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Raumschiff RUBIKON 2 Hinter dem Ereignishorizont

©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Unkontrolliert rast die RUBIKON auf das Super Black Hole im Zentrum der Milchstraße zu. Als das Ende unausweichlich scheint, befiehlt Commander Cloud die Evakuierung. Doch was wartet wirklich hinter dem Ereignishorizont des Schwarzen Lochs?

Wer ist Fontarayn, der die RUBIKON in seine Gewalt gebracht hat – und wer sind seine Jäger, die sein Schiff zerstörten? Welche Motive leiten ihn? Und – was wurde aus Jiim, dem geflügelten Freund der Menschen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Raumschiff RUBIKON 2 Hinter dem Ereignishorizont

Susan Schwartz

Unkontrolliert rast die RUBIKON auf das Super Black Hole im Zentrum der Milchstraße zu. Als das Ende unausweichlich scheint, befiehlt Commander Cloud die Evakuierung. Doch was wartet wirklich hinter dem Ereignishorizont des Schwarzen Lochs?

Wer ist Fontarayn, der die RUBIKON in seine Gewalt gebracht hat – und wer sind seine Jäger, die sein Schiff zerstörten? Welche Motive leiten ihn? Und – was wurde aus Jiim, dem geflügelten Freund der Menschen?




Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

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postmaster@alfredbekker.de

​Prolog



Meidet uns künftig. Meidet die Sonne, die ihr Sol nennt, und den Planeten, in dem ihr törichterweise immer noch eure Heimat seht. Kehrt nie mehr dorthin zurück. Von diesem Augenblick an seid ihr auf der Welt namens Erde nicht mehr willkommen – und werdet es nie mehr sein!


So hatten – sinngemäß – Darabims Abschiedworte gelautet, und so waren sie für immer und ewig gestrandet. Man schrieb das Jahr 2252, aber es war nicht ihr Jahr. Und sie waren aus jenem Sonnensystem verbannt, in dem sie geboren und aufgewachsen waren, für das sie gekämpft hatten – ihr Leben riskiert, und nicht nur einmal.

Das kann er nicht so einfach tun! , rebellierte eine Stimme in Cloud. Er ist ein Keelon, ein von den anorganischen Jay’nac gezüchtetes Geschöpf! Was maßt er sich an? Darabim ist nicht mehr der Master der Erde, auch wenn er das annehmen mag. Und Darnoks Bewusstsein ist in ihm, der unser Freund war, der sein Leben für uns gab. Zählt dies alles nichts? Begreift Darabim nicht, dass er nicht Herr, sondern höriger Diener ist?

Und was ist mit den Erinjij, die Geißel der Galaxis, wie man sagt? Sie waren einst Menschen, und viele von ihnen sind es immer noch! Aylea ist das beste Beispiel dafür! Behütet aufgewachsen in perfekter Idylle, hat sie den faulen Kern des Apfels entdeckt – und sofort versuchte man, sie loszuwerden. Ins Getto hat man sie gesteckt, zu all den anderen Unerwünschten, sie der schleichenden Strahlung und den Gefahren der Zeitanomalien ausgesetzt. Ein Ort, von dem nur die wissen, die ganz oben die Geschicke der Menschheit leiten.

Es gibt keine Gefängnisse mehr auf der Erde, keine Todesstrafen, man gibt sich hochmoralisch und sozial. Natürlich, wenn man heimlich einen Platz zum Abschieben hat! Da macht man sich nicht die Hände schmutzig, überlässt den Verurteilten einfach seinem Schicksal und sorgt dafür, dass er keinen Schaden mehr anrichten kann.

So muss es ja nicht kommen, heißt es. Jeder ist dafür verantwortlich, dass das soziale Gefüge nicht gefährdet wird, in diesem Paradies. Und dazu gehören vor allem unbequeme Fragen.

Brot und Spiele, panem et circenses.

Vermisste Cloud seine Heimat?

Natürlich. Aber jene Heimat, die er 2041 verlassen hatte, auf der Suche nach seinem Vater und den Hintergründen des Scheiterns der ersten Marsmission. Die Erinjij waren nicht mehr sein Volk, zumindest größtenteils nicht, wie er bitter einsehen musste.

Aber die Erde war noch da. Und damit auch diejenigen, die nicht teilhaben wollten an dem Eroberungsfeldzug der Erinjij in der Milchstraße.

Die Erde selbst ... war ein blühender Planet. Cloud gab es jedes Mal einen Stich im Herzen, wenn er hin und wieder eine Holoaufnahme betrachtete, wenn er einfach nicht anders konnte, als sich das anzutun und das zu sehen, was er für immer verloren hatte. Oder wenn Aylea von ihrem kurzen, damals noch glücklichen Leben berichtete.

Doch im Grunde hatte Darabim Recht. Was sollten Cloud und seine Freunde auf der Erde tun? Sie »befreien«? Selbst, wenn dieses Unmögliche gelungen wäre - wie hätte es danach weitergehen sollen? Die Folgen wären Anarchie und Chaos, der Zusammenbruch des pseudoparadiesischen Gefüges. Und dann? Von vorn anfangen, in Armut und Barbarei? Dafür würde ihnen wohl kaum jemand Dank entgegenbringen.

Dieser Aufgabe bist du ohnehin nicht gewachsen, Cloud , sagte eine andere, reifere Stimme in ihm. Nimm es hin. Akzeptiere es. Menschen haben schon Schlimmeres durchgemacht als Entwurzelung. Und ob ein paar Millionen Lichtjahre Entfernung oder nur ein Ozean, der auf demselben Planeten Menschen voneinander trennt – es spielt keine Rolle für das Gefühl der Einsamkeit und des Heimwehs. Du musst lernen, damit fertig zu werden. Du musst lernen, damit umzugehen. Sei ein Vorbild für deine Gefährten und die weiteren Gestrandeten, die man ebenfalls »hinausgeworfen« hat. Viele von ihnen sind nicht einmal vom Schicksal so begünstigt wie du: Denn du bist jung und gesund, du hast einen klaren Verstand – und eines der mächtigsten Raumschiffe, die je gebaut wurden. Die hochentwickelte KI – Sesha – akzeptiert dich als Kommandanten und gehorcht dir. Ihr metallischer Leib ist eine Welt für sich, es gibt schier unerschöpfliche Möglichkeiten, es hier für die Menschen erträglich zu machen. Du kannst weitere hydroponische Gärten anlegen, die Jelto pflegt, jeder kann sich seine Unterkunft so herrichten, wie er mag. Selbst Einsiedler haben hier eine gute Chance, den Rest ihres Lebens abgeschieden in einer Enklave zu verbringen, ohne dass sich jemand auch nur zufällig in die Nähe verirren muss.

Finde eine Aufgabe, Cloud, für dich und deine Leute. Gib ihnen ein Ziel, damit sie wissen, wofür sie weitermachen. Mit den gewaltigen Machtmitteln, die dir zur Verfügung stehen, kannst du eine Menge anstellen.

Es wird Zeit, erwachsen zu werden und über den Tellerrand zu blicken. Das Universum ist nun deine Heimat. Da gibt es eine Menge zu tun, hadere nicht länger mit dir selbst!


Cloud müsste über sich selbst lächeln. Ein Glück, dass niemand seine Gedanken las, wahrscheinlich hätte derjenige ihn für irre gehalten.

Algorian, der telepathisch begabte Aorii, hätte sich vielleicht in seinen Gedanken herumtreiben können. Aber erstens würde der Freund das nie tun, und zweitens hatte er derzeit andere Sorgen.

Scobee, Jarvis und Algorian waren nach ihrer Rückkehr von Saskana, jener Welt, die so gut versteckt lag, dass sie weder zu sehen noch mit Messgeräten erfassbar war, von Sesha in Quarantäne gesteckt worden.

Ihnen allen haftete ein auf Saskana allgegenwärtiger Staub an, der Algorians Psi-Kräfte und Jarvis’ Körper stark beeinträchtigt hatte – Letzteren sogar in einem Maße, dass ihn ein simpler Korallenbaum verletzen konnte. Was für sich genommen schon ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre – unter normalen Umständen. Denn Jarvis’ Bewusstsein bewohnte seit seinem Tod die ehemalige Rüstung eines Foronen, deren Nanostruktur sich von ihm beliebig formen ließ. Der ehemalige Klon brauchte nicht einmal mehr einen Stuhl, um sich darauf zu setzen, er musste die Myriaden Teilchen, aus denen er sich zusammensetzte, nur entsprechend seinen Vorstellungen anordnen ...

Im Allgemeinen modellierte Jarvis seine Hightech-Hülle so, dass sie entfernt an den ehemaligen GenTec erinnerte, der er einmal war. Er ahmte das Gesicht inzwischen recht gut nach und verstand sich auch auf Mimik. Wenn Jarvis sprach, bewegte sich sein Mund, und man hätte annehmen können, dass er über Stimmbänder und Lungen verfügte.

Wenn er jemals in der Lage wäre, den Nanokörper vollständig zu beherrschen, wäre er ein sehr mächtiges Wesen.

Aber nicht derzeit. Der Staub haftete an ihm und machte ihn »müde«, die beste Beschreibung für seinen Zustand. Jarvis bewegte sich nur noch sehr langsam, und die Wunde machte ihm zu schaffen. Obwohl er den Fremdkörper zusammen mit dem abgestorbenen Nanogewebe isoliert und abgestoßen hatte, schien noch immer etwas da zu sein, das die Zellumgebung angreifen wollte.

Die organischen Gefährten hatten zusätzlich zur Bestäubung ihrer Haut auch noch Staub in der Lunge, der allerdings außer Hustenreiz bisher nichts Schlimmeres bewirkt hatte.

Sesha war noch mit den Analysen beschäftigt – eine ungewöhnlich lange Dauer für eine so hochentwickelte KI.

Das konnte allerdings auch daran liegen, dass die RUBIKON gerade auf ein Super Black Hole zutrieb und selbst eine multifunktionelle Maschine damit überfordert war.


Ja , dachte Cloud. Dem Tode geweiht, das sind wir .

Ihr ursprüngliches Ziel war Saskana gewesen, Boreguirs Heimat. Cloud, Scobee und die anderen hatten es als selbstverständlich angesehen, dem gefallenen Krieger und Freund die letzte Ehre zu erweisen und seinen Leichnam nach Hause zu bringen.

Boreguir selbst hatte dies – bewusst oder zufällig – vorbereitet, denn er hatte ein Vermächtnis hinterlassen; eine Art Papyrus, auf dem der Sternenhimmel der Heimat des Saskanen abgebildet war. Zumindest hatte das der Satoga Artas vermutet, der den Papyrus auf der RUBIKON gefunden und Cloud zusammen mit den Koordinaten quasi als Abschiedsgeschenk übergeben hatte.

Doch erst einmal dort angekommen, war weder eine Sonne noch eine Welt zu finden gewesen. Saskana war unsichtbar – und doch vorhanden, wie Jarvis herausfand. Also war ein zweiter Trupp unter Scobees Kommando aufgebrochen, um Boreguirs sterbliche Überreste seinen Artgenossen zu übergeben.

Dies war nach einigen Fährnissen gelungen. Doch dabei hatten sie Jiim, den geflügelten Nargen, verloren. Er hatte sich sprichwörtlich in Luft aufgelöst! Nicht einmal sein Nabiss, seine leistungsfähige, fast schon mythische Schutzrüstung, hatte ihn davor bewahren können.

Doch als wäre das noch nicht genug, hatte Cloud derweil einen Notruf empfangen und einen Würfel an Bord geholt, der sich plötzlich zu einem Lebewesen umformte. Es hatte sich selbst als Fontarayn vorgestellt, sich im nächsten Moment aufgelöst , war durch die RUBIKON gesickert und hatte augenscheinlich die Kontrolle über Sesha übernommen. Denn kurz darauf steuerte das Schiff auf das Zentrum der Milchstraße zu, direkt zum dortigen riesigen Schwarzen Loch.

»Steigt in die Kapseln!«, lautete sein letzter Befehl an die Mannschaft.

Er selbst blieb in der Zentrale, schloss den Sarkophag-Sitz und versuchte, den Kontakt zu Sesha zu erhalten.

Doch dann fielen sämtliche Systeme aus.

Und das Schiff raste mit unglaublicher Geschwindigkeit seinem Untergang entgegen, die Besatzung an Bord eingeschlossen wie in einen Sarg …

1. Kapitel


Plötzlich sprangen die Systeme wieder an, als wäre nichts geschehen, und Cloud erhielt Kontakt zu Sesha.

Was ist passiert? , fragte er das Schiff. Der Sarkophag war geschlossen, er war – nicht zuletzt durch die Verbindung seiner Protopartikel – eins mit dem Schiff und kommunizierte mit der KI auf rein geistiger Ebene.

Nichts , antwortete Sesha.

Cloud hatte eine Weile an dieser idiotischen Antwort zu knabbern. War es wirklich noch die Sesha-KI, oder etwas anderes, das an ihre Stelle getreten war? Oder hatten ihre Programme bei dem kurzzeitigen totalen Ausfall Schaden genommen? Er entschloss sich, die Antwort zu ignorieren und fuhr fort: Wie lange noch bis zum Eintauchen in das Black Hole?

Einige wenige Minuten vielleicht , gab Sesha eine halbwegs vernünftige Auskunft. Dies ist selbst für mich eine unberechenbare Situation.

Sind die anderen in Sicherheit?

Präzisiere, bitte.

Cloud zählte innerlich bis Fünf. Mannschaft und Passagiere. Haben sie alle die Kapseln erreicht? Und hat jeder einen Platz darin gefunden?

Möglicherweise waren einige rechtzeitig dort.

Möglicherweise? Was bedeutete das nun wieder? Konnte Sesha das etwa nicht feststellen? Cloud aktivierte die Systemreparatur, erhielt allerdings keine Bestätigung, dass sie nach Schäden suchte. Ausgefallen? Er hatte keine Zeit, das zu überprüfen, denn Sesha meldete weiter: Doch das ist irrelevant.

Inwiefern?

Die Kapseln können nicht starten. Ich kann nichts tun.

Scobee soll –

Auch der manuelle Notstart funktioniert nicht, Cloud, und Scobee kann ohnehin die Quarantänestation nicht verlassen, weil ich die Schleusen nicht öffnen kann.

Der Kommandant ballte die Faust und biss sich auf die Zähne, bis sie knirschten und ihm die Wangenknochen schmerzten. Verdammt. Verdammt, verdammt, ver ... dammt . Sein Geist raste durch die riesige Ex-Arche, suchte nach den externen Schaltsystemen für die Kapseln – und prallte gegen eine goldene Mauer. Er rannte dagegen an. Wieder und wieder.

Es ist zwecklos, Commander . Seshas unbeirrbar sachliche, sanft-weibliche Stimme hallte in seinem Verstand nach, und er wünschte sich, irgendeine Materie vor sich zu haben, eine Sesha-Statue, auf die er einschlagen konnte, seine hilflose Wut abreagieren.

Ich sagte doch, ich kann nichts tun. Und ich habe normalerweise mehr Möglichkeiten als du, Commander. Denn ich bin das Schiff, du jedoch nur ein Teil davon .

Aber dieser Teil hat die Kontrolle . Cloud wollte nicht einfach so aufgeben.

Sesha verstand selbstverständlich nichts von diesen Emotionen. Ihr kalter logischer Verstand hatte die Situation analysiert und festgestellt, dass nichts mehr zu tun war, sobald sie die Kontrolle verloren hatte.

Der organisch-menschliche Kommandant jedoch suchte nach Hintertürchen, einem Ausweg. Er schleuste sich in unwichtigste Steuerungen ein, aktivierte sie, um von dort aus einen Zugang zur Hauptsteuerung zu finden und so über Umwege zu erreichen, dass die Rettungskapseln doch noch starten konnten und wenigstens einige seiner Begleiter überleben würden.

Und , dachte Cloud in einem Anfall trockenen Humors, Sarah Cuthbert und ihr Zirkus dürften inzwischen daran gewöhnt sein, im Container zu reisen .

Ein vergleichbares Behältnis, Darabims »Hinterlassenschaft«, war nämlich nach dem Abzug der Keelon zurückgeblieben. Es beherbergte die Ex-US-Präsidentin Sarah Cuthbert und ein gutes Dutzend deformierter Menschen, die dem Zirkusdirektor Prosper Mérimée als Attraktionen seiner Freak-Show gedient hatten. Eine seltsame Gruppe, die Cloud zusätzliche Verantwortung aufbürdete. Und das gerade in dieser Situation!

Den Sturz in das Super Black Hole im Zentrum der Milchstraße, noch dazu bei dieser Geschwindigkeit, würde mit Sicherheit keiner überstehen. »Bald werden wir wie Spaghetti in die Länge gezogen ...«, murmelte er.

»Das ist bei der außerordentlichen Größe dieses Schwarzen Lochs unwahrscheinlich«, widersprach Sesha. »Meinen Berechnungen zufolge werden wir verglühen, bevor es dazu kommt.«

»Haben wir überhaupt eine Chance, in das Loch einzutauchen und hindurchzufliegen … wie durch eine Wurmlochpassage?«

»Nein. Wir werden lange vorher zerstört, egal von welchem Winkel aus und mit welcher Geschwindigkeit wir es anfliegen.«

Cloud versuchte es intensiv weiter mit den Umwegen, um irgendwie an die Kontrolle zu gelangen – und diesen Wahnsinn doch noch zu stoppen.

Zugang verweigert ... Zugang verweigert ... Zugang verweigert ...

Cloud rannte gegen goldene Wände.

Fontarayn , dachte er. Er muss es sein, dieses merkwürdige androgyne Wesen, das ich aus Unvorsicht an Bord genommen habe. Wer sonst könnte die Kontrolle übernommen haben, zufällig just in dem Moment, als der Fremde an Bord gekommen ist? Eine seltsame Art, seine Dankbarkeit zu zeigen! Den nächsten Anhalter lasse ich einfach im All schmoren! , nahm er sich fest vor.

Grimmig und verbissen setzte er den Kampf fort.

Dann ... erlosch die Beleuchtung.

Ein zweites Mal.

In der Zentrale wurde es schlagartig stockfinster, die Holosäule erlosch. Nicht einmal mehr die Notlichter funktionierten noch, es gab keine einzige Systemanzeige.

Sesha?

Keine Antwort.

Natürlich nicht, es war genauso wie beim ersten Mal. Cloud versuchte es trotzdem. Immerhin hatte der erste Ausfall nur wenige Sekunden gedauert. Vielleicht würde es auch diesmal so sein.

Aus der Finsternis kam die Kälte. Cloud zog fröstelnd die Schultern zusammen. Seine Hände tasteten über die Handbedienungskonsolen an den Armlehnen. Doch auch hier funktionierte nichts mehr.

Jetzt ist es also endgültig so weit.

Wahrscheinlich hatte die ehemalige Foronen-Arche das Schwarze Loch gerade erreicht und stürzte hinein. Cloud kam es wie ein Stillstand vor, als verharrte in diesem Moment das ganze Universum und hielte den Atem an. Um zu überlegen, was mit diesem größenwahnsinnigen Floh geschehen sollte, der es wagte, sich einem Phänomen zu stellen, das ihm milliardenfach überlegen war.

Cloud konnte nicht feststellen, ob sie noch Fahrt hatten, ob sie schon im Übergang begriffen waren. Er saß allein in gefrorener Finsternis, ohne zu wissen, was mit den Gefährten geschehen war, ob sie noch lebten, ob sie sich aneinander kauerten und sich gegenseitig in ihren Ängsten trösteten.

Wir kommen allein zur Welt, und allein sterben wir , resümierte er. Aber so hatte ich es mir nicht vorgestellt. Zuerst werde ich eingefroren und dann geröstet. Da bleiben wahrscheinlich nicht einmal mehr Atomfragmente von mir übrig. Geschweige denn von den anderen, der RUBIKON … und wahrscheinlich auch diesem verrückten Goldenen.

Er unternahm keinen Versuch, den Sarkophag, der nun tatsächlich zum Sarg für ihn werden würde, zu verlassen. Er konnte sich unmöglich in dieser absoluten Finsternis orientieren, und die Kälte lähmte seine Glieder. Er spürte, wie seine Fingerspitzen steif wurden. Das Atmen wurde selbst durch den geschlossenen Mund zur Qual.

Hoffentlich müssen die anderen nicht leiden.

Die Kälte kroch seine Beine hoch, und Cloud fühlte erste Anzeichen von Müdigkeit. Nicht einschlafen , ermahnte er sich. Möglicherweise verpasst du doch noch etwas .

Seltsamerweise verspürte er keine Angst, lediglich Bedauern. Es konnte nur noch Sekunden dauern.


»John!«

Er blinzelte. Da, ein winziger Lichtpunkt in der Ferne. Der sich vergrößerte. Ein Schatten davor.

Die Gestalt kam näher. Ein Mann, zweifelsohne. Sehr vertraut.

»Vater?«

Der Fremde erreichte ihn. Lächelte. »Erkennst du dich selbst nicht wieder?«

John blickte genauer hin. Sah wirklich ein Bild von sich selbst ... aber viel, viel älter. Und mit einem grauen Bart. »Du ... bist ich?«, formulierte er mühsam. Seine Lippen waren trocken und rissig.

»Natürlich nicht«, antwortete der andere. »Ich bin nur eine Projektion deiner Gedanken.«

»Dann sterbe ich in diesem Moment?«

»Wie man’s nimmt.« Old John zuckte die Achseln. »Man kann es auch einen Übergang nennen. In deinem Oberstübchen ist gerade jede Menge los! Ist gar nicht so einfach für mich, mich hier zu halten. Immer wieder schweifst du ab ...«

Das stimmte. Das Abbild von Old John flackerte, wurde durchsichtig und dann wieder deutlicher, wie eine Bildstörung.

»He, Alter, aus dem Weg!« Ein Junge rempelte Old John zur Seite.

Cloud zuckte zusammen. »Wo kommst du denn auf einmal her?«

Der Junge grinste und tippte sich gegen die Schläfe. »Woher alles kommt, was denkst du denn?«

Cloud stöhnte. »Noch eine Projektion? Ich muss verrückt geworden sein!«

Der Junge sah genauso aus wie er, mit dreizehn Jahren. Er hatte sogar den Kratzer auf der Wange, den John bei einer Prügelei mit dem Klassenrüpel abbekommen hatte.

»Allerdings tickst du nicht gerade richtig, wenn du dich mit uns unterhältst«, meinte Young John. »Und uns auch noch siehst ...«

»Wir sind nur Stimmen in deinem Kopf«, bestätigte Old John. »All das, was dich selbst ausmacht. Es muss etwas passiert sein, dass es zu einer Trennung kam.«

»Ich kann mich nur an einen gewaltigen Lichtblitz erinnern, dann war ich hier«, erklärte Young John. »Aber das ist doch alles nicht wirklich, oder?« Er streckte die Hand aus.

»Autsch!«, stieß Cloud hervor und rieb sich die Stelle am Unterarm, in die Young John ihn gezwickt hatte. »Das gibt’s doch nicht.«

»Hey, das macht Spaß!«, freute sich Young John.

»Autsch!«, rief Old John gleich darauf. »Hör sofort auf, du Bengel, und zeige mehr Respekt vor dem Alter!«

»Theige mehr Rethpekt vor dem Altääär«, äffte Young John nach und zog eine Grimasse. »O Mann, wenn ich gewusst hätte, wie uncool du wirst -«

»Keiner von euch ist so wie ich!«, fuhr Cloud dazwischen. »Ihr seid nur verzerrte Abbilder! Verschwindet!«

»Das kannst nur du entscheiden, John-Boy«, grinste Old John. »Wenn du keinen Gedanken mehr an uns verschwendest, sind wir auch schon weg.«

»So einfach ist das nicht.« Cloud versuchte, sich zu erinnern. Worum ging es eigentlich? Es war so schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte das Gefühl, weit entfernt von sich selbst zu sein. Andererseits war er immer noch in sich drin , in seinem Körper ... das war keine prämortale Erfahrung, der Moment des Sterbens, wenn Geist oder Seele oder beides – wie man es nennen mochte – den Körper verließ und über sich schwebte, auf sich selbst hinabblickte.

»Bin ich noch am Leben?« Er hatte gespürt, wie er gezwickt wurde. Allerdings von einer Illusion, was beides völlig irreal war.

Er versuchte, seinen Puls zu fühlen, aber irgendwie bekam er sich selbst nicht zu fassen. Er konnte den Sarkophag spüren, in dem er halb lag, und die Armlehnen ... Aber sonst nichts.

Sarkophag? Das Schiff!

»Wo ... wo sind wir?«, flüsterte John in die Finsternis hinaus. »Ist es geschehen?«

Young John kratzte sich am Kopf und Old John hob die Schultern. »Wenn wir das wüssten, wären wir wahrscheinlich nicht hier«, sagte der Alte. »Vielleicht sollen wir dir helfen, genau das herauszubekommen.«

»Ja genau, lass uns abhauen, es ist total öde, hier herumzuhängen!«, schlug der Junge vor.

»Aber ich kann nicht gehen ...«

Bevor Cloud sich versah, hatten die beiden ihn unter den Achseln gepackt und in die Höhe gehievt. Young John stöhnte und schnaufte, er reichte Cloud gerade bis zu den Achseln. »Ist das ein Brocken! Mann, ich glaube, heut Abend ess ich keinen Hamburger ...«

»Aber wohin?«, fragte Cloud.

»Na, zum Licht, wohin sonst?«, antwortete Old John.

»Und dann bin ich tot?«

»Quatsch. Hast du je daran geglaubt, dass es so sein würde? Ich jedenfalls nicht«, plapperte Young John munter.

Cloud ging auf das Licht zu, gestützt von seinen beiden Ichs. Er spürte seine Beine nicht, aber den Boden unter den Füßen, und er wusste, dass er ging .

Das Licht kam tatsächlich näher.

Und entpuppte sich als Türrahmen, mit nach innen geöffneter Tür, und dahinter lag ... ein Ballsaal?


Cloud blinzelte im blendenden Licht, an sein Gehör drang ein Schwall von Geräuschen, die er erst nach einer Weile als Musik identifizierte. Es klang wie eine Mischung aus Kirmes, Oper und Zirkus.

Und so sah es auch aus. Der Boden des großen Saals war in einem schwarz-weißen Rautenmuster ausgelegt. Links und rechts an den Seiten führten breite, geschwungene Treppen auf die oberen Galerien. Von der Decke herab hingen mächtige Lüster, deren Kristall ein zauberisches Licht verströmte; kleine Äffchen kletterten darin herum. Auch Schaukeln waren angebracht, auf denen biegsame junge Frauen in Ballerina-Kleidung Kunststücke vorführten. Säulen, Stelen und Geländer waren mit Blumen, Papiersternen und Lametta dekoriert.

Es war ein Maskenball, und John sah viele Menschen, Männer und Frauen, in farbenfrohen Kostümen tanzen, flanieren, lachen, sich küssen ... Paradiesvögel, Löwen, Wölfe, Papagenos und Papagenas, Clowns, auch die Figuren der Commedia dell’Arte: Harlekin, Pantalone, Capitano, Columbine, Isabella. Dazu Stelzengänger, Possenreißer, Feuerschlucker, Zauberer.

»So viele schöne Frauen ...«, seufzte Old John hingerissen.

»Pffft, olle Schnepfen«, kommentierte Young John verächtlich. »Was willste denn mit denen anfangen? Guck mal, der Zauberer da, der hat gerade den Affen verschwinden lassen!«

»Es ist schlimmer, als ich dachte«, stellte Cloud verzweifelt fest. »Ein Albtraum ...«

»Gefällt es dir hier nicht, Süßer?« Eine Paradiesvogelfrau in der Nähe hatte seine Worte gehört und kam näher. Ihre behandschuhten Finger strichen unter seinem Kinn entlang, ihre rubinroten Lippen wölbten sich verführerisch.

»He, weg da, so geht das nicht!« Young John versetzte der maskierten Schönen einen derben Schubs.

»Mir gefällt es hier ausgezeichnet, geheimnisvolle Lady«, strahlte Old John. »Ich könnte mich schon zu einem Tänzchen überreden lassen ...«

»John!«, rief Cloud. »Warte!«

Doch Old John war bereits Arm in Arm mit der Frau in der sich wiegenden und drehenden Menge verschwunden.

»Vergiss doch den Alten, der bringt’s sowieso nicht mehr!«, griente Young John und zog ihn zur rechten Galerietreppe, wo sich gerade ein Kamel mit einem Zebra unterhielt.

Eine Polonaisetanzende Gruppe kam ihnen dazwischen, drängelte sich zwischen ihnen hindurch, trennte sie … und Young John verschwand ebenfalls.

Cloud blieb stehen und sah sich um. Sein Blick verschwamm, er konnte keine Einzelheiten mehr erfassen. Alles kreiste und tanzte vor seinen Augen in einer wilden, chaotischen Farborgie, wie ein Gemälde, das nass geworden war, dessen Farben nun verliefen, sich miteinander vermischten.

»Was ist das nur?«, flüsterte er, und zum ersten Mal verspürte er ein Gefühl der Furcht. Auch in seinem Kopf drehte sich alles. Er wollte sich die Augen reiben, aber nach wie vor konnte er seinen Körper nicht spüren. Er versuchte zu gehen, doch er wusste nicht, wie.

Denk an den Boden.

Cloud richtete den Blick auf den gemusterten Boden. Sah seine Füße auf einer schwarzen Raute stehen. Er dachte an die weiße Raute daneben ... und stand darauf. Schwarz ... weiß ... Es funktionierte! Er bewegte sich vorwärts, wenngleich er sich nicht erklären konnte, wie. Es war kein Gehen, aber auch kein örtliches Versetzen wie durch einen Transmitter ... zumindest sprachen die Empfindungen dagegen. Er heftete fortan einfach nur den Blick auf die nächste Raute und war dort .

Als er einmal den Blick hob, sah er, dass er tatsächlich der Galerietreppe näher kam. Er entdeckte keine Spur von Old oder Young John, aber er vermisste sie auch nicht. Es war sogar tröstlich zu wissen, dass sie Freude an etwas hatten, keine besorgten oder traurigen Gedanken mehr waren. (Oder was auch sonst.)

»Wo bin ich?«, fragte sich John laut. Niemand kümmerte sich um ihn, aber es schien auch niemanden zu stören, dass er vor sich hinmurmelte.

Die Maskierten waren damit beschäftigt, ausgelassen zu feiern. Sie tranken, tanzten, unterhielten sich, bewegten sich durch den Saal, auf den Treppen und in den Galerien, verschwanden in dunklen Nischen, applaudierten den Künstlern ... all das machte keinen gefährlichen Eindruck.

Dennoch empfand John nunmehr Angst , ein Zustand, den er so noch nicht erlebt hatte. Sein Verstand konnte nicht erfassen, was hier geschah. Er konnte sich selbst nicht fühlen. Und das Letzte, was ihn noch an sich erinnerte, war auf dem Ball verschwunden, um sich zu amüsieren. Zurück blieb nur eine furchtsame Hülle ohne Kraft und Willen.

Vielleicht sollte er sich auch einfach treiben lassen, dieses surreale Abbild der Wirklichkeit hinnehmen, denn es schien keinen Ausweg daraus zu geben. Die Tür, durch die er hereingekommen war, existierte nicht mehr. Lass dich gehen , riet ein Wispern in ihm. Nur ein einziges Mal – lass dich gehen. Vergiss die Kontrolle, versuch nicht, alles zu beherrschen. Es funktioniert nicht. Lass dich gehen und öffne dich dem, was du siehst, hörst und fühlst .

»Wessen Stimme ist das?«, flüsterte John. »Gibt es da noch mehr von mir?«

»Natürlich«, lachte etwas in seiner Nähe. (Er wandte den Blick, entdeckte aber keinen weiteren John. Aber vielleicht war dies hier »der Unsichtbare John«. Er sah ihn nicht, hörte ihn aber weiterlachen: »Da ist noch viel mehr. Du bist vielschichtig, so einfach kann man dich nicht ergründen.«

»Wo sind die anderen beiden?«, murmelte Cloud. »Ich brauche sie ... ich zersplittere immer mehr ...«

Ja, das erklärte seinen Zustand am besten. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich zu erinnern, bröckelte ein Stückchen mehr von ihm ab. Cloud zerfiel in seine Bestandteile. Und mit ihm zerfielen auch seine Erinnerungen, verteilten sich über diese unwirkliche Szene.

Es gab nur noch einzelne Gedankenfetzen, die einen schwachen Sinn ergaben, bevor auch sie sich verflüchtigten. Ein Streit mit den Eltern. Sein erster erkletterter Baum in Nachbars Garten, der Geschmack des gestohlenen Apfels in seinem Mund. Sein erster heimlicher Kuss mit der Favoritin eines anderen. Der Abschied seines Vaters zum ... Mars? Ein Wort, an das er sich erinnerte, dessen Bedeutung er aber nicht mehr kannte. Es hatte allerdings irgendetwas mit ihm zu tun.

Wann wird nichts mehr von mir übrig sein?, fragte er sich.

Erneut verschwamm die fröhliche Kulisse des Maskenballs vor seinen Augen. Die lachenden Menschen tanzten an ihm vorüber, doch ihre Gesichter zerflossen zu einem bunten Farbengemisch, vermengten sich immer mehr, bis seine Augen kaum mehr einzelne Strukturen unterscheiden konnten.

Dann war er allein.

Und er stand, nein schwebte, in der Finsternis. Es war keine dichte, drückende Finsternis, sondern eher luftig und leicht. Er konnte atmen. Er erinnerte sich daran, dass er auch früher schon geatmet hatte. Aber sehr viel mehr war von dem Menschen Cloud nicht übrig. Nur sein Name hallte in einem leeren dunklen Saal in seinem Verstand wider.

»Er hat Angst«, flüsterte eine Stimme in der Dunkelheit.

Hörte er sie? Mit den Ohren oder im Kopf? Oder empfing er die Buchstaben auf seiner Haut, sickerten sie ein, setzten sich in seinem Blut auf dem Aderntransport zu Worten zusammen, bis sie seinen Verstand erreichten?

»Woher weißt du das?« Eine zweite lautlose Stimme.

Die Antwort: »Ich habe es mit einer Erinnerung verglichen, dieses Gefühl beschrieb er als Angst.«

»Aber er muss keine Angst haben«, erklang eine dritte Stimme. Oder was auch immer. Cloud hatte keine anderen Worte dafür. (Er wunderte sich sogar, dass er überhaupt noch so viel begreifen konnte.)

Er sah Pünktchen in der Dunkelheit. Sie tanzten umher. Und sie waren farbig. Farben, die er in dieser Zusammensetzung noch nie gesehen hatte, für die es keine Bezeichnung gab, selbst wenn er sich hätte erinnern können. Doch sie waren wunderschön. Beruhigend. Freundlich.

»Wer seid ihr?«, wisperte er.

»Wir sind die, die wir sind«, sang eines der tanzenden Pünktchen. Ein bisschen Blau war in der Farbe.

»Wo ... lebt ihr?«

»Wir sind hier.«

»Ich ... verstehe nicht ...«

»Wir auch nicht.« Ein rosa Pünktchen flirrte auf und ab; Cloud fühlte ein fröhliches Lachen.

Das Blauchen näherte sich ihm. »Noch nie trafen wir einen wie dich. Du bist so anders ...«

»So wie ihr für mich«, gab Cloud zurück. »Wobei ich ... nichts mehr über mich erzählen kann. Ich habe mich ... irgendwie, irgendwo verloren ...«

Ein bunter Funkenregen explodierte vor seinen Augen. Sie umschwirrten ihn, berührten ihn, und er fühlte es. Es kitzelte. Wie ein sanfter Stromstoß. Er fühlte sich immer leichter werden, und seine Angst war plötzlich fort.

»Das waren wir«, summte Blauchen. »Wir wollten dich kennen lernen. Haben lange in dir geforscht. Viele, viele lange Erinnerungen in deinen ... Genen? Richtig, ja?«

»Ja ...«

»Seltsam. Faszinierend. Organisch. Träume. Sehnsüchte. Bewusstsein. Wahnsinn. Verstand. Logik. Gefühle. Fantasie ...«

Cloud wurde müde. Er konnte die Augen kaum mehr offen halten. »Irgendetwas geschieht mit mir ...«

»Bist bald da, Tschonklaut. Alles ist gut.«

Der bunte Reigen wurde langsamer, schien sich zu einer lautlosen Musik zu wiegen, tanzte in einem bestimmten Rhythmus vor ihm auf und ab.

»Ich hätte gern mehr über euch erfahren ...«, murmelte er schläfrig.

»Nächstes Mal«, trillerten sie im Chor. »Sei uns immer willkommen.«

»Werde ich ... mich ... erinnern ...?«, hauchte er mit letzter Kraft.

»Wenn du es willst, so wird es sein. Dein Wille, deine Entscheidung. Danke für deine Gedanken und Träume, Freund von dort draußen. Sie werden uns immer begleiten.«

Dann wurde es pechschwarz in Cloud, und er wusste gar nichts mehr, als wäre er vollends ausgelöscht worden.



2. Kapitel


»Willkommen hinter dem Horizont«, erscholl eine tiefe nichtmenschliche, aber weiche Stimme.

Cloud öffnete die Augen und richtete sich auf.

Noch bevor er richtig begriff, tastete er sich ab, fühlte seinen Körper, war wieder er selbst. Alle Splitter zusammengefügt ...

( Alle? )

Aber jetzt war keine Zeit dafür, existenzielle Fragen zu stellen.

Er blickte sich um. Alles schien normal zu sein. Es war hell, die Temperatur angenehm, die Systeme arbeiteten offensichtlich zufriedenstellend. Lediglich die Holosäule hatte sich noch nicht wieder aufgebaut.

»Sesha«, sagte Cloud. »Statusbericht!«

»Alle Systeme arbeiten normal«, kam umgehend die Antwort der KI. »Wir befinden uns nicht mehr in akuter Gefahr. Auch keine Verfolger sind mehr zu orten. Mannschaft und Passagiere haben den Transport ohne Schaden überstanden, sie befinden sich alle in ihren Quartieren, wo sie sich noch erholen.«

»Meine Lebensfunktionen?«

»Deine Vitalwerte sind ausgezeichnet. Ich kann keine negativen Veränderungen feststellen.«

Ich bin immer noch ich , dachte er. Und ... ich erinnere mich. Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Fontarayn zu, der ihn mit seiner Stimme zu sich gebracht hatte und seither geduldig wartete.

Fontarayn sah absolut menschlich aus, von wenigen Ausnahmen abgesehen: Er war sechsfingrig, besaß keine äußeren Geschlechtsmerkmale, und seine völlig haarlose Haut glänzte schwach golden. Die Augen hingegen schienen aus purem Gold zu bestehen. Wenn man sich eine menschenähnliche Gottheit vorstellen wollte, kam Fontarayn dieser Vorstellung recht nahe. Seine Gesichtszüge waren absolut ebenmäßig und markant, seine Mimik der menschlichen angepasst.

»Was zum Teufel ist passiert?«, wollte Cloud ungehalten wissen.

Der Goldene grinste. »Selbstverständlich hast du ein Anrecht auf eine Erklärung, Cloud. Schließlich stehe ich in deiner Schuld – du hast mich vor meinen Verfolgern gerettet, und ich werde diese Schuld noch vergrößern, da ich weiterhin deine Hilfe benötige. Jetzt haben wir auch Zeit zum Reden.«

»Dann leg mal los.« Cloud hatte den Sarkophag zurückgebildet, nur der Sitz selbst blieb erhalten. Er hatte Sesha mentale Befehle erteilt, die seine Gefährten betrafen – sie sollten alle gut versorgt werden und sich noch etwas erholen, bevor sie Erklärungen erhielten.

»Wie du sicher bereits vermutet hast, bin ich ein Energiewesen«, begann Fontarayn. »Ich kann nahezu jede beliebige materielle Gestalt annehmen, oder eben auch immaterielle, die es mir beispielsweise ermöglichen, mich mit dem Antrieb deines Schiffes zu verbinden – wie kürzlich geschehen.«

»Mit deiner Energie hast du die Leistungsfähigkeit um ein Vielfaches potenziert und die RUBIKON beinahe auseinander gerissen!«, knurrte Cloud.

»Das Schiff hat der Belastung standgehalten, John Cloud, darauf allein kommt es an. Ich habe sofort erkannt, welche unglaublichen Möglichkeiten es bietet.«

»Aber du selbst musst doch eine enorme Energie dabei verbraucht haben. Ich meine, diese neue Form von Sprit ... ist einfach unvorstellbar!«

»Die RUBIKON hat mir dabei geholfen, mein Energiepotenzial schnell wieder auszugleichen. Vergiss nicht, dass ein Teil von ihr in einer Hyperraumfalte verborgen liegt und von dort die Energie für eure Todeswaffe bezieht.«

Cloud rieb sich das Kinn; das gefiel ihm ganz und gar nicht. Fontarayn wusste über sehr viele Schiffsgeheimnisse Bescheid – zum Beispiel über die Dimensionswälle und die Kontinuumwaffe –, und er konnte offenbar jederzeit wieder die Kontrolle über die RUBIKON übernehmen. »Wir sind dir ausgeliefert«, brummte er, wütend und frustriert zugleich.

»Ich versichere dir, ich habe aus Zeitnot so gehandelt«, erwiderte der Goldene. »Wir mussten dem Schwarm entkommen ... und hierher gelangen. Ich hätte unter normalen Umständen nicht so gehandelt, glaube mir.«

»Über wie viel Macht verfügst du eigentlich?«

Fontarayn lächelte. Ein mildes gütiges, auch ein wenig müdes Lächeln. »Einen Teil habe ich dir bereits demonstriert.«

Klar. Als Energiewesen interessierten ihn energetische Sperrgitter herzlich wenig. Und wenn er irgendwohin wollte, sickerte er einfach mal eben in den Antrieb eines Schiffes ein und legte binnen Minuten eine Entfernung zurück, für die man sonst mindestens Tage gebraucht hätte.

»Ich musste natürlich den Schmiegschirm modifizieren«, fuhr das fremde Wesen fort, »damit das Schiff nicht zerstört wird. Es war ein sehr heikler Kraftakt, selbst für mich, das muss ich zugeben. Wir durften nicht zu langsam sein, der Anflugwinkel musste stimmen, die Modifizierungen ... all das benötigte leider alle Ressourcen des Schiffes, sodass ihr teilweise völlig im Dunkeln verharren musstet.«

»Es wurde auch ziemlich kalt«, fügte Cloud bissig hinzu, »und der Sauerstoff hier in der Zentrale muss weitgehend verbraucht worden sein, bei den Halluzinationen, die ich hatte.«

»Das tut mir wirklich Leid, aber ich hatte keine andere Wahl. Und ihr übrigens auch nicht. Jedenfalls hat dieses phänomenale Schiff es wirklich geschafft, was selbst ich für kaum vorstellbar hielt.«

»Ah!« Cloud verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Endlich kommen wir der Sache näher. Zum einen: Ich weiß nicht, ob ein Energiewesen wie du überhaupt Bedauern empfinden kann, oder ob das nicht nur eine weitere versuchte Anpassung an unsere Mentalität ist. Und zweitens: Der wievielte Ausflug dieser Art ist das für dich gewesen?«

Zum ersten Mal wirkte Fontarayn nicht mehr ganz so souverän und überlegen. »Der erste«, gab er unumwunden zu.

»Ich wusste es!« Cloud war nahe dran, seinem mächtigen Gast an die goldene Gurgel zu gehen. »Das ist doch ... total verrückt! Und wozu das Ganze?«

»Du wirst es erfahren, John Cloud, sehr bald. Doch willst du nicht zuerst wissen, wo wir jetzt sind?«

»Brennend, mein Freund. Als ich erwachte, sagtest du etwas Poetisches wie hinter dem Horizont

Fontarayn nickte. »Und das ist ganz genau so gemeint, keine Umschreibung.« Er machte eine ausholende Geste. »Wir haben das galaktische Zentrum nicht passiert, wenn du das annehmen solltest. Ich habe eure RUBIKON lediglich unter den Ereignishorizont des hiesigen Super Black Holes, wie ihr es nennt, dirigiert, um nach Jenseits zu kommen ...«

Cloud stutzte, sein Verstand zögerte, das Gehörte nachzuvollziehen, zu begreifen. »Wir sind nicht durch das Black Hole geflogen und auch nicht im Nichts ...«

»Nein, ganz und gar nicht, eher im Alles , mein Freund«, erklärte Fontarayn. »Eure Mathematik und Physik ist noch nicht so weit, diese IST-Ebene berechnen zu können. Damit könnt ihr sie auch nicht finden, sie existiert für euch nicht ... dennoch gibt es sie, sogar mathematisch nachweislich ... und physikalisch. Allerdings würden dir die Formeln nicht viel helfen, weil du, wie gesagt, diese n-dimensionale Mathematik nicht beherrschen kannst.«

»Für mein Verständnis: Kann ich das mit einer Hyperraumblase vergleichen? Einer Art Zwischenraum?«

»Eigentlich nicht. Ich wiederhole: Dies ist eine Ebene, die du mit deinem beschränkten Verstand – verzeih die Ausdrucksweise – nicht erfassen kannst. Aber da ich keinen besseren Vergleich habe, der deinem Verständnis angemessen ist ... stelle es dir so vor, wie ich es formulierte. Es erleichtert vielleicht dir die Akzeptanz, dass du jetzt hier bist.«

Cloud schüttelte den Kopf. Er verließ den Kommandositz und ging einige Schritte auf und ab. Es tat gut, wieder die Beine zu spüren, ihnen sagen zu können, wohin sie gehen sollten. »Es war eine fantastische Reise ...«, flüsterte er, und in seinen Augen lag ein seltsamer Glanz, als er Fontarayn wieder ansah. »Hinter dem Ereignishorizont des Super Black Holes ... das ist wirklich unvorstellbar. Sag mir, Fontarayn, bei dem Übergang hierher, da ... sind wir doch durch eine weitere n-dimensionale Ebene gekommen, quasi die Türschwelle, die sich von dieser hier unterscheidet – und auch von allem anderen, was es noch so gibt, nicht wahr?«

Fontarayn nickte. »Ja. Ja, Türschwelle ist ein guter Vergleich. Es dürfte nicht einmal eine Sekunde gedauert haben, sie zu >überschreiten<.«

»Aber doch lange genug ...«, murmelte Cloud. In seinem Verstand überschlug sich alles. Bilder, Gedankenfetzen, bunte Lichter, fernes Gelächter. Er sah sich selbst in zwei verschiedenen Versionen, eine jüngere und eine ältere Ausgabe. Erinnerte sich an den Maskenball ... und vieles mehr. »Und was gibt es dort?«

»Nichts.«

»Du meinst, du hast nichts bemerkt?«

»Ich meine, da existiert nichts.«

Clouds Stirn legte sich grübelnd in Falten. Entweder log Fontarayn, oder er wusste es wirklich nicht. Natürlich blieb auch die Möglichkeit der Halluzination, immerhin hatten sie die Grenze der Belastbarkeit überschritten und eine Reise unternommen, die den menschlichen Verstand überforderte. Aber Cloud hatte ein seltsam sicheres Gefühl, er wusste , dass er das alles nicht geträumt oder fantasiert hatte – sondern wirklich erlebt. Er entschloss sich in diesem Moment, nicht weiter darüber zu sprechen. Mit der Zeit wollte er herausfinden, wie die anderen den Übergang empfunden hatten, und seine Schlüsse ziehen.

Eines tröstete ihn jedoch: Fontarayn war keineswegs so mächtig, wie er sich darstellte. Gewiss, im Vergleich zu den Menschen verfügte er über unglaubliche Kräfte, und allein seine Existenzform – »intelligente Energie«! – war ein Wunder an sich. Aber er war keineswegs frei von Gefühlen und nicht allwissend.

Für einen Moment überlegte Cloud, Fontarayn zu provozieren, ihn direkt zu fragen, ob es nicht Dinge geben mochte, die auch er nicht wahrnehmen konnte. Andererseits ... wenn es diese »Türschwellengeschöpfe« wirklich gab, dann brachte er sie möglicherweise in Gefahr, indem er ihre Existenz preisgab. So wichtig Forscherdrang auch sein mochte, hier hatte Cloud das Gefühl, dass Schweigen angebrachter wäre. Diese Wesen hatten einen zerbrechlichen Eindruck auf ihn gemacht, verspielt, und ... zu freundlich, um wahr zu sein. Nach all dem, was hinter ihm lag, durfte er eine Konfrontation mit dieser Ebene nicht wagen. Wer weiß, wenn die Jay’nac davon erführen, und in die Lage gerieten, diese Passagezone für ihre Zwecke zu benutzen ...

»Sesha, Holosäule aktivieren«, befahl er laut.

»Tut mir Leid, das ist momentan nicht möglich«, antwortete die Schiffs-KI.

Cloud sah Fontarayn an. »Dein Werk, richtig?«

»Ich muss mich erst davon überzeugen, dass ihr den Übergang ohne Schaden überstanden habt«, erklärte der Goldene. »Ihr sollt euch langsam daran gewöhnen und anpassen können.«

»Warum? Ist es so schrecklich?«

»Nein, es ist ... auch so eins der Dinge, die ich nicht erklären kann. Es ist anders als das dir bekannte Universum. Euer Verstand ... muss angepasst werden. Verstehst du?«

Allmählich verlor Cloud die Geduld. »Hör zu, Fontarayn, zwischen uns kann kein Vertrauen herrschen, wenn du mir nicht das uneingeschränkte Kommando über mein Schiff zurückgibst und nur dann auf die Systeme einwirkst, wenn ich dir die Genehmigung dazu erteile! Ich hoffe, du verstehst, was ich damit sagen will!«

»Natürlich.« Fontarayn wirkte amüsiert, was Cloud erst recht in Rage brachte.

»Du könntest wieder auf uns angewiesen sein, und ...«

»Es ist gut, John Cloud! Verzeih, wenn ich herablassend auf dich wirke, das liegt nicht in meiner Absicht. Ich wollte dich schonen, aber wenn du unbedingt darauf bestehst, sollst du einen Einblick erhalten.«

Cloud sah, wie die Holosäule sich aufbaute.

Das nächste, woran er sich erinnerte, war er selbst, wie er sich schreiend auf dem Boden wälzte, zuckend und von Krämpfen geschüttelt. Seine eigene Stimme erschreckte ihn, er erkannte sie nicht wieder, hätte nie für möglich gehalten, solche Laute von sich geben zu können. Noch nicht einmal von einem Tier, oder einem seiner Begleiter hatte er je solch ein Gebrüll gehört.

Fontarayn kniete sich neben ihn nieder, hob seinen Oberkörper zu sich empor, bettete Clouds Kopf in einer Armbeuge. Er legte eine Hand auf seine Stirn, und der Commander spürte ein sacht klopfendes Pulsieren auf seiner Stirn, eine kühle sanfte Berührung, die sich wohltuend über seinen Körper ausbreitete.

Die Krämpfe ließen nach, sein rasender Pulsschlag beruhigte sich. Das chaotische Durcheinander in seinem Kopf glättete sich so weit, dass lediglich verwirrte Fragen übrig blieben, und ein Schatten des Schreckens, der ihn beinahe in den Wahnsinn gestürzt hatte.

»Verdammt«, ächzte er und richtete sich auf. Er fuhr sich über die feuchten Augen und sah erschrocken, dass seine Finger von der Flüssigkeit rot gefärbt waren. Aber nicht nur aus seinen Augen lief Blut, auch aus Nase und Ohren rann es hervor. Er holte ein Tuch aus der Seitentasche seiner Bordkombination und rieb sich über das Gesicht. »Hört das wieder auf?«

»Ich konnte nicht spüren, dass dein Körper dauerhaften Schaden genommen hat. Aber du solltest dich auf alle Fälle untersuchen lassen.«

»Das wird besser sein.«

»Es tut mir aufrichtig Leid«, sagte Fontarayn leise. »Ich wollte es dir wirklich ersparen.«

»Wie ... lange?« John stand auf und schwankte unsicher zu seinem Kommandosessel zurück. Die Holosäule war längst wieder erloschen.

»Vielleicht eine Tausendstelsekunde«, antwortete der Goldene. »Beinahe zu lange.«

Cloud nickte und fuhr sich mit zitternder Hand über die schweißnasse Stirn. Er hatte keine Schmerzen mehr, sein Körper schien in Ordnung zu sein. Dennoch hatte er immer noch das Gefühl zu brennen, zerfetzt zu werden – aufgespalten in Atome, die ziellos auseinander drifteten und durch etwas schwebten, das ... unbeschreiblich war. »Wenn man sich eine Vorstellung von der Hölle machen will ...«, flüsterte er. »Obwohl nicht einmal sie so schrecklich sein kann ...«

»So ist es nicht«, erwiderte Fontarayn. »es ist nur das, was dein Verstand aus den Informationen, die er erhält, macht. Weil es die Vorstellungskraft übersteigt, wie ich es dir sagte. Deswegen siehst du auch Schreckliches statt Schönem, weil dein Geist überfordert ist, er gerät in Panik, ja, erleidet einen Kollaps. Du musst dir vorstellen, dass die Synapsenverbindungen deiner Gehirnzellen in einem einzigartigen >Blitzlichtgewitter< erglühen. Auch die ungenutzten Teile deines Gehirns, einfach alles auf einmal. Das hat unweigerlich einen Zusammenbruch zur Folge. Aus diesem Grund wollte ich euch langsam an die Existenz dahinter heranführen, Stück für Stück.«

Cloud nickte. »Diese Lektion habe ich gelernt ...« Er verglich es mit der Höhenkrankheit: Sich ohne allmähliche Akklimatisierung in wenigen Minuten auf siebentausend Meter fliegen zu lassen, um die letzten tausend Höhenmeter in einem gemütlichen Spaziergang zu überwinden ... das war unmöglich. Bedingt durch den zu raschen Wechsel in die extrem dünne Atmosphäre und die Sauerstoffnot wurden Halluzinationen ausgelöst. Das Immunsystem des Körpers reagierte mit einem starken Fieberschub und mit Krämpfen. Wenn nicht sofort ein Abstieg eingeleitet wurde, führte diese hirnverbrannte Idee sogar zum qualvollen Tod. Die Pfade zum Gipfel des Mount Everest waren mit den Grabkreuzen solcher »Fast-Food«-Idioten gepflastert.

Etwas Ähnliches hatte Cloud gerade durchlitten, nur im Bruchteil einer Sekunde, und es hatte ihn fast das Leben gekostet. Wellen der Erinnerung schlugen immer noch auf und ab in seinem erschütterten Verstand, und er fürchtete, dass er noch lange Albträume haben würde.

Obwohl es nur noch Fetzen waren ... aber diese Geräusche ... und Schreie ... und Gebilde ... und Farben ... er hatte keine Worte dafür. Und er wollte auch niemals Worte dafür finden.

»Ich wünschte, ich könnte es vergessen«, murmelte er und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.

»Dabei kann ich dir leider nicht helfen, so gern ich es auch möchte«, sagte Fontarayn, und der Ton seiner Stimme klang wie Bedauern. »Aber es war deine Entscheidung. Ich hatte nicht das Recht, darüber zu bestimmen. Doch ich nahm mir die Freiheit, es nicht zu weit gehen zu lassen.«

»Ich sagte ja, ich habe die Lektion gelernt.« Cloud hob eine Hand. »Ich werde die Holosäule solange nicht aktivieren, bis du es für erträglich für uns hältst. Du hast mir zugleich aber bewiesen, dass du vertrauenswürdig bist. Es ist nicht notwendig, dass du weiterhin Kontrolle über das Schiff oder gar Sesha hast.«

»Ich stehe dir zur Verfügung, Kommandant«, sagte die Schiffs-KI anstelle des Goldenen.

Cloud richtete sich auf. Er musste sich jetzt zusammenreißen, sein Erlebnis verbannen, tief in sich vergraben, um es nie wieder hervorbrechen zu lassen.

»Wie lange wird der Anpassungsvorgang dauern, Fontarayn?«

»Einige Stunden, vielleicht einen Tag eurer Zeitrechnung.«

»Genug Zeit, um mich um die Mannschaft und die Passagiere zu kümmern. Kann uns plötzliche Gefahr drohen?«

»Im Augenblick sehr unwahrscheinlich. Ich werde Wache halten.«

Cloud nickte. »Haben wir ein bestimmtes Ziel?« Was für eine Frage. Natürlich hatten sie das. Aber er wollte es von Fontarayn hören.

»Ja. Mit deiner Erlaubnis würde ich dorthin steuern«, sagte Fontarayn. »Bis wir dort angekommen sind, werdet ihr wahrscheinlich auch ausreichend angepasst sein.«

»In Ordnung. Aber ohne das Schiff oder uns zu gefährden, es ist keine Eile geboten.« Cloud hob warnend eine Hand.

»So geschieht es.« Die Gestalt des Goldenen löste sich auf, sickerte in den Boden der RUBIKON ein und verschwand.

»Ich habe erneut die Kontrolle über den Antrieb verloren«, meldete Sesha wenige Sekunden später.

»Die anderen Systeme?«

»Keine Beeinträchtigung.«

»Gut. Falls nicht bereits geschehen, schließe die Analyse des Saskana-Staubes ab, damit meine Freunde wieder aus der Quarantäne können. Ich gehe inzwischen zur medizinischen Station, um mich ebenfalls scannen zu lassen.« Cloud verließ die Zentrale und machte sich zu Fuß auf den Weg. Einen der zahlreichen Transmitterdurchgänge wagte er in diesem Moment nicht zu benutzen.



3. Kapitel


Die Untersuchung ergab nichts. Es gab wohl einige Reste einer starken Beanspruchung innerhalb der Synapsen seines Gehirns, aber diese waren reversibel. Nach ein paar Tagen, versprach die Bord-KI nach Abschluss ihrer Diagnose, würde Cloud wieder »ganz der Alte« sein. Vorsichtshalber bekam er ein Aufbaupräparat gespritzt und Injektionspflaster mit Schlafmittel für die erste Zeit, damit es in der Schlafphase nicht zu unkontrollierten Flashbacks kam, die womöglich doch noch zu Schäden führten.

Dann, endlich, sah er Scobee wieder, wenn auch zunächst nur durch die transparente Scheibe der Quarantäne-Station. Jarvis und Algorian waren ebenfalls bei ihr. Sie wirkten alle drei verwirrt und misstrauisch, was kein Wunder war.

»Was ist nur passiert, John?«, fragte Scobee. »Wir konnten keinen Kontakt aufnehmen ... alles schien zu Ende zu sein ...«

»Das war es auch fast«, antwortete Cloud und erzählte dann in geraffter Form, was in der letzten Stunde passiert war. Eine Stunde, so lange wie ein ganzes Leben. »Ich bitte euch, alles zu notieren, was ihr während dieser Zeit Ungewöhnliches erlebt habt. Behaltet es aber bitte für euch, damit sich die Eindrücke nicht durch äußere Einflussnahme verändern. Gebt mir die Aufzeichnungen, damit ich sie miteinander vergleichen kann. Vielleicht finde ich dann heraus, was an dieser fantastischen Reise echt war, und was Halluzination oder Illusion.«

»Das werden wir«, versprachen die drei.

»Du bist leichenblass, John, und an deiner Wange hast du einen roten Fleck. Ist das ... Blut?«

Instinktiv zuckte seine Hand zu der Stelle hoch, auf die Scobee deutete. Seine Fingerspitzen rieben hektisch die Haut. »Möglich«, murmelte er.

Scobee trat nahe an die Scheibe heran. »Du hast nicht alles erzählt.« Ihre Stimme klang nur noch leise aus dem Lautsprecher. »Ich habe dich noch nie so gesehen. Du musst etwas Entsetzliches durchgemacht haben. Hat es mit diesem Fontarayn zu tun?«

»In gewisser Weise, aber er war nicht die Ursache«, antwortete Cloud.

»Willst du nicht darüber sprechen?«

»Nein!« Er erschrak selbst ob der Heftigkeit seiner Antwort, und Scobee wich unwillkürlich einen Schritt zurück, obwohl die Scheibe zwischen ihnen war. John hob in einer beschwichtigenden Geste die Hand. »Tut mir Leid, Scob, ich bin völlig übermüdet. Wenn ich nach den anderen geschaut habe, werde ich mich hinlegen und schlafen. Und ich werde die offizielle Order erteilen, dass ihr das auch alle tun sollt. Wir wissen nicht, was uns als Nächstes erwartet und ob Fontarayn damit Recht hat, dass wir uns dieser Dimension hier anpassen können. Wir alle brauchen Kräfte. Fontarayn hat ein bestimmtes Ziel vor Auge, und es wird noch eine Weile dauern, bis wir es erreichen. Zeit genug, um zu essen und zu ruhen.«

Er wünschte sich, es wäre keine Scheibe zwischen ihnen. In diesem Augenblick sehnte Cloud sich nach menschlicher Nähe und Wärme, er verzehrte sich danach wie noch nie. Nicht einmal als Kind hatte er sich jemals so schrecklich gefühlt. Er wollte Scobee in den Arm nehmen und an sich drücken, einfach nur halten, festhalten , ja, sich an sie klammern, um nicht mehr so einsam zu sein. Um zu wissen, dass da noch Leben war, warm und pulsierend, in einem gleichmäßigen Herzschlag.

Doch der Augenblick ging vorüber, und Cloud straffte seine Haltung. Als Kommandant trug er die Verantwortung und durfte sich nicht gehen lassen, keine Schwäche zeigen. Sie waren allein in einer fremden Dimension, in der sie möglicherweise nicht lange überleben konnten. Mannschaft und Passagiere brauchten jemanden, der Stärke demonstrierte und wenigstens den Anschein erweckte, zu wissen, was er tat. Wenn sie nicht mehr an ihn glauben, ihm vertrauen konnten, würden sie möglicherweise in Panik verfallen, und dann könnte ihr Verstand das Neue wahrscheinlich auch nach längerer Anpassung nicht ertragen – und dem Wahnsinn die Tür öffnen.

Gut, dass die Scheibe zwischen ihnen war, so ging der Moment der Schwäche vorüber, ohne dass Cloud etwas Törichtes getan hatte.

»Sesha, besteht noch Grund zur Quarantäne?«, fragte er die Schiffs-KI.

»Ich habe die Analysen soeben abgeschlossen«, tönte die Antwort der angenehmen, dennoch nichtmenschlichen Stimme aus dem Bordfunk. »Der Staub von Saskana ist ein organisches, nicht in Wechselwirkung tretendes Mineral, das auf höherdimensionaler Ebene schwingt. Diese hochfrequenten Schwingungen haben die Nanostruktur von Jarvis’ Körper teilweise aufgebrochen und durcheinandergewirbelt. Deshalb konnte er wohl auch verletzt werden. Ich vermute, dass der beschriebene Korallenwald komplett aus diesen Schwingquarzen besteht und im Lauf der Zeit durch Erosion und Erneuerung bei Wachstumsschüben den Staub absondert.«

»Verstehe. Wirkt sich der Staub irgendwie nachteilig auf organische Lebewesen wie Scobee und Algorian aus?«

»Nein, er wird auf natürlichem Wege über die Hautporen oder den Stoffwechsel wieder ausgeschieden, ohne sich abzulagern. Allerdings verursachen diese hochfrequenten Schwingungen auch Störungen der Parasinne.«

»Deshalb hatte ich also keine Psi-Kräfte mehr!«, hatte Algorian endlich eine Erklärung. Er besaß ein schwaches telepathisches Talent, das auf Saskana völlig taub war – eine sehr unangenehme Erfahrung für ihn. Inzwischen erholte er sich wieder.

Sesha fuhr fort: »Für Jarvis arbeite ich an einem speziellen Dekontaminierungsbad, das ihn von dem Staub befreien sollte. Die Nanostrukturen werden sich regenerieren, und es wird kein dauerhafter Schaden zurückbleiben.«

»Dann ist jetzt die beste Gelegenheit dafür.« Cloud nickte seinen Freunden zu. »Die Quarantäne ist aufgehoben. Scob, Algorian, ihr geht unverzüglich zu euren Quartieren und befolgt meinen Befehl. Jarvis, du unterziehst dich zuerst noch der Reinigungsprozedur. Dann wirst du dich gleich besser fühlen.«

»Darauf freue ich mich«, meinte der ehemalige GenTec mit einem leichten Lächeln des künstlich ausgebildeten Mundes.

Algorian hatte allerdings noch eine Frage. »Und was ist mit Jiim?«

Ein leiser Stich durchzuckte Cloud. »Für ihn können wir momentan nichts tun, Algorian, tut mir Leid.«

»Aber du glaubst doch nicht, dass er tot ist, oder?«, hakte der schlaksige Aorii nach.

»Die Möglichkeit besteht natürlich, weil wir nicht wissen, was mit ihm geschah, aber ... nein. Dafür bräuchte ich erst Beweise.«

»Dieser dunkle Schemen, der ihn im Flug vom Himmel pflückte , hat gedacht , John. Das habe ich gefühlt. Er lebt . Und ich glaube nicht, dass er Jiim mit dieser Handlung getötet hat. Unser Freund ist noch dort!«

»Und das werden wir auch nachprüfen. Wir haben aber vorerst keine Möglichkeit, ihn zu suchen. Erst, wenn das hier erledigt ist, werden wir nach Saskana zurückkehren und nach ihm suchen können.«

Scobee hob eine tätowierte Braue. »Das hört sich fast nach einem Auftrag an, den wir erhalten haben…«

»So könnte man es wohl auch ausdrücken. Fontarayn erwartet jedenfalls noch etwas von uns.«

»Das nenne ich mal eine originelle Art, seine Dankbarkeit für die Rettung zu zeigen.« Spöttisch verzog sie den Mund.

»Es hat keinen Sinn, darüber zu diskutieren, Scob. Wir sind jetzt hier, also ziehen wir das auch durch. Ich schätze, ohne Fontarayn kommen wir nicht mehr zurück. Also machen wir gute Miene zu einem bösen Spiel – das sich für uns aber vielleicht noch als positiv erweist. Und Jiim werden wir zu gegebener Zeit auch wiederfinden, da bin ich sicher.«


Als nächstes schaute Cloud bei Aylea und Jelto vorbei, die er beide in der Unterkunft des Mädchens fand. Sie waren völlig verstört und verängstigt.

»Wir haben geglaubt, ihr wärt alle tot!«, sagte der Florenhüter mit brüchiger Stimme.

»Und die Tür ging nicht mehr auf!« Aylea brach in Tränen aus, als sich ihre Anspannung löste. Sie klammerte sich an Cloud. »Ich bin so froh, dass du lebst! Wir haben gedacht, nie mehr raus zu können ... und dass keiner mehr da –«

»Schon gut.« Cloud schloss seine Arme um das Mädchen; eine ungewohnte Situation für ihn, aber so, wie er sich selbst vor einigen Augenblicken gefühlt hatte, war ihm klar, was Aylea brauchte. Und dadurch, dass er ihr Halt und Schutz gab, tröstete er zugleich sich selbst. »Es kommt wieder alles in Ordnung, du brauchst keine Angst mehr zu haben.«

Er wiederholte seinen Bericht und die Order zu essen und danach zu schlafen. Sobald sich etwas Neues ergab, würde er seine Crew in der Zentrale um sich versammeln.


Der Aurige Cy war nicht ansprechbar. Das Pflanzenwesen hatte sich in eine Art »Winterschlaf« zurückgezogen, zumindest wirkte es momentan nicht halb so frisch und im Saft stehend wie sonst. Algorian, der schon bei seinem besten Freund weilte, konnte Cloud aber beruhigen: »Ich kann fühlen, dass es ihm nicht schlecht geht. Er hat sich nur tief in sich zurückgezogen und ruht. Ich kann dir nicht sagen, wann er aus diesem Zustand wieder erwacht. Vielleicht spürt er noch irgendeine Bedrohung. Als Pflanze hat er ja ein ganz anderes Wahrnehmungsspektrum als wir.«

Blieben also noch Sarah Cuthbert und die Zirkusleute. Tatsächlich waren sie die einzigen gewesen, die zu dem Raum mit den Rettungskapseln gelangt waren. Allerdings hatte keine Möglichkeit bestanden, die Zugänge zu den Kapseln zu öffnen, und so hatten sie die Zeit der absoluten Finsternis aneinandergeschmiegt davor verbracht, zitternd in Dunkelheit und Kälte. Sie waren von ihrem letzten »Ausflug« immer noch völlig erschöpft, und dieser Schrecken hatte sie weitere Kraft gekostet.

»Sesha, diese Leute brauchen längere Zeit zur Erholung«, gab Cloud dem Schiff Bescheid. Ein Bereich neben den hydroponischen Gärten sollte in kürzester Zeit von dem Schiff in eine Wohnanlage umgewandelt werden, mit Kabinen, in denen die Menschen sich zum Schlafen hinlegen konnten, einem gemeinsamen Ess- und Aufenthaltsbereich und einem ungehinderten Zugang zu einem provisorischen Arboretum, das Jelto nach kurzer Rücksprache versprach auszubauen.

Cloud war klar, dass diese Menschen eine potenzielle Gefahr darstellten. Sie waren genau wie er heimatlos, aber völlig verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Für sie musste ein menschenwürdiges Ambiente geschaffen werden, damit sie zu einem Ausgleich fanden und in Ruhe darüber nachdenken konnten, was in Zukunft mit ihnen geschehen sollte. Wollten sie an Bord bleiben? Oder auf der weiteren Reise einen Planeten suchen, auf dem sie sich niederlassen konnten? Es gab einige Möglichkeiten – und ebenso viele Betätigungsfelder.

In der augenblicklichen extremen Situation aber musste Cloud sich voll und ganz auf Fontarayn konzentrieren und auf das, was der Goldene von ihnen erwartete. Er hatte bestimmt bald keine Zeit mehr, sich zusätzlich um die Belange der Passagiere zu kümmern, durfte sie aber auch nicht einfach beiseite schieben.

Ex-Präsidentin Sarah Cuthbert war eine erfahrene Politikerin, sie wusste offenbar, was in ihm vorging. Deshalb kam sie jetzt von sich aus auf Cloud zu und hielt eine kleine Rede.

»Wir waren nicht gerade das, was man Freunde nennt, John ... damals auf der Erde. Aber diese Vergangenheit sollten wir ruhen lassen. Ich wurde ebenso von dort verbannt wie Sie, ohne Aussicht, jemals zurückkehren zu dürfen. Ich habe weder Amt noch Würden, wie man so schön sagt, möchte aber meine Selbstachtung durch unvorbereitetes Handeln nicht vollends verlieren. Ich muss umdenken und mich anpassen. Deshalb bin ich mit allem einverstanden, was Sie mit uns vorhaben, und werde Ihnen zusichern, dass Sie von unserer Seite aus keine Schwierigkeiten zu befürchten haben, solange Sie unser in Sie gesetztes Vertrauen nicht missbrauchen. Glauben Sie mir, es ist nicht angenehm, so völlig abhängig von einem anderen zu sein, doch wir haben keine andere Wahl. Daher begeben wir uns also in Ihren Schutz und werden Ihnen nicht im Wege sein.

Zuerst müssen wir zu uns selbst finden, bevor wir daran gehen können, an die Zukunft zu denken. Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für das, was Sie bereits für uns getan haben – und für alles, was Sie noch für uns tun werden. Wir stehen tief in Ihrer Schuld.«

»Vielen Dank, Ma… – Sarah.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Auf einen Neubeginn.«

»Darauf schlage ich ein.« Die verbannte Präsidentin brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande. Von ihrem ehemaligen Glanz und ihrem herrischen Selbstbewusstsein war nichts mehr zu bemerken. Sie war dünn, blass und müde. Doch tief in ihren Augen glomm immer noch ein Funke Überlebenswillen, der sich bestimmt bald wieder entzünden würde.

Cloud bewunderte die Frau in diesem Moment. Auf ihre Weise war sie ihm ebenbürtig – zäh, voller Durchsetzungsvermögen, wenn es darauf ankam, und nicht bereit aufzugeben; aber nicht so töricht, gegen alle Vernunft zu handeln. Sie würde in Ruhe darauf warten, bis ihre Stunde wieder schlug.

»Ich habe Sesha Anweisung gegeben, alle Ihre Wünsche bezüglich der Einrichtung und Versorgung zu erfüllen«, fügte Cloud hinzu. »Es soll Ihnen an nichts mangeln, das Schiff bietet genügend Ressourcen. Jelto hat sicher schon einige Ideen und wird Sie nach besten Kräften unterstützen, damit Sie sich in diesen Wänden nicht gefangen fühlen.«

Das war nicht übertrieben. Schon während der Zeit der Foronen hatte es auf der Arche jede Menge verschiedener Umgebungen gegeben, Freizeiteinrichtungen, und vieles mehr. Sie war eine kleine Welt, die wenigstens den Anschein bieten konnte, dass man sich auf einem Planeten und unter freiem Himmel befand. Platz genug gab es jedenfalls für sie alle; selbst wenn sie sich sehr großzügig ausbreiteten, konnten sie bestenfalls ein Prozent des verfügbaren Platzes in Anspruch nehmen.

Cloud sagte: »Sie werden natürlich regelmäßig über den Stand der Dinge informiert. Im Augenblick weiß keiner von uns, was die Zukunft bringt, also lassen wir es einfach darauf ankommen. Ich sträube mich dagegen, mich als >Heimatlosen< zu bezeichnen; die RUBIKON ist jetzt meine Heimat, und ich glaube, was das betrifft, hätten wir es schlechter treffen können.«

»Da haben Sie allerdings Recht«, stimmte Sarah Cuthbert zu und drückte seine Hand noch einmal. Es war ein fester und warmer Händedruck, der Cloud nicht unangenehm war. Doch er schob diesen Gedanken beiseite.

Zufrieden holte er sich, nachdem er sich von den anderen getrennt hatte, etwas zu essen, duschte ausgiebig und ließ sich anschließend wieder im Sarkophagsitz der Zentrale nieder; dieser Platz war so gut wie jeder andere zum Schlafen. Außerdem würde er sofort vor Ort sein, sollte sich etwas Unerwartetes ereignen.

Er hatte kaum den Kopf zurückgelegt, als ihm schon die Augen zufielen und er in einen tiefen Schlummer fiel. Das Injektionspflaster mit dem Schlafmittel hatte er ganz vergessen.


Er ging einen Gang entlang. Ein schmaler, nur von dämmrigem Licht beleuchteter Gang. Es wurde von Lampen verstreut, die in regelmäßigen Abständen installiert waren, und erinnerte ein wenig an Gaslicht, war jedoch viel weißer und gleichzeitig diffuser. Der Gang war schmucklos, die Wände glatt. Wäre ihm jemand entgegengekommen, hätten sie sich jeder an eine Wand quetschen müssen, um aneinander vorbeizukommen.

Lange Zeit verlief dieser Gang nur geradeaus. Ohne Abzweigung, ohne Tür, ohne Biegung. Dennoch konnte er nicht weiter als zwei, drei Laternen vor sich sehen.

Was will ich hier?, fragte er sich.

Du bist auf der Suche, erhielt er zur Antwort. Es war eine Antwort aus dem Nichts. Eine Nicht-Antwort. Etwas, das er hörte - ohne zu hören. Absurd, unmöglich, und doch … wahr .

Wonach?, fuhr er fort.

Das weißt du doch genau, sagte das Nichts.

Nein, ich weiß es nicht.

Dann bist du auf dem richtigen Weg.

Aber ich will nicht hier sein ...

Du wärst sonst nicht hier.

Dieses Frage-Antwort-Spiel ergab keinen Sinn und führte zu nichts. War es wirklich das Nichts?

Nein, keine Fragen mehr.

Und doch war es schon da mit der Antwort: Das Nichts ist das Nichts, Narr. Keine Fragen, keine Antworten. Alles reduziert auf ein einziges Nichts. Nichts, das du erfassen könntest –

Wenn ich es wollte?

Diesmal ein Lachen, genauso lautlos wie alles andere, genauso wenig da , erfassbar und greifbar. Und trotzdem vorhanden.

Mumpitz, Dummkopf.


Der Gang bog scharf rechts ab, in einem exakten 45-Grad-Winkel. Ohne Sinn und Zweck, einfach so.

Er nahm die Biegung.

Da war ein Mädchen vor ihm, lief fast außerhalb des Lichtkreises der dritten Laterne vor ihm. Ein Mädchen, wusste er sofort, obwohl er nur eine kleine Gestalt sehen konnte. Doch sie hatte langes blondes Haar, das wie ein Schleier hinter ihr herwehte, obwohl sie eine rote Kapuze und ein rotes Mäntelchen trug.

Warte!, rief er.

Das Mädchen lief weiter.

Er fiel in schnellen Schritt, schließlich lief auch er. Schneller. Noch schneller.

Das Mädchen blieb immer vor ihm, mit exakt demselben Abstand.

Warum bleibst du nicht stehen? Warum wartest du nicht? Ich tue dir nichts, hab keine Angst!

Gelächter antwortete ihm, aber er wusste nicht, ob es zu dem Mädchen gehörte. Es lief voraus, und er hinterdrein.

Schließlich wurde er müde. Seine Lungen stachen, die Beine wurden schwer wie Blei. Die Augenlider fielen ihm zu.

Bitte , flüsterte er. Lass mich nicht allein.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924282
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Februar)
Schlagworte
raumschiff rubikon hinter ereignishorizont
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Titel: Raumschiff RUBIKON 2 Hinter dem Ereignishorizont