Raumschiff Rubikon 8 Entartete Zeit
Zusammenfassung
Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.
Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.
Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.
Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Manfred Weinland
RAUMSCHIFF RUBIKON 08
Entartete Zeit
––––––––
AM MORGEN EINER NEUEN Zeit.
Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.
Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.
Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.
Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden ...
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
Prolog
Vor dem Gang durch die Schleuse
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ES WAR MEHR ALS BLOßE Unruhe, mehr als nur Nervosität oder Unbehagen vor dem Fremden, das sie erwartete – und Jiim wusste es. Es wusste es schon seit geraumer Zeit. Aber da war stets die Scheu gewesen, es anderen gegenüber einzugestehen.
„Du wolltest mich sprechen?“, sagte der Mensch, der ihn in seine Kabine an Bord der RUBIKON eingelassen hatte und jetzt auf eine Sitzgelegenheit zeigte, die Sesha binnen eines Flügelschlags so gestaltet hatte, dass sie einem Nargen Bequemlichkeit garantierte.
Jiim machte eine Geste der Bestätigung, die der Crew mittlerweile durch täglichen Umgang mit ihm vertraut war – und damit natürlich auch dem Commander, John Cloud.
Guma Tschonk, dachte Jiim ihn einem Anflug von Zuneigung. Er hatte diesen Angehörigen einer Spezies mit teilweise hoch merkwürdigen Gepflogenheiten fast vom ersten Moment ihrer Begegnung an gemocht – und das, obwohl die Umstände eigentlich denkbar dagegen gesprochen hatten.
„Nur wenn es deine Zeit erlaubt, Guma.“
Guma war der in der Nargensprache gebräuchliche Begriff für Wertschätzung und bedeutete in etwa das, was Menschen mit Freund ausdrückten.
„Sie ist knapp bemessen. Du weißt, dass wir in Kürze den Zeit- und Ortswechsel vollziehen. Von Perle zu Perle ... und so weit in die Vergangenheit, wie es die eingeschränkte Aktionsfähigkeit der hiesigen CHARDHIN-Station noch erlaubt.“
„Geschätzte einhundert Jahre“, bestätigte Jiim, während er sich in die Hängekonstruktion sinken ließ, die in der Decke verankert war. Seine Schwingen wahrten dabei ihren größtmöglichen Freiraum, anders als in den Sitzgelegenheiten der flügellosen Humanoiden, die er auch schon probiert hatte. „Und auch der Transfer zur Milchstraßen-Perle soll laut Gloriden praktisch zeitlos vonstatten gehen – was immer darunter zu verstehen ist. Ehrlich gesagt: Mir ist das alles zu hoch. Im Gegensatz zu Aylea bin ich nicht mit höherer Physik und Mathematik groß geworden. Wobei ich schätze, dass selbst sie ihre Probleme haben dürfte, all das hier, die Technik der ERBAUER, wirklich zu begreifen.“
„Ich solidarisiere mich mit dir“, lächelte Cloud, während er in einem Sessel Platz nahm, der ihm Bequemlichkeit garantierte und sich eng an seine Körperkontur schmiegte. „Ich glaube, mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn ich zugebe, dass ich auch nur schwer verstehen kann, was das Netz der CHARDHIN-Perlen darstellt und was ich unter seinen Möglichkeiten zu verstehen habe. Ihre angebliche Permanenz – dass sie in allen Zeitepochen gleichzeitig existieren – ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst die ominösen ERBAUER können sie nicht zu Zeiten des Urknalls positioniert haben ...“ Er stockte kurz, sah Jiim fragend an. „Du bist mit der Urknall-Theorie vertraut, oder?“
„Mittlerweile ja.“ Jiim rutschte in dem Geschirr, das Sesha aus der Decke hatte wachsen lassen, hin und her und versuchte mit Körpersprache zu verdeutlichen, dass er wenig Interesse hatte, jetzt über Schöpfungshypothesen zu diskutieren. Auf der anderen Seite war er zu höflich, um Cloud verbal darauf hinzuweisen.
Der aber kannte ihn inzwischen gut genug, um selbst Unausgesprochenes zu registrieren. Er klatschte kurz in die Hände, dann sagte er: „Aber lass uns zum Grund deines Besuchs zurückkommen. Schieß los. Was hast du auf dem Herzen? Oder auf deinen beiden Herzen.“
Da war sie wieder, die humorvolle Art, die Jiim nicht nur an Cloud, sondern an allen Menschen schätzte, die er kannte. Ohne jedoch auf die kurze Anspielung auf die Eigenheiten seines Organismus einzugehen, begann er dem Commander der RUBIKON sein Problem – und damit auch seinen Wunsch – darzulegen.
Welche Wirkung seine Worte zeigten, war offensichtlich: Selten hatte Jiim Guma Tschonk so perplex erlebt, auch wenn er sich beeilte zu versichern: „Verstehe. Das ist ein Problem, das sehe ich ein. Es ist für manchen hier an Bord ein Problem, dieses Gefühl von ... Einsamkeit. Ich denke dabei auch an Algorian oder Cy – sie alle sind irgendwo allein. Und fern ihrer angestammten Heimat ...“ Er verstummte. In seinen Augen glaubte Jiim lesen zu können, dass Cloud sich selbst davon auch nicht ausnahm.
Gerade hatte Scobee die Andromeda-Perle gemeinsam mit Ovayran an Bord eines goldenen Gloridenschiffes verlassen, um Kurs auf die Milchstraße dieser Epoche zu nehmen. Sie hatte freiwillig darauf verzichtet, zusammen mit den Gefährten das Abenteuer Portalschleuse in Angriff zu nehmen, wollte vielmehr in Erfahrung bringen, wie sich die heimatliche Milchstraße in den zweihundert Jahren verändert hatte, die ihnen der Fehlsprung der RUBIKON eingebrockt hatte.
Mit Scobee war eine von Clouds wichtigsten Bezugspersonen von Bord gegangen. Und über die tatsächlichen Beweggründe Scobees rätselte wohl nicht nur er. Auch für Jiim war nicht wirklich nachvollziehbar, dass ihr tatsächlich wichtiger war, sich ein Bild der Geschehnisse in den „übersprungenen“ zwei Jahrhunderten zu machen, als mit den Freunden zusammenzubleiben und mit ihnen gemeinsam das Rätsel der Verödung des CHARDHIN-Netzes zu lüften.
„Danke“, sagte Jiim. „Ich weiß nicht, ob mir gelingt, was ich vorhabe. Niemandem ist klarer als mir selbst, wie heikel es ist, auf diese Weise in die Natur eingreifen und es erzwingen zu wollen, aber ... Ich habe lange und tiefschürfend darüber nachgedacht. Und mir ist klar geworden, wie wichtig es mir wäre. Ich werde Kalser vielleicht niemals wiedersehen. Und wenn dies eintritt, werde ich – du sagst ganz richtig: wie manch anderer an Bord – mein Schicksal akzeptieren müssen, mein Alleinsein, das nichts mit Freunden wie dir zu tun hat. Es sei denn ...“
Er hob die Hand. „Lass es gut sein. Ich sagte doch, ich verstehe. Und wenn du auf die Art und Weise, wie du es dir vorstellst, eine Möglichkeit siehst, deinen Aufenthalt an Bord erträglicher zu gestalten – wenn es sich mit deiner Natur und Ethik vereinbaren lässt, dann in Gottes Namen: Tu es. Meinen Segen hast du.“
„Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest, Guma.“
Cloud erhob sich, trat zu Jiim, der sich ebenfalls aus seiner Sitzgelegenheit schälte, und legte dem etwas Kleineren eine Hand auf die knochige Schulter. „Und ich hoffe, dass du das nie ernsthaft in Zweifel gezogen hast. Ich werde Sesha anweisen, dir alle erforderliche Unterstützung angedeihen zu lassen. Sesha? Du hast es gehört – Bestätigung!“
„Ich bin informiert und werde entsprechend handeln“, kam die feminin angehauchte Stimme der KI aus dem Off.
„Du hast es gehört.“ Cloud trat einen Schritt zurück. „Versprich mir nur eines.“
„Alles“, sagte Jiim voller Inbrunst. Seine zwei Herzen schlugen so heftig wie lange nicht mehr in der Erwartung der Dinge, die er in die Wege zu leiten beabsichtigte. „Ich verspreche dir alles!“
Cloud hob beschwichtigend die Hand. „Jetzt übertreib mal nicht. Nein, das Einzige, was ich von dir will, ist, dass du uns weiterhin mit aller Kraft zur Seite stehst – wir bauen auf dich, und es wird manche Situation geben, in der wir auf dich und deine Fähigkeiten ...“ Er zeigte auf die Rüstung, die Jiim trug. „... oder auf das hier angewiesen sein werden.“
Jiims Blick glitt über das Nabiss, das der letzte Ganf für ihn gefertigt hatte. Noch auf Kalser.
Die Wehmut drohte ihn kurz zu übermannen. Er schluckte und sagte: „Natürlich. Keine Frage. Ich bin Teil dieser Gemeinschaft. Ich werde immer für euch da sein. Das andere ... hat nichts damit zu tun.“
Cloud nickte. „Ich weiß.“ Er führte Jiim zur Tür. „Viel Erfolg. Und – wir sehen uns nachher in der Zentrale, wenn es durch die Portalschleuse zur Milchstraße geht.“
Jiim machte eine Flügelbewegung, die nur wahren Freunden, echten Gumas vorbehalten war. Dann verließ er die Kabine und begab sich in einen Bereich der RUBIKON, den er sich von vor seinem Besuch bei Cloud für sein Vorhaben ausgespäht hatte.
Nun aber hatte er den Segen des Commanders für sein Vorhaben. Und war glücklich wie schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr.
Glücklich, aber auch nicht ganz ohne Angst vor der eigenen Courage ...
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„ENTSPRICHT ES DEINEN Wünschen, Jiim?“
Er hatte die Augen geschlossen. Es war der erste Versuch, und es war klar, dass er scheitern musste.
Zumindest würde er nicht seine hohen Ansprüchen erfüllen. Aber es war der erste Schritt. Nachbesserungen waren einkalkuliert.
Jiim hob die dünnen Häute vor seinen Pupillen.
Das Licht stimmte.
Schon das raubte ihm schier den Atem, und für viele Herzschläge war er gar nicht in der Lage, seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu widmen.
Wie er dieses perfekte Licht vermisst hatte, seit er Kalser verließ und es ihn zunächst in die Große Magellansche Wolke in eine Jay’nac/Virgh-Station verschlug, erkannte er erst jetzt, da ihn exakt das Maß an Helligkeit umspülte, das er zeitlebens (in jenem anderen Leben) gewohnt gewesen war.
„J-ja“, kam es endlich über seine schwach ausgeprägten Lippen. Zugleich fingen die Nasenöffnungen erste Düfte ein, erfasste das Gehör erste Laute. Und auch das trug nicht dazu bei, seine Fassungslosigkeit zu lindern. „Sesha, wie ... wie hast du das gemacht?“
Er kauerte auf dem Felsvorsprung, dem die Künstlichkeit nicht anzusehen war. Der sich echt anfühlte. Und ebenso stimmig war wie jedes andere Detail der Landschaft, in die die KI Jiim versetzt hatte.
Kalser.
Der Schrund.
Unweit erhoben sich die Bäume mit den charakteristischen Hütten in den Kronen. Permanent wechselnde Winde umstrichen Jiim. Und vor ihm gähnte der Abgrund, der es den letzten seines Volkes – und ihm selbst – erst ermöglicht hatte, den globalen Permawinter seit dem Einschlag des Mondviertels zu überstehen.
Für einen Moment wich die bloße Wahrnehmung all dessen der irrwitzigen Hoffnung, tatsächlich hier zu sein. Diese Illusion war von unglaublicher Authentizität.
„Sesha!“
Es kam ihm vor, als habe die KI minutenlang geschwiegen. Wahrscheinlich spielten ihm aber nur seine überreizten Sinne einen Streich.
„Es war ganz einfach. Ich konnte auf Daten zurückgreifen, die mir Darnok zur Verfügung stellte – als er noch Mitglied der Mannschaft war. Mehr oder weniger jedenfalls. Er überspielte sie mir von seinem Karnut, mit dem er Commander Cloud und die anderen seinerzeit nach Kalser brachte, dort aussetzte und später wieder aufnahm. Du erinnerst dich noch, als die Zornesträne, wie du es nanntest, vom Himmel stürzte. Meinen Informationen zufolge – und du selbst hast zur Komplettierung der Chronik beigetragen – ging dieser vermeintliche Absturz des Karnuts deiner ersten Begegnung mit John, Jarvis, Scobee und einer weiteren Person namens Resnick voraus.“
„Das ist alles – richtig“, ächzte Jiim. Und er musste auch bejahen, dass er seit seiner Anwesenheit auf der RUBIKON dazu beigetragen hatte, die Chronik, von der Sesha sprach und an der sie auf Clouds Geheiß arbeitete, zu komplettieren. Darin wurden alle Ereignisse erfasst, seit Cloud und seine engsten Freunde ihre erste Zeitreise, damals noch unter Darnoks Einflussnahme und durch das Jupiter-Wurmloch, absolvierten.
Resnick.
Darnok.
Karnut.
Jupiter-Wurmloch ...
Auch das Begriffe aus der Chronik, in die Jiim hatte Einblick nehmen dürfen. Quasi als Gegenleistung dafür, dass er die Kalser-Historie in die Datenbestände einbrachte. So wie sie sich aus Nargensicht darstellte.
„Darnok hat Daten von solcher Fülle gesammelt, dass du den Schrund praktisch originalgetreu rekonstruieren konntest für mich?“
Er war und blieb beeindruckt.
„Korrekt.“
„Aber das –“
„Es hat wenig mit Hexerei zu tun. Die Sensoren des Karnuts zeichneten einfach die Umgebung auf, wo du und dein Volk lebt. Mit sämtlichen Landschaftsmerkmalen.“
Jiim spürte, wie ihm schwindelte. „Hat er ...“, setzte er an, holte tief Luft und begann noch einmal von Neuem: „Dann hat er auch ... Nargen bildlich erfasst?“
„Ich hielt sie für irrelevant und habe sie deshalb aus dem Szenario entfernt. Du sagtest nichts von Nargen. Du wolltest eine Umgebung erschaffen, in der du dich heimisch und aufgehoben fühlst, damit du dich in einen Zustand versetzen kannst, der es dir gestattet –“
„Ich weiß, was ich sagte und worum ich bat“, fiel Jiim der KI ins Wort. „Und du hast mehr als zu meiner Zufriedenheit gearbeitet. Es ist nur ... Könntest du denn auch Nargen einbauen, sodass die Illusion von Echtheit erhalten bliebe? Ich meine, könntest du sie agieren lassen, als wären sie tatsächlich da? Eine Alltagsszene. Unspektakulär und friedlich. Bitte nichts ... Aufregendes ...“
Noch während er sprach, erschienen sie.
„Ist das echt genug?“
Jiim hatte sich erhoben und blickte schräg nach hinten, wo das Dorf lag – und wo die Luft plötzlich voller Stimmen war.
Und voller Flieger.
Nargen.
Vertraute Gesichter aus der kleinen Gemeinde, der auch er ...
„Stopp!“, rief er plötzlich erschrocken.
Die Szene gefror.
„Dort!“, sagte Jiim und zeigte mit dem Flügel in die Richtung, die er meinte. „Würdest du bitte diese Person ... entfernen.“
„Das bist du.“
„Eben. Deshalb.“
Sesha gehorchte. Sein Ebenbild verschwand, und sofort kam wieder Leben, kam Bewegung in die Illusion.
Jiim seufzte. „Eine vorläufig letzte Bitte hätte ich noch.“
„Welche?“, fragte die KI.
„Könntest du die Sache so programmieren, dass sie auf meine Anwesenheit reagieren, als wäre ich ... Teil der Gemeinschaft? Dass sie mich ‚sehen’ und ‚hören’ und ich mit ihnen in Interaktion treten kann? Dann – wäre es wahrhaft perfekt.“
„Schon geschehen“, behauptete Sesha, und es dauerte nicht lange, bis die ersten Pseudo-Nargen Notiz von ihm nahmen und mit ihm umgingen, als wäre er nie fort gewesen.
Es war eine absurde Situation. Aber Jiim genoss sie wie schon seit vielen Monden nichts mehr.
Und jetzt war er wirklich zuversichtlich, das, was er sich vorgenommen hatte, schaffen zu können.
Auch wenn es ihm zunächst noch viel absurder angemutet hatte als die atemberaubende Kulisse, die Sesha soeben für ihn errichtet hatte.
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DIE ZEIT VERGING WIE im Fluge – was mit daran liegen mochte, dass Jiim tatsächlich etliche Flüge unternahm, allein oder in der Gesellschaft von Chex. Chex, seinem besten Freund. Mit dem er früher alles geteilt hatte, was ihn beschäftigte. Und der auch jetzt wieder zum Ansprechpartner wurde, dem er seine geheimsten Gedanken, Wünsche und Sehnsüchte anvertraute.
Tief im Herzen wusste er, dass nicht wirklich Chex mit ihm plauderte, sondern Sesha, die das täuschend echte Szenario – eine Mischung aus Holokunst und Nanobausteine, die sich allen Erfordernissen anpassten – hatte erstehen lassen.
Die Weite der Holographie war jedoch, wie Jiim bald feststellte, gerade bei seinen Flügen, nicht nur vorgegaukelt, sie war real.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte er irgendwann, als er mit Chex an einem Feuer saß, und fügte hinzu: „Ich meine dich, Sesha! Rede mit mir: Wie hast du es geschafft, einen so gewaltigen Raum innerhalb des Schiffes für mich zu reservieren. Allein die statischen Probleme ...“
Chex, der gerade mit ihm über sein Gefieder geredet hatte, sagte im selben Tonfall wie bisher und ohne dass sich an seiner Haltung oder Mimik auch nur der leiseste Unterschied feststellen ließ: „Ich habe einen Dimensator eingesetzt. Es erschien mir die einfachste Lösung, um dich in deinem mir bekannten Bewegungsdrang nicht einschränken zu müssen – jedenfalls nicht spürbar.“
„Was ist ein Dimensator? Ich habe nie davon gehört.“
„Aber du kennst die Besonderheit der RUBIKON“, sagte Chex/Sesha. „Du weißt, dass ihre wahren Ausmaße im Regelfall durch Dimensionswälle geschrumpft werden. Oder um es anders auszudrücken: Für einen Beobachter von außen sieht es aus, als wäre dieses Raumschiff nur um einen Bruchteil so groß, wie es in Wirklichkeit ist. Das bewirken die Dimensatoren. Betritt man, die RUBIKON, dringt man in die wahre Größe ein, die dem externen Betrachter verborgen beliebt, so lange die Wälle aufrecht erhalten werden. – Und ähnlich verhält es sich mit diesem Raum, der, als du ihn zum ersten Mal sahst, nicht sonderlich beeindruckend in seiner Größe war. Aber ich habe Dimensatoren so angeordnet, dass innerhalb der Wälle, die das ganze Schiff nach außen hin umgrenzen, noch einmal zusätzliche Dimensionsfalten entstehen. Darin eingebettet ist der falsche Schrund. Du könntest stundenlang fliegen, ohne seine Grenzen zu erreichen. Ich bräuchte allerdings weitere Detailinformationen, um die Landschaft auch weiter entfernt getreu nachbilden zu können.“
„Ist das dein Ernst?“, fragte Jiim ganz benommen. „Stundenlang?“
„So ist es. Aber darauf konzentriert sich nicht dein eigentliches geheimes Sehnen, das ich ja kenne. Wie also wird es weitergehen? Verzeih meine Neugier.“
Jiim war über diesen neuen Zug an Sesha fast noch verblüffter als über das zuvor Erfahrene. „Seit wann ist eine KI neugierig?“
„Ich bin eine besondere KI.“
„Das“, lachte er und fühlte sich dabei regelrecht euphorisch, „kommt mir allmählich auch so vor. Weiß der Commander von diesem ... Wesenszug?“
„Es war bislang nicht Thema unserer Konversation.“
Jiim stieß so heftig die Luft aus, dass es pfiff. „Heißt das, ich weiß etwas über dich, was nicht einmal John weiß?“
„Es hat ihn nie interessiert.“
Jiim überwand seine Verblüffung und überlegte, ob es Sinn machte, Cloud über die soeben gewonnene Erkenntnis zu informieren.
Vielleicht.
Bei Gelegenheit.
Chex/Sesha sagte: „Wo wir gerade reden: Die Aktivierung der Portalschleuse steht unmittelbar bevor. Der Commander bittet den engsten Kreis der Besatzungsmitglieder in die Zentrale – dazu gehörst auch du.“
Jiim schrak innerlich zusammen. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich trotz seiner Zwiesprache mit Sesha vorübergehend vollkommen aus dem realen Alltag ausgeklinkt hatte.
Der Schrund war seine Wirklichkeit gewesen – für Stunden.
Und nun sollte er die Umgebung, die seiner Seele so gut tat, wieder verlassen. Hinausgehen in die schnöde, nüchterne Umgebung der einstigen Foronenarche.
Aber er war sich seiner Verantwortung bewusst. Und er wusste, was er John Cloud zugesichert hatte.
Pflichterfüllung.
Gemeinschaftssinn.
Ihnen allen, das war ihm in diesem Augenblick klarer als all die Zeit davor, stand eine harte Bewährungsprobe bevor. Die Schleusenpassage würde sie nicht nur zurück zur Milchstraße, sondern auch hinter den Ereignishorizont des dortigen Super Black Holes bringen – und runde einhundert Standardjahre zurückwerfen.
Womit sie der Zeit, die sie die Fehltransition nach Andromeda gekostet hatte, wieder um knappe einhundert Jahre näher kamen.
Im Gegensatz zu Scobee, die sich entschlossen hatte, in dieser Zukunft zu bleiben.
Wir werden Guma Sko Pi nie mehr wiedersehen, dämmerte es Jiim. Das stimmte ihn traurig.
Ein letztes Mal streifte er mit seinem Blick den Freund, den er in der Wirklichkeit längst verloren hatte.
Chex.
Dann erbat er sich von Sesha eine Markierung, die es ihm gestattete, die Illusion des Schrundes zu verlassen.
Kurz darauf trat er in die Bordzentrale der RUBIKON, wo keiner der bereits Versammelten, nicht einmal John Cloud, ahnte, welche zwiespältigen Gefühle Jiim innerlich fast zerrissen.
Er nahm Platz im Rund der Kommandositze.
Und fand nur ganz, ganz langsam wieder in diese Welt zurück.
Dann erfolgte der Transfer. Und sie fanden sich bei der Milchstraßen-Perle wieder, deren eigene Portalschleuse sie in den unmöglichen Raum hinter dem Ereignishorizont ausspie.
Alles war anders als bei ihrem letzten Besuch, reale hundert Jahre zuvor.
Überall schwebten bizarre Gebilde, umliefen die CHARDHIN-Perle wie einen Planeten.
„Bei Maron, dem Vernichter“, entfuhr es Jiim. „Was ist denn das?“
In diesem Moment war niemand in der Lage, seine Frage zu beantworten.
Aber es war klar, dass sie alles in ihren Kräften Stehende unternehmen würden, es herauszufinden.
Deshalb waren sie gekommen.
Die Wünsche und Gefühle eines Nargen hatten sich dem unterzuordnen.
Jiim straffte sich.
Die goldene Rüstung, in der er steckte und die ihm so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass er sie manchmal kaum noch spürte, sandte wohlwollende Impulse.
Das Abenteuer begann.
Die Verlockung des absolut Fremden dort draußen, jenseits der Schiffswände, zog alle in ihren Bann ...
TEIL I
Kargor
Die Entität
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LEBEN WIE DIESES HATTE John Cloud noch niemals zuvor gesehen. Weder in den absonderlichen Sphären jenseits des Horizonts, wo die CHARDHIN-Perlen fixiert waren, noch anderswo.
Leben wie dieses ...
Cloud konnte den Blick nicht abwenden von dem grotesken Geschöpf, das sich vor seinen Augen manifestiert hatte. Wobei manifestieren die falsche Bezeichnung für den Akt sein mochte, der dem Erscheinen vorausgegangen war. Aber wie hätte man es stattdessen nennen sollen? Wie bezeichnete man die Essenz aus Dutzenden, Hunderten, vielleicht Tausenden oder mehr Einzelgeschöpfen – sogar verschiedener Spezies –, die sich gerade vor Clouds Augen zu einem einzigen Geschöpf zusammengefügt hatten. Wie die Teilchen eines gigantischen Puzzles.
„Alles war nur Lug und Trug – habe ich Recht?“, wandte sich Cloud mit mühsam beherrschter Stimme an das ebenso erschreckende wie faszinierende Wesen, das ihn um eine ganze Manneslänge überragte und in allen Farbschattierungen eines Prismas funkelte. Dessen Körper nur sehr entfernt einer ins Riesenhafte aufgeblasenen irdischen Fangschrecke ähnelte und darüber hinaus mit unzähligen kristallinen „Schuppen“ überzogen war.
Mantis religiosa, fiel der lateinische Name jener Insektengattung, die diesem „Ding“ hier ähnelte, Cloud fast beiläufig ein. Biologie war nie sein Spezialgebiet gewesen, wohl aber das eines jener Toten, deren Wissen ihm einst quasi eingeimpft worden war – in den Tagen seiner Konditionierung für die zweite Marsmission, die er 2041 befehligt hatte. Eine Mission, deren Angehörige es inzwischen sogar bis zum Milchstraßen-Nachbarn Andromeda verschlagen hatte.
Die paar Überlebenden jedenfalls.
Ihn, Scobee und Jarvis.
Wobei Letzterer nur noch mit gewissen Einschränkungen als Überlebender tituliert werden durfte. Denn Leben im ursprünglichen Sinn konnte man Jarvis nicht unbedingt mehr nachsagen, seit sein Bewusstsein in jenes Konstrukt foronischer Hochtechnologie übersiedelte, das am ehesten als Nanoroboter tituliert werden konnte ...
Er zwang sich, die Erinnerungen, die ihn geprägt hatten, beiseite zu schieben.
Vor ihm stand der blanke Terror – so jedenfalls empfand er es nach der schier endlosen Odyssee durch die verschiedenen Ebenen der CHARDHIN-Perle!
Statt des „Terrors“ antwortete ihm Jarvis, der all dies mit ihm durchgemacht ... und ohne den er das Heer von Fallen wohl nicht überlebt hätte.
„Hast du das auch gerade ... erlebt, John?“
„Die Vision? Die das hier ...“ Er wies geradeaus, wo das schweigende Ungetüm sich vor ihnen erhob. „... hat entstehen lassen?“
Jarvis’ aus Nanopartikeln modulierter Kopf nickte. Selbst der einstige Bürstenhaarschnitt war von ihnen nachgebildet worden. Ein Anblick, an den sich Cloud gewöhnt hatte.
Im Gegensatz zu dem, der sich ihm gerade in jeden Pixel seiner Netzhaut zu brennen schien.
„Als hätte es alle Figuren, denen wir auf unserem Gewaltmarsch begegneten durch Wände und Decken hierher gesaugt und dem Etwas dort komprimiert, vor dem wir jetzt stehen! Das ist der blanke Irrsinn! Das Ding kann nicht aus den Besuchern des Casinos, den ätherischen Flügelwesen ... und wer uns noch alles begegnete zusammengesetzt sein!“
Jarvis’ Feststellung klang mehr nach Hoffnung, nicht nach gesicherter Überzeugung.
„Egal, was es vorher war, als es uns täuschte – viel wichtiger erscheint mir die Frage, wer es aktuell ist“, knurrte Cloud, den es in den Füßen juckte, näher an die Gestalt heranzugehen, der aber auch die Risiken nicht außer acht lassen wollte. „Und wenn ich alles, was uns widerfuhr, Revue passieren lasse, komme ich immer wieder zu einem einzigen Schluss – nichts anderes ergäbe einen Sinn. Oder was meinst du?“
„Ein Erbauer“, krächzte Jarvis, der einmal mehr mit der Modulation seiner Kunststimme überraschte. „Ich denke auch, dass das hier einer der Herren der Perle ist. Der wahren Herren. Wir wissen ja längst, dass Fonti, Ovi und Co. nur Handlanger, nur ‚Hilfspersonal’ sind ...“
Cloud überlegte immer noch, ob er dem wie versteinert dastehenden Geschöpf entgegentreten sollte – ob er das wagen konnte – oder nicht.
Die Macht, über die es zweifellos verfügte, hätte sie längst hinwegfegen können, wenn dies in seiner Absicht gelegen hätte. Stattdessen hatte es sie während ihres gesamten Aufenthaltes in der Perle beobachtet.
Und geprüft.
Dessen war sich Cloud sicherer denn je.
Und letztlich gab diese Gewissheit den Ausschlag, dass er es schließlich wagte.
„Nein! Bleib!“, fauchte Jarvis neben ihm.
Aber er ließ sich nicht stoppen, ging gemessenen Schrittes auf die Erscheinung zu.
„Du willst uns nicht killen, oder?“, sagte er dabei. „Du hast einen Narren an uns gefressen – sonst hättest du dich gar nicht dazu herabgelassen, dich uns in deiner wahren Gestalt zu präsentieren, stimmt’s? Das ist doch deine ... wahre Gestalt?“
Er hatte die Schritte nicht gezählt, die er bereits zurückgelegt hatte, als es geschah.
Aber ihn trennten noch etwa ein halbes Dutzend – soviel war offensichtlich.
Wieder stieß Jarvis einen Ruf aus. Aber diesmal war es eine dringende und unmissverständliche Warnung.
Da hatte sich eine der Facetten in den Augen der Entität aber bereits gelöst ... und schlug wie von einem Katapult abgefeuert direkt vor Cloud ins Deck der Perle.
Funken stoben auf, begleitet von einem ohrenbetäubendem Knall.
Gleichzeitig huschte ein Schemen an ihm vorbei, platzierte sich vor ihm und übernahm die Funktion eines Schildes, der mögliche Gefahren von Cloud abschirmte.
Jarvis.
Die Reaktion der „Fangschrecke“ war kaum misszuverstehen.
Es war pure Machtdemonstration.
„Das nächste Mal“, zischte Jarvis, „solltest du vielleicht auch mal mich fragen, wie ich über solche Vorstöße denke – und jetzt: Lass uns abhauen!“
Bevor Cloud, der den Schrecken schon wieder überwunden hatte, widersprechen konnte, sagte eine Stimme, die sich regelrecht in ihre Gedanken fraß:
„DAS KÖNNTET IHR GAR NICHT!“
––––––––
SARAH CUTHBERT SAH Jiim aus den Augenwinkeln in seinem Sitz zusammenfallen. Ja, zusammenfallen. Er sank nicht einfach nur zur Seite – es sah aus, als würde der Narge in einem Maße erschlaffen, als wäre ihm von Zauberhand sein Knochengerüst gestohlen worden.
Sofort war sie bei ihm. „Jiim ...“
Auch Jelto war zur Stelle. Hinter ihm tauchte Aylea auf. Sie rief fast panisch: „Ist er – tot?“
Es sah tatsächlich so aus. Im ersten Moment zumindest. Aber Seshas Stimme aus dem Off brachte Entwarnung – ein wenig zumindest. „Ich empfange Vitalwerte. Sie unterscheiden sich beträchtlich von denen, die bei Jiim als Normalstatus dokumentiert sind. Aber er lebt. Ich schicke Bots, die ihn in die Krankenstation bringen.“
Noch während die Stimme sprach, öffnete sich Luken zu allen Seiten der Zentrale, aus denen emsige Metallspinnen stoben, unterwegs zu einem größeren Gebilde vereinigten und zielstrebig Kurs auf das Podest nahmen, wo sich das Lebewesen befand, um das sie sich kümmern sollten.
Sarah und die anderen wichen zurück, machten Platz. Die Hoffnung, Jiim könne von sich aus gleich wieder zu sich kommen, erfüllte sich nicht.
„Sesha, hast du ihn gescannt?“, fragte Sarah, die sich allmählich an Clouds Vertreterrolle gewöhnt hatte. „Gibt es Hinweise auf eine Erkrankung?“
„Ich glaube nicht“, antwortete die KI umgehend, „dass man es Krankheit nennen kann. Es scheint nur sehr viel schneller zu gehen, als selbst Jiim es voraussah. Oder ich.“
Aylea baute sich neben Sarah auf, stemmte ihre kleinen Fäuste in die Hüften und sah hoch in die Luft – als gäbe es dort Sesha in personifizierter Form zu entdecken. „Was habt ihr euch beide da ausgedacht, du und Jiim, Blechkasten, rede! Was immer es ist, es scheint ihm nicht gut zu tun – und das macht mich wütend!“ Sie hob eine der Fäuste und reckte sie drohend gegen die unsichtbare KI. „Mach schon! Was habt ihr beide ausgeheckt?“
Sarah nickte grimmig zu den Worten des Mädchens. „Besser“, knurrte sie, hätte ich es auch nicht sagen können. Also?“
Zwischenzeitlich hatte der Bot-Verbund Jiim so vorsichtig aufgeladen, als sei er ein hochzerbrechliches Gut und strebte damit Richtung Tür, wo sich gerade ein flirrendes Transmitterfeld aktivierte.
„Wo bringst du ihn hin?“, mischte sich Jelto ein. Der ehemalige Gärtner-Klon, der sich um einen Waldabschnitt rings um das irdische Getto gekümmert hatte, eilte neben dem seltsam anmutenden Krankentransport her und sah aus, als wollte er sich jeden Moment in den Weg werfen. „Du kannst ihn nicht einfach sonst wohin ...“
„Er ist nicht krank“, wiederholte Sesha fast stoisch, was sie schon einmal zu verstehen gegeben hatte. „Ihm geschieht nichts. Er ist ohnmächtig und wird gleich wieder zu sich kommen. Ich habe lediglich Anweisung gegeben, ihn an den Ort zu bringen, wo er jetzt am besten aufgehoben ist.“
„Und das wäre?“, fragte Sarah, holte Luft und fügte an: „Nimmst du das alles nicht ein bisschen zu sehr auf die leichte Schulter? Könnte es nicht auch – eine Attacke von außen gewesen sein, die Jiim matt setzt? Auf die er nur als Erster ansprach? Wir haben immer noch keinen Kontakt zu John und Jarvis drüben ...“
„Es handelt sich definitiv um keinen Angriff.“
Die Bots hatten den Türtransmitter erreicht, verhielten kurz, und Jelto stand bei ihnen, unschlüssig, ob er den Worten der KI Vertrauen schenken sollte oder nicht.
„Jiims Zusammenbruch hat mit seinem eigenen Organismus zu tun“, fuhr Sesha fort.
„Also doch eine Erkrankung“, sagte Sarah. „Überanstrengt kann er sich ja im Setzen neben uns nicht gerade haben – oder war es der Stress, der mit der Gesamtsituation zu tun hat? Die Ungewissheit um das Schicksal unserer Freunde?“
„Es handelt sich sogar um eine klassische Überanstrengung“, widersprach Sesha, nach wie vor mit einer Gelassenheit, die nicht nur Aylea zur Weißglut trieb. „Und mit Stress hat es sicher auch zu tun. Wie ich schon sagte: Es geschieht schneller als erwartet – und offenbar vollzieht sich der Prozess in Jiim auch sehr viel konzentrierter als es bei Menschen oder Foronen der Fall ist.“
Sarahs Augen wurden zu schmalen Schlitzen, ihre Stimme erinnerte plötzlich daran, wie sie in manchen Debatten hinter den geschlossenen Türen des Weißen Hauses mit ihrem engsten Stab debattiert hatte. „Wenn du nicht sofort zum Kern kommst, schalte ich dich ab ...“ Sie machte eine Sekunde lang Pause, ehe sie sich des Vokabulars befleißigte, das Aylea zuvor verwendet hatte, nur noch sehr viel mehr Schärfe hineinlegte. „... Blechbüchse!“
„Das ist nicht nur eine unsachliche, sondern auch eine ganz und gar unpassende Verunglimpfung und Drohung. Du kannst mich nicht ’abschalten’. Oder du müsstest das gesamte Schiff lahm legen. Wozu du aber auch weder autorisiert noch in der Lage –“
„Ich glaube, mischte sich erstmals Cy ein, der die ganze Zeit im Hintergrund geblieben war, und raschelte mit seinen Blättern, „du solltest uns jetzt besser reines Wasser eingießen. Wir alle sind besorgt wegen Jiim. Wenn du kannst, nimm uns unsere Befürchtungen. Aber tu es für alle verständlich und ohne diese endlose Litanei. Oder wolltest du in einem früheren Leben ...“ Er richtete ein Knospenärmchen auf Sarah und hauchte: „Verzeih“, ehe er sich wieder an die KI wandte. „... Politiker werden?“
Für Sekunden schien Sesha perplex. Was aber schwer vorstellbar war. Im Normalfall hatte sie auf alles eine Antwort und ließ sich durch nichts aus der Fassung bringen.
Wahrscheinlicher war, dass sie die kurze Schweigepause gezielt platzierte.
Schließlich sagte sie: „Jiims Körper ist deshalb einem auch für ihn ungewohnten, neuen und extremen Stress ausgesetzt, weil sein großer Wunsch in Erfüllung gegangen ist: Rascher als erwartet, hat in ihm ein Ei zu reifen begonnen.“
Stille.
In diesen Momenten hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
Das Schweigen war so umfassend, dass Sarah es beinahe wie ein Gewicht auf sich lasten fühlte, und irgendwann konnte sie nicht anders, als die angestauten Gedanken hinauszulassen.
„Willst du ...“, keuchte sie. „Willst du damit andeuten, dass er ...“ Sie schluckte. Ihr Blick pendelte zwischen Jiim und den anderen Anwesenden hin und her. „... dass er schwanger ist?“
––––––––
DAS KÖNNTET IHR GAR nicht!
Der Pararuf hallte in Cloud nach, als hätten sich plötzlich unüberwindliche Barriere um seinen Verstand aufgebaut.
Jarvis schirmte seinen Körper immer noch gegen die prismenübersäte Fangschrecke ab – ob er ihn im Ernstfall wirklich hätte beschützen können, zweifelte Cloud an. Das bereits Erlebte sprach dagegen.
„Sag nur ein Wort“, raunte ihm sein Freund zu, und ich umschließe dich komplett mit meinem Amorphkörper! Und keine Angst, ich treffe Vorsorge, dass du atmen kannst ...“
Cloud wusste das Angebot zu schätzen, aber er wusste, dass er es nicht annehmen würde.
„Kannst du wieder transitieren?“, fragte er zurück, ohne seine Stimme auch nur eine Nuance zu senken. Er war fest überzeugt, dass die Entität, der sie gegenüberstanden, jedes noch so leise geflüsterte Wort verstand, vielleicht sogar in ihren Gehirnen stöberte.
„Wenn ich das könnte, wären wir schon nicht mehr hier – Commander“, kam es fast süffisant zurück.
„Du hättest gegen meinen klaren Befehl gehandelt?“
„In diesem Fall schon. Für mich geht Überleben in jedem Fall vor. Wenn du das anders siehst, ist das dein Bier.“
Cloud ersparte sich eine Fortsetzung des unnützen Disputs. Er schob Jarvis sanft, aber mit Nachdruck beiseite und sagte, den Kopf weit in den Nacken gebogen, um zum „Gesicht“ der ERBAUER-Entität hinaufzuschauen: „Man muss wissen, wann man verloren hat ... Und jetzt? Was geschieht weiter? Willst du mich auch noch Lügen strafen, indem du uns jetzt doch tötest?“ Er schüttelte den Kopf. „Was hättest du davon? Was ergäbe all das Vergangene dann noch für einen Sinn?“
Ein schriller Ton, eine Disharmonie, fräste sich durch seine Gehirnwindungen – und erst, als er sich weit nach vorn beugte, krümmte und fast zu Boden ging, wurde ihm bewusst, dass es wahrscheinlich die Abart eines ... Gelächters war.
Schlagartig hörte es wieder auf.
Schweißgebadet richtete Cloud sich auf – und suchte nach Jarvis. Zunächst hielt er ihn für verschwunden (doch eine Nottransition?, fragte er sich), aber dann entdeckte er unweit eine dunkle Lache am Boden und erkannte, was passiert war: Der Nanoverbund des Kunstkörpers hatte sich aufgelöst. Wie schon in anderen Extremsituationen war Jarvis einfach zu einer formlosen Pfütze zerfallen, in der es wahrscheinlich gerade drunter und drüber ging. Weil das ihr innewohnende Bewusstsein im Zusammenspiel mit der Steuerung versuchte, die verlorene Gestalt wiederherzustellen.
Cloud stemmte mit verzerrter Miene die Fäuste in die Hüften und baute sich vor der Prismengestalt auf. „Warum diese Aggression? Wir kamen ohne jede feindselige Absicht! Vielleicht sind wir aus deiner Sicht widerrechtlich hier eingedrungen – aber dafür gibt es eine Erklärung, und das Mindeste, was man erwarten könnte, wäre, dass du sie dir wenigstens anhörst ... ERBAUER!“
„WARUM NENNST DU MICH SO?“
Cloud machte eine wegwerfende Geste, die ausdrücken sollte, wie leid er die Spielchen dieser Entität inzwischen war. „Weil ich glaube, dass du einer derer bist, die all dies ...“ Er zeigte um sich, meinte damit die CHARDHIN-Perle in ihrer Gesamtheit. „... erschaffen hat. Und ich glaube nicht, dass ich mich irre. Also?“
„ICH KÖNNTE DICH MIT EINEM GEDANKEN ZERSCHMETTERN!“
„Das nehme ich dir sogar ab. Und wenn du es vorhast, dann tu es – aber bitte gleich. Solltest du hingegen, wie wir, der Humanität den Vorzug geben, sind wir gern zur Aufnahme von Gesprächen bereit. Es gibt einiges zu sagen – und zu erfragen. Gewiss nicht nur von unserer Seite, sonst hättest du dir all die Mühen sparen können.“
„ES BEREITETE KEINE MÜHE. ALLERDINGS KÖNNTE ES VERGEUDETE ZEIT GEWESEN SEIN – HIER, JENSEITS ALLER ZEIT ...“
„Du beeindruckst mich mit klaren Aussagen wesentlich stärker als mit diesen verklausulierten Ergüssen.“
„Mach ihn um Himmels Willen nicht noch wütender!“, ächzte Jarvis von dort, wo er sich gerade gegen die Schwerkraft der Station stemmte. Aus der Pfütze war eine Art Rechteck geworden, aus dem immer wieder neue Versuche, Pseudopodien auszubilden, hervorzüngelten.
Vielleicht war Jarvis der Vernünftigere von ihnen beiden. Aber sei’s drum, Cloud pfiff darauf. Er dachte an Harrimik und Morgenwind und fühlte sich einfach nur von diesem ... diesem ETWAS da betrogen.
„GUT. HIER EINE KLARE AUSSAGE: IHR WERDET STERBEN – IHR ALLE, DIE IHR IN DIESE NISCHE HINTER RAUM UND ZEIT GEKOMMEN SEID. WENN IHR ES ABLEHNT, DIE AUFGABE, DIE ICH EUCH ZUGEDACHT HABE, ZU ERFÜLLEN!“
„Eine Aufgabe?“, jammerte Jarvis.
„EINE MISSION“, konkretisierte die Entität.
Cloud war immer noch auf einem Kreuzzug, von dem er tief im Innern wusste, dass er ihn niemals würde gewinnen können.
„Aha“, knurrte er und legte allen Sarkasmus in die Stimme, den er zusammenraffen konnte. „Du brauchst uns also!“
„ES WÄRE TÖRICHT UND TÖDLICH, SICH EINZUBILDEN, DARAUS FORDERUNGEN ABLEITEN ZU KÖNNEN. ICH BIN ZU KEINEM HANDEL UND ZU KEINEN KOMPROMISSEN BEREIT. ES GIBT NUR ZWEI MÖGLICHKEITEN: IHR NEHMT AN – ODER IHR LEHNT AB. IHR LEBT WEITER – ODER EUER ALLER LEBEN, AUCH DAS JENER AUF DER RUBIKON, IST VERWIRKT.“
Das saß.
Die Erwähnung der RUBIKON-Crew machte Cloud mit einem Schlag deutlich, wogegen er sich bis dahin innerlich gesperrt hatte: Es ging hier nicht nur um ihn. Oder um Jarvis. Da waren so viel Schicksale mehr, die in diesem Moment nicht einmal ahnten, dass über ihre Fortexistenz entschieden wurde!
„Wir können uns den Deal ja mal anhören.“
„ES IST KEIN DEAL. IHR TUT, WAS ICH WILL, UND DAS EINZIGE, WAS IHR DABEI GEWINNEN KÖNNT, IST EUER FORTBESTEHEN.“
„Bist du ein ERBAUER?“
„DU STRAPAZIERST MEINE GEDULD.“
„Warum können wir nicht erst –“
„DEINE ANTWORT!“
Cloud seufzte abgrundtief. Was hatte er für eine Wahl. „Okay“, sagte er. „Abgemacht.“
Normalerweise stand er zu seinem Wort – hier fühlte er sich keine Sekunde lang daran gebunden.
Das Problem war, dass die Fangschrecke das zu wissen schien.
„ES HAT KEINEN SINN.“
Wieder löste sich eine Schuppe aus ihrer Gestalt. Diesmal bewegte sie sich wie in Zeitlupe auf Jarvis zu, der sich gerade wieder mühsam zu einem Humanoiden zu mausern begann, dessen Bewegungen aber jäh ebenso verlangsamten wie die des Projektils, das auf ihn zuhielt.
Wodurch er ihm nicht ausweichen konnte.
„Neeeiiin!“, schrie Cloud, unmittelbar bevor es zum Zusammenprall von Prismenschuppe und Nanomaterie kam. „Lass es gut sein, ich bin wirklich einverstanden! Mir bleibt ja wohl keine Wahl ...“
„DIE ALTERNATIVE IST DIR BEKANNT. SIE BLEIBT BESTEHEN. BEIM GERINGSTEN ANZEICHEN, DASS DU MICH ZU HINTERGEHEN VERSUCHST – ODER IRGENDEIN ANDERER VON EUCH – TRITT DIESE OPTION IN KRAFT. ICH WERDE NICHT EINMAL MEHR WARNEN, SONDERN EUCH AUGENBLICKLICH AUSLÖSCHEN ... IST DAS IN EUREN DENKZENTREN ANGEKOMMEN?
Warum nur, dachte Cloud, habe ich das Gefühl, dass hier ein Abkömmling einer Hochzivilisation ... mit einem Wurm kommuniziert?
Die Schuppe löste sich auf, bevor sie Jarvis erreichte und ... was auch immer mit ihm angestellt hätte.
Cloud gab dem Freund ein Zeichen und hoffte, dass es bei ihm ankam.
„Es ist angekommen“, antwortete er. Und diesmal regte sich nicht einmal in den tiefsten Angründen seiner Seele die Absicht, dieses Wesen bei nächstbester Gelegenheit zu hintergehen.
Der Pakt war besiegelt.
Die Entität sagte: „DANN ERFOLGT JETZT DER WECHSEL AUF DAS SCHIFF.“
Welches Schiff er meinte, wurde schon unmittelbar danach deutlich. Den nächsten Atemzug tat Cloud bereits auf der Brücke der RUBIKON.
Die Crux war nur, dass nicht allein Jarvis ihn dorthin begleitete.
––––––––
SEIN ERWACHEN WAR BEGLEITET von Wohlgerüchen und -lauten, die ihn verwunderten. Er schlug die Augen auf, und eine Stimme sagte: „Ah, du bist wieder bei dir. Ich bin froh, dass Sesha Recht behalten hat. Wie geht es dir?“
Er sah sich um, rutschte gleichzeitig auf dem Lager herum, das aussah wie in seiner Bordkabine. Nur dass dies nicht die Kabine war. Es war das Innere eines Baumhauses. Durch die offenen Fenster drang eine schwache Brise, so künstlich wie alles rundum. Mit Ausnahme von ihm selbst und der Besucherin, die er hatte.
„Ich wurde ... ohnmächtig.“
„So könnte man sagen“, sagte die Person, die er hier am wenigsten erwartet hätte.
„Wie komme ich hierher?“
„Sesha meinte, dies wäre die Umgebung, die dir momentan am besten täte.“ Ihr Blick glitt durch die Behausung, die in keinem Detail dem entsprach, wie ein Baumhaus auf Kalser tatsächlich eingerichtet war – noch nicht. Daran würde zu arbeiten sein. Jiim hatte sich zunächst um die Landschaft gekümmert. Dann war die Schleusenpassage erfolgt und er hatte kaum noch Gelegenheit gehabt, sich hierher zurückzuziehen.
„So, sagte Sesha das.“ Er gab sich Mühe, sein Missfallen über den Geheimnisverrat nicht zu deutlich heraushören zu lassen. „Was ist passiert? Ein Überfall? Eine Attacke aus einem der Gebilde, die die Perle umschwirren – oder aus der CHARDHIN-Station selbst?“
„Das war auch mein erster Gedanke, als du ohne Vorwarnung zusammengebrochen bist – aber Sesha verneint es. Sie sagt ... aber das soll sie dir selber verklickern. Sesha?“
Aus dem Off ertönte die Stimme der KI und konfrontierte Jiim mit dem, was Sarah Cuthbert – und vielleicht auch der Rest der Crew – schon wusste.
Danach war er zunächst außerstande zu einer Stellungnahme.
„Du scheinst selbst davon überrascht zu sein, was mit dir passiert“, sagte Sarah. „Sesha deutete mir gegenüber schon an, dass du nicht mit diesem schnellen Erfolg gerechnet hast.“
Er schluckte. Tausend Gedanken stoben gleichzeitig durch seinen Kopf. Er richtete sich mühsam auf und erhob sich von seinem Lager. Leicht wacklig stand er neben der stellvertretenden Kommandantin der RUBIKON.
„Nein“, sagte er. „Das hatte ich nicht.“ Er versuchte, durch Tonfall und Körpersprache klar zu machen, wie wenig ihm daran lag, hier und jetzt mit ihr darüber zu diskutieren.
Und offenbar schaffte er, es zu vermitteln.
Sarah wandte sich dem Ausgang zu. „Ich wollte nur sichergehen, dass Sesha alles richtig einschätzte und du keine weitergehende medizinische Hilfe benötigst. Jetzt gehe ich besser. Du willst sicher Ruhe. Und falls ich ein Tabu deines Volkes verletzt haben sollte, indem ich mich für deine ... Befruchtung interessierte, verzeih bitte.“
Er machte eine Geste der Bestätigung.
Als sie den Ausgang erreicht hatte, rief er ihr nach: „Wie bist du hier herauf gekommen? Ich meine, die Hütte liegt wirklich hoch.
Sarah nickte. „Ich weiß. Sesha stellte mir einen Antigravgürtel zur Verfügung.“ Sie zeigte an den Bund ihres türkisfarbenen Kleides, wo es metallisch schimmerte. „Damit komme ich auch wieder problemlos nach unten. Ich glaube nicht, dass mich deine ‚Artgenossen’ belästigen.“
„Du bist ihnen begegnet?“
„Sie schwärmen überall herum.“ In Sarahs Blick trat ein undefinierbarer Ausdruck. „Ich habe versucht, sie zu ignorieren, aber ... es ist schon reichlich bizarr. Das musst du zugeben.“
„Sie waren ein Angebot Seshas, das ich nicht ablehnen konnte. Ursprünglich wollte ich nur eine Umgebung, um auf diesem Schiff zur Ruhe zu kommen, meinen inneren Frieden zu finden ... um mich auf die Zeugung eines Nachwuchses zu konzentrieren.“
„Du musst dich sehr allein gefühlt haben – unter uns anderen.“
Er schwieg.
„Hast du jemanden, mit dem du reden kannst? Ich meine nicht Sesha.“
„Chex ist da“, sagte er zögernd. „Aber ich schätze, er ist es nicht so, wie ich es bräuchte. Und in Wahrheit würde ich doch nur mit der KI sprechen.“
„Wer ist Chex?“
„Er war auf Kalser mein Freund. Mein bester Freund.“
„Du vermisst ihn.“
„Ich vermisse alle Nargen. Ich weiß nicht, wie weit du informiert bist. Wir Kalser-Gebürtige sind allesamt miteinander ... hier auf diesem Schiff würde man es vernetzt nennen.“
Sie entfernte sich wieder ein Stück weit vom Ausgang, kam auf ihn zu. „Ich habe davon gehört. Es hat mit Morphogenese zu tun. Mit Feldern, Schwingungen, die dich zeitverlustfrei mit anderen Artgenossen auf mentaler Ebene verbinden und jeden jederzeit in die Lage versetzen, vom Wissen des oder der anderen zu partizipieren.“
„So könnte man es sicherlich abstrahieren.“
„Aber es ist keine Telepathie, oder? Du kannst nicht die Gedanken eines Mitnargen lesen?“
„Nein. Und ich könnte dir auch nicht sagen, nach welchen Kriterien das Morphogenetische Feld auswählt, was es an essenziellem Wissen auf die anderen überträgt und in deren Gedächtnis verankert. Es ist hochkomplex. Vielleicht wird sich in Zukunft einmal jemand der Frage annehmen und die Wechselwirkung bis ins Detail erforschen.“
„Wie weit reicht diese Morphogenese?“
„Du meinst, wie groß die Reichweite der – nennen wir es – Signale ist, die sich von einem Nargen auf den anderen übertragen?“
„Ja.“
„Auch das vermag ich dir nicht zu sagen. Nur so viel ist sicher: Als ich die Milchstraße verließ und es mich, wie ich erst später erfuhr, zur Magellanschen Wolke verschlug, war die Verbindung noch existent.“
„Wirklich?“ Ihr Staunen war verständlich.
„Ja. Auch wenn es unglaublich für dich klingen mag. Erst nach der Fehltransition zur Andromeda-Galaxie, bei der auch die Zeitanomalie zur Entfaltung kam, brach sie ab. Seither spüre ich keinen Austausch mehr.“
„Verstehe.“ Sie senkte den Blick.
„Was? Was meinst du zu verstehen?“
„Du hast Sorge, dass es dein Volk in dieser Zeit nicht mehr geben könnte. Weil nur der Tod der Nargen auf Kalser das Band, das selbst zur GMW reichte, so nachhaltig durchtrennt haben könnte. Ist es nicht so? Und möglicherweise ist die Furcht, inzwischen der letzte deines Volkes zu sein, auch der eigentliche Auslöser des unbedingten Verlangens ... dich zu vermehren.“
Er sah sie aus großen Augen an. Aus ihrem Mund klang das exakt wie die Wahrheit, die er lange gesucht hatte, aber selbst nie in Worte zu fassen vermochte.
Mit zittriger Hand, die am Gelenk mit dem Flügel verbunden war, strich sie sich über das Gold der Nabiss-Rüstung, die er nur noch selten ablegte. Auch diejenigen, die ihn hierher verfrachtet hatten, hatten sie ihm gelassen.
Falsch, korrigierte er sich selbst. Sie wären gar nicht in der Lage gewesen, das Nabiss ohne mein Einverständnis von meinem Gefieder zu lösen.
Nicht einmal Sesha wäre dazu in der Lage gewesen. Zumindest glaubte er es nicht.
„Wer weiß ...“, wich er einer klaren Bestätigung ihrer These aus. „Jedenfalls scheint es geschehen zu sein. Ich trage ein Ei in mir. Es reift jetzt heran und wird in Kürze von mir ... gelegt.“
„Und dann?“, fragte Sarah Cuthbert. „Wie wird es dann weitergehen? Was musst du für die Hege des Eis tun – und wie lange wird es dauern, bis daraus etwas ...“ Sie hüstelte verlegen und fügte schnell an: „... bis dein Kind schlüpft?“
„Das ist individuell verschieden. Es kann nur Tage oder Wochen deiner Zeitrechnung dauern – aber es gab auch schon Fälle, in denen ein Narge neues Leben über Monate in sich trug ... und es dann nur noch Stunden brauchte, ehe es das Licht der Welt erblickte und aus dem Ei hervorbrach. Manchmal ...“ Seine Stimme verebbte.
„Ja?“
„Manchmal starb der Erzeuger auch, weil das Ei zu lange in ihm blieb und seinen Körper vergiftete. Auch der Spross im Ei hat dann keine Überlebenschance.“
„Das klingt hochdramatisch, und ich glaube, ich verstehe. Auch bei Menschen ist die Geburt ein Akt, bei dem es mitunter zu unerwünschten Komplikationen kommt. Auch Menschenkinder und -mütter sterben bisweilen bei dem Versuch, neues Leben zu gebären.“
Jiim ließ die Worte in sich nachklingen.
„Danke“, sagte er dann.
„Wofür?“
„Dafür, dass ich jetzt weiß, wen ich rufen kann, wenn mir Chex ... dieser Chex hier ... nicht genügt.“
Sie trat schnell auf ihn zu, umarmte und drückte ihn – sehr, sehr vorsichtig, wie ihm schien.
Er lachte. „Das Ei ist gut geschützt in mir“, sagte er. „Keine Angst, so leicht zerbricht es nicht.“
„Man kann nie wissen.“ Es sah aus, als würde sie ihm zuzwinkern, aber gleichzeitig rollte eine Träne aus ihrem linken Auge. Die Frau, die John Cloud vertrat, wirkte so ergriffen, wie Jiim sie noch nie erlebt hatte.
Und kaum dass sie gegangen war, ihn allein in der unfertigen Hütte zurückgelassen hatte, vermisste er sie auch schon.
––––––––
NOCH AUF DEM WEG IN die Zentrale der RUBIKON erreichte sie Seshas Nachricht.
„Der Commander ist zurückgekehrt.“
Sarah hielt kurz inne, musste ihre Gedanken erst von Jiim und der Erkenntnis lösen, dass sie mit ihm einen schwangeren Nargen an Bord hatten.
„Allein?“, fragte sie gegen die Wände des Korridors, den sie gerade durchquerte.
„Nein. Er ist in Begleitung von Jarvis.“
Sarah atmete tief durch und setzte ihren unterbrochenen Weg fort. Im Gehen fragte sie: „Sind beide wohlauf?“
„Ihre Vitalwerte und Mentalmuster – Letztere insbesondere, wenn wir von Jarvis reden – sind unauffällig. Alles scheint in Ordnung zu sein, wenngleich es ein sonderbares Phänomen zu beobachte gibt, seit sie aufgetaucht sind.“
„Wie sind sie überhaupt zurückgekommen? Ist Jarvis teleportiert?“
„Negativ. Obwohl die Materialisation einer Wiederverstofflichung nach einem Teleportersprung ähnelte.“
„Und was meintest du mit Phänomen?“
„Das solltest du dir besser selbst ansehen und dir ein eigenes Urteil bilden, bevor wir eingehender darüber sprechen.“
Einen Moment lang wollte Sarah aufbrausen. Dann gestand sie sich ein, dass der Vorschlag der KI unter Umständen durchaus weise sein mochte.
„Aktiviere bitte den nächstgelegenen Türtransmitter für mich.“
„Schon geschehen. Folge der grünen Markierung.“
Die grüne Markierung war eine grüne Illuminierung des Deckbodens, die sich plötzlich vor Sarah wie ein Teppichläufer bildete ... und nach jedem getanen Schritt hinter ihr wieder erlosch.
Kurz darauf erreichte die den von Sesha angekündigten Transmitter und trat durch das fluoreszierende Feld.
Sie schloss reflexartig die Augen, weil sie das Chaos der Wahrnehmungen während eines Durchgangs auf diese Weise zu mildern hoffte ...
... und machte den nächsten Schritt bereits an ihrem avisierten Ziel.
Wo sie jäh zurückprallte, weil sie mit einem Blick sah, was Sesha als Phänomen bezeichnet hatte.
Das Monster stand zwischen John Cloud und Jarvis’ Kunstkörper, als wollte es sie gerade mit den spitzen Enden seiner Fanggliedmaßen aufspießen.
––––––––
„JOHN!“
Sie begriff nicht, warum die anderen nicht einschritten – an vorderster Stelle Sesha. Sie hatte nicht nur den Kommandanten der RUBIKON, sondern jedes einzelnen Mitglied der Besatzung zu schützen, wenn ihm Gefahr drohte.
Und hier – ging es um Leben und Tod.
Eindringlingsalarm!
Offenbar waren John und Jarvis nicht allein zurückgekehrt, sondern mit einem Monstrum im Schlepptau!
„Vorsicht! Jarvis ...“
Ihre Warnrufe schienen von den Luftmolekülen der Zentrale absorbiert zu werden.
Keine Reaktion. Zumindest keine der Gefahr angemessene Reaktion.
Cloud wandte sich ihr zu und hob beschwichtigend die Hand.
Sesha sagte aus dem Off: „Du bist also auch betroffen von den Halluzinationen, Sarah Cuthbert.“
„Halluzinationen?“ Sarah überlegte, wo sie eine Waffe herbekommen konnte – schnell. Das Biest stand immer noch da. Es schien sich einen Spaß daraus zu machen, seine Opfer hinzuhalten.
Cloud löste sich aus der so ungleichen Dreiergruppe und kam Sarah entgegen.
Die riesige Fangschrecke folgte ihm nicht, verharrte bei Jarvis.
„Sesha ist überfordert“, sagte er statt einer Begrüßung. „Sie bezichtigt uns alle ...“ Er zeigte um sich, meinte jeden einzelnen Anwesenden in der Bordzentrale. „... zu halluzinieren. Und dich jetzt offenbar auch.“ Er lächelte grimmig. Sein Haar war zerzaust. Auch sonst waren ihm Strapazen anzusehen, über deren Natur Sarah nur spekulieren konnte. Zu lange hatte es keinen Kontakt mehr mit den beiden Kundschaftern gegeben, die sich in die CHARDHIN-Perle begeben hatten. „Was siehst du?“
Sie erwiderte frei heraus: „Ein Ungeheuer.“
Er nickte. „Genauer.“
„Sieht aus wie ... wie eine gottverdammte Gottesanbeterin. Nur tausendmal größer. Oder zumindest hundertmal ... Himmel, ist ja auch egal. Jedenfalls groß. Viel zu groß ... Wo habt ihr das Vieh aufgegabelt?“
„Beruhige dich erst einmal. Wir haben es von drüben mitgebracht ... genauer gesagt hat es uns mitgebracht. Ohne seine ... Kooperation, wären wir immer noch dort. Oder tot.“
„War es so schlimm?“
„Er war so schlimm.“ Cloud zeigte über die Schulter.
Dass er nicht Jarvis meinte, war klar.
Sarahs Blick schweifte durch die Zentrale, fand Algorian, fand Cy, fand Sahbu, den Vertrauten Prosper Mérimées. Kehrte dann zu Cloud zurück, der angespannter wie selten wirkte.
„Wer ist er?“ Mit keinem Gedanken kam ihr die Antwort in den Sinn, die Cloud ihr daraufhin präsentierte.
„Wir glauben ...“, sagte er langsam, als müsste sich jedes Wort, das er ihr erwiderte, erst langsam in seinem Gehirn formen und den Weg zur Zunge bahnen, „... dass er ein ERBAUER ist. Einer von denen, die das da draußen zu verantworten haben. Diesen ganzen verfluchten Perlenzauber ...“
„Ein ERBAUER“, hauchte Sarah.
Ihr Blick zuckte zurück zu der Gestalt, die so anachronistisch in der Bordzentrale wirkte wie nichts und niemand je zuvor. Zum ersten mal sah sie Unterschiede, die keine irdische Fangschrecke vorzuweisen hatte. Details, die das Grauen in ihr weiter schürten. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass die Prismen, die Regenbogeneffekte über die Hülle des Wesens streuten, eine hypnotische Kraft ausstrahlten. Und dass diese langsam auch in ihr zu greifen begann.
„Er ist ... feindselig, oder?“
Sie merkte kaum, wie die Worte über ihre Lippen kamen. Gebannt stand sie da, starrte immer nur auf das stumm und götzenhaft da stehende „Mitbringsel“.
„Wenn das Ovayran erleben könnte. Oder Fontarayn.“
„NIEDERE DIENER“, fräste sich etwas wie ein Tornado durch ihr Gehirn. „ES IST ZEIT ZU BEGINNEN. VERSAMMELT DIE MANNSCHAFT IN DER ZENTRALE DIESES SCHIFFES. ALLE.“
„Wozu?“, fragte Cloud, der sich der schillernden Erscheinung zuwandte. Die bloße Frage klang nicht danach, als fühle er sich noch wie der Kapitän dieses Schiffes.
„GEHORCHT EINFACH.“
Jarvis sagte in die Runde: „Macht keine Dummheiten, er versteht weiß Gott keinen Spaß.“
„Hat ‚er’ auch einen Namen?“, fragte Sarah, ihre Gefühle mühsam im Zaum haltend.
„Bestimmt“, antwortete Cloud, „er hat ihn uns nur noch nicht verraten.“
„Ich beginne jetzt mit Gegenmaßnahmen“, erklang Seshas Stimme.
„Gegenmaßnahmen?“, rief Cloud hastig. „Halte dich zurück. Er hat deutlich gemacht, dass er –“
„Alles wird gut“, fiel ihm die KI ins Wort. „Sobald das Gas wirkt, werden eure Halluzinationen wahrscheinlich enden. Ich habe ihm entsprechende Zusätze beigemischt. Sie müssten bei euch anschlagen. Selbst bei dem Pflanzenwesen.“
Sarah wechselte einen Blick mit Cloud ... und begriff. „Die KI ist nicht imstande, das Ungeheuer wahrzunehmen – ist es so? Sie denkt, ihr ... wir alle halluzinieren. Und jetzt ...“
„Versucht sie dagegen anzugehen. Indem sie uns schachmatt setzt. Damit erweist sie uns einen Bärendienst. Die Entität –“
„Du musst sie stoppen!“
„Wen? Die Entität? Das ist leider –“
„Ich meine Sesha! Wenn sie auf jemanden hört und sich von jemandem überzeugen lässt, dann bist du es!“
„Ich beginne jetzt mit dem Einleiten des Ga-“
Eine jähe Bewegung der Prismengestalt, und die Stimme der KI erstarb mitten im Wort.
Stille kehrte ein.
Lastende Stille.
„TUT JETZT, WAS ICH SAGTE. ES IST BEREITS SPÄTER ALS IHR DENKT.“
„Mein Kumpel wird das nie“, brummte Jarvis.
Auf seiner Anthrazithaut explodierte etwas und schleuderte ihn meterweit durch den Raum.
„ICH SAGTE, VERSAMMELT EUCH. RUFT ALLE AN BORD ZUSAMMEN. DIE MISSION MUSS BESPROCHEN, LETZTE VORBEREITUNGEN GETROFFEN WERDEN.“
„Mission?“, wiederholte Sarah.
Cloud zuckte die Schultern. „Schmink dir ab, dass ich mehr weiß als du. Dieses Ding ist ein Albtraum!“
„Aber die Gloriden sprachen stets in den höchsten Tönen –“
Cloud machte eine wegwerfende Geste. „Niedere Diener ... du hast selbst gehört, was die ERBAUER-Typen von ihnen halten. Gut, dass Fontarayn nicht mit durch die Portalschleuse ging. Ich glaube nicht, dass er das verkraften würde.“
„Verkraften wir es denn?“, fragte Sarah zaghaft.
Cloud straffte die Schultern. „Wir werden sehen“, sagte er, und plötzlich war er wieder der John Cloud, den Sarah kannte.
Und schätzte.
Der Kraftschub, den er in sich mobilisierte, half ihr selbst wieder besser auf die Beine.
„Irgendwie müssen wir es loswerden“, zischte sie ihm leise zu.
„Hüte deine Zunge!“, gab er ebenso leise zurück. „Es hat seine Ohren überall.“
„Wenn es wenigstens welche hätte“, erwiderte sie. „Ohren, meine ich.“
Gemeinsam mit Cloud und den anderen wartete sie das Eintreffen der Crewmitglieder ab.
Zu ihrem Erstaunen fand selbst Jiim den Weg vor die Augen des ERBAUERS. Ob freiwillig oder unter einem Zwang, den die Entität ausübte, blieb unklar. Sicher schien nur: Offenbar gab es nirgends auf der RUBIKON einen Ort, wo man der Autorität der Prismengestalt entgehen konnte.
Nicht einmal in der Nische, die Sesha mit Hilfe der Dimensatoren für den Nargen geschaffen hatte ...
Die Mission
––––––––
ES GING IHM NICHT GUT. Schon lange nicht mehr.
Natürlich gab er sich die Schuld an der Fehltransition, die die RUBIKON nicht nur über den Abgrund von zwei Millionen Lichtjahren zur Andromeda-Galaxie katapultiert hatte, sondern auch gut zweihundert Jahre weit durch die Zeit. In die Zukunft!
Natürlich nagte das in jeder Sekunde an ihm, auch wenn die Mannschaft – oder die Mitglieder seines Abnormitäten-Kabinetts – tausendfach beteuert hatten, dass ihm niemand eine persönliche Schuld zurechnete.
Es lag an ihm – aber lediglich an der Anomalie in ihm.
In seinem Kopf.
Das Ding, das er sich im irdischen Getto angelacht hatte. Irgendwann während seiner dortigen Verbannung. Und das seither Kapriolen schlug. Unberechenbar war.
Dass es eine Transition behindern und ihren Verlauf entarten lassen konnte, hatte er nicht geahnt. Niemand hatte das. Nicht einmal die Gloriden, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks an Bord befunden hatten – nur hinterher hatten sie sich als die letzten Schlauberger aufgeführt.
Prosper Mérimée war froh, dass keiner von ihnen mehr an Bord war, insbesondere Ovayran nicht, der sein Nervenkostüm schlicht und einfach überstrapaziert hatte mit seinen ständigen unangemeldeten Besuchen. Und mit seinem fast schon obszönen Wunsch, in Prospers Körper kriechen, ihn auf diese Weise „erkunden“ zu dürfen.
„War es nicht schön für dich?“, fragte die Lange Paula. Sie war ein wenig von ihm abgerückt, stützte jetzt den Kopf auf die Hand ihres angewinkelten Arms und musterte ihn eindringlich.
Sie hatte ein fast puppenhaft perfektes Gesicht; leider waren auch ihre Augen stets etwas leblos und strahlten nichts aus, was Prosper fasziniert hätte. Aber sie war zärtlich, und manchmal genügte schon eine gefestigte Freundschaft, gepaart mit gegenseitigem Respekt, um dort zu landen, wo sie gerade waren: in Paulas Kabine. Auf ihrem Bett.
Das Licht war leicht heruntergedimmt. An den Wänden wechselten sich stimmungsvolle Fraktalgemälde ab.
„Doch. Es war schön. Ich bin nur in Gedanken.“
„Genau das wollten wir doch ändern.“
Er sah sie an.
„Dass du unentwegt grübelst und dich selbst zerfleischst“, erklärte sie.
„Das tue ich gar nicht.“
„Das ist gelogen.“
„Vielleicht ein bisschen.“ Er lächelte. „Und dir? Hat es dir auch gefallen?“
„Ich mag dich. Sonst wären wir nicht hier.“
„Du bist eine sonderbare Frau, Paula.“
„Weil ich so lang bin? Immerhin zwei Meter dreiundfünfzig. Da kommt sich mancher Mann verdammt klein in meinem Windschatten vor.“ Sie lächelte, aber die Heiterkeit erreichte auch jetzt nicht ihre Augen.
„Nein, weil du in deinem Kern so anders bist als du dich nach außen hin präsentierst. Wer dich nicht so lange kennt wie ich, muss glauben, dass du völlig unnahbar bist. Zu keinerlei tieferen Gefühlsregung fähig. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall.“
„Danke. Das klingt gut.“
„Ja“, sagte er und setzte sich neben ihr auf, zog die Knie an und schlang die Arme darum, wie er es zuvor mit dem gertenschlanken Körper der Frau getan hatte. „Aber stimmt es auch? Ich meine: Bist du das wirklich, was du mir an anderen Seiten zeigst ... oder bist du am Ende doch authentischer, wenn du die Unnahbare mimst?“
„Ist das nicht völlig gleichgültig für die Momente, in denen wir so wie jetzt zusammen sind? Die Hauptsache, es gefällt uns beiden, so lange es dauert.“
„Du hast dich nicht mich verliebt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Du etwa in mich?“
Auch er verneinte.
„Dann ist doch alles bestens.“
„Vielleicht.“ Er legte den Kopf schief. „Genau das ist es ja, worüber ich gerade grüble. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gut tut, mit einer Frau das Bett zu teilen, ohne sie zu lieben.“
„Das fällt dir aber ziemlich früh ein.“
„Ich musste es ja erst tun, um zu wissen, wie ich damit umgehen kann.“
„Ist das deine Art, einer Frau zu sagen, dass sie sich verflüchtigen soll?“
„Nein!“
„Ginge auch nicht, denn das ist meine Kabine. Wenn, dann verdünnisierst du dich.“
„Ich habe dich verärgert. Das wollte ich nicht. Es war wirklich schön. Nur der Nachgeschmack ...“
„Besser, du sagst jetzt nichts mehr.“ Sie richtete sich auf und rutschte zur Kabinenwand.
In diesem Moment meldete Sesha aus einem verborgenen Lautsprechermodul: „Alle Besatzungsmitglieder werden aufgefordert, unverzüglich die Zentrale aufzusuchen. Auch die Zirkusleute, Gärtner und sonstigen Bewohner des Schiffes.“
„Zirkusleute!“, empörte sich Paula nach einem kurzen Moment des Schweigens, in dem sie die Nachricht verarbeitet hatte. „Hast du gehört, wie abfällig diese KI über uns spricht?“
„Sie meinte es sicher nicht böse.“
„So wie du gerade, ich weiß.“
„Paula ...“
„Lass es gut sein. Ziehen wir uns an. Unser Typ wird verlangt. Ich glaube nicht, dass es etwas Gutes zu bedeuten hat.“
„Vielleicht ist John endlich zurückgekehrt“, sagte Prosper.
„Ich sagte ja“, versetzte sie kühl, „ich glaube nicht, dass es etwas Gutes zu bedeuten hat.“
––––––––
ALS PROSPER DIE ZENTRALE betrat, war er auf vieles vorbereitet, aber nicht auf das Bild, das sich ihm dort bot.
Nicht auf die wie aus Kristall gegossene Fangschrecke, die er zunächst für eine Art Statue hielt, die irgendwie ihren Weg auf die RUBIKON gefunden hatte.
Dann aber drehte ihm die vermeintliche Skulptur den Kopf zu ...
... und ihm gefror schier das Blut in den Adern.
Er fühlte sich von Blicken seziert, die er nicht rückverfolgen konnte – weil alles an dem monströsen Gebilde Auge zu sein schien.
Neben ihm stöhnte Paula, wie sie es noch nie in seiner Gegenwart getan hatte, erst recht nicht beim zurückliegenden Beisammensein.
„Prosper, Paula ...“, empfing sie Jarvis’ Kunstorgan, und schon eilte ihnen der ehemalige GenTec entgegen, lenkte sie dorthin, wo sich bereits andere Ex-Bewohner des Gettos eingefunden hatten. „Wenn ihr erschrocken seid, verstehe ich das. Ich kann euch auch nicht wirklich eure Angst und eure Sorgen nehmen – weil ich selbst keine Vorstellung davon habe, was hier gespielt wird. Fakt ist: Wir haben das Ding dort von der Perle mit herübergebracht. Es scheint einer der ERBAUER zu sein, von denen uns die Gloriden berichteten ... Ihr wisst schon, die Jungs, die die CHARDHIN-Perlen erbaut und in die Pflegschaft von Fonti & Co. übergeben haben. Ehe sie selbst verschwanden. – Bis heute.“ Er ächzte, was bei ihm sonderbarer klang als bei jedem anderen. „Überrascht es euch, wenn ich sage, mir wäre es lieber gewesen, wenn sie verschwunden geblieben wären?“
„Nein“, sagte Prosper. Zu mehr war er nicht in der Lage.
Paula sagte gar nichts. Sie überragte selbst Jarvis bei weitem – nicht aber die Fangschrecke, die dort auf dem niedrigen Podest stand, auf dem auch die sieben Kommandositze des Schiffes angeordnet waren.
Und wo John Cloud stand.
Der Commander sah mitgenommen aus. Das auf der CHARDHIN-Perle Erlebte hatte seine Spuren hinterlassen.
Nicht so bei Jarvis, der äußerlich wie immer wirkte.
Äußerlich ...
„Wie war’s drüben?“, fragte Prosper.
Jarvis sagte: „Bis auf die Schrecke, hm, nein ... auch ohne die war’s eine verdammte Schinderei. Ein andermal mehr dazu. Ich fürchte, hier geht’s gleich los. Ich habe einen kurzen Datenabgleich gemacht: Alle Besatzungsmitglieder sind jetzt versammelt. Jiim und ihr beide wart die letzten, die noch fehlten. Damit wurde der Befehl der Schrecke in die Tat umgesetzt.“
„Der Befehl?“, raunte Paula.
„Egal, was geschieht, spielt hier nicht den Helden“, erwiderte Jarvis. „Das Ding ist noch mal ein anderes Kaliber, als Fonti oder Ovi es waren – und ihr wisst, wie wenig wir denen entgegensetzen konnten. Das müssen wir jetzt wohl aushalten, und vielleicht entpuppt sich unser liebenswerter Gast ja am Ende als nur halb so schlimm wie zunächst geglaubt.“
Was immer noch zu schlimm wäre, dachte Prosper, schwieg aber.
Sahbu kam zu ihm, legte ihm stumm die Hand auf die Schulter. Er wirkte fast so angespannt wie Cloud.
Und dann hatte das Warten ein Ende.
Das Geschöpf, von dem Jarvis gemeint hatte, es scheine ein ERBAUER zu sein, richtete seine schneidende Mentalstimme gegen alle Anwesenden und erklärte: „WIR STARTEN EINE MISSION VON EMINENTER WICHTIGKEIT. EINZELSCHICKSALE KÖNNEN NUR BEDINGT BERÜCKSICHTIGT WERDEN. DIESES SCHIFF WIRD VON MIR AUS DEM PERLENKONTINUUM HERAUSGESTEUERT UND IN DIE BRUTZELLE DES CHAOS VORSTOSSEN – IN DIE MILCHSTRASSE, WIE IHR ES NENNT. ZUVOR ABER SIND GEWISSE ANPASSUNGEN UND SCHUTZMASSNAHMEN ERFORDERLICH. EINER VON EUCH WIRD SICH DEM HÖHEREN ZWECK UNTERWERFEN. UND DIESER EINER BIST DU.“
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (ePUB)
- 9783738924367
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2018 (Dezember)
- Schlagworte
- raumschiff rubikon entartete zeit