. Die Figur war sehnig, und genau wie bei Aylea war auch bei ihr kein großartiger Brustansatz zu erkennen.

Das machte sie ihr noch sympathischer.

»Hey«, sagte die Fremde, als sie atemlos vor ihnen stehen blieb. Sie lachte. Trotz der relativ kurzen Strecke, die sie rennend zurückgelegt hatte, wirkte sie verschwitzt. Das enge Shirt zitterte in Brusthöhe. Ihr Herz schien mächtig schnell und heftig zu schlagen. Die Kette, die um ihren Hals hing, rutschte bei jeder noch so kleinen Bewegung hin und her. Ihre Perlen schimmerten in allen Regenbogenfarben.

»Hey«, erwiderte Aylea. Sie räusperte sich. »Schön habt ihr’s hier.«

»Ich kenn dich«, sagte das Mädchen. »Ich heiße Winoa.«

»Winoa. Ein merkwürdiger Name.«

»Findest du?« Sie grinste noch breiter. »Aylea ist auch … merkwürdig. Aber es gefällt mir auch. Auf Myron kam er nicht vor. Aber du kommst ja auch nicht von dort.«

»Du kennst mich?«

»Jeder hier kennt die Stammbesatzung der RUBIKON.«

»Ach?«

»Ihr seid so was wie … wie Idole. Für viele von uns.«

»Oh.« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, entschied sich dann aber für ein: »Schön.«

Für eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Cy hielt sich bedeckt. Wer ihn nicht kannte, hätte ohne weiteres tatsächlich ein Gebüsch in ihm sehen können.

»Myron«, ergriff Aylea wieder das Wort, als ihr die Stille unangenehm wurde. »Das ist Angk fünf, nicht wahr?«

»Sechs«, erwiderte Winoa. »Fünf ist Arrankor.«

»Oh. Schwer auseinander zu halten, für mich jedenfalls. Tut mir leid.«

»Quatsch«, wehrte Winoa ab. »Ich kann mir dafür andere Sachen nicht merken. – Ich seh euch hier zum ersten Mal. Von den anderen waren schon welche hier. Der Commander zum Beispiel.«

»John?«

Sie nickte.

»Weiß er, was ihr hier … gebaut habt?«

»Wir hätten es nicht bauen können, ohne dass er es weiß«, sagte Winoa, aber irgendwie – Aylea wusste selbst nicht, warum – klang es eher fadenscheinig. Fast so, als wüsste Winoa, was Aylea hören wollte – und würde sie gezielt zufrieden stellen.

Ihr nach dem Mund reden.

Du spinnst , maßregelte sich Aylea selbst.

»Und das ist Cy«, sagte Winoa.

Die Reaktion des Aurigen war beinahe schon ein Gefühls sturm . Irgendwie fühlte sich Aylea davon beleidigt. Bei ihr freute er sich nie auch nur annähernd so stark. Und dabei hatten sie schon so viel Zeit miteinander gebracht.

Als das Zittern der Zweige aufhörte, seufzte der Aurige: »Du bist eine große Künstlerin.«

Aylea verstand nicht, was er meinte.

»Die Kette«, half ihr Cy auf die Sprünge. »Die hast du doch gemacht, oder?«

Woher, verdammt, wollte er das wissen?

»Ja. Vorhin erst. Willst du auch eine? Es dauert nicht lange. – Aylea? Was ist mit dir? Nein, du darfst es mir nicht abschlagen. Es wäre mir eine echte Freude und … Ehre.«

Allmählich fragte sich Aylea, ob Winoa das, was sie sagte, wirklich alles ernst meinte. Natürlich schmeichelte es ihr, wie das Mädchen sie behandelte. Aber andererseits – wollte sie keine Verehrung. Sie wollte …

Schon gut. Krieg dich ein. Das klappt sowieso nicht. Du bist viel zu schwierig.

einfach nur eine Freundin. Ja, eine Freundin. Das wäre das Größte für sie gewesen. Eine Gleichaltrige – bloß keinen Jungen! –, mit dem sie auch mal hemmungslos ablästern konnte.

Sie hatte Freunde – aber die waren alle in einem anderen Alter. Sie sehnte sich nach jemand, mit dem sie sich auf Augenhöhe unterhalten konnte.

Winoa?

Sie wollte nicht enttäuscht werden. Winoa wirkte vom ersten Augenblick an … zu perfekt.

»Ich weiß nicht. Cy. Haben wir überhaupt Zeit? Müssen wir nicht –«

»Zeit?«

Der Aurige kapierte nicht, dass sie flüchten wollte.

»Wenn wir etwas in rauen Mengen haben, dann wohl Zeit

Er kapierte es wirklich nicht.

Und so kam es, dass Aylea und Cy dem Angkmädchen in sein Dorf und zu dessen Zuhause folgten.



Die Bauten waren allesamt einstöckig gehalten und hatten etwas Malerisches. Einiges erinnerte an die auf den Angkwelten gebräuchliche Architektur, aber vieles schien auch ganz spontan neu kreiert worden zu sein – entweder im Zusammenspiel mit Sesha, die für die Umstrukturierung der Räumlichkeiten verantwortlich zeichnete, oder aus ganz eigenem Bestreben heraus. Vielleicht wollten sich die neuen Crewmitglieder vom Altbekannten lösen, das Althergebrachte zwar nicht ganz ablehnen, aber es in seinem Stellenwert doch deutlich zurücksetzen.

Aylea hätte dies als begrüßenswert empfunden, war sich aber nicht sicher, ob sie das, was sie sah, auch wirklich richtig interpretierte.

Das Treiben in den Straßen war, wenn man sich erst mitten drin bewegte, noch bemerkenswerter als aus der Ferne beobachtet.

Aylea fühlte sich davon regelrecht – sie suchte nach dem richtigen Ausdruck – vitalisiert. Stimuliert. Denn es waren ausschließlich positive Schwingungen, die sie auffing. Sie hatte sich die neue Crew, ihr Leben an Bord, bislang immer völlig falsch vorgestellt: Menschen, die sich erst eingewöhnen, einwohnen und in ihren Kabinen einrichten mussten. Die zwar den Kontakt mit anderen Angkbewohnern pflegten, aber sonst eher gedämpft auf die neue Umgebung reagierten.

Das absolute Gegenteil war der Fall.

Im Vorbeischlendern – natürlich blieben sie nicht unbeachtet, jeder schien sie zu kennen, aber niemand »überfiel« sie in einer Weise, dass es unangenehm geworden wäre – schnappte sie immer mal wieder Fetzen der Gespräche auf, in die kleinere und größere Gruppen vertieft waren. Dabei zeigte sich, wie sehr sie Anteil am aktuellen Geschehen nahmen. Sie schienen auch bestens informiert zu sein. Diskutierten über die Situation in Samragh vor und nach Siroonas Machtübernahme. Über die Gefahr, die möglicherweise von dem beobachteten Sternentodphänomen ausging und was dahinter stecken könnten. Aber auch sehr viel Alltägliches. Probleme der Einzelnen, sich mit dem Abschied von ihrer Angkwelt abzufinden, dem Verlassen von Familie und Freunden. Wobei auch die Freude herauszuhören war, dass die RUBIKON wieder Kurs auf das Siebenplanetensystem der Bractonen genommen hatte. Viele erhofften sich davon Kontakt zu ihren Angehörigen.

Aylea hatte dafür größtes Verständnis.

Als sie zuletzt zur Erde zurückgekehrt war, hatte niemand auf sie gewartet …

Vor ihnen tauchte ein schnörkelreiches Haus auf, das Winoa zielstrebig ansteuerte.

»Das ist Rotak«, stellte Winoa den knapp Dreißigjährigen vor, der ihnen die Tür öffnete, als habe er sie schon von weitem kommen sehen. Hinter ihm tauchte eine grazile Frau auf, die ein Regenbogenkleid trug, das aussah, als wäre es aus unzähligen jener Perlen zusammengesetzt, wie Winoa sie lediglich als Schmuck um den Hals trug. »Und das Assur. Meine Eltern.«

Irgendetwas verkrampfte in Aylea.

Eltern. Dieses Mädchen hatte Eltern!

Ohne dass sie es wollte, wurde ihr schmerzlich bewusst, was sie noch mehr vermisste als eine Busenfreundin – das was Winoa ihr gerade wie selbstverständlich präsentierte nämlich: eine heile Welt! Mutter und Vater. Sie war drauf und dran, sich umzudrehen und einfach wegzulaufen.

Sei nicht kindisch! Was können andere für deine Defizite? Benimm dich normal!

»Ich wusste gar nicht … dass komplette Familien von den Angkwelten auf die RUBIKON übersiedelten«, sagte sie beherrscht. »Für mich klang es immer, als hätten die Bractonen, als hätte Kargor, eine spezielle Auswahl getroffen. Solche, die dem Schiff besonders dienlich sein können. Auch wenn, glaube ich, nicht mal der Commander bislang so richtig weiß, worin eure Talente eigentlich genau bestehen. Dazu hat Kargor leider vergessen, eine Auflistung mitgegeben. – Aber hallo erst mal. Ich bin Aylea, das ist Cy. Eure Tochter hat uns eingeladen, sie –«

»Ihr seid willkommen.« Assur trat vor. Sie war keine klassische Schönheit. Irgendwie wirkte ihr Gesicht leicht asymmetrisch. Aber zugleich machte sie gerade dieser offensichtliche Mangel an äußerlicher Perfektion Aylea – selbst nicht perfekt – auf Anhieb sympathisch. Wenn sie Mutter und Tochter miteinander verglich, fiel sofort auf, dass auch Winoa diese Asymmetrie vererbt bekommen hatte. Wie auch die Augenfarbe, die bei beiden ein leuchtendes Schwarz war.

Was Aylea aber noch mehr faszinierte als die Eltern von Winoa, war, was ihr aus der offenen Tür des Hauses entgegenwehte. Meeresgeruch. Frisch und salzig. Und … hörte sie nicht auch ferne krächzende Schreie von Wasservögeln?

Du spinnst , dachte sie.

In diesem Augenblick summte es in ihrem Kopf. Ein langgezogener Ton . Schmerzhaft fast.

Sie erstarrte.

Winoa. Assur und Rotak erstarrten.

Für einen kurzen Moment. Dann schob sich Winoa an Aylea vorbei und verschwand mit ihren Eltern im Haus.

Die Tür fiel zu.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924428
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon negaperle
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Titel: Raumschiff Rubikon 16 Die Negaperle