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Raumschiff RUBIKON 1 Boreguirs Vermächtnis

von Manfred Weinland (Autor:in) Peter Haberl (Autor:in)
©2018 240 Seiten

Zusammenfassung

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Raumschiff RUBIKON 1 Boreguirs Vermächtnis

Manfred Weinland und Peter Haberl

Am Morgen einer neuen Zeit.

Der Krieg zwischen den organischen und anorganischen raumfahrenden Völkern konnte im letzten Moment abgewendet werden. Die Menschen jedoch sind nach wie vor fremdbestimmt und als die Erinjij gefürchtet, die sich in ihren Expansionsbestrebungen von nichts und niemandem aufhalten lassen.

Abseits aller schwelenden Konflikte kommt es im Zentrum der Milchstraße zu einer von niemand vorhergesehenen, folgenschweren Begegnung.

Eine unbekannte Macht hat sich dort etabliert. Schnell zeichnet sich ab, dass es sich um keinen "normalen" Gegner handelt. Die Bedrohung richtet sich nicht nur gegen die heimatliche Galaxie, sondern könnte das Ende allen Lebens bedeuten.

Die Geschichte des Kosmos, so scheint es, muss neu geschrieben werden …







Copyright


Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfredbooks und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Nach Motiven von Pixabay, Adelind, Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de



Prolog

Spätherbst 2252 (Erdstandard)

im Orion-Arm der Milchstraße


»Du erinnerst dich an den Aufenthalt der RUBIKON innerhalb der EXPANSION EINS?«, fragte Artas, während ihn Sonnen und Pulsare, Gasnebel und Galaxien durchströmten.

»Wie könnte ich das jemals vergessen?«, erwiderte John Cloud, dessen Protopartikel mit der künstlichen Intelligenz des Raumschiffs, mit Sesha, kommunizierten und interagierten.

»Nun«, in den fremdartigen Augen des Satoga blitzte es auf, »vielleicht, weil Vergesslichkeit ein gern genommener Makel bei euch Menschen ist?«

Cloud wusste nicht, worauf der Freund anspielte. Er hatte das Gefühl, den Kosmos zu atmen, der die Zentrale der RUBIKON flutete, seit Artas’ Wunsch entsprochen worden war, die Holosäule über den gesamten Raum auszudehnen. Seither schienen sie mitten im rauen, lebensfeindlichen All zu stehen.

»Ich gebe zu, manchmal kann Vergessen auch etwas überaus Positives sein«, fuhr der Satoga fort, dessen Äußeres an eine aufrecht gehende Echse von humanoider Grundform erinnerte. Es war ihre erste Zusammenkunft nach Tagen. Tagen voller Anspannung, in denen die Verständigung mit den Jay’nac doch wieder zu scheitern drohte, letztlich aber doch gelang. Auf Bewährung , wie Artas es ausgedrückt hatte. »Man sollte es nur selbst beeinflussen können – nicht beeinflusst werden.«

Seine Worte lenkten Clouds Gedanken unwillkürlich zu einem Toten. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich kann dir zustimmen. Aber das sind Allgemeinplätze. Wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass du nichts einfach nur dahinsagst. Also?«

»Unsere Mentoren entdeckten einen Fremdkörper an Bord eures Schiffes. Eine Art ... Versteck.«

»Hat es mit ... Boreguir zu tun?«, fragte Cloud nun offen. Artas kannte den Saskanen flüchtig, war ihm im Virghstock begegnet und dabei gewesen, als der Gammablitz den Krieger umgebracht hatte.

»Die Verbindung ist unstrittig.«

»Kannst du mir die Stelle zeigen?«

»Das wird nicht nötig sein. Sie existiert nicht mehr. Die Mentoren ...«

Die, von denen Artas sprach, waren für Cloud nach wie vor etwas Abstraktes, nicht wirklich Vorstellbares.

»... haben sich darum gekümmert.«

»Inwiefern?« Der RUBIKON-Kommandant fühlte einen Verdacht in sich aufkeimen; ein Verdacht, der ihm, ganz gleich, aus welchem Blickwinkel er ihn auch beleuchtete, nicht gefallen wollte. Gleichzeitig mischte sich noch eine andere Stimme in seine Gedanken ein, die fragte, welchen Status er eigentlich sonst noch hatte, außer dass er Kommandant war. Wem durfte, wem konnte er sich zugehörig ... oder gar verantwortlich ... fühlen in dieser Zeit? Er erkannte, dass dies herauszufinden eine der Herausforderungen der nächsten Zukunft sein würde.

»Wir haben Helfer zu besagter Stelle entsendet und sie aus der Verborgenheit geholt.«

»Helfer?«

Artas ging nicht darauf ein.

»Und Sesha hat das zugelassen?«, wunderte ... nein, ärgerte sich Cloud.

»Eure KI hatte keine Wahl.«

Auch diese Behauptung ließ Artas im Detail unausgeführt. Cloud war jedoch überzeugt, dass er die Einzelheiten erfahren würde, wenn er darauf drängte. Inzwischen war das Vertrauen in Artas, in die Satoga allgemein, wieder stark angewachsen, und so konnte er sich leichten Herzens mit der von Artas praktizierten »Grobschilderung« abfinden.

»Ich wusste nicht, dass Boreguir ein festes Versteck innerhalb der RUBIKON hatte – oder überhaupt, dass er Orte so präparieren konnte, dass sie sich dauerhaft der Entdeckung entzogen, selbst durch die Internerfassung unserer KI.«

»Es handelt sich nicht um einen Ort.«

»Aber du sagest doch gerade –«

»Es handelt sich um ein Ding . Einen Gegenstand.«

Ein Ding – auch das war Cloud neu. Dass der Saskane Objekte der Wahrnehmung anderer auch hatte entziehen können, ohne sich permanent darauf zu konzentrieren. Was er nach seinem Tod definitiv nicht mehr hätte leisten können, und Boreguir war zum Zeitpunkt des RUBIKON-Aufenthalts in der Tiefen Kammer bereits umgekommen gewesen . Hatte er demnach also auch die Möglichkeit besessen, Gegenstände so zu markieren, dass sie dauerhaft unauffindbar blieben ... zumindest für alle, die nicht über die Möglichkeiten der Satoga verfügten?

Cloud blickte Artas an, wartete auf den Fortgang der Erklärung. Der Freund war erst vor wenigen Minuten an Bord der RUBIKON gekommen, um sich persönlich zu verabschieden. Dann hatte er Cloud unvermittelt um ein Vieraugengespräch gebeten, und sie waren in dessen private Unterkunft gegangen, wo sie seither miteinander sprachen.

»Um dies hier«, sagte Artas und zog etwas aus seinem togaähnlichen Gewand hervor.

Es war zusammengerollt und ähnelte entfernt einem antiken Papyrus. Zusammengehalten wurde es von einem Ring aus kunstvoll verziertem Metall, der auch ein Armreif für eine Frau hätte sein können.

Der Anblick erinnerte Cloud daran, wie wenig sie über Boreguirs Herkunft und Vergangenheit wussten. Hatte er eine Gefährtin auf Saskana besessen?

»Darf ich?«, fragte Cloud und streckte die Hand aus.

»Deshalb zeige ich es dir.« Artas reichte ihm die Rolle.

Cloud wog sie sekundenlang in beiden Händen. Sie war schwerer als vermutet, aber wahrscheinlich lag dies an der sie zusammenhaltenden Klammer aus Metall. Er streifte sie vorsichtig ab ... und staunte, weil der Ring leicht und der Papyrus schwer war.

Er schob den Reif zwischen Mittel- und Ringfinger und rollte dann den Bogen auseinander.

Er erwartete Zeichen saskanischer Schrift, aber alles, was er fand, waren eingestochene Löcher, die ein wirres Muster bildeten. Der Papyrus – oder was immer es war – wies Dutzende, Hunderte dieser Einstiche auf.

Cloud blickte ratlos davon auf ...

... und sah, dass Artas zwischenzeitlich einen zweiten Gegenstand aus seinem Gewand gezogen hatte, den er ihm jetzt entgegen hielt.

»Was ist das?«

Clouds Frage galt sowohl dem Papyrus, als auch dem, was der Satoga ihm zusätzlich offerierte.

»Das hier ...« Artas legte ihm den winzigen Würfel, der entfernte Ähnlichkeit mit der Black Box, seinem früheren Geschenk, hatte, in die hohle Hand. »... ist ein Speichermedium, das mit eurer Technik kompatibel ist. Eure KI kann den Inhalt problemlos auslesen.«

»Was ist der Inhalt?«

»Die Auswertung dieses Fundes. Es ist eine Karte.«

»Eine Karte? Das hier?« Cloud wedelte ungläubig mit dem Papyrus, der sich wieder zusammengerollt hatte. Seine Skepsis wuchs. Er fragte sich, ob das eine Art von Scherz sein sollte, steckte den kleinen Würfel mit einem knappen Zentimeter Kantenlänge aber in seine Gürteltasche. Anschließend breitete er die Karte , wie Artas es nannte, erneut aus.

Keines der Einstichlöcher war besonders hervorgehoben.

»Wenn das eine Karte wäre, was würde sie zeigen?«

»Sterne«, sagte Artas und trat neben ihn, um die Punkte mit ihm zu betrachten. »Sterne, wie sie sich dem Betrachter nur von einer einzigen Position eurer Milchstraße aus darstellen.«

Plötzlich dämmerte ihm, worauf Artas hinauswollte. »Du denkst ...?«

»Es ist die wahrscheinlichste Erklärung, warum euer Gefährte so viel Aufwand betrieb, um sie vor fremdem Zugriff zu schützen.«

»Das hieße, er hätte die Markierungen aus seinem Gedächtnis zu Papier gebracht.«

»Auch ich hätte keine Probleme, die Sternbilder wiederzugeben, die sich dem Betrachter von meiner Heimatwelt aus darstellen.«

Cloud räumte ein, dass ihm das von den augenfälligsten Konstellationen wahrscheinlich auch möglich gewesen wäre. »Okay, das lasse ich gelten. Aber was die ‚Auswertung des Fundes’ angeht: Was genau meinst du damit? Du willst nicht ernsthaft behaupten, dass ihr diesen Wust an Markierungen einer real existierenden galaktischen Position zuordnen konntet.«

»Das ist genau das, was ich behaupte. Wir haben die Milchstraße gescannt und jeden einzelnen Stern, jeden einzelnen Planetenkörper katalogisiert – unseren Rechnern war es danach ein Leichtes, sämtliche Simulationen durchzuspielen, die nötig waren, um die eine Koordinate herauszufiltern, von der aus dieses Firmament nachts sichtbar ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich dabei um Boreguirs Heimatsystem.«

Boreguirs Heimat.

Cloud hatte immer noch Schwierigkeiten, das Gehörte als Realität hinzunehmen. »Wir reden von Milliarden Sternen ... und Abermilliarden hypothetischen Welten, die sie umlaufen ...«

»Du darfst es gerne weiterhin bezweifeln, wenn du dich dadurch besser fühlst«, entgegnete Artas in unverändert freundlichem, ja wohlwollendem Ton. »Fakt ist jedoch: Du hast die von uns ermittelte Position hiermit erhalten. Was du – und ob du etwas – daraus machst, bleibt nun ganz allein dir überlassen.«


*


Ganz allein mir überlassen ..., echote es in Cloud, nachdem Artas schon längst gegangen war.

Gegangen.

Die Verabschiedung war von beiden Seiten mit großer Beherrschung über die Bühne gebracht worden. Und ein Geschenk war zurückgefordert worden.

Der Würfel. Jenes absonderliche Spionagegerät der Satoga, mit dem sie über Lichtjahre hinweg alles an Bord der RUBIKON hatten einsehen können, selbst geheimste Daten in hochgesicherten Speicherbänken ...

»Es würde euch doch immer nur an Zeiten erinnern, da wir euch hintergangen haben ... hintergehen mussten ...«, waren Artas’ erklärende Worte dazu gewesen.

Und Cloud hatte erwidert: »Immerhin wäre es eine Möglichkeit gewesen, wieder einmal mit euch in Kontakt zu treten – oder ihr mit uns.«

Artas hatte eine Hand auf Clouds Schulter gelegt (eine Geste, die er sich bei den Menschen abgeschaut und offenbar wert befunden hatte, sie zu adaptieren) und gesagt: »Es wird ein Wiedersehen geben, irgendwann. Wenn wir es beide wollen. Daran glaube ich ganz fest.«

»Das hieße, wir müssten mal eben nach Andromeda jetten ... mit unserem primitiven kleinen Schiffchen ...« Cloud hatte sich ein Grinsen nicht verkneifen können und auch nicht die Anspielung auf die sehr viel fortschrittlichere Satoga-Technologie.

»Du weißt, dass das nicht wahr ist – primitiv ist anders. Euer Schiffchen, wie du es nennst, beherbergt noch einige Überraschungen, und wenn ihr seine wahren Möglichkeiten erst einmal durchschaut habt ...«

»Du meinst, es gibt Möglichkeiten, die wir noch gar nicht kennen? Du machst Spaß, oder? Just zu einem Moment, da ich mir einbilde, die RUBIKON endlich lückenlos zu beherrschen –«

»Ich werde zu diesem Thema nicht mehr sagen.«

»Warum nicht? Du machst hier Andeutungen, und dann –«

Artas ließ sich nicht mehr auf das Thema ein. Danach wirkte er eigentümlich abweisend und fast so unnahbar wie damals bei ihrer ersten Begegnung.

Im Grunde fühlte sich Cloud erleichtert, als der Erste Expanser der Satoga schließlich auf sein eigenes Schiff, die EXPANSION EINS übergewechselt war.

Zusammen mit den anderen Besatzungsmitgliedern verfolgte er dann in der Bordzentrale den Aufbruch der gigantischen Satoga-Flotte, die von den Erinjij- und Jay’nac-Verbänden vor Beilegung des Konflikts zwar dezimiert worden war, aber immer noch weit über 90.000 Einheiten unterschiedlicher Größe umfasste.

Herz der Flotte waren die gigantischen Ellipsen – die Saatschiffe, wie Artas sie bezeichnet hatte. Auf ihnen lagerte unter der Obhut der kristallenen Mentoren eine gigantische Zahl von Eiern, aus denen der Satoga-Nachwuchs schlüpfen würde ... sobald die aus dem Sculptor-System stammende Armada den Andromedanebel erreicht und geeignete Brutwelten ausfindig gemacht hatte.

Der Gedanke an die Ausbreitung der Satoga über Andromeda beunruhigte Cloud, seit er von Artas’ Plänen erfahren hatte. Es war nicht auszuschließen, dass die fruchtbaren Satoga dort in der anderen Galaxie auf neue Gegner, neue Feindschaften stoßen würden – vielleicht nur, weil sich angestammte Bewohner vom Expansions- und Vermehrungsdruck der Fremden bedroht fühlten ...

Wer könnte es ihnen verdenken?

Cloud scheute sich nicht, sich einzugestehen, dass er froh über die Wahl der Satoga war, sich nicht um jeden Preis in der Milchstraße ansiedeln zu wollen. Das nicht einmal von den Satoga selbst gelöste Rätsel um ihre abnorme Vermehrungssucht musste über kurz oder lang zu Spannungen führen, selbst wenn andere Rassen über das spezifische Problem der Satoga informiert waren.

Nein. Es ist besser, getrennte Wege zu gehen – vorerst zumindest. Die Jay’nac werden das ähnlich sehen.

Die Jay’nac.

Kaum waren die Satoga in den Weiten des Alls verschwunden, ging ein Funkspruch auf der RUBIKON ein, der nicht nur Cloud schmerzlich daran erinnerte, dass sie Abschied von noch einem weiteren Freund würden nehmen müssen. Einem weiteren außerirdischen Geschöpf ... ohne dessen Bereitschaft, zwischen uralten Feinden zu vermitteln, wohl nicht zu verhindern gewesen wäre, dass die Satoga-Flotte vollständig von den Jay’nac und deren Verbündeten, den Erinjij, vernichtet worden wäre.

»Darnok!«, rief Scobee erfreut, als das Abbild des Keelon in der zentralen Holosäule der RUBIKON sichtbar wurde.

Darabim , wollte Cloud sie korrigieren, verzichtete dann aber darauf, weil das Wesen, das eine unheimliche Wandlung durchgemacht hatte, dies selbst in die Hand nahm.

Auf seine Weise.

»Vergesst Darnok!«, zwitscherte ihnen schroff der Gefährte von einst entgegen.


*


Die Keelon ...

Erwachsen maßen sie im Schnitt etwa einsfünfzig bei einer Breite von einem knappen Meter. Grob skizziert erinnerten sie an einen gigantischen Herzmuskel, wobei die Extremitäten wie gekappte Adern aussahen. Die Haut war zumeist glatt, und über die gesamte Vorderseite des Körpers verteilten sich Dutzende von Augen, die kaum noch erkennbar waren, sobald ein Keelon die Lider schloss.

Hier aber waren sie offen – und schienen nur Cloud anzublicken, die anderen im Rund der Kommandositze zu ignorieren. Dabei war dem Kommandanten der RUBIKON jedoch klar, dass Scobee, Jelto und wie sie alle hießen genau denselben Eindruck, nur jeweils auf sich selbst bezogen, hatten.

Der Keelon schien jeden Einzelnen von ihnen anzusprechen und anzublicken, als gäbe es für ihn keine wichtigere Persönlichkeit an Bord des feindlichen Schiffes.

Ja, Feinde, dachte Cloud, als wäre es gerade erst wieder in sein Bewusstsein gerückt. Das sind wir wohl aus Sicht der Erinjij und derer, die sie führen. Und verheizen.

Bis heute war es ungeklärt, was aus der Masse der Keelon beim Untergang ihrer Heimatwelt Roogal geworden war. Hatte der von den Keelon-Verschwörern selbst initiierte Angriff der Erinjij alle nicht konspirierenden Keelon in den Untergang gerissen ... oder hatten sie sich dank ihres Magoos und der damit verbundenen Fähigkeit, die vierte Dimension zu manipulieren, auf eine Zeitebene – irgendwo in sicherer Vergangenheit – retten können?

Ein Sprung in die Zukunft hätte den Roogal-Bewohnern keine Rettung versprochen, denn dort existierte ihre Welt nicht mehr. Sie war unter den Gewalten der angreifenden Schiffe völlig zerborsten.

Der Keelon Arabim hatte die damalige Verschwörung angeführt ... und herrschte inzwischen auch über seine Mitverschwörer auf der Erde. Er war der Master der Master gewesen, als Cloud ihm in seinem Residenzturm in der Metrop Washington gegenübergestanden hatte. Damals war Darnok, der einzige Freund unter den Keelon, den die Menschen jemals hatten, Arabims hilfloser Gefangener gewesen, eingekerkert in einem speziellen Käfig, der sein Magoo eindämmte und ihn so an einer Flucht in die Pfade der Zeit hinderte.

Lange hatte Cloud – hatten auch Scobee und Jarvis – im Ungewissen über Darnoks Schicksal gelebt. Ihnen war die Flucht von der von den Keelon beherrschten Erde gelungen, Darnok nicht. Und nun sprach er zu ihnen, als hätte es ihre Freundschaft, ihre gemeinsamen Abenteuer und durchstandenen Gefahren nie gegeben. Er sprach zu ihnen aus einem Körper heraus, der nicht mehr ihm allein gehörte ... ihm vermutlich am wenigsten.

Die Jay’nac hatten Arabim und Darnok – zwei Individuen – zu einem einzigen Organismus verschmolzen. Hatten zwei Bewusstseine in einen Körper gepfercht, auf dass Arabim von Darnoks Wissen und seinen in den Tiefen des Alls gewonnenen Erfahrungen partizipieren konnte.

Eine Zeitlang schien es Darnok gelungen zu sein, die Oberhand über das Zwittergeschöpf zu erlangen – gerade so lange, wie nötig gewesen war, um die Rolle des Vermittlers zwischen Organischen und Anorganischen – Satoga und Jay’nac – einzunehmen.

Doch nun, nach vollbrachtem Werk, war ebenso offensichtlich, dass Arabim an die Oberfläche zurückgekehrt und dass er es war, der sich in diesem Moment bei ihnen meldete.

Vergesst Darnok!

Die Forderung hing im Raum, und niemand, der sie hörte, erkannte nicht die Drohung, die sich darin verbarg.

Niemals!, dachte Cloud. Niemals werde ich denjenigen vergessen, ohne den wir längst nicht mehr am Leben wären!

Und laut bat er, wobei er versuchte, die Bilder, die sich während seines Erdaufenthalts in ihm eingebrannt hatten, zu ignorieren – die Bilder, die von beispielloser Skrupellosigkeit der Master im Umgang mit den Menschen berichteten: »Lass mich noch einmal mit Darnok sprechen – mit seinem Anteil an dir – Darabim, ein letztes Mal, bevor sich unsere Wege für unbestimmte Zeit tren ...«

»Du sprichst mit Darnok«, fiel ihm der Keelon ins Wort.

Worauf Cloud sprachlos war, sekundenlang.

Scobee fing sich schneller. »Das glauben wir nicht«, sagte sie gepresst. »Darnok würde nie –«

»So mit euch sprechen?« Die Augen schlossen sich kurz – alle zur gleichen Zeit ... um sich ebenso synchron wieder aufzutun. »Fangt an, der Realität ... der neuen Wirklichkeit ins Auge zu blicken! Ich bin nicht mehr der, den ihr kanntet. So wie Arabim von mir profitiert, so profitiere ich von ihm. Wir sind keine Einzelwesen mehr, nicht in dem Sinne, wie ihr uns noch immer unterscheidet. Nicht Darnok, sondern etwas in Darabim hat die Vorteile einer friedlichen Konfliktlösung zwischen den Satoga und den Schöpfern erkannt. Nur auf der Grundlage dieser rein der Vernunft folgenden Einsicht habe ich mich entschlossen, euch und die alten Feinde aus dem Sculptor-System zu schonen. Sie haben sich an die getroffenen Vereinbarungen mit den Schöpfern gehalten und sind nunmehr unterwegs in eine andere Galaxie. Ihr wollt ihnen offenbar nicht folgen. Deshalb ein letztes Wort an euch – bevor auch ich mich mit den Schöpfern und den Erinjij-Verbänden aus diesem Gebiet zurückziehe: MEIDET UNS KÜNFTIG. Meidet die Sonne, die ihr Sol nennt und den Planeten, in dem ihr immer noch eure Heimatwelt sehen wollt ... KEHRT NIE MEHR DORTHIN ZURÜCK, denn es wäre die Stunde eures Todes, den nichts in Darabim mehr gewillt wäre zu verhindern. Nichts . Unsere Wege trennen sich hier und jetzt, und sollten sie jemals wieder zusammenführen, wird es zu keiner Verständigung mehr kommen, nur noch zu kompromissloser ... Gewalt. IHR SEID NICHT MEHR WILLKOMMEN AUF DER WELT ERDE – NIE MEHR! Meidet sie. Meidet die Streitkräfte der Menschen, die nicht mehr die sind, die euch nahe stehen. Vieles ... alles hat sich verändert. In einigen Jahrzehnten werdet ihr tot sein, wenn ihr die Vernunft walten lasst und wenn euch das Schicksal gewogen ist. So lange aber werdet ihr Fremde in einer fremden Zeit bleiben. Etwas in mir hat euch in diese Fremde entführt, ein Zurück wird es nicht geben. Kein Keelon würde sich jemals dafür hergeben, euch in eure Zeit zurückzubringen. Keiner. Wenn ihr darauf im Geheimen hofft, seid ihr wahrhaft Narren!«

Schweigen. Stille.

Für eine lange Weile wusste Cloud nicht einmal, ob er auf diesen wie auswendig gelernten und heruntergespulten Vortrag überhaupt antworten wollte. Schließlich sagte Jarvis mit Hilfe der Audiosysteme seines künstlichen Körpers: »Mich kannst du nicht belügen, Alter! Da ist mehr als nur ein Fünkchen des Darnoks, den wir kannten und schätzten. Mich kannst du nicht hinters Licht führen ...«

Er verstummte, als wäre damit alles gesagt, was es überhaupt noch zu sagen gab.

Cloud hatte einen schalen Geschmack auf der Zunge, als er sich aus dem Sitz stemmte und seinen Körper teilweise in die holographischen Pixel, aus denen sich Darabims Abbild zusammensetzte, eintauchen ließ.

»So können wir nicht auseinander gehen.« Er stockte kurz, fuhr dann fort, nachdem er sich mit der Zunge über die Oberlippe geleckt hatte. »Du hast schon einmal vermittelt, als es um ungleich mehr ging, als ungleich mehr auf dem Spiel stand. Tu es noch einmal, Darabim , vermittele noch ein letztes Mal.«

Obwohl der Keelon-Zwitter zunächst nichts erwiderte, war zu spüren, dass er nicht verstand, worauf Cloud hinauswollte.

»Zwischen wem vermitteln?«, fragte er schließlich.

»Ich möchte einen Kontakt ... einen unmittelbaren Kontakt zu den Jay’nac, die du eure Schöpfer nennst.«

Trotz des klaren Mangels an einer für Menschen verständlichen Mimik strahlte die Gestalt des Körpers insgesamt eine fast greifbare Ratlosigkeit aus.

»Warum?«, fragte Darabim.

»Ich habe eine Bitte.«

»Ihr habt bereits mehr erhalten, als euch eigentlich zustünde. Geh in dich, Mensch . Überlege, ob du nicht dankbar sein solltest, all dies noch erleben zu dürfen.«

»Meine Bitte dreht sich nicht um mich.«

»Sondern?«

»Um einen verlorenen Freund.«

Ein Mensch hätte die Anspielung verstanden, davon war Cloud überzeugt. Darabim hingegen offenbarte nicht einmal einen Anflug von Begreifen.

»Die Schöpfer dürfen nicht irgendwelcher Lappalien wegen belästigt werden. Akzeptiere das Unumstößliche. Und jetzt ... leb wohl.«

»Halt!«

Für einen Moment sah es aus, als würde sich die Gestalt innerhalb des Hologramms destabilisieren, zu einem durchscheinenden Geist werden, um am Ende vollends zu verblassen.

Doch dann wurden die Farben und Konturen noch einmal kräftiger.

»Was ist denn noch

»Die Bitte, von der ich sprach«, beeilte sich Cloud zu antworten. »Es geht dabei um ... einen Teil von dir. Um Darnok. Was eure Schöpfer vereinen konnten, könnten sie sicherlich auch wieder trennen. Es wäre Darnoks Wunsch –«

»Darnok! Du hast es immer noch nicht verstanden!«, grollte der Zwitter. »Dieser Darnok, von dem du sprichst, war zu Zeiten, als er noch ein autarkes Individuum war, ein Unfreier . Ein Gefangener. Er stand vor der Wahl, ewig gefangen zu bleiben. Oder zu sterben. Oder ... oder eben zu dem zu werden, was er nun ist ... gemeinsam mit dem Anderen, der nie ein Geknechteter war, immer nur Herr ...«


*


Das gewaltige Schlachtschiff ROOGAL, in dem Darabim reiste – es erinnerte an einen futuristisch verbrämten Flugzeugträger des 21. Jahrhunderts, nur dass es keinen irdischen Ozean, sondern die unendlichen Tiefen des Alls durchkreuzte –, nahm Fahrt auf und steuerte das nahe gelegene künstliche Wurmloch an, in dem bereits ein Großteil der Erinjij-Einheiten verschwunden war. Diese Technologie hatten die Menschen von den Jay’nac übernommen, der Macht, auf die auch die Keelon zurückgingen, wie inzwischen bekannt geworden war. Deshalb nannten die »Meister der Zeit« sie auch ehrfurchtsvoll »Schöpfer« – genau wie Cys Volk, die Aurigen, oder die Virgh der Magellanschen Wolken waren auch die Keelon letztlich nur Züchtungen der Jay’nac, mit denen sie sich besseren Aufschluss über die Verhaltensweisen der und bessere Mittel gegen die Organischen hatten verschaffen wollen.

Es war ihnen eindrucksvoll gelungen, wofür nicht zuletzt die Installation des stellar übergreifenden Packa-Netzes sprach, mit dem alle in seinem Einflussbereich befindlichen Organischen in eine Pararealität versetzt werden konnten, in der sie den Anorganischen, die dagegen immun waren, hilflos ausgeliefert waren.

Vergangenheit, dachte Cloud. Vorbei.

Die Virtusphäre war ebenso abgeschaltet worden wie die Türme, die den Ankömmlingen aus Magellan eine Kettenreaktion von explodierenden Sternen – Supernovae – im Orionarm der Milchstraße vorgegaukelt hatten.

Vergangenheit.

Vorbei.

»Hattest du ernsthaft Hoffnung, ihn dazu bewegen zu können? Ihn – oder die Jay’nac?«

Spätestens Scobees Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück.

»Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte.«

»Verstehe.« Sie nickte. Ihr Gesicht kam ihm verändert vor, nicht wirklich gealtert, aber ... nun, gereift. Keine normale Zwanzigjährige strömte so viel Selbstbewusstsein, so viel Charakter aus wie die in-vitro-Geborene, die in einem irdischen Labor geklont worden war, um eine perfekte Kriegerin gegen das Unbekannte zu sein, das man seinerzeit – seit dem Scheitern der ersten Marsmission 2019 – auf dem roten Planeten vermutet hatte.

Auch Jarvis gehörte dieser neuen Spezies Mensch an, und im weitesten Sinne auch Jelto, obwohl seine Klon-Historie bereits auf die überlegene Technik der Master/Jay’nac zurückging.

»Ich würde sagen, wir haben ein Problem.« Cloud verließ den inneren Kreis der Kommandosektion und machte ein paar Schritte in die Tiefe des kathedralenartigen Raumes. Hinter ihm erhoben sich die anderen. Nacheinander, als zöge er sie an einer unsichtbaren Schnur hinter sich her.

Niemand fragte, von welchem Problem er redete. Es war, als wüssten sie alle – selbst relativ frische Gefährten wie Algorian und Cy oder lange getrennte wie der Narge Jiim – intuitiv, worauf er hinaus wollte.

Cloud wartete, bis sie zu ihm getreten waren. Dann sagte er: »Es ist eine Premiere, ich weiß. Zum ersten Mal, seit wir von Darnok in den Arm getreten und durch die Zeit gekickt wurden, gibt es kein nahe liegendes Ziel mehr für uns – eins, das uns Feuer machen und abhalten würde, auf dumme Gedanken zu kommen.«

»Sieht verdammt aus, als hätten wir plötzlich jede Menge Urlaub bekommen«, grunzte es aus Jarvis’ Nanosystemen. »Zum Henker, hab ich mit irgendeiner Silbe erwähnt, dass ich das will

Sie alle fühlten sich von einem Moment zum anderen orientierungs- und ziellos. Endgültig wie Treibgut, das nicht wirklich in diese Zeit gehörte.

Anachronismen.

Selbst die, die hier geboren waren, wie Aylea, Jelto oder das Außerirdischen-Trio Jiim, Cy und Algorian. Letztere hatte man ihrer Wurzeln beraubt. Es gab für sie keinen Platz mehr, den sie hätten Heimat nennen können.

Aber wenigstens trennt sie nur eine Strecke Raum, dachte Cloud ... ehe ihm bewusst wurde, dass das so nicht stimmte. Es war mehr als das, eine mindestens ebenso unüberwindliche Kluft wie die Jahrhunderte, die ihn von seinem Zuhause trennten.

Sie werden ebenso wenig je wieder heimkehren können wie ich. Und wenn sie es doch schafften, was außer dem sicheren Tod würde sie wohl erwarten?

Es war müßig.

Es war der ideale Moment, um den Papyrus hervorzuholen, den Cloud von Artas erhalten hatte.

Boreguirs Vermächtnis.

»Wenn schon Zwangsferien«, sagte er, »sollten wir sie vielleicht mit etwas Nützlichem verbinden. Ich kenne da jemanden, dem wir es vielleicht sogar schuldig wären ...«

Er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, und das noch bevor er den Freunden durch die primitive Sternenkarte des Saskanen enthüllte, dass dies der einzige Weg war, der ihnen blieb. Sie mussten sich beschäftigen. Oder diese Zeit, diese Situation würde sie über kurz oder lang zerbrechen.

»Empfange Signal«, meldete Sesha in diesem Moment.

»Was für ein Signal?« Cloud war sofort hellhörig, fürchtete immer noch eine Teufelei, einen Meinungsumschwung der Darabim-Hälfte, die ihnen nie sonderlich gewogen gegenüber gestanden hatte.

»Es kommt aus der Richtung, in der die ROOGAL verschwand – von dort, wo das Wurmloch positioniert war, in dem die Erinjij-Flotte verschwand. Es scheint sich um eine Art Leitstrahl zu handeln.«

»Leitstrahl?«, echote Scobee. »Was sagt die Ortung?«

»Die Ortung sagt«, antwortete die KI postwendend, »dass sich dort ein Objekt befindet. Ein Würfel ...«

»Nicht schon wieder ein Würfel!«, stöhnte Jarvis theatralisch eingedenk des zurückgeforderten Danaergeschenks der Satoga.

»... mit einer Größe von rund sechs Meter Kantenlänge. Unbekannte Metalllegierung.«

»Sechs Meter«, ächzte Jarvis erneut, als könnte ein Körper wie dieser unter Atemnot leiden. »Das ist eine bessere Pralinenschachtel

Cloud enthielt sich eines Kommentars. »Vorsichtige Annäherung«, entschied er, an die KI gerichtet. »Enthält das von dir geortete Signal noch mehr als nur eine Peilhilfe?«

Sesha verneinte.

»Du willst es wirklich riskieren?«, fragte Scobee. »Das geht auf Arabims Konto, ich fühle es.«

»Weibliche Intuition?«, fragte Cloud säuerlich.

»Nenn es, wie du willst. Du weißt , dass von dem Kerl nichts Gutes zu erwarten ist.«

»Es gibt aber auch noch den anderen ‚Kerl’, der durchaus Mitbestimmungsqualitäten besitzt, sonst hätte der Satoga-Jay’nac-Konflikt niemals diese Wendung nehmen können.«

»Dann klär mich mal auf, wie Darabims letzte Worte zu verstehen waren – als schwarzer Humor à la Keelon?«

»Nein, sie waren ernst gemeint, todernst.«

»Eben!«

»Aber wenn sie uns hätten vernichten wollen, hätten sie dazu hundertfache Gelegenheit gefunden. Glaubst du, wir hätten auch nur den Hauch einer Chance gegen diesen massierten Auftritt von Erinjij und Jay’nac gehabt?«

Scobee zögerte, schüttelte dann den Kopf. »Es gefällt mir trotzdem nicht.«

Und damit sprach sie allen Versammelten aus dem Herzen, Cloud eingeschlossen.


*


»Wie hältst du davon?«, fragte das Mädchen.

»Von dem Signal?« Jelto blieb stehen.

Aylea ging noch drei Schritte weiter, ehe sie ebenfalls innehielt und missgelaunt fragte: »Was ist

Manchmal kamen dem Florenhüter die Augen der Zehnjährigen groß wie Monde vor. Augen, in denen sich alles Erdenkliche spiegelte – ein Schmelztiegel an Gefühlen und Gedanken. Manchmal saßen sie sich minutenlang gegenüber, schweigend, und schauten sich nur gegenseitig in die Augen. Aylea behauptete, seine wären das Faszinierende, nicht umgekehrt. Er ließ sie in dem Glauben (den er nicht teilte), schon deshalb, weil er fürchtete, sie könnte sich sonst nie wieder mit zu diesen »Sitzungen«, diesen ganz privaten Zusammenkünften bereit erklären.

Er mochte sie. Sie war die Jüngste, die Verletzlichste und Wehrloseste an Bord – neben ihm selbst.

»Nichts ist. Du hast mich gerade gefragt, was ich von dem aufgefangenen Signal halte – und ich wollte dir nur darauf antworten.«

»Können wir das nicht im Gehen erledigen?«

»Hast du es so eilig?«

Sie senkte den Blick. Schüttelte dann den Kopf. »Nein.«

»Was ist los mit dir?«

»Mit mir?« Sie sah auch jetzt nicht auf.

»Ich habe schon länger das Gefühl, dass dich etwas bedrückt. Manchmal glaube ich, wir beide verstehen uns blind, funken auf derselben Wellenlänge – dann wieder ... nun, dann wiederum gibt es Tage, Stunden, in denen ich denke, du ziehst dich ganz in dich zurück, und niemand weiß, wie es dir geht, was in dir vorgeht. Verdammt, ich mache mir Sorgen!«

»Brauchst du nicht.« Schon ihr betont gelangweilter Ton verriet, dass er auf einer Spur war, die so falsch nicht sein konnte.

»Du kannst mit mir über alles reden.«

»Weiß.« Sie scharrte mit dem Fuß.

»Über alles, was dich bewegt, und dazu gehören auch die Dinge, die dir Kummer bereiten.« Jelto ließ nicht locker. Vielleicht, weil es ihm selbst oft nicht gut ging. Weil er zu ahnen glaubte, was dem Mädchen fehlte – unvorstellbar weit von dort entfernt, wo sie eigentlich hätte sein sollen. Genau wie er.

»Können wir jetzt endlich weitergehen?« Jetzt sah sie ihn an. Ihre Augen glitzerten. Ihr Blick erschreckte ihn.

»Kind ...«

»Nenn mich nicht Kind! Wie oft habe ich dir das schon gesagt?«

»Oft.«

»Eben!«

Jelto setzte sich wieder in Bewegung. Aylea wartete, bis er auf gleicher Höhe war, dann drehte sie sich und trottete neben ihm her.

Er spürte, wie es in ihr brodelte. Aber er wusste nicht, ob sie einfach nur von seiner Fragerei genervt war oder ob etwas anderes dahinter steckte.

»Noch mal«, sagte er. »Was denkst du?«

»Fängst du schon wieder an?« Sie konnte fauchen wie eine gereizte Katze.

»Nein – diesmal meine ich die Sache mit Boreguir. Wie denkst du darüber?«

Sie überlegte. Zumindest tat sie, als müsste sie sorgsam nachdenken, ehe sie antwortete.

»Wär ’ne tolle Sache«, sagte sie schließlich. Und leiser: »Ich möchte auch mal ...« Sie verstummte, biss sich auf die Lippe.

»Du möchtest auch mal ... was?«

»Gar nichts. Ist nicht wichtig.«

Das bezweifelte er. Aber er sah auch ein, dass es unklug gewesen wäre, sie zu sehr in die Enge zu treiben.

Wenig später erreichten sie Jeltos Reich. Den hydroponischen Garten, den er an Bord der RUBIKON angelegt hatte.

Hier erwachte Aylea aus ihrer Lethargie. Der Florenhüter wertete es als gutes Zeichen, dass sie sich – wie eigentlich von Beginn an – für seine Gewächse interessierte. An diesem Tag schien ihm ihre Liebe zu den Pflanzen noch größer zu sein als sonst.

»Sie mögen dich«, sagte er immer wieder, wenn sie vor einer Blume standen, deren Blüten besonders farbenprächtig waren oder deren Kelche besonders angenehm dufteten. In Wahrheit reagierten die Geschöpfe des Gartens wohl eher auf ihn, auf seine allgegenwärtige Aura, aber Aylea schien die Vorstellung zu gefallen. Speziell die schillerndsten Blumen betreffend fragte sie ihn bis in die kleinsten Details aus.

»Ich suche noch ein paar hübsche Pflänzchen für mein Zimmer«, sagte sie. Sie nannte ihre Kabine immer »Zimmer«, vielleicht weil es sie an die Erde erinnerte, an ...

»Wir werden etwas finden, was genau so hübsch ist wie du«, lächelte er.

Stundenlang streunten sie gemeinsam durch den Garten. Manchmal musste Jelto sich kurz entschuldigen, weil eine Pflanze seine Hilfe brauchte, aber er kehrte immer wieder so rasch es ging zu Aylea zurück. Ihr schien es nichts auszumachen, zwischenzeitlich auch allein umherzustreifen.

Als er wieder einmal zurückkam, brachte er die Nachricht mit, dass ein Objekt aus dem All geborgen worden war – bei den Koordinaten, zu denen das empfangene Signal geführt hatte.

Aylea zeigte wenig Interesse. Die Blume, vor der sie gerade stand, schien sie sehr viel mehr zu faszinieren. Entschlossen sagte sie: »Die hier. Wie wäre es mit der? Sie ist unglaublich schön.«

Jelto erschrak ein wenig und erklärte ihr, warum das nicht ging.

Sie hörte sich seine Argumente an – und verwies darauf, dass sie kein Baby mehr sei. Sie werde schon aufpassen, versprach sie.

Sie war so überzeugend.

Und auch wenn sie erst zehn Jahre alt war, war ihr Verstand der eines Erwachsenen.

Er konnte sich auf sie verlassen.

Glaubte er. Und willigte deshalb schließlich, wenn auch widerstrebend, ein.

Ohne zu ahnen, dass Aylea ihn nach Strich und Faden belog.



*


Sechs mal sechs mal sechs Meter.

Die »Pralinenschachtel«, wie Jarvis es genannt hatte, schwebte vor der RUBIKON im All. Das Bild in der Holosäule vermittelte das Gefühl, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um das Objekt fassen und an Bord des Schiffes ziehen zu können.

Auch in der Realität würde es nicht sehr viel schwerer sein, die Hinterlassenschaft Darabims (worum sonst sollte es sich handeln?) in einen Hangar zu befördern.

Die tatsächliche Frage war immer noch: Wollten sie das riskieren?

Will ich es riskieren?, dachte Cloud, dem Zweifel an der eigenen Theorie gekommen waren. Falls Arabim wieder die uneingeschränkte Oberhand über das Zwitterkonstrukt erlangt hatte, das die Jay’nac aus ihm und Darnok geformt hatten, war es absolut denkbar, dass er ihnen einen letzten Gruß schickte, ihnen eine Falle stellte, die sie endgültig für alle Zeit als latente Gefahr aus dem Verkehr ziehen würde. Vielleicht hatte er nur den Abzug der Schöpfer abgewartet, um sein »Geschenk« auszuschleusen – auf die Neugier der Menschen bauend, die selten widerstehen konnten, wenn sie Derartiges auf dem Tablett serviert bekamen...

Ich trage eine Verantwortung der Crew gegenüber, dachte er. Vielleicht ist es einfach nur eine Kiste Müll, gefährlichem Müll, den irgendein Erinjij-Schiff abgestoßen hat, ehe es ins Wurmloch eintauchte.

Aber daran glaubte er nicht wirklich.

Er glaubte daran, dass dieser Quader für sie dagelassen worden war – und dass es sich um keine Hinterlist, keine Heimtücke des Arabim-Anteils an Darabim handelte!

Aber konnte man auf Glauben, auf sein pures Bauchgefühl bauen, wenn so viele Leben auf dem Spiel standen?

»Sesha?«, wandte er sich an die KI. »Neue Erkenntnisse?«

»Das Objekt ist keinesfalls massiv, die Hülle ist allseits einskommadreisieben Meter dick, und es besitzt ein autarkes Energiesystem.«

»Waffen? Könnte es ... eine wie auch immer geartete Bombe sein?«

»Ja.«

»Aber auch alles andere?«

»Ja.«

»Danke, du hilfst mir ungemein weiter!«

Die KI schien geneigt, das vermeintliche Lob für bare Münze zu nehmen. Cloud überlegte, ob es Sinn machte, Sesha in die Feinheiten des menschlichen Sarkasmus einzuführen.

Cloud suchte Scobees Blick, der aber nur zu sagen schien: Deine Entscheidung. Meine Meinung dazu kennst du.

Er rang mit sich, wog Für und Wider, Chance und Gefahr ab ... und entschied.

»An Bord damit!«, wies er Sesha an. »Höchste Sicherheitsstufe!«

Minuten später waren er, Scobee und Jarvis unterwegs dorthin, wo Sesha den Würfel deponiert hatte.

Begriffe wie Trojanisches Pferd oder Büchse der Pandora geisterten durch Clouds Hirn. Er war froh, dass keiner seiner Begleiter zu merken schien, wie die Selbstzweifel, ob sein Entschluss gut und richtig für sie gewesen war, buchstäblich explodierten, während sie an das Objekt aus dunkelblauem Metall herantraten.

Es ruhte scheinbar sicher hinter mehrfach gestaffelten Energiefeldern.

Die aber nicht verhinderten, dass es sich in dem Moment, als Cloud und die anderen eine unsichtbare Distanz unterschritten, öffnete.

Die Öffnung lag genau in der Mitte einer der Seitenschenkel und ihr unterer Rand etwa zwei Meter vom Hangarboden entfernt.

Cloud blieb sofort wie erstarrt stehen. Scobee zog ihren am Gürtel befestigten Blaster. Jarvis hob seinen rechten Arm, an dessen Ende sich die »Hand« in den Abstrahlpol einer mächtigen Waffe verwandelte.

Und noch während Cloud fieberhaft überlegte, ob sich Pandoras Büchse soeben vor ihnen aufgetan hatte, um Unheil über Schiff und Besatzung auszuschütten, erschien in der entstandenen Öffnung eine wankende Gestalt. Es fiel ihr sichtbar schwer, sich auf den Beinen zu halten, aber es war definitiv keine mythische Plage oder etwas monströs Außerirdisches, sondern trug trotz des sichtlich lädierten Zustands vertraute Züge. Sie hob die Hand vor die Augen, als müsste sie sie gegen das ungewohnt gewordene Licht schützen. Als hätte sie zu lange in völliger Finsternis zugebracht. Das Gesicht spiegelte Entbehrungen wider, die sich über Tage oder Wochen gezogen haben mussten. Scharfe Linien hatten sich in eine Haut gegraben, die sowohl Cloud, als auch Scobee um einiges glatter in Erinnerung hatten.

Niemand, der die schlanke Frau dort oben ... die Frau, die jetzt ungewohnt zaghaft zu ihnen herabwinkte ... kannte – und davon gab es in dieser Zeit, verflucht wenige ( eigentlich nur uns , dachte Cloud, mich, Scob und Jarvis ...) – hatte sie jemals in dieser Verfassung gesehen.

Aber sie war am Leben. Nur das zählte.

»Es könnte immer noch eine Falle sein«, zischte Scobee ihm leise zu. »Wir sollten weiter wachsam bleiben.«

Cloud gab ihr Recht, so schwer es ihm angesichts des Bildes, das die Frau bot, auch fallen mochte.

»Sesha – Scan!«

Die KI reagierte sofort. »Keinerlei Anzeichen für biologische Gefahr«, erklärte sie. »Der Mensch ist in einem desolaten Zustand – aber nicht infektiös.«

»John?« Jarvis’ Stimme klang drängend. Klang, als könnte er es nicht mehr ertragen, irgendjemanden so jämmerlich dastehen und darauf hoffen zu sehen, dass man ihr endlich zu Hilfe eilte und sie aus dem Kerker herausholte, in dem sie, lebendig begraben, gestorben wäre, hätte man sie nicht aus der eisigen Ödnis des Alls gefischt.

»Schilde deaktivieren!«, wies Cloud die KI an.

Und während Jarvis vortrat, sich streckte und die zierliche Gestalt dort oben behutsam umfasste, um sie herunterzuheben, rannen ihr die ersten Worte über die spröden, rissig gewordenen Lippen.

»Da ...«, stammelte Sarah Cuthbert, ehemals Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika und mächtigste Frau der Erde. »... da sind noch mehr. Kümmert euch ... bitte ... um sie ... Es geht ihnen nicht ... gut.«


*


Cloud war ein Kind des 21. Jahrhunderts. Einer Zeit, die nicht nur zivilisatorische Großleistungen hervorgebracht hatte, wie etwa auf dem irdischen Mond eine dauerhafte Kolonie einzurichten, die den Abbau von Bodenschätzen betrieb ... oder die ersten Menschen zum Nachbarplaneten zu schicken, sondern in der es auch zu unglaublichen Auswüchsen gekommen war. Exzesse der Gewalt und Ausbeutung. Menschenhandel.

Container, in denen hoffnungsvolle Flüchtlinge aus damals armen Ländern heimlich in die reicheren Staaten eingeschleust wurden, kannte er nur aus entsprechenden Dokumentationen, TV-Reportagen oder Berichten in den Printmedien. Hier und jetzt, Lichtjahrtausende von der Erde entfernt, fühlte er sich daran erinnert. Der Würfel der Erinjij, der Würfel, der auf Geheiß eines Keelon-Masters zurückgelassen worden war, weckte genau diese Assoziationen. An Elend und Menschenverachtung. An Zusammengepferchtsein auf engstem Raum, Dunkelheit, Mangel an Nahrung, Trinkwasser und hygienischen Einrichtungen ...

Die Sprachlosigkeit angesichts des Bildes, das sie im Innern des Quaders erwartete, erstickte lange Zeit jedes richtige Gespräch. Cloud ordnete an, dass die spinnenartigen Roboter der RUBIKON dabei halfen, die Befreiten mit allem Nötigen erstzuversorgen.

Es waren insgesamt ein gutes Dutzend Menschen in den absonderlichsten Erscheinungsbildern. Was irritierte, aber niemand daran hinderte, ihnen zu helfen. Erst als alle geborgen und im Hangar mit Decken, Trinken und Nahrungskonzentraten versorgt waren, wandte sich Cloud an Sarah Cuthbert, um zu erfahren, wer all diese teilweise mehr als skurril aussehenden Menschen waren.

»Sie waren Attraktionen eines Zirkus im Getto«, sagte die Ex-Präsidentin müde. »Ihr Direktor heißt Prosper Mérimée ... der Weißhaarige dort drüben.«

Cloud folgte ihrem ausgestreckten Arm – und erkannte verblüfft, dass der ältere Mann, von dem Sarah Cuthbert sprach, auf einem Stapel Bücher saß. Alte, ausnahmslos antiquarisch wirkende Bücher, die fast ebenso lädiert wirkten, wie der Mensch, der auf ihnen saß wie auf einem Thron. Er schaute nicht herüber, starrte dumpf zu Boden.

Die Ex-Präsidentin nickte Cloud zu, als wüsste sie genau, was ihn stutzig machte. »Er ist ein Büchernarr – aber das ist eine andere Geschichte. Nicht einmal ich weiß, wie es ihm gelang, unsere Peiniger dazu zu bringen, ihm wenigstens einen Teil seiner Schätze zu überlassen ...« Sie seufzte, zeigte auf die anderen. »Außer Mérimée sind da noch Sahbu, seine rechte Hand, Lydia, Paula ...« Sie zählte etliche Namen auf, die sich Cloud auf die Schnelle gar nicht alle merken, geschweige denn zuordnen konnte, und schloss mit den Worten: »Es war ein verdammter Fehler, mich damals einfach so davonzustehlen und euch nicht beim Sturm auf die Master-Residenz zu begleiten Ihr, die ihr Sadako gefolgt seid, scheint es merklich besser getroffen zu haben.« Sie lächelte freudlos.

»Das täuscht, wie Sie vielleicht inzwischen wissen, Madam President .« Es fiel Cloud schwer, in der Nähe dieser Frau nicht förmlich zu werden, also benahm er sich einfach so, wie er glaubte, sich benehmen zu müssen. Schon im irdischen Getto – dem ehemaligen Peking – waren sie einander begegnet, und er erinnerte sich schon gar nicht mehr, ob sie einander damals gleichwertiger begegnet waren. »Sadako ist tot. Auch wir sollten sterben, seiner Heimtücke zum Opfer fallen. Das konnte abgewendet werden, aber einen Sieg würde ich es nicht nennen, was wir erzielten. Wir waren froh, unsere Haut zu retten – dank der gnädigen Mithilfe der Foronen, die sich aber auch nicht unbedingt als unsere verlässlichsten und ehrlichsten Freunde entpuppten ... Ich glaube, wir haben uns gegenseitig viel zu erzählen. Was mich vor allem anderen interessiert, ist jedoch, warum Darabim Ihnen und den anderen das angetan hat. Es sieht aus, als lägen Wochen oder Monate schlimmster Entbehrungen hinter Ihnen – nicht erst ein paar Stunden oder Tage. Aber länger können Sie hier noch nicht ausgesetzt gewesen sein.«

»Darabim? Ich kenne keinen Darabim«, sagte Sarah Cuthbert. »Wir hörten von einem Master namens ... Arabim. Meinen Sie den?«

Cloud schüttelte den Kopf. »Sie sind ihm nie begegnet?«

»Es ist nicht so leicht mit drei Sätzen zu erklären. Das Getto ... wurde zerstört. Die Master nahmen Rache für ... für das, was Sadako offenbar versuchte, aber scheiterte.«

»Zerstört?«, wiederholte Cloud. »Sie meinen ...?«

»Es gibt keine Überlebenden außer uns ...« Sie machte eine ausholende Geste hin zu all den jammervollen Gestalten, die auf dem Boden des Hangars saßen. »Es war wie ein Kreuzzug blindwütigen Hasses. Wir versuchten zu entkommen, indem wir zum verlassenen Hauptquartier der Omikronisten flohen. Die dortigen unterirdischen Tunnel ... Sie wissen schon.«

»Aber Sie schafften es nicht?«

»Wir wurden im HQ empfangen. Von jemandem, den auch Sie kennen.« Noch während Cloud überlegte, fuhr sie fort: »Er hat uns das hier angetan, hat uns unter unmenschlichsten Bedingungen gefangen gehalten, Verhören unterzogen und ... gefoltert. Bis er offenbar den Befehl erhielt, uns einzusammeln, auf ein Raumschiff zu schaffen und ... Der Rest ist bekannt. Wir wurden in dieses Ding dort gesperrt und uns selbst überlassen. Wir wussten nicht einmal, dass wir aus dem Raumschiff hinausgeworfen wurden. Dieser Mann ist kein Mensch, auch wenn er es äußerlich zu sein scheint. Er ist schlimmer als jeder Master, denen er seine Seele verpfändet ... und die ihn dafür mit einem Einfluss beschenkt haben, der nur Furchtbares gebären kann. Reuben Cronenberg war als Kopf des NCIA ein Bastard – und er ist es erst recht als Handlanger der Master geworden!«


1. Kapitel


Sobald er mit seinem Steuersitz verschmolz ... sobald alle Sinne seines biologischen Körpers fast unmerklich in die Sinne des kybernetischen Komplexes – des Schiffes – überglitten und er mit vielfach gesteigerter Potenz ins All hinaus sah , hinaus lauschte , hinaus fühlte ... wusste er, dass es sich gelohnt hatte, die Zeit zu betrügen. Sie zu überlisten im traumlosen Schlaf.

Ohne die Stase wäre er längst zu Staub zerfallen und vergessen.

Nach so vielen Jahrtausenden.

Aber er lebte. Und atmete – nicht nur mit seiner immer noch geschätzten lebendigen Hülle, sondern auch mit den mikroskopischen Poren des HAKARs, die kosmische Strahlung, Licht, dunkle Materie und Energie, Gravitation und Vakuumkälte in sich einsogen, abschätzten und teilweise verdauten , dem Schiff als wertvollen Rohstoff verfügbar machten ...

Aaaaaaah!

Der Seufzer fand nur in seinen Gedanken statt, und niemand war da, der darauf einging.

Mecchit genoss das Alleinsein. Die Abgeschiedenheit des rundum geschlossenen Kommandositzes – einem von sieben. Die anderen sechs waren offen und verwaist, Relikte aus einer Zeit, da er und die anderen sechs Hohen noch das Septemvirat der Foronen gebildet hatten.

Die Herrscher-Elite.

Inzwischen war einer von ihnen – Mont – tot. Er hatte die Stase nicht überlebt. Und zwei weitere – Sobek und Siroona – galten als verschollen, seit sie mit dem originalen SESHA-Raumschiff, aus dem sämtliche HAKARs hervorgegangen waren, den Sprung zur Alten Heimat, nach Samragh, gewagt hatten.

Bis heute fehlte jedes Lebenszeichen, jede Nachricht von ihnen. Und Mecchit gehörte zu den Skeptikern, die glaubten, dass sie sich auch nie mehr melden, nie mehr wiederkehren würden. Weil sie dem Urfeind in die Hände gefallen waren, den Virgh! Jenen grausamen Titanen, die die Foronenheimat einst überrannt und auch für alle anderen ansässigen raumfahrenden Spezies unbewohnbar gemacht hatten.

Ortung!

Die Stimme der KI brach in seine Gedanken- und Sinneswelt ein – bei aller Vehemenz mit der gebührenden Behutsamkeit, fast zärtlich, wie Mecchit ihr zugestehen musste.

Details!, verlangte er auf gleicher Ebene. Die Kommunikation mit der Schiffsseele bedurfte keiner Lautsprache. Zwischen Foronen war die Verständigung auf beiden Ebenen möglich: Für intimeren oder dringlicheren Austausch bevorzugten sie den nonverbalen Austausch, für den alltäglichen Umgang oder die Weitergabe von Weisungen, die nicht aus der Norm fielen, den verbalen.

Doppelsternsystem ... (es folgten Zahlenkolonnen, die eine exakte Positionsbestimmung innerhalb des Gefüges dieser Galaxis erlaubten) Zweiter von insgesamt achtzehn Planetenumläufern weist sämtliche Charakteristika auf, die den geforderten Kriterien entsprechen. Empfehle Kursänderung und Orbitalanalyse.

Mecchit brauchte nicht lange zu überlegen. Einverstanden. Kursänderung. Ankunftszeit?

Die daraufhin von der KI übermittelte Angabe zeigte, dass ihm gerade genug Zeit blieb, um den Rest der Zentrale-Besatzung über das neue Ziel in Kenntnis zu setzen – und um Moaree einen Besuch abzustatten.


*


Mecchit verließ die Zentrale des HAKARs – SESHA-Kopie-47 – und ignorierte die Türtransmitter, die ihn bedeutend schneller an sein Ziel gebracht hätten, zu Moaree. Stattdessen stapfte er den Korridor entlang und strafte die ihm entgegen eilenden Foronen mit Nichtbeachtung. Erst an einer Kreuzung blieb er abrupt stehen. Das Innere eines HAKARs entsprach in seinen Ausmaßen einer Stadt, wobei, wie bei der Original-SESHA, der größte Teil hinter Dimensionswällen verborgen lag. Von außen betrachtet wirkte das Gebilde dementsprechend fast unspektakulär. Menschen hätten in ihm etwas gesehen, das einem Manta-Rochen aus der irdischen Fauna ähnelte, bei einer ungefähren Länge von gut 250 Metern und einer Breite – von einer Schwinge zur anderen gerechnet – von rund dreihundert Metern. Die dickste Stelle maß fünfzig Meter. All dies, wie gesagt, war der äußere Anschein. Die Dimensionswälle ließen sich bei Bedarf jedoch abschalten, und dann explodierte der HAKAR buchstäblich zu seiner wahren Größe, die das Zehnfache der »unterdrückten« betrug.

Gründe, die Dimensionsschranken zu deaktivieren, gab es jedoch selten. Und berücksichtigte man den zuschaltbaren »Schweif« des Rochens, an dessen Spitze sich der Projektor befand, mit dem die Kontinuumswaffe zum Einsatz gebracht wurde, dann potenzierte sich auch die eingedämmte Länge auf das Doppelte, auf einen halben Kilometer.

Ein simpler Gedankenimpuls genügte, um Mecchits Rüstung – nur die Hohen des Septemvirats verfügten über diese Fabeltechnik – wachsen zu lassen. Hatte sie zuvor nur Rumpf, Arme und Beine bedeckt, so glitt sie nun auch über den knöchernen Schädel des Foronen, seine Hände und jede andere vorher bloß gelegene Stelle. Im nächsten Moment hieb die Faust des Hohen gegen einen mit Gefahrenfarbe markierten Sensor in der Korridorwand. Mit einem fauchenden Geräusch bildete sich eine siebeneckige Öffnung in der fugenlosen Wandverkleidung. Hinter einem Energieschirm, der dafür sorgte, dass der Korridor oder darin befindliche Foronen keinen Schaden nahmen, gloste es unheilvoll.

Mecchit zögerte keinen Moment, sondern machte einen Schritt nach vorn und passte das Energieniveau seiner Rüstung dem des Schutzfeldes an, das die entstandene Öffnung versiegelte. Er glitt hindurch, ohne dass ihm spürbarer Widerstand geboten wurde.

Und im nächsten Moment stand er im Innern einer Sonne.


*


Natürlich war es keine echte Sonne, die er durchschritt, erhaben wie ein Gott. Aber die Temperaturen, die ihn umflossen, hätten mühelos mit einer solchen konkurrieren können.

Mecchit beachtete nur beiläufig, wie das Zeitschloss die Wartungsöffnung hinter ihm wieder verschwinden ließ, als sei es eine blitzschnell heilende Wunde. All seine Sinne, all seine Konzentration richteten sich auf die Hölle, die er vorsätzlich betreten hatte und ... genoss . Die ihn sich fühlen ließ wie ein Gott.

Eine eigenwillige Abkürzung, mehr war es im Grunde nicht. Der Plasma gefüllte Kanal, in dem er stand, versorgte die Umweltgeneratoren des HAKARs mit der erforderlichen Energie, die in den gewaltigen Meilern im Herzen des Schiffes erzeugt wurde. Die Umweltgeneratoren wiederum hielten das fragile Gleichgewicht von Schwerkraft, atembarem Luftgemisch und »Wohlfühltemperatur« an Bord aufrecht. Sie steuerten die Wasser- und Fäkalaufbereitung. Und die Aufzucht und Hege von allem, was den Foronen als Nahrung diente.

Ein HAKAR war ein Mikrokosmos, der sich binnen weniger Augenblicke in eine unbesiegbare Raumfestung verwandeln konnte.

Hätten wir damals die Anzahl von SESHAs besessen, die heute existieren, dachte Mecchit, wir hätten die Virgh bis ans Ende des Universums gejagt!

Es war seine feste Überzeugung.

Aber es hatte Jahrtausende gebraucht, um Tovah’Zara wachsen zu lassen und damit die Voraussetzung zu schaffen, die Fluchtarche der Foronen zu duplizieren, wie jüngst geschehen. Und auch heute, Äonen nach der Flucht aus Samragh, hatte es eine riesige Sternenregion verödet, deren gesamtes Energiepotenzial aufgebraucht und gestohlen, um aus der SESHA-Arche baugleiche Kopien hervorzubringen, zu gebären .

Baugleich?

Mecchit wusste es besser. Aber auch wenn kein HAKAR an das Original heranreichte, war er immer noch jedem bekannten Schiffstypus überlegen.

Eine Bastion.

Jeder HAKAR barg das Potenzial in sich, die Kernzelle einer neuen foronischen Hochkultur zu werden. Und deshalb, um dies zu schaffen , war Mecchit, waren weitere 86 Kommandanten letztlich unterwegs im Dschungel fremder Sterne. Ihre Mission war von existenzieller Bedeutung für den Fortbestand ihres Volkes.

Und niemand vermochte dies besser zu verstehen als Moaree, die wissenschaftliche Leiterin an Bord des HAKARs – und Mecchits Gefährtin.

Der Forone durchquerte die Plasmaröhre in gemessenem Tempo. Seine Rüstung schützte ihn, ohne ihn in der Absolutheit von seiner Umgebung zu isolieren, die ihm auch den Genuss, den ein solches Trotzen gegen Urgewalt bedeutete, vorenthalten hätte.

Als er auf der anderen Seite ankam und den Mechanismus der dortigen Wartungsöffnung auslöste, hatte er das Gefühl, eine Katharsis durchlaufen zu haben.

Er fühlte sich gereinigt und befreit vom Ballast des Alltäglichen, der sich immer wieder aufs Neue unsichtbar auf seinen Schultern stapelte, bis er meinte, davon erdrückt zu werden. Dann brauchte er Befreiungsschläge wie diesen – wobei der Marsch durch eine Plasmaröhre zu den harmloseren Möglichkeiten gehörte. Nicht selten mündete Mecchits Unwohlsein in der Vernichtung einer hohen Zahl von Geschöpfen. Besatzungen fremder Raumschiffe. Bewohner fremder Planeten. Planeten ...

Er verließ den Schacht, registrierte mit Genugtuung, wie zufällig des Wegs kommende Foronen erschrocken vor ihm zurückwichen – erst recht, als sich seine Rüstung wieder zurückbildete und den charakteristischen Kopf des Hohen entblößte – und legte die Reststrecke zu Moarees Labor zurück.

Sie war gerade in ein Projekt vertieft, das sie in Mecchits Auftrag betrieb – ein ebenso geheimes wie persönliches Projekt, von dem niemand sonst an Bord auch nur ahnte. Oder auf einem der anderen HAKARs. Oder, dachte Mecchit selbstgefällig, an Bord des SESHA-Originals, das sich noch immer irgendwo in Samragh herumtreiben mochte.

»Bist du weitergekommen?«, begrüßte er die Frau, die noch andere seiner Geheimnisse kannte und mit ihm teilte, die Frau, die er schon vor dem Gang in die Stase, eine kleine Ewigkeit zuvor, gekannt hatte. Ein Paar, von dem niemand wusste, dass es miteinander intim war. Dass seine Kontakte über das Offizielle und Öffentliche hinausgingen.

Mecchit wollte es so.

Noch.

Aber er konnte sich auch – mehr denn je – eine Situation vorstellen, in der dieses Geheimnis von ihm selbst offenbart würde. Eine Welt für Foronen ... eine ideale Welt für Foronen, wie sie sie vielleicht in Kürze betreten konnten, und er und Moaree würden dort –

»Es ist ... schwierig.«

Der Klang ihrer Stimme, von der rötlichen Membran an der Vorderseite ihres Schädels erzeugt, riss ihn aus seinem kurzen Tagtraum.

»Wäre es leicht, wäre es eine Bagatelle, hätte ich nicht dich damit beauftragt, sondern ...«

»Sondern?«

»... es selbst getan.«

»Vielleicht fiele es dir leichter als mir.«

»Du warst schon immer zu bescheiden. Ich achte deine Fähigkeiten nicht nur, ich kenne sie offenbar auch weit besser als du selbst.«

»Ich wollte, ich könnte deine hohe Meinung über mich rechtfertigen. Leider ist es jedoch –«

»Wie ist der Status?«, unterbrach er sie ungeduldig.

»Die meiste Zeit erforderte die Säuberung und Rekonstruktion des mir zur Verfügung gestellten Materials. Dies ist nun abgeschlossen. Die Zucht hat begonnen. Allerdings ... nun, es gibt Schwierigkeiten, wie ich dir gerade begreiflich zu machen versuchte ...«

Mecchit trat näher an sie heran. So nah, dass sich ihre Arme streiften und Moaree unmerklich zusammenzuckte. Er spürte ihre Erregung und wusste, dass sie einander im Beisein anderer niemals so nahe kommen durften wie jetzt, weil sie sich sonst unweigerlich verraten hätten.

Moaree zumindest hätte dies getan. Sie hatte sich nicht halb so gut unter Kontrolle wie Mecchit, was er ihr aber verzieh, da sie ihm weder, was ihre Herkunft noch was ihr effektives Lebensalter anging, auch nur annähernd gleichkam.

Vor ihnen befand sich ein Tank, der Deckel glasklar, sodass zu erkennen war, was in der darin befindlichen, leicht trüben Flüssigkeit schwamm.

Ein Embryo.

Ein verwachsener Embryo.

Entartetes Gewebe.

Mutiert ...

Mecchit ließ sich seine Erschütterung nicht anmerken. Hätte es sich um einen beliebigen Foronenklon gehandelt, wäre seine Reaktion sehr viel schwächer ausgefallen. So aber ...

»Wie konnte das passieren?«

Ihre Hand strich über den Deckel, als wollte sie ihn durchstoßen und hinabgreifen zu dem unglückseligen Geschöpf, es tröstend berühren ... und ihm einfach den Hals umdrehen, um es davor zu bewahren, größer, älter und sich seiner bewusst zu werden.

»Wenn ich das wüsste, hätte ich es im Vorfeld zu verhindern versucht, aber ...«

»Du tappst völlig im Dunkeln?«

»Nicht ... ganz.«

»Dein Verdacht?«

»Es muss mit ... nun, es muss mit eurer speziellen Konditionierung zu tun haben, über die du nicht sprechen willst. Ich habe dich mehrfach danach gefragt, mehrfach darauf hingewiesen, dass es zu Problemen kommen könnte. Es gab immer wieder Fehlermeldungen während der Zellrekonstruktion, während der Herstellung des vollständigen Bauplans ...«

Bauplan . Das Wort missfiel Mecchit im Zusammenhang mit einem, der einmal gewesen war wie er. Einem Auserwählten. Einem Angehörigen der höchsten Elite, die sein Volk kannte ... und mit allen Befugnissen ausstattete ...

Die Konditionierung, von der Moaree sprach, war das bestgehütete Geheimnis derer, die das Septemvirat bildeten. Nur Hohe wie Mecchit – oder Sobek, Siroona ... wie sie alle hießen – hatten diese Stählung des Körpers durchlaufen. Diese Schärfung der Sinne. Diese Aufhellung des Geistes.

Von Moaree unbemerkt berührte er einen bestimmten Sensor seiner Nanorüstung, worauf ein »Bauplan« seiner selbst aufgerufen und vor sein geistiges Auge projiziert wurde. Es war eine dreidimensionale »Aufrissskizze« seines Körpers, so detailliert, dass sie selbst winzigste Nervenbahnen umfasste ... und mehr noch. Ein weiterer Sensorbefehl, und Mecchit hatte das Gefühl, seine Hülle durch ein Rastermikroskop zu betrachten, auf sie zuzurasen, in sie einzutauchen – in den ganz speziellen Mikrokosmos seines Organismus. Vor ihm öffneten sich Zellen, ins Riesenhafte vergrößerte Moleküle, Aminosäuren ... die Dreifachhelix, aus der sich das Erbgut zusammensetzte.

Er schaltete ab.

Moaree stand immer noch da. Abwartend. Ungeduldig. Und ... sie versuchte nicht einmal, es zu verbergen ... erzürnt.

Mecchits Blick tauchte hinab in den Tank und sog jedes Detail des Embryos in sich auf.

»Zeig mir die Simulation«, verlangte er.

Sie wusste sofort, was er meinte und wandte sich mit entsprechenden Befehlen an die allgegenwärtige KI.

Als sich das Hologramm über dem Tank aufbaute, traten sowohl Mecchit als auch Moaree zwei Schritte zurück, um es besser in Augenschein nehmen zu können.

Zunächst stellte es nicht mehr dar, als ein – auch in der Größe – exaktes Abbild des Embryos, der in der Nährlösung schwamm. Doch schon Augenblicke später kam das von der KI initiierte Programm zum Tragen, und das Hologramm simulierte die rasante Reife des Klons. Bis hin zum voll ausgebildeten Geschöpf. Bis hin zum erwachsenen ... Mont.

Beziehungsweise bis zur Karikatur jenes Hohen, der den Gang in die Stase und die »Überwinterung« all der Jahrtausende nicht überlebt hatte.

Der nackte Körper des aus unbekannten Gründen verstorbenen Foronenführers war mit Geschwulsten übersät; manche seiner Extremitäten wirkten überlang, andere seltsam verstümmelt. Am nachhaltigsten ins Gedächtnis aber grub sich die gewaltige Ausbuchtung an seinem Hinterkopf, die fast wie ein zweiter, unvollkommen gebliebener Schädel wirkte, der mitten im Wachstum gebremst worden und schließlich verkümmert war.

Vor ihnen, über dem Tank, schwebte eine Missgeburt , die Mecchit schließlich dazu veranlasste, sich selbst mit dröhnender Stimme an die KI zu wenden. »Genug! Simulation aus!«

Das Hologramm verblasste.

Moaree wusste, wann sie zu schweigen hatte, und nach einer Weile, in der die Stille sich wie ein heilendes Tuch über ihn zu senken schien, sagte er: »Es tut mir Leid. Ich hätte deine Einwände ernster nehmen müssen. Ich ... werde dir alle nötigen Daten zur Verfügung stellen, um es beim nächsten Mal besser zu machen und ... solche Entgleisungen zu vermeiden. – Besitzt du noch genügend Ausgangsmaterial?«

»Für mindestens drei Versuche.«

»Gut.« Er machte eine Geste der Zufriedenheit. »Dann töte dieses ... Balg.«

Für einen flüchtigen Augenblick glaubte er Entsetzen über seinen Befehl auf ihren Zügen lesen zu können – Züge, die nur Foronen untereinander zu lesen vermochten. Doch dann machte sie ihrerseits eine Bewegung, die rückhaltlose Zustimmung signalisierte.

»Wann bekomme ich die Daten?«, fragte sie.

»Du hast sie bereits in deinem Memoryspeicher – gehe achtsam damit um. Sie dürfen niemals – ich betone: niemals – in andere Hände fallen.«

Sie bestätigte. Ihr war klar, dass selbst ein Hoher mit Konsequenzen hätte rechnen müssen, wenn bekannt geworden wäre, was er getan hatte. Zumindest Sobek gegenüber, der so etwas wie der ungekrönte König innerhalb des Septemvirats verkörperte, hätte er Rechenschaft für sein Tun ablegen müssen. Die Probe aus dem Körper des toten Mont war heimlich von Mecchit entnommen worden – ein Sakrileg aus foronischer Sicht, und nur Moaree allein war eingeweiht, was Mecchit damit bezweckte.

Es gab Spezies – und Foronen gehörten dazu –, bei denen sich aus geringsten Geweberesten nicht nur die Körper neu klonen ließen, sondern auch ... Bewusstseins- und Gedächtnisinhalte.

Es war Mecchit von Anfang an verdächtig vorgekommen, dass Sobek so rasch auf die Übergabe der sterblichen Reste des Hohen Mont ans All gedrungen hatte. Der Eindruck, dass Sobek etwas zu verbergen hatte, dass er Spuren in Hinblick auf Monts ominöses Dahinscheiden verwischen wollte, lag zumindest für den auf der Hand, der lange vorher schon hatte beobachten können, wie die Rivalität zwischen Sobek und Mont, Siroona betreffend, immer mehr ausgeufert war.

Aber ohne eindeutige und unstrittige Beweise hätte Mecchit Mont niemals anklagen können, ohne sich selbst höchster Gefahr auszusetzen. Und auch wenn er darauf baute, dass Sobek wahrscheinlich nie mehr aus Samragh zurückkehrte, konnte er sich dessen erstens niemals völlig sicher sein. Und zweitens würde eine Bestätigung seines Verdachts, dass Sobek mit Monts Tod zu tun hatte, Mecchit selbst dann nützen, wenn die Original-SESHA für immer verschollen blieb.

Es galt, Sobeks Nimbus zu zerstören. Seinen Ruf zu ruinieren ...

... und somit Tür und Tor zu öffnen dafür, dass er, Mecchit, in die Fußstapfen des Mächtigsten aller Foronen schlüpfen konnte ...

... selbst um den Preis, Mont dafür als Golem wiedererstehen zu lassen.


*


»Der Klon war nicht alleiniger Grund deines Kommens, habe ich Recht?«

»Du kennst mich gut.«

»Ich ehre und achte dich.«

»Es gibt kein wichtigeres Kriterium, mich zu verdienen.«

Er wusste, dass er so mit ihr reden konnte. Er wusste, dass sie ihn trotzdem ehren und achten und ... lieben würde, bis ans Ende ihrer Tage.

Moaree wandte sich ihm zu, hob die Hand, vergewisserte sich noch einmal, dass sie auch tatsächlich allein im Labor waren – abgesehen von den allgegenwärtigen Augen und Ohren der KI, deren elektronische Lippen versiegelt bleiben würden – und berührte Mecchit dann, wie sie es sonst nur in den mehrfach gesicherten Wänden seiner oder ihrer Kabine wagte.

Er sah es ihr nach, erwiderte die Zärtlichkeit sogar.

»Unsere Zeit wird kommen«, versprach er leise. »Vorher aber müssen wir die perfekten Umstände schaffen. Deshalb kam ich. Wir nähern uns einer viel versprechenden Welt – der vermutlich viel versprechendsten seit Beginn unserer Suche.«

»Ich werde dich in die Zentrale begleiten, wenn du denkst –«

»Darum geht es nicht«, unterbrach er sie.

»Nicht? Sondern?«

»Ich liebe dieses Schiff so wie ich es auch verabscheue ... wenn ich zu lange darin eingesperrt bin. Vielleicht war der Schlaf im Herzen Tovah’Zaras eine Idee zu ausgedehnt ... Vielleicht ist es der Beginn einer klaustrophobischen Paranoia ... wer weiß? Jedenfalls will ich wieder einmal die Strahlen einer echten Sonne, die Winde einer natürlichen Atmosphäre auf meiner Haut spüren. Die Schwerkraft eines Planeten soll an meinen Muskeln zerren, ich will sie bezwingen, ihnen zeigen, was ein Forone vermag ... will als einer der Ersten ... nein, als der Erste unserer Art überhaupt über die Oberfläche jener Welt schreiten, von der aus wir einst wieder als mächtiges Volk, als Macht zu den Sternen ausschwärmen werden. Zunächst zu den Sternen dieser Galaxis und dann, irgendwann einmal vielleicht, wenn das Schicksal es will, auch heim zu den Alten Orten, die uns gestohlen wurden ...«

»Du möchtest ein Außenteam anführen?«

»Das will ich. Und du sollst mich begleiten – neben einigen anderen, die du bestimmen wirst.«

»Ich danke dir für dein Vertrauen, aber –«

»Es gibt kein Aber.« Er nannte ihr eine Zeit, zu der sie sich im Hangar einfinden sollte, in dem ein für ihr Unterfangen geeignetes Fahrzeug bereitstehen würde. Danach verabschiedete er sich – leidenschaftlich.

Moaree spürte ein tiefes Zutrauen zu Mecchit, wie sie es noch für keinen anderen Foronen jemals zuvor empfunden hatte. Es war geprägt von Achtung und Bewunderung, aber es ging noch darüber hinaus, mit jedem Aufeinander- und Zusammentreffen mehr.

Sie erbebte innerlich, als er sie allein in ihrem Labor, allein mit dem geklonten Embryo, der der Vernichtung anheim fallen würde, zurückließ.

Erst der Anblick der Missgeburt ernüchterte sie wieder so weit, dass sie anfangen konnte, sich Gedanken über die anderen Mitglieder des Teams zu machen, das an Mecchits Seite – und nach ihm – seinen Fuß auf eine Welt setzen sollte, die vielleicht wirklich halten konnte, was sie aus der Ferne versprach.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738924275
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
raumschiff rubikon boreguirs vermächtnis

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Titel: Raumschiff RUBIKON 1 Boreguirs Vermächtnis