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Der Wutdrache

©2018 120 Seiten

Zusammenfassung

Der Wutdrache
von Thomas Ziebula

Der Umfang dieses Buchs entspricht 101 Taschenbuchseiten.

Eine einfühlsame Geschichte über eine Scheidung und den Schmerz des verlassenen Kindes. Thomas Ziebula erzählt sie bildhaft und humorvoll, so dass es trotz des ernsten Themas viel zu lachen gibt.
Zum Vorlesen für Kinder ab sechs und zum Selberlesen für junge Leseratten ab acht Jahren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Der Wutdrache

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von Thomas Ziebula

Der Umfang dieses Buchs entspricht 101 Taschenbuchseiten.

Eine einfühlsame Geschichte über eine Scheidung und den Schmerz des verlassenen Kindes. Thomas Ziebula erzählt sie bildhaft und humorvoll, so dass es trotz des ernsten Themas viel zu lachen gibt.

Zum Vorlesen für Kinder ab sechs und zum Selberlesen für junge Leseratten ab acht Jahren.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Mara Kreimeier

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Der Wutdrache

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Herr Zwiebel sitzt in der Kneipe. Einen Milchkaffee hat er getrunken. Jetzt will er zahlen. Er öffnet sein Portemonnaie und beugt sich darüber. Drei Euro kostet ein Kaffee. Das weiß Herr Zwiebel schon. Seit zwei Wochen kommt er in diese Kneipe, um Kaffee zu trinken. Seitdem er kein Zuhause mehr hat, wo es Kaffee umsonst gab. Seitdem er nicht mehr bei seiner Frau und bei Jule lebt. In dem Hotelzimmer, in dem er jetzt wohnt, darf er keinen Kaffee kochen.

Gleich wird etwas geschehen. Was? Warten wir's ab.

Drei Euro also. Noch tiefer beugt sich Herr Zwiebel über sein Portemonnaie. Ein Eurostück und ein Zweieurostück, macht drei Euro. Er richtet sich auf und will >Zahlen bitte!< rufen. Es geht aber nicht.

Es geht nicht? Das ist doch ganz einfach, Zwiebelchen, du guckst die Kellnerin an, machst den Mund auf und rufst: >Zahlen bitte!< Warum soll das nicht gehen?

Es geht eben nicht! Herr Zwiebel ist zu erschrocken.

Erschrocken?

Ja, erschrocken.

"Zum Fungifurzum," denkt Herr Zwiebel, "da sitzt ja einer!

So ist das in einer Kneipe, Zwiebelchen, die einen kommen und setzen sich und dann sitzen sie. Die anderen stehen auf und gehen, dann sitzen sie nicht mehr dort, wo sie gesessen haben. Und einige sitzen die ganze Zeit, sitzen einfach da.

Sicher, so ist das in einer Kneipe – aber der hat eben noch nicht an Herrn Zwiebels Tisch gesessen. Bevor Herr Zwiebel sich über sein Portemonnaie gebeugt hat, um drei Euro herauszufischen, hat der noch nicht da gesessen. Niemand hat da an Herrn Zwiebels Tisch gesessen, ehrlich nicht! Jetzt aber, nachdem Herr Zwiebel drei Euro aus seinem Portemonnaie geholt hat, jetzt aber, als er sich wieder aufgerichtet hat, jetzt aber, als er der Kellnerin >Zahlen bitte!< zurufen will, jetzt sitzt da einer. Oder eine oder etwas oder ein Tier. Man weiß nicht genau, was es ist.

Es ist größer als Herr Zwiebel. Es ist nicht direkt ein Krokodil. Obwohl es ziemlich grün aussieht. Ein Gorilla ist es auch nicht. Obwohl es eine ziemlich breite Brust hat. Auch kein Schäferhund, obwohl sehr spitze Zähne aus seinem langen, breiten Maul ragen. Auch kein Ofen, obwohl ihm kleine Rauchwölkchen aus den Nasenlöchern steigen.

Vielleicht ist es ein Känguru, Zwiebelchen? Das hat auch so einen langen Schwanz.

Blödsinn! Hast du schon mal ein grünes Känguru gesehen?

Vielleicht ein Känguru, dem es schlecht geworden ist, weil es Kaffee getrunken hat?

Blödsinn! Hast du schon mal ein Känguru gesehen, dem es schlecht geworden ist, das gelbe Gummistiefel, gelbe Kopfhörer und eine rote Lederhose trägt? Gelbe Kopfhörer, die sehr groß sind und rote Lederhosen, die bis zu den Knien reichen? Nein? Und hast du schon mal ein Känguru gesehen, dem es schlecht geworden ist, weil es Kaffee getrunken hat, und das eine knallrote Lederhose mit einem knallroten Brustlatz trägt, auf dem ein grellgelber Blitz prangt? Nein? Na also!

Es ist kein Känguru. Es ist auch kein Ofen. Es ist kein Schäferhund, und es ist kein Krokodil. Und es ist erst recht kein Mensch.

"Ich bin der Wutdrache", sagt das Ding, das Wesen, das Vieh, oder wie soll man es nennen? Und es sagt das eigentlich nicht, sondern es krächzt das: "Ich bin der Wutdrache."

"Ach so", stammelt Herr Zwiebel, "der Wutdrache, natürlich." Verwirrt schaut er sich in der Kneipe um. An dem Tisch vor dem Fenster schwebt eine Zeitung, von zwei Händen gehalten. Jetzt senkt sich die Zeitung, und ein Herr mit Krawatte und Schnurrbart taucht hinter ihr auf. Beim Umblättern lässt er seinen Blick über die Kneipe schweifen. Er schaut auch das Ding an Herrn Zwiebels Tisch an. Er scheint es jedoch nicht besonders aufregend zu finden, denn schnell verschwindet er wieder hinter seiner Zeitung.

Am Nachbartisch sitzen zwei ältere Damen. Sie essen Eis und erzählen sich etwas. Freundlich nicken sie Herrn Zwiebel zu und erzählen weiter.

Ja, zum Fungifurzum, sehen die denn nicht, was an meinem Tisch sitzt?, denkt Herr Zwiebel. Sehen die denn nicht dieses fürchterliche Vieh in den roten Lederhosen? Herr Zwiebel ist ratlos.

Die drei Männer an der Theke reden nicht miteinander. Sie reden mit überhaupt niemandem. Sie trinken Bier. Müde schauen sie in der Kneipe herum. Auch sie scheinen das Vieh an Herrn Zwiebels Tisch nicht zu sehen. Herr Zwiebel ist ganz durcheinander.

Und die beiden dort hinten in der Ecke sehen das Vieh auch nicht. Gar nichts sehen die. Die küssen sich nur. Mit geschlossenen Augen.

Und die Kellnerin? Herr Zwiebel will wieder >Zahlen bitte!< rufen, doch nur ein heiseres Gurgeln kommt aus seinem Hals. Immerhin schafft er es, ihr ein Handzeichen zu geben. Doch auch ihr Gesicht bleibt unbewegt, als sie ihm zunickt. Sieht denn auch sie nicht das gefährliche Vieh an seinem Tisch? Das Vieh mit den gelben Kopfhörern und dem grellen Blitz auf dem Brustlatz?

Gut, denkt Herr Zwiebel, ich allein sehe es also. Bilder, die man sieht, muss man aufschreiben, dann verschwinden sie aus dem Kopf. Das weiß Herr Zwiebel. Er holt ein Notizheft aus seinem Rucksack und beginnt zu schreiben. Dabei gibt er sich große Mühe, nicht mehr auf das Ding zu gucken, das gesagt hat: "Ich bin der Wutdrache."

Herr Zwiebel schreibt auf, was er sieht: Ich sehe etwas, was du nicht siehst, schreibt er, das ist größer und viel dicker als ich. Es hat einen langen, fetten Schwanz, der zum Ende hin immer dünner und schließlich ganz spitz wird. Auf der oberen Seite des Schwanzes stehen zwei Reihen breiter Stacheln ab, die zur Schwanzspitze hin kleiner und kleiner werden. Und der Schwanz ist grün. Und das Gesicht von dem Etwas, das ich sehe, ist auch grün. Es hat ein langes, breites Maul. Spitze Zähne ragen über das, was man Lippen nennen könnte, wenn es nicht so schwärzlich und hart aussehen würde. Zähne wie bei einem Schäferhund. Vorne auf dem langen, breiten Maul sitzen zwei Beulen. In jeder Beule ist ein Loch und aus beiden Löchern quillt manchmal ein bisschen Rauch. Und hinten, wo das lange, breite Maul anfängt, ein Stück weiter oben in dem Gesicht von dem Etwas, sehe ich zwei Augen. Die Augen passen nicht zu dem Etwas. Sie sind groß und braun. Sie gucken unschuldig und fast lieb. So wie die Augen eines Kindes gucken. Das Etwas hat auch Arme. Lang, kräftig und faltig sehen die aus. Und an den Armen sehe ich Hände. Oder eigentlich keine Hände, sondern Pranken mit Krallen an dem, was man Finger nennen könnte. Das Etwas hat auch Beine. Beine mit besonders fetten Schenkeln. Und die Enden der Beine stecken in gelben Gummistiefeln.

Herr Zwiebel schreibt auch alles andere, was er sieht, in sein Notizbuch: Die rote Lederhose mit dem Brustlatz, den grellgelben Blitz auf dem Brustlatz und die großen, gelben Kopfhörer. Auch dass das Ding gesagt hat: "Ich bin der Wutdrache", schreibt er auf. Und wenn ich jetzt mein Notizbuch zugeschlagen und verpackt haben werde, so lautet der letzte Satz, den Herr Zwiebel aufschreibt, dann werde ich den Blick heben und nur noch einen leeren Stuhl an meinem Tisch sehen. Es gibt nämlich gar keine Wutdrachen, und ich habe in Wirklichkeit gar nichts gesehen.

Herr Zwiebel schlägt den Notizblock zu, packt ihn wieder in den Rucksack und hebt langsam den Blick.

Das Vieh sitzt immer noch da. Die beiden grünfaltigen Ellenbogen hat es auf den Tisch gestemmt und sein langes, breites Maul in die Krallenpranken gestützt. Aufmerksam mustert es Herrn Zwiebel. Mit großen, freundlichen Augen. "Ich bin der Wutdrache", sagt es, "Jule schickt mich."

"Zum Fungifurzum!", murmelt Herr Zwiebel. "Es sitzt immer noch da. Es sagt immer noch ‚Ich bin der Wutdrache’. Jetzt behauptet es sogar, mein Jule würde es geschickt haben." Er starrt das Vieh an. "Eine Fata Morgana, ein Fiebertraum", murmelt er. Er fasst sich an die Stirn. "Ja, wahrscheinlich bin ich krank – kein Wunder, wenn man kein Zuhause mehr hat, da sieht man eben Sachen, die gar nicht da sind."

Herr Zwiebel streckt die Hand nach dem Vieh aus. Ganz langsam. Seine Hand wird ins Leere greifen, da ist sich Herr Zwiebel sicher. Es ist ja nur ein Fiebertraum, was da ihm gegenüber an seinem Tisch sitzt. Nur eine Fata Morgana.

Aber seine Hand greift nicht ins Leere. Sie stößt an die Spitze des langen, breiten Mauls. Sie greift dorthin, wo die beiden dicken Beulen sind, die Nasenlöcher des Viehs. Feucht und warm fühlt sich das an und schwupp! schnappt das grüne Maul nach Herrn Zwiebels Hand. Er ist gefangen, o weh!

"Loslassen!", ruft Herr Zwiebel. "Lass meine Hand los!" Doch das Vieh, das gesagt hat „Ich bin der Wutdrache", schüttelt den Schädel und grunzt nur. Seine dunklen Kinderaugen blinzeln bedauernd.

Die Kellnerin kommt. "Drei Euro", sagt sie, und: "Würden Sie bitte den Herrn in Ruhe lassen?" Zu Herrn Zwiebel sagt sie das, nicht zu dem Vieh. Das schaut die Kellnerin mit treuen, unschuldigen Augen an. Als wollte es sagen: Ich bin so arm und klein – danke, dass du mir hilfst. Sein Maul hält es dabei fest um Herrn Zwiebels Hand geschlossen.

"Hören Sie nicht, was ich sage?" Empört blickt die Kellnerin Herrn Zwiebel an. Richtig streng klingt ihre Stimme jetzt. "Sie sollen sofort den Herrn loslassen!"

Herr Zwiebel versteht die Welt nicht mehr. Er soll den „Herrn" loslassen und zwar sofort. "Hab ich richtig gehört?", murmelt er.

Ja, sicher hast du richtig gehört, Zwiebelchen. Du sollst den Herrn loslassen, und zwar sofort.

"Aber da ist doch gar kein Herr!"

Doch, doch, da ist ein Herr, Zwiebelchen. Ein grüner Herr mit Schwanz und in roten Lederhosen, auf deren Brustlatz ein knallgelber Blitz prangt.

"Das Vieh, das gesagt hat ‚Ich bin der Wutdrache’? Meint sie das?"

Jawohl, Zwiebelchen, den Herrn Wutdrachen, den meint die Kellnerin.

"Aber ich halte ihn doch gar nicht fest!", ruft Herr Zwiebel. "Er hält mich fest!" Er versucht seine Hand aus dem Rachen des Viehs zu ziehen, doch das schnappt noch einmal zu und der Unterarm von Herrn Zwiebel verschwindet in seinem Maul. "Aua! Hilfe!", schreit Herr Zwiebel.

Die Kellnerin wird richtig böse. "Wenn Sie nicht sofort den Herrn loslassen, werde ich den Chef holen!", zischt sie Herrn Zwiebel an.

"Aber er hält doch mich fest!", sagt Herr Zwiebel.

Die Kellnerin wendet sich ab und verschwindet hinter der Theke. Als sie zurückkehrt, ist ein glatzköpfiger Mann bei ihr. Sein Bauch ist dick, an seinem schwarzen Schnurrbart hängt etwas Schlagsahne. Er beugt sich zu Herrn Zwiebel hinunter. "Ich bitte Sie", flüstert er, "dies ist ein anständiges Lokal, lassen Sie diesen Herrn los."

"Ich kann aber nicht!", jammert Herr Zwiebel. Er zieht an seinem Arm. Er zieht und zieht. Doch das Vieh lässt nicht los. Fest hält es sein langes, breites Maul um Herrn Zwiebels Arm geschlossen. Ganz unschuldig guckt es dabei.

Herr Zwiebel schaut sich hilfesuchend in der Kneipe um: Der Mann am Fenster hat aufgehört, Zeitung zu lesen. Die beiden Damen am Nachbartisch haben aufgehört zu erzählen. Die drei Männer an der Theke habe ihre Biergläser losgelassen und gucken gar nicht mehr müde. Der Mann und die Frau dort hinten in der Ecke haben aufgehört, sich zu küssen. Alle schauen auf ihn. Auf Herrn Zwiebel. Als wollten sie sagen: Sofort loslassen! Herr Zwiebel beginnt zu schwitzen.

Die Kellnerin steht hinter dem Vieh und hat beide Fäuste in die Hüften gestemmt. Der Chef steht neben Herrn Zwiebels Stuhl. Ernst und besorgt hat er seine schwarzen Augenbrauen hochgezogen.

Herr Zwiebel zieht an seinem Arm. Er steht auf und zieht ganz fest. Fester und noch fester. Da öffnet das Vieh sein Maul und lässt los. Herr Zwiebel stürzt nach hinten weg, stolpert und fällt auf den Tisch der beiden Frauen, die vorhin so viel erzählen mussten. Jetzt springen sie auf und stoßen spitze Schreie aus. Eisschalen klirren, Löffel fallen scheppernd auf den Fußboden, und Herr Zwiebel liegt stöhnend unter dem Tisch der beiden Frauen.

Der Chef und seine Kellnerin beachten ihn gar nicht. Sie müssen den Drachen trösten.

"Es tut uns so leid", sagen sie zu ihm, "hat er Ihnen weh getan, der Grobian?"

"Ist nicht schlimm, wirklich nicht." Aus treuen Kinderaugen blinzelt der Wutdrache den Chef und seine Kellnerin an.

Herr Zwiebel liegt unter dem Tisch und überlegt sich, ob er etwa träume oder womöglich verrückt geworden sei. Er blickt sich in der Kneipe um. Als würde er jemanden suchen, der zu ihm hält. Der Herr am Fenster schaut ihn empört an, schüttelt verächtlich den Kopf und verschwindet wieder hinter seiner Zeitung. Die beiden Erzählfrauen tuscheln. Sie heben einen Zipfel der Tischdecke hoch, um besser unter ihren Tisch sehen zu können. Dort liegt Herr Zwiebel in ihrem Eis. Sie schütteln den Kopf. Die Küsser schütteln den Kopf und küssen weiter. Die drei Männer an der Theke schütteln den Kopf. Dabei schimpfen sie: "Unschuldige Drachen hier belästigen! Sauerei!", brummt der eine. "Sollen wir den Kerl rausschmeißen, Herr Drache?", fragt der zweite. Und der dritte spendiert ein Eis. "Für den sympathischen Herrn in den roten Lederhosen", sagt er zur Kellnerin.

Der Chef ist böse mit Herrn Zwiebel. "Wenn Sie sich nicht benehmen können, dürfen Sie nie mehr wiederkommen! Wir sind ein anständiges Lokal!" Die beiden Frauen nicken heftig. Die drei Männer auf den Barhockern knallen ihre Bierkrüge vor sich auf die Theke. "Jawoll!", rufen sie. "Ein anständiges Lokal!"

Hörst du, Zwiebelchen? Ein anständiges Lokal! Nicht für Leute, die kein Zuhause mehr haben. Schnell aufstehen, die Stühle zurechtrücken, bezahlen, und nichts wie weg aus dieser Horrorkneipe! Halt, vergiss deinen Rucksack nicht!

"Warte auf mich!", krächzt ihm das Vieh hinterher. Schnell kippt es das ganze Eis auf einmal in seinen gewaltigen Rachen, dann rülpst es so laut, dass die Kellnerin vorwurfsvoll Herrn Zwiebel anschaut und dabei mit dem Kopf schüttelt. Während das Vieh aufsteht, steigen kleine Dampfwölkchen aus seinen Nüstern. Zusammen verlassen sie die Kneipe.

"Auf Wiedersehen, Herr Drache!", rufen die drei Männer an der Theke und die beiden Erzählfrauen hinter ihnen her. Draußen, vor der Tür, muss Herr Zwiebel das Vieh wieder angucken. Seinen grünen Schuppenpanzer, seine riesigen, gelben Stiefel, die rote Lederhose mit dem grellgelben Blitz auf dem Brustlatz, die gelben Kopfhörer. Ganz lieb und treu schaut es zurück.

"Wer bist du?", fragt Herr Zwiebel leise.

"Ich bin der Wutdrache."

"Und was willst du von mir?"

"Jule schickt mich, ich soll dich fressen."

Alles klar, Zwiebelchen? Dein kleiner Sohn Julius schickt den Wutdrachen, damit der dich auffrisst.

"Überhaupt nichts ist klar! Wieso Wutdrache? Wieso Jule? Wieso auffressen?"

Das Vieh, als könnte es Gedanken lesen, sagt: "Tut mir wirklich leid, aber ich bin der Wutdrache und soll dich fressen. Oder du kommst wieder nach Hause, sagt Jule." Dann schaukelt er die Treppe hinunter, der Wutdrache, geht über die Straße und steigt in die Straßenbahn.

Herr Zwiebel schließt die Augen und schüttelt den Kopf. Ganz schnell schüttelt er ihn. Danach öffnet er die Augen wieder. Die Straßenbahn ist hinter der nächsten Straßenecke verschwunden. "Ein Traum", sagt Herr Zwiebel zu sich selbst. Laut sagt er das. "Nur ein verrückter Traum."

Warten wir's ab.

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Jule

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Es ist Samstag. Herr Zwiebel wartet auf dem Spielplatz. Auf Jule. O je, ist er aufgeregt!

Da kommt er! Sein Jule! Braune Augen, blonde Haare, freches Gesicht. So frech – Herr Zwiebel liebt dieses Gesicht.

Aber was hat er denn da auf dem Arm, der Jule? Ein Stofftier! Merkwürdig, sonst hat Jule nie mit Stofftieren gespielt. "Er heißt Ottomax", erklärt Jule, "hab ich geschenkt gekriegt."

Ottomax ist grün. Er trägt gelbe Gummistiefel und rote Lederhosen, die bis zu den Knien reichen. Auf dem Brustlatz der Lederhosen prangt ein gelber Blitz, ein grellgelber Blitz.

"Ottomax ist ein Saurier", sagt Jule, "ganz stark ist er und wahnsinnig gefährlich." Ottomax trägt auch gelbe Kopfhörer.

"Das sind doch keine Kopfhörer, das sind Ohrenschützer", lacht Jule, "damit er keine kalten Ohren kriegt in der Menschenwelt, und damit er nicht alles hören muss."

"Was soll er denn nicht hören, dein Ottomax?" Herr Zwiebel ist neugierig.

"Dass Mama weint und dass du eine Verliebte hast."

Jetzt musst du aber schlucken, Zwiebelchen, was? Das hättest du dir doch selber denken können, was der arme Ottomax nicht hören soll!

Der arme Ottomax kommt Herrn Zwiebel bekannt vor, sehr bekannt. "Von wem hast du den denn geschenkt bekommen?", will er wissen. Jule zuckt mit den Schultern. "Ottomax lag einfach vor der Tür."

Auf dem Spielplatz sind noch andere Kinder. Mit ihren Müttern. Zwei kennt Herr Zwiebel. Es sind Freundinnen von Jules Mutter. Als Herr Zwiebel >Guten Tag< sagen will, gucken sie schnell weg.

"Kann denn Ottomax sprechen?", fragt Herr Zwiebel. Jule lacht ihn aus. "Ich meine, ist er manchmal größer als jetzt?" Verlegen druckst er herum, der Zwiebelvater. "Ich meine, kommen manchmal Qualmwölkchen aus seinen Nasenlöchern und, ich meine, kann er Menschen fressen?" Jule lacht nur. Wie frech er lachen kann, der Jule!

"Wie sieht deine Verliebte aus, Paps?" Jetzt ist Jule neugierig. "Eher wie die oder eher wie die?" Er zeigt auf zwei Mütter. Die eine ist blond, ein wenig pummelig und trägt einen Minirock. Die andere hat dunkle, lange Haare und trägt eine Brille und Jeans. Fragend guckt Jule seinen Vater an.

Also Zwiebelchen, wie sieht sie aus? Komm, sag es deinem Jule.

"Mein Jule", sagt Herr Zwiebel, "nächste Woche fängt der Sommer an, dann sind es nur noch zwei Monate, bis du in die Schule kommst. Freust du dich darauf?"

"Wie sieht deine Verliebte aus, Paps?" Jule ist ein hartnäckiger Junge. "Eher wie die oder eher wie die?" Die beiden Frauen wundern sich, weil Jule so hartnäckig mit dem Finger auf sie zeigt.

"Eher wie die mit der Brille", brummt Herr Zwiebel.

Nanu, Zwiebelchen, warum klingt deine Stimme auf einmal so leise und heiser?

Sie bauen eine Sandburg. Eine mit dicken Mauern und zwei hohen Türmen. Das kann der Zwiebelvater besonders gut. Und obwohl ihm die Burg so gut gelingt, freut sich Jule nicht wie sonst. "Du bist blöd, Paps!"

Herr Zwiebel erschrickt. Was hat mein Jule da gesagt?, denkt er.

Er hat gesagt, dass du blöd bist. Hast du es nicht verstanden, Zwiebelchen? Du bist blöd, das hat dein Jule gesagt.

Herr Zwiebel weiß gar nicht, was er darauf sagen soll. "Findest du?", fragt er.

Ja, das findet sein Jule. "Wer einfach weggeht, ist blöd", findet Jule. Er steckt große Ahornblätter von außen um die dicken Mauern der Sandburg. "Aber in einem Jahr kommst du ja wieder, stimmt's?"

"Mal sehen", brummt Herr Zwiebel.

"In einem Jahr kommst du wieder, sonst passiert was!" Jule packt Ottomax und lässt ihn durch die Burg stapfen. "Sonst passiert was!", ruft er. Er lässt Ottomax auf einen der Türme hüpfen. Der Turm fällt zusammen. "Sonst passiert was!" Schrill und krächzend klingt Jules Stimme. Ottomax fegt durch die Sandburg. Der zweite Turm fällt um. Ganz wild rast Ottomax jetzt durch die schöne Sandburg. Alle Mauern stürzen ein. Und jetzt ist die prächtige Burg nur noch ein wüster Sandhaufen.

Herr Zwiebel und sein Jule stehen davor und betrachten die Bescherung. Herr Zwiebel guckt ganz betreten. Sein Jule guckt zufrieden. "Komm, Paps, wir wippen. Du nimmst Ottomax." Auf die größte Wippe steigen Herr Zwiebel und sein Jule. Fest abstoßen muss sich der Zwiebelvater, sonst wäre ja sein Jule immer oben und er selbst immer unten, denn er wiegt dreimal so viel wie Jule. Und der wiegt vierundzwanzig Kilogramm. Mit der rechten Hand hält er den Griff der Wippe fest, mit der linken hält er den Kuschelsaurier fest. Weich fühlt der sich an.

Der ist doch ganz harmlos oder, Zwiebelchen? Weich und kuschelig und harmlos. Ein Stofftier eben, weiter nichts.

Herr Zwiebel hört auf, sich abzustoßen. Er bleibt einfach sitzen. Jule sitzt oben. Er wiegt ja nur vierundzwanzig Kilo. "Sag, mein Jule, glaubst du, dass es Drachen gibt?" Jule lacht. Seine Augen werden ganz schmal. Wie ein Chinese sieht er aus, wenn er lacht. "Ich meine, glaubst du, dass es echte Drachen gibt. Also solche, die umhergehen können und die groß und lebendig sind?"

Jule legt den Kopf schief und lacht verschmitzt. "Los Paps, weiterwippen. Gib mir Ottomax, dann bin ich ein bisschen schwerer."

"Kannst du fangen?", fragt Herr Zwiebel. Er wirft den Kuschelsaurier zu Jule hoch.

Sieh nur, Zwiebelchen, wie dein Jule fangen kann!

Jule fängt den Saurier auf und schwupp! Jule knallt mit der Wippe ins Gras. Und schwupp! Der Zwiebelvater schnellt mit der Wippe nach oben. So schnell geht das, dass Herr Zwiebel in die Luft fliegt, einen Salto schlägt und ins Gras purzelt.

Jule lacht laut. Die anderen Kinder lachen. Die Mütter lachen. Die mollige, blonde biegt sich vor Lachen.

Was war das Zwiebelchen? Bist du so ein toller Turner? Bist du womöglich ein Artist?

"Quatsch!", murmelt Herr Zwiebel. "Ich bin der Zacharias Zwiebel, ein ganz normaler Lehrer, und irgendwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu." Er steht auf und klopft sich den Staub aus der Hose. "Irgendetwas stimmt hier nicht. Bin ich verrückt geworden? Ist die Welt verrückt geworden?"

Jule rennt schon zur Schaukel. "Komm, Paps, wir schaukeln!"

Schaukeln ist gut. Da kann Herr Zwiebel ein wenig verschnaufen. Er braucht seinen Jule nur anzustoßen.

Hui! Wie er in die Luft fliegt, der Jule! Und er fällt zurück, und sein Vater stößt ihn wieder in die Luft, ganz hoch! Und er schwingt zurück, und wieder stößt ihn sein Vater in die Luft, noch höher! Und den Stoffdrachen drückt er ganz fest an sich.

"Jetzt du, Paps!"

"Wie? Ich?"

"Ja, du! Du sollst auch schaukeln! Ich stoß dich an!"

"Also gut", sagt Herr Zwiebel. Er denkt: Ich war ja auch mal ein kleiner Junge und habe schaukeln gelernt.

Herr Zwiebel schaukelt. Die Mütter staunen. Die dunkle mit der Brille schüttelt den Kopf. Und wie er schaukeln kann, der Herr Zwiebel. Ganz hoch. Jule stößt ihn an. Noch höher schwingt Herr Zwiebel.

Kann mein Jule mich so fest anstoßen?

Hoch fliegt Herr Zwiebel in die Luft, sehr hoch, fürchterlich hoch. "Halt, Jule! Nicht mehr anstoßen!" Wahnsinnig hoch fliegt Herr Zwiebel, höher als der Querbalken, an dem die Schaukelkette befestigt ist. "Hör auf, Jule! Ich überschlage mich!" Und plötzlich bekommt er einen besonders festen Stoß in den Rücken. Er schießt in die Luft, der Herr Zwiebel, o weh! So hoch, dass die Kette der Schaukel sich um den Querbalken wickelt! Er wird von der Schaukel geschleudert, er stürzt in den Sand, er kullert über das Gras, er bleibt vor einer Frau liegen, vor der molligen, blonden. Sie biegt sich vor Lachen.

Nanu? Wer steht denn da bei der Schaukel? Er kneift die Augen zusammen und schüttelt sich.

An der Schaukel steht dein Jule, Zwiebelchen. Wer soll da sonst stehen?

Herr Zwiebel öffnet die Augen. Da steht doch noch jemand. Oder noch etwas? Jemand oder etwas in gelben Gummistiefeln, roten Lederhosen, sehr groß, und sein Schwanz peitscht in den Sand. Noch einmal kneift Herr Zwiebel die Augen zusammen. Wieder schüttelt er sich und öffnet dann die Augen, um aufs Neue genau hinzusehen. Nein, doch nicht, unter der Schaukel steht nur Jule. Jule, der lacht und seinen Kuscheldrachen an sich drückt. Die Frau mit der Brille und den Jeans blickt mitleidig auf Herrn Zwiebel hinab. Der steht auf und klopft sich den Staub aus der Hose. "Irgendwas stimmt nicht", murmelt er, "irgendwas ist völlig verrückt."

Was jetzt, Zwiebelchen? Was willst du jetzt tun?

Herr Zwiebel wankt zur Schaukel, wo Jule mit dem Stoffdrachen im Arm steht. "Jule", sagt er, "um sechs Uhr muss ich dich zu Hause abliefern. Es ist schon fünf durch, lass uns gehen."

"Paps, kaufst du mir noch was?"

"Was denn?"

"Kokosflocken."

Im Süßigkeiten-Laden trifft Herr Zwiebel einen Kollegen, den Herrn Bruder. Herr Bruder ist auch Lehrer und arbeitet in der gleichen Schule wie Herr Zwiebel. Er hat viel zu erzählen, der Herr Bruder. Von seinem Auto erzählt er, von seinen Kindern und von seinen Schülern.

Jule findet das bald langweilig. Er guckt sich lieber die leckeren Sachen an, die es hier zu kaufen gibt. So viele Süßigkeiten auf einem Haufen! Pralinen, Karamelbonbons, Gummibärchen ...

Herr Bruder erzählt von seiner letzten Urlaubsreise und von seinen neuen Goldfischen.

... Schokolade, Marzipan, Pfefferminztaler ...

Herr Bruder schimpft über den Chef, den Herrn Doktor Adam. Oh, das tut Herrn Zwiebel gut, sich einfach etwas erzählen zu lassen. Und über den Chef, den Herrn Doktor Adam zu schimpfen, das tut ihm besonders gut.

Man kann aber nicht ewig erzählen. Sogar mit dem Schimpfen über den Chef muss man einmal aufhören. Vor allem, wenn es kurz vor sechs ist und man einen Jule hat, der um sechs Uhr bei seiner Mutter sein muss.

Jule steht schon an der Kasse und kaut mit vollen Backen. "Ich hab mir schon was ausgesucht, Paps", mampft er und hält einige Tüten mit Süßigkeiten hoch.

An der Ladentheke vor der Kasse steht noch einer und kaut aus vollen Backen – der Wutdrache! Mit seinen grünen Pranken presst er unzählige Tüten voller Süßigkeiten an den roten Brustlatz seiner Lederhose: Schokolade, Bonbons, Pralinen und Gummibärchen. Der gelbe Blitz ist verschwunden hinter all den süßen Sachen. Freundlich und unschuldig guckt der Drache Herrn Zwiebel an.

"Zweihundertzweiundachtzig Euro und dreißig Cent", sagt der Verkäufer zu Herrn Zwiebel.

Herr Bruder erzählt dem Wutdrachen von seinen Kindern, seinem Auto und seinem neuen Goldfisch. Und Herr Zwiebel bezahlt vierhundertzweiundachtzig Euro und dreißig Cent. Und Jule, sein Jule strahlt ihn an und mampft Gummibären. Wie er strahlt! Blond ist sein Haar, braun seine Augen und frech sein Gesicht! Oh, wie liebt er dieses Gesicht, der Herr Zwiebel! Seufzend steckt er seinen Geldbeutel wieder ein. Als er sich umdreht, ruft der Herr Bruder gerade "Tschüs!", und der Wutdrache ist nirgends mehr zu sehen.

"Danke", sagt Jule, "danke Paps", und er drückt seinen Stoff-Ottomax an sich.

An der Haustüre küsst Herr Zwiebel seinen Jule. "Gute Nacht, Jule."

"Bis morgen, Paps", sagt Jule. Die Haustüre schließt sich. Herr Zwiebel bleibt noch ein Weilchen vor ihr stehen. Dann macht er sich auf den Weg in sein Hotel.

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Wer glaubt an Drachen?

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Am nächsten Tag ist Sonntag. Bevor Herr Zwiebel zum Spielplatz geht, muss er erst noch telefonieren.

"Hallo, hier ist Zwiebel. Könnte ich den Zoodirektor sprechen?"

"Ja, am Apparat."

"Eine Frage, Herr Direktor, gibt es in Ihrem Zoo Krokodile?"

"Ja."

"Große, grüne Krokodile mit einem dicken Schwanz?"

"Ja, wie war Ihr Name?"

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738923216
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
wutdrache
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Titel: Der Wutdrache