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Berg der Götter

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 100 Seiten

Zusammenfassung

Alfred Bekker
Der Berg der Götter

Ein Mann bricht auf, um die Götter herauszufordern. Er begeht den größt möglichen Frevel und steigt auf ihren Berg, um zu beweisen, dass sie keine Macht haben – und steht ihnen schließlich Auge in Auge gegenüber.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Manche behaupteten später über ihn, er sei ein Lügner gewesen, der, um das völlige Misslingen seiner Unternehmung zu verwinden, Hohn und Spott über die erhabenen Götter gehäuft habe.

In Wirklichkeit hätten ihm die Gottheiten das Betreten ihres heiligen Berges Uytrirran verwehrt und er habe unverrichteter Dinge sein ebenso obskures wie frevelhaftes Unternehmen abbrechen müssen.

Nun, ganz offensichtlich war es so, dass Lakyrs Erlebnisse sich nicht mit den Vorurteilen der meisten seiner Zeitgenossen in Einklang bringen ließen und ihm vor allem deswegen zunächst Ablehnung entgegenschlug.

Aber wir wollen die Geschichte in der Reihenfolge erzählen, wie es der Abfolge der Geschehnisse entspricht, auch wenn mir hier und da der eine oder andere Einschub gestattet sei. 

Lakyr-a-Dergon (der von seinen Eltern nach Lakyr von der zweiköpfigen Katze benannt worden war, einem mythischen, etwas zwielichtigen Helden, der im  Zusammenhang mit den Überlieferungen unseres Gottes Mergun steht, es aber aus irgendeinem Grund nie selbst zur Göttlichkeit und dem damit verbundenen Aufstieg auf den Berg der Götter geschafft hat) stammte aus einer der angesehensten Familien von Palniarak, und einer seiner Ahnen, Dergon-a-Dergon, lenkte in schweren Zeiten die Geschicke unserer geliebten Stadt als Bürgermeister.

Was für ein Mensch war Lakyr, so werden sich nicht wenige fragen. Jener Lakyr-a-Dergon, den man später auch Lakyr Ohnefurcht oder Lakyr den Gottesverächter genannt hat. Es gab zugegebenermaßen auch noch ein paar weitaus weniger schmeichelhafte Namen und selbstverständlich avancierte er zeitweise zu einem Hassobjekt der Priester.

Wie ist überhaupt die Seele eines Mannes beschaffen, der so Unmögliches wagte und sich Dinge abverlangte, vor denen die meisten zurückschreckten – und es auch wohl heute noch tun würden?

War es nur Ruhmsucht, die ihn vorwärts trieb?

Sie allein wäre dazu kaum im Stande gewesen, wie ich denke.

Es musste noch einiges hinzukommen.

Niemand erschüttert leichtfertig die geistigen und religiösen Fundamente, auf denen unsere Welt steht.

Nun, mir sind ein gutes Dutzend Jahre der Bekanntschaft mit ihm vergönnt gewesen, und so hatte ich Gelegenheit genug, diesen außergewöhnlichen Charakter zu studieren.

Die hohen und vornehmen Herrschaften sind sich im Allgemeinen zu fein dazu, das Schreiben und Lesen zu erlernen und ziehen es daher vor, Personal anzustellen, das über derartige Fähigkeiten verfügt.

Ich war ein solcher Schreiber im Hause Dergon.

Und das erste Zusammentreffen zwischen Lakyr und mir fand statt, als ich mich bei ihm vorstellte, um eine Anstellung in jenem Hause zu finden.

Mir fiel sofort dieser Zug um seinen Mund auf, der sowohl Spott als auch Wohlwollen signalisieren konnte. Seine Augen wirkten intelligent und aufmerksam und auf seiner Stirn waren ständig irgendwelche Falten zu finden. Als ich sein Schreiber wurde, war er gut dreißig Jahre alt und hatte sein Leben bisher nur mit Dingen verbracht, die man getrost als unnütz qualifizieren kann. Er lebte von dem, was der Schweiß seiner Vorfahren geschaffen hatte und schien sich dabei nicht einmal unwohl zu fühlen.

Der dauernde Müßiggang hatte ihn zu einem Mann ohne jegliche Disziplin werden lassen und die Disziplinlosigkeit wiederum ließ ihn seine Intelligenz nutzlos verschwenden.

Er brachte es einfach nicht fertig (und schien im Übrigen auch gar nicht das Bestreben danach zu haben) seine Kraft auf irgendetwas zu konzentrieren, auf irgendein Ziel hin vielleicht.

Ziele?

Er schien keine zu haben, außer dem Genuss.

Nun, das sollte sich später ändern, aber so weit sind wir noch nicht.

*

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WIE, SO FRAGE ICH, kommt im Menschen das Bedürfnis zustande, sich höheren Wesen, Göttern etwa, unterzuordnen, ihren Willen über den eigenen zu stellen und ihnen auf Gedeih und Verderb zu gehorchen?

Einmal abgesehen davon, dass ein Großteil meiner Zeitgenossen allein eine solche Frage schon für Frevel und Verrat am Höchsten und Heiligsten hält, ist sie doch, wie ich denke, von einigem Interesse – und gar nicht so einfach zu beantworten.

Vielleicht verhält es sich so, dass ein Mensch, der seine eigene Person als nicht sehr wertvoll betrachtet, sich diesen, wie er meint, ‚fehlenden Wert’ borgt, indem er sich einer Gottheit unterordnet (oder auch einem charismatischen Führer) und damit Teil hat an dessen Macht und Glanz.

Wie aber wächst in einem Menschen das Bedürfnis, den Göttern zu trotzen?

Vielleicht aus demselben Grund, nämlich aus dem Glauben heraus, nicht genügend Wert allein durch die eigene Person zu besitzen. Aus der Überzeugung heraus (und sei sie auch noch so irrig) nur dann genügend gelten zu können, wenn da niemand mehr ist, der mächtiger ist, dessen Glanz heller strahlt und der über einem zu stehen scheint.

*

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ES WAR AUF EINER JENER unzähligen Festlichkeiten und Gelage, die im Hause Dergon abgehalten wurden.

Ein Dichter von zweifelhafter Qualität namens Drasque trug seine Verse vor, die die meisten der Anwesenden (unter anderem auch mich) zu Tode langweilten.

Aber die hohen Herrschaften liebten es, sich mit derartigen Leuten zu umgeben, bewies es doch, dass man einen Sinn für Kultur hatte.

Nun, während der Poet seine Zeilen in den Saal schmetterte und der eine oder andere doch erhebliche Mühe hatte, ein Gähnen zu unterdrücken, fiel mein Blick auf Lakyr – und ich sah, dass der Hausherr mit seinen Gedanken sicherlich auch meilenweit von den Begebenheiten voll blutvoller Leidenschaft und Übertreibung entfernt war, die der Dichter mit seinem Werk zu beschwören suchte. Außer Bediensteten und Freunden, die hin und wieder für einige Zeit bei ihm weilten, wohnte niemand in seinem Haus. Die Eltern waren zur Zeit der letzten Pestepidemie, die Palniarak heimgesucht hatte, dahingesiecht, ein Bruder war Waffenhändler in Rôlsur – weit im Osten gelegen – und eine Schwester, mit einem angesehenen palniarakischen Bürger verheiratet, hatte den Tod im Kindbett gefunden.

Lakyr bemerkte in diesem Moment, dass ich ihn beobachtete, und erwiderte meinen Blick. Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick in seinem Kopf vor sich ging, aber vielleicht begann hier so etwas wie Freundschaft.

Dann hatte der Dichter seinen Vortrag beendet und das Publikum klatschte artig, einige der Damen ließen sich sogar zur Exaltiertheit hinreißen.

„Bemerkenswert, diese Ausdrucksstärke! Ich bin regelrecht gerührt!“, hörte ich Dlaguna-a-Luason sagen, die Frau des gegenwärtigen Bürgermeisters von Palniarak, welcher ihr nickend beipflichtete.

Natürlich wagte niemand, sich kritisch zu dem Dargebotenen zu äußern, denn das wäre einerseits dem Gastgeber gegenüber unhöflich gewesen und hätte den Betreffenden zusätzlich dem Verdacht ausgesetzt, keinen Sinn für Poesie zu haben und nicht wirklich begreifen zu können, was der Dichter zum Ausdruck bringen wollte.

„Gedichte, die das Wirken der Götter verherrlichen!“, meldete sich Sringos, seines Zeichens oberster Priester des Arodnap-Tempels von Palniarak, zu Wort. „Kann ein Poet etwas Sinnvolleres schaffen?“

Ich hörte, wie Lakyr-a-Dergon ein heiseres und keineswegs wohlwollendes Lachen von sich gab. Es war hohntriefend und bewirkte, dass sich sowohl auf der Stirn des Priesters wie auf der des Dichters selbst tiefe Furchen des Missbehagens bildeten.

„Hat Euch mein Vortrag etwas nicht gefallen, Herr Lakyr?“, fragte Drasque gereizt. „So sagt es mir frei heraus! Kritisiert mich, so kann ich mich rechtfertigen.“

Lakyr nahm einen Schluck Wein aus seinem Becher und musterte den Poeten nachdenklich. Dann entschied er offensichtlich, dass ein Streit um die Kunst mit diesem Menschen nicht lohnte.

„Oh nein, ich habe nicht über Euren Vortrag gelacht. Und es lag mir ganz gewiss fern, Euch, Herr Drasque, angreifen zu wollen. Nein, mein Spott galt der Bemerkung unseres ehrenwerten Priesters Sringos.“

„Was war an seiner Bemerkung auszusetzen?“, ereiferte sich Drasque.

„Eigentlich nichts, denn schließlich kann man von jemandem wie ihm kaum erwarten, dass er etwas anderes sagt. Ich für mein Teil denke, dass es für Poeten sinnvollere Aufgaben gibt, als die Götter zu verherrlichen.“

„Jedem anderen wäre ich jetzt vielleicht gram“, entgegnete Sringos gelassen. „Aber ich kenne Euch zu lange, um nicht die ketzerischen Tendenzen in Eurem Denken, werter Herr Lakyr, längst bemerkt zu haben, die sich aber bei näherem Hinsehen als bloße Lust an der Provokation herausstellen. Ihr sagt einfach etwas in den Raum oder – so wie jetzt – gebt irgendeine andere Äußerung von Euch, ein Lachen etwa oder ein Aufstoßen an geeigneter Stelle. Und schon werden sich Leute zu Genüge finden, die sich um dieses Vorfalls willen ereifern werden.“

„Es erstaunt mich sehr, so etwas von Euch, einem ehrenwerten und tadellosen Priester des Arodnap, zu hören! Wie könnt Ihr Verständnis für derartige Respektlosigkeit zeigen!“, rief Lusason-a-Luason, der Bürgermeister von Palniarak.

Lakyrs Blick glitt zu mir hinüber, der ich etwas abseits saß, denn immerhin war ich nur ein Bediensteter, der auf Abruf bereitzustehen hatte, um irgendetwas aufzuschreiben oder vorzulesen.

„Dies ist Keregin, mein Schreiber“, stellte er mich vor und ich bemerkte plötzlich, wie die Aufmerksamkeit sich mir zuwandte.

„Keregin wird von mir als Mann mit klugem Geist und hoher Bildung geschätzt. Stellen wir ihm die entscheidende Frage: Existieren die Götter? Oder sind sie nur Wesen, die unsere Einbildung geschaffen hat?“

Ich sah, wie Sringos seine Augenbraune anhob und Dlaguna-a-Luason hochmütig den Mund verzog.

„Nun, ich denke nicht, dass ich der richtige Mann bin, der eine solche Frage abschließend beurteilen könnte!“, erklärte ich. Es war mir, wie ich gestehen muss, äußerst unangenehm, dass Lakyr mich mit seiner Frage so sehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hatte. Aber die Situation war nun einmal da und es schien kaum ein Ausweichen zu geben.

„Eure Bescheidenheit ehrt Euch, mein lieber Keregin“, sagte Lakyr daraufhin. „Aber ich bin an Eurer Meinung zu dieser Sache sehr interessiert – und wie ich denke, gilt dies in gleicher Weise für die anderen.“

Es wurden jetzt Trauben gereicht und während Sringos schmatzte und schlürfte, brachte er noch heraus: „Nur zu, Keregin! Vielleicht habt Ihr ja etwas Geistvolles dazu zu sagen! Schreiber sind zumeist intelligente Leute, mit denen ein Gedankenaustausch lohnt.“

Auch an mich trat jetzt eine Dienerin heran, um mir Trauben anzubieten, doch ich lehnte ab.

„Entweder die Götter existieren“, so begann ich dann, „oder sie existieren nicht. Wenn sie existieren, dann stellt sich die Frage, ob die Götter den Menschen oder der Mensch die Götter geschaffen hat. Wenn sie nicht existieren, so stellt sich die Frage, welche Macht statt ihrer die Welt ordnet und erhält. Vielleicht ist es so, dass die Welt und ihre Ordnung sich von allein erhalten, ohne dass es dazu der Einflussnahme höherer Wesen bedarf. Dem Menschen aber erschien dies ganz offensichtlich als eine zu unwahrscheinliche Möglichkeit, vielleicht gefiel es ihm auch ganz einfach nicht völlig allein auf der Erde zu wandeln, umgeben nur von einer kalten Ordnung oder einem verwirrenden Chaos – je nachdem, als was die Welt empfunden wird. Und so erschuf er sich die Götter. 

Wenn es aber tatsächlich so ist, wie die meisten unserer Zeitgenossen glauben und wie es uns auch die Priester in den Tempeln lehren, dass nämlich die Gottheiten vor den Menschen existierten und diese erschaffen haben ...“

„... wie im Übrigen wohl sämtliche religiöse Schriften berichten“, unterbrach Sringos.

„Ja, genau“, beeilte ich mich zu bestätigen. „Wenn es also so ist, dass die Götter den Menschen geschaffen haben, dann stellt sich doch unwillkürlich die Frage, wer dann die Götter erschuf!“

Lakyr wandte sich an Sringos.

„Wie ist Arodnap, der Gott, dem Ihr verpflichtet seid, erschaffen worden?“

Sringos wirkte jetzt gelöst, die Falten waren von seiner Stirn verschwunden, und er erwiderte sogar das spöttische Lächeln seines Gastgebers.

Seltsam, dachte ich. Die Priester, die ich bisher kennengelernt habe, waren von anderer Natur gewesen. Intoleranter, fanatischer, ja manchmal konnte man den Eindruck von Besessenheit gewinnen. Sringos’ Mimik und Gehabe schienen jedoch fast etwas Komödiantisches zu haben. Jedenfalls war es verwirrend für mich.

„Unser erhabener und zorniger Gott Arodnap?“ Sringos lehnte sich zurück und stopfte ein halbes Dutzend Trauben auf einmal in seinen Mund, so dass ihm der Saft am Kinn hinunterlief und seine geweihte Robe besudelte. „Arodnap, so lehrt uns die heilige Überlieferung, zeugte sich vor Urzeiten selbst. Und zwar aus Fels, Sand und Feuer.“

„Das ist richtig“, nickte Bürgermeister Luason-a-Luason. „Und wir haben keinerlei Grund, an dem Wahrheitsgehalt der Überlieferungen zu zweifeln.“

„Ach nein?“, fragte Lakyr mit vor Zynismus triefender Stimme.

„Die Götter dulden keinen Frevel“, fuhr der Bürgermeister fort. „Sie werden denjenigen, der sich gegen sie versündigt, schwer zu bestrafen wissen!“

„So lehren es die Überlieferungen“, stimmte Sringos zu, während ihm der Becher aufgefüllt wurde.

Lakyr verzog das Gesicht.

„Als ich das letzte Mal in Balan war“, erzählte er, „traf ich dort einen Mann, der behauptete, dass einzig und allein die Gesetze der Natur und der Logik das Universum regierten! Was wir höheren Wesen zuschreiben, wären nichts weiter als Phänomene, die der Mensch bisher noch nicht erklären vermocht hat. Ich glaube, dieser Mann hat recht.“

„Diese Stadt“, so erklärte jetzt ein gewisser Asertzu aus Rôlsur, der ein weithin angesehener und bekannter Kaufmann war und das bisherige Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, „gestattet es jedem ihrer Bürger – so ist es Gesetz und Herr Luason wird mir da zustimmen müssen – an den Gott zu glauben, der ihm beliebt. Oder auch an mehrere gleichzeitig. Die Vielzahl der verschiedensten Tempel und Kultstätten innerhalb unserer Mauern zeigt, wie lebhaft die Palniaraker davon Gebrauch machen. Ungewöhnlich ist es hingegen, wenn man an gar nichts glaubt, so wie Ihr, Herr Lakyr.“

Lakyr zuckte mit den Schultern.

„Ob ungewöhnlich oder nicht, ich denke, dass sich meine Sicht der Dinge eines Tages durchsetzen wird. Es gibt immer mehr Philosophen, die die nüchterne Erkenntnis dem Glauben an Wunder und höhere Wesen vorziehen. Es ist alles nur eine Frage der Zeit. Die Mühlen der Geschichte mahlen langsam und das zarte Pflänzchen der menschlichen Vernunft muss sich erst noch zu seiner vollen Größe entfalten.“

„Wir werden sehen“, brummte Sringos leise. „Wir werden sehen.“

„Man müsste auf den Uytrirran, den Berg der Götter, steigen. Dann würde sich schon erweisen, was an ihnen dran ist, an diesen Wesen, die angeblich unsere Welt regieren!“

„Dabei könntet Ihr unangenehme Dinge erleben, Freund Lakyr“, meldete sich Luason zu Wort. „Schließlich ist es den Sterblichen untersagt, den heiligen Ort zu betreten.“

Lakyr zuckte mit den Schultern.

„Alles Aberglauben. Was soll schon geschehen?“

„Ich hoffe doch, dass Ihr das alles nur im Scherz gesagt habt!“, sagte Dlaguna-a-Luason. Lakyrs Augen blitzten lustig.

„Wer weiß?“

––––––––

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4.

Musiker nahmen jetzt ihre Plätze ein, stimmten die Instrumente und erfüllten den Saal anschließend mit Wohlklängen.

Zunächst kam kunstvoll zubereiteter Schafskäse auf den Tisch, hinterher Fleisch – erst Lamm, dann Geflügel.

Es wurde gerülpst und geschmatzt, der Wein floss in Strömen und die Stimmung lockerte sich zusehends.

Als dann der Fisch gereicht wurde, war ein Großteil der Gäste unfähig, auch nur einen weiteren Brocken herunterzuwürgen und so mussten vorab Brechschalen und Federn gereicht werden.

Ich hörte, wie Drasque, der Dichter, der sich inzwischen zu einer Gruppe von Damen gesellt hatte, erklärte: „Er ist eigentlich ein Banause und barbarischer Kunstverächter. Ihr habt es gesehen, meine Damen, wie wenig er die Tiefe meiner Dichtung zu schätzen wusste, wie wenig es die Kraft meiner Verse vermochte, eine Seite in ihm zum Schwingen zu bringen.“

Es war unzweifelhaft, dass sich diese Bemerkungen auf den Gastgeber bezogen.

„Vielleicht muss man mit einer besonderen Ader geboren sein, um die Poesie wirklich zu verstehen und tatsächlich in das Wesen der Dinge eindringen zu können!“, schnatterte eine schrill klingende Stimme; ganz offensichtlich einzig und allein zu dem Zweck, den Dichter zu beeindrucken. Die Aufgeblasenheit und unter schönen, klingenden Worten verborgene Oberflächlichkeit und Hohlheit dieser Leute rief in mir höchstens so etwas wie Bedauern hervor, denn ich wusste, auf welch unsicherem Fuß sie im Innersten ihrer Seele standen und wie leicht ihr Glaube an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten zu erschüttern war.

Sie waren keinesfalls die Geistesriesen, die sie vorgaben zu sein. sie waren von einer von ihnen selbst als jämmerlich empfundenen Mittelmäßigkeit, mit der sie sich allerdings keinesfalls abfinden konnten. Auf diese Weise waren sie ständig gezwungen, bei Anlässen wie diesem eine Nebelwand aus Wortgeklingel und Phrasen um sich herum aufzubauen.

Ich denke, dass zum Leben das Lebenlassen gehört. Man kann derartige Existenzen durchaus hinnehmen und mit ihnen leben, ohne sie ständig auf ihre Kleinheit und Hohlheit hinweisen zu müssen, oder sogar seinen offenen Spott damit zu treiben – so wie es Lakyr-a-Dergons Art war. Wer will schon letztgültig entscheiden, wer tatsächlich weise ist und wer nur schön verpackte Einfalt zur Schau trägt?

Es wird immer auch andere Sichtweisen geben, aus denen heraus sich die Dinge gänzlich anders darstellen. Wer will da den Hochmut besitzen zu behaupten, das Wahre vom Unwahren zweifelsfrei erkennen zu können?

Nun, jener Mann, der im Mittelpunkt dieser Geschichte steht, Lakyr-a-Dergon nämlich, war von jener Art. Mit einer für andere manchmal erschütternden Unbekümmertheit machte er die Positionen seiner Gegenredner lächerlich, während er selbst der einzige Mann auf Erden zu sein schien, der dazu im Stande war logisch zu denken!

Ja, er war lästerlich und respektlos – und zwar nicht nur auf jene Art und Weise, die Leute wie Luason-a-Luason an ihm kritisierten, also den Göttern gegenüber – das wäre im Übrigen meiner Ansicht nach durchaus verzeihlich gewesen – sondern er brachte auch kaum einem seiner Mitmenschen Achtung entgegen.

Schon am nächsten Tag sollte er den Plan dazu fassen, das Weltbild der Menschen von Palniarak zu verspotten.

*

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ZU FRÜHER STUNDE LIEß mich Lakyr zu sich rufen. Und während ich verschlafen und mit einem dicken Kopf bei ihm auftauchte, wunderte ich mich darüber, dass der Hausherr trotz des gestrigen Gelages bereits aufgestanden und offensichtlich hellwach war.

Was konnte er zu dieser Stunde für Arbeit haben, die einen Schreiber benötigte um getan zu werden?

Bald jedoch sollte sich mir eröffnen, dass es um etwas ganz anderes ging.

„Na, wie geht es Euch, werter Keregin?“

„Ich habe Kopfschmerzen.“

„Das ist der Kater. Offensichtlich seid Ihr nichts Gutes gewöhnt!“

Lakyr grinste, doch ich war außerstande, dies zu erwidern. Ich fühlte mich scheußlich.

„Weshalb habt Ihr mich rufen lassen, Herr Lakyr? Was für eine Arbeit ist zu tun?“ Ich seufzte. Es würde am besten sein, alles so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.

„Setzt Euch erst einmal! Ihr seht in der Tat elend aus.“

„Was gibt es also?“

Und während ich mich auf ein weiches Sofa fallenließ, rieb ich mir verzweifelt die Schläfen. Der Nebel aus Schmerz, der meinen Verstand umhüllte, wollte einfach nicht weichen.

„Ich habe einen Plan gefasst, von dem ich Euch in Kenntnis setzen möchte“, verkündete Lakyr. Ich zuckte mit den Schultern.

„So?“

Wenn mich sein Plan in diesem Augenblick auch nicht im Mindesten interessierte: Was sollte ich tun? Ich war bei ihm angestellt und von ihm abhängig. So musste ich also zuhören, obwohl ich mich ins Bett wünschte.

„Ich möchte eine Reise unternehmen, Keregin. Eine Reise ganz besonderer Art!“ Er strich sich über das Kinn und seine Augen begannen eigentümlich zu funkeln. „Ich habe vor, den Göttern auf dem heiligen Berg Uytrirran einen Besuch abzustatten!“

Jetzt ist er verrückt geworden, dachte ich. Vollends verrückt.

Er sprang auf und baute sich vor mir auf.

„Was haltet Ihr davon?“

Ich zuckte mit den Schultern. Für einen Streit fehlte mir im Augenblick die Kraft.

„Los, sagt schon etwas! Ich will Eure Meinung hören!“

„Wenn Euch irgendein Gott die Gnade einer Audienz erweisen sollte, so grüßt ihn bitte von mir“, brummte ich sarkastisch, woraufhin Lakyr den Mund verzog.

„Ihr glaubt mir nicht, habe ich recht?“

Ich sagte nichts.

„Ihr denkt, dass ich Euch einzig und allein aus dem Bett geholt habe, um Euch zu ärgern, stimmt’s?“

Nun, es war eine Tatsache, dass er mein Wohlwollen damit etwas über Gebühr strapaziert hatte. Im Übrigen dachte ich mir, dass es besser war, ihn zu verspotten, bevor er Gelegenheit hatte dasselbe mit mir zu tun.

Lakyr-a-Dergon kam nahe an mich heran und seine Augen sahen direkt in die meinen.

„Ich meine es völlig ernst, guter Keregin. Ich meine es völlig ernst.“

Dann wandte er sich um und ging ein paar Schritte hin und her.

„Der Kater scheint Euch am Denken zu hindern“, meinte er. „I<ch habe ein gut bewährtes Mittel gegen Kopfschmerzen. Soll ich es Euch bringen lassen?“

„Ich wäre Euch ausgesprochen dankbar.“

Er rief einen Diener herbei und beauftragte ihn, mir jenes Mittel zu holen. Man gab mir eine seltsam riechende, rötliche Flüssigkeit, deren Geschmack ganz einfach ekelhaft war.

Die einzige Wirkung dieser Medizin war jedoch, dass nun auch noch mein Magen durcheinander geriet und ich um eine Brechschale bitten musste.

Nach einigen etwas unappetitlichen Prozeduren, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen möchte und die Lakyrs ohnehin ziemlich beschränkte Geduld noch weiter belasteten, eröffnete er mir, er wünschte, dass ich ihn auf dieser Reise begleitete.

„Das wird ein wichtiger, großer Tag werden“, verkündete er. „Und da brauche ich einen Zeugen, der des Schreibens mächtig ist. Wer sollte sonst die Ereignisse festhalten? Und wer würde mir glauben, wenn nur ich allein gehen würde?“

„Was, glaubt Ihr, werdet Ihr dort oben finden?“, fragte ich schwach.

Lakyr-a-Dergon lachte gutgelaunt.

„Was wohl? Nichts natürlich! Es gibt keine Götter. Und wenn es sie doch geben sollte – nun, dann werden wir ihnen ja zwangsläufig begegnen!“

Diese Argumentation entbehrte unbestrittenermaßen nicht einer gewissen Logik. Er lächelte ein wenig überheblich.

„Habt Ihr etwa Angst, werter Keregin? Das will ich doch nicht hoffen! Angst vor der Wahrheit ist nämlich nicht gerade die Eigenschaft, die einen Schreiber auszeichnen sollte.“

„Ihr wisst genau, dass ich keine Angst davor habe, auf dem Uytrirran vielleicht NICHTS anzutreffen. Es wäre mir wohler dabei, in der Gewissheit leben zu können, dass da keine höheren Wesen existieren, die uns nach ihrem Gutdünken, wie Schachfiguren, hin und her schieben und unsere Geschicke lenken. Aber deswegen auf einen Berg zu steigen ...“

Lakyr fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, in die Haare und schüttelte dann ganz entschieden den Kopf.

„Ihr scheint nicht zu begreifen, worum es geht! Wenn wir den Uytrirran bestiegen und bewiesen haben, dass es die Götter nicht gibt, sondern, dass die Welt einzig und allein nach Naturgesetzen funktioniert – auch wenn wir sie nicht in ihrer Gesamtheit überschauen können, dann wäre das ein Symbol!

Natürlich wird das einen Großteil der Leute nicht davon abhalten können zu behaupten, es habe sich alles ganz anders verhalten, wir hätten unsere Geschichte frei erfunden, um uns wichtig zu tun und wo weiter und so fort. Aber in einigen wird unsere Tat einen Prozess des Nachdenkens in Gang setzen!“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ich bin da weitaus weniger optimistisch als Ihr. Die Menschheit ist dumm, das verkennt Ihr!“

Wäre ich bei besserer Verfassung gewesen, so hätte ich sicherlich noch das eine oder andere zu diesem Thema zu sagen gehabt. Aber ich hatte Kopfschmerzen und mir war übel. Und das sind nicht gerade die besten Voraussetzungen für das Philosophieren. Und so fragte ich: „Ich bitte um die Erlaubnis, mich jetzt zurückziehen zu dürfen. Es geht mir nicht gut.“

„Einen Augenblick noch!“, sagte Lakyr. „Zuvor müsst Ihr mir noch sagen, ob ich mit Eurer tatkräftigen Unterstützung rechnen kann.“

„Ihr könnt.“

*

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DIE MOTIVE, DIE MICH dazu bewogen, Lakyrs Plan zu unterstützen, waren mir in jenem Moment wohl selbst nicht ganz klar. Einerseits war die Antwort, die ich ihm gab, die schnellste Möglichkeit, wieder ins Bett zu kommen, hatte ich doch wenig Sinn, mir Lakyrs Ausführungen länger als unbedingt notwendig anzuhören. Andererseits kann ich aber nicht verschweigen, dass die Idee, den Uytrirran, den Berg der Götter, zu besteigen auf mich eine gewisse Faszination ausübte – wie wohl auf jeden, der sich seine gesunde Neugier nicht von Vorurteilen und Furcht hat austreiben lassen.

Nun, Lakyr-a-Dergon wäre nicht er selbst gewesen, hätte er die Sache nicht auf seine ganz persönliche Weise begonnen – so manchem wohlsituierten und der Familie Dergon an sich freundlich gesonnenen Bürger zum Ärgernis!

Es war faszinierend zu beobachten, wie sich die Kräfte des sonst so ziellos dahinlebenden, nur auf Genuss und kurzweiligen Spott aus seienden Lakyr jetzt auf einen Punkt hin konzentrierten und mit welcher Folgerichtigkeit er zu Werke ging.

Das Erste was er tat war, an allen öffentlichen Plätzen der Stadt einen Anschlag anbringen zu lassen, auf dem er seine Absicht kundtat. Ich sah an dem Blitzen seiner Augen und dem zynischen Zug um seinen Mund, dass er sich vorstellte, wie die hohen Herrschaften an den Anschlägen vorbeikämen, sie verwundert anstarrten, ihre Vorleser rufen ließen und anschließend (nachdem sie des Inhalts dieser Papiere gewärtig worden waren) vor Zorn erblassten.

Erstaunlicherweise verbreitete sich die Nachricht von Lakyrs Absicht, den Berg der Götter zu besteigen, innerhalb weniger Tage in ganz Palniarak und dem Umland, obwohl der Anteil der Bevölkerung, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, äußerst gering angesetzt werden muss.

Ein Sturm der Entrüstung tobte durch unsere sonst so friedliche Stadt, so arm an Skandalen und fast bar jeglicher Aufregung.

Die Priesterschaft der Gria, jener Göttin, der unter den Achselhöhlen je zwei Schlangenhälse hervorwuchsen, verbot Lakyr sogleich den Zutritt zu ihrem Tempel und die Bürgerversammlung, deren gewähltes Mitglied er war, hielt wegen seines Anschlages eine Sondersitzung ab.

Leider hatte ich keine Gelegenheit, persönlich Zeuge dieser Sitzung zu sein, da die Anwesenheit von Nichtmitgliedern gegen die Gepflogenheiten der hohen Versammlung verstößt.

Aber ich habe mit verschiedenen Volksvertretern gesprochen, die das alles mitansahen und –hörten, habe die unterschiedlichen Aussagen miteinander verglichen und kann mir auf diese Weise ein, wie ich denke, ziemlich genaues Bild von jenen Geschehnissen machen, die sich hier unter Ausschluss der Öffentlichkeit zutrugen.

Als Lakyr-a-Dergon die Bürgerversammlung betrat, legte sich das aufgeregte Stimmengewirr rasch und aller Augen waren auf diesen Mann gerichtet, der die unglaubliche Frechheit besaß, einen solchen Anschlag zu verbreiten!

Lakyr muss die geballte Feindseligkeit gespürt haben, die in diesem Augenblick der Stille den Raum verpestete, und ich kann mir sogar vorstellen, dass er sie auf eine morbide Art und Weise sogar genossen hat. Denn was war sein Anschlag anderes gewesen als eine Provokation – die Provokation schlechthin, wenn man will. Und was war als Echo auf eine solche Provokation anderes zu erwarten als Feindseligkeit? Lakyr hatte das alles miteingerechnet. Nein, es kann keinen Zweifel geben: Er hatte es genau so und nicht anders gewollt.

Lakyr wusste, dass er de Spieß in eine Wunde gelegt hatte und dass die Feindseligkeit dieser Menschen eine Frucht ihrer Angst war.

Er wird in einer sehr selbstbewussten, vielleicht sogar ein wenig Überheblichkeit signalisierenden Pose vor den gewählten Vertretern in der Bürgerversammlung gestanden haben – und allein diese Art des Auftretens dürfte schon für die große Mehrheit der Anwesenden eine erneute Provokation gewesen sein!

Gemessenen Schrittes, ohne irgendwelche Eile, ging er auf seinen Platz zu, auf dem er die meiste Zeit seiner Laufbahn als Volksvertreter lediglich schweigend dasitzend und (so lautete die Vermutung eines prominenten Kollegen) gedanklich abwesend zugebracht hatte. Sein Respekt und Interesse gegenüber den Staatsgeschäften der Republik Palniarak sei, so wird häufig berichtet, dermaßen gering gewesen, dass er sich des Öfteren Brettspiele in die Sitzungen mitgebracht habe!

Der eine oder andere mag sich an dieser Stelle vielleicht berechtigterweise fragen, weshalb sich ein Mann wie Lakyr-a-Dergon überhaupt als Kandidat zur Wahl gestellt hatte, wo doch seine Gedanken vermutlich um alles mögliche andere kreisten, als um das Wohl und die Politik unserer Republik! Ich vermute, es war die Eitelkeit, die ihn dazu bewogen hatte.

Nun, wie dem auch immer war, ich will das Abschweifen an dieser Stelle nicht zu sehr übertreiben und zu jenen Ereignissen zurückkehren, die sich in der Bürgerversammlung zutrugen.

Kurz bevor Lakyr seinen Platz erreicht hatte, vernahm er die vor Zorn bebende Stimme des Bürgermeisters Luason-a-Luason:

„Bleibt stehen, Lakyr! Wir werden erst noch darüber zu beraten haben, ob Ihr Euren Platz als Volksvertreter in dieser Versammlung zukünftig noch einnehmen könnt!“

Es entstand ein Gemurmel, das wohl zum größten Teil Zustimmung zu den Worten des Bürgermeisters und Vorsitzenden der Bürgerversammlung verhieß.

Lakyr wandte sich zu Luason um, verzog spöttisch den Mund und murmelte: „Ich bin vom Volk an diesen Platz gewählt, werter Bürgermeister. Und bis zur nächsten Wahl steht mir dieser Platz zu!“

Ein Raunen breitete sich in der Versammlung aus und die Volksvertreter mussten tatenlos mitansehen, wie Lakyr-a-Dergon die Weisung des Bürgermeisters schlichtweg missachtete und sich auf seinen Platz setzte.

„Als Ihr gewählt wurdet, wusste das Volk noch nicht, dass es einen Frevler der übelsten Sorte wählte! Das Volk wählte Euch unter falschen Voraussetzungen!“, ereiferte sich Wertzuio-a-Qwer, ein Mann, dessen Verbundenheit zum Xilef-Kult bekannt war. „Aber das menschliche Leben ist vorbestimmt“, fuhr er fort, „und auch die Strafe, die Euch unweigerlich erwarten wird, steht bereits fest! Macht Euch auf eine furchtbare Rache des Schicksals und der Götter gefasst!“

Lakyr ließ sich lediglich zu einer wegwerfenden, eindeutig Herablassung signalisierenden Handbewegung herab.

„Sagt mir eins klar und deutlich heraus“, forderte Luason, der Bürgermeister. „Ist es, wie es überall zu lesen steht, Eure tatsächlich Absicht, den heiligen Berg zu besteigen?“

Lakyr nickte gelassen.

„Ja, das ist es.“

„Lakyr, Ihr wisst, dass ich Euch und Eurer Familie immer wohlgesonnen war! So nehmt also den Rat eines Wohlmeinenden an und lasst ab von Eurem Vorhaben!“

„Zu spät, werter Herr Bürgermeister. Ich habe diese Sache angefangen und werde sie auch zu Ende führen. Sie interessiert mich einfach viel zu sehr, als dass ich sie nun aufgeben könnte.“

„Ihr seid verloren, Lakyr!“

„Mag sein. Oder auch nicht. es wird sich ja erweisen. Wenn sich in der Tat herausstellen sollte, dass dort droben weise Götter über das Geschick der Sterblichen wachen, dann werde ich regelmäßig die verschiedenen Tempel aufsuchen und Opfer darbringen. Bis dahin aber bin ich eher geneigt anzunehmen, dass die Gesetze der Natur die Welt regieren und erhalten.“

„Ihr wisst nicht, was Ihr tut, Lakyr!“

„Weshalb nicht? Was ist der Uytrirran mehr, als ein ganz gewöhnlicher Berg?“

„Was soll das lange Gerede?“, rief Wertzuio-a-Qwer, fast außer sich vor Erregung und Zorn. „Wir sollten kurzen Prozess machen! Werft ihn aus der Bürgerversammlung!“

Zustimmendes Gemurmel antwortete dem Anhänger des Xilef.

„Es scheint keinen Weg darum herum zu geben“, brummte Luason. „Ach, warum müsst Ihr Euch so gegen die allgemeine Moral stellen! Warum zwingt Ihr uns zu diesem Schritt?“

„Ich zwinge niemanden. Jeder hier ist freier Herr seiner Entscheidungen.“

„Wir werden abstimmen müssen.“

„Dann tut dies.“

„Da Ihr, Herr Lakyr, in dieser, Eure eigene Person betreffenden Angelegenheit ganz offensichtlich befangen seid, dürft Ihr von Eurem Stimmrecht – so wollen es die allgemeinen Gepflogenheiten dieser Versammlung – keinen Gebrauch machen.“

„Ich weiß.“

Es wurde also abgestimmt. Das Ergebnis war voraussehbar gewesen. Fast einstimmig wurde der Ausschluss des Volksvertreters Lakyr-a-Dergon besiegelt.

„Mir persönlich tut das Leid“, erklärte Luason-a-Luason. „Aber wir sind in diesem Augenblick nicht nur unabhängige Bürger, sondern auch gewählte Vertreter unseres Volkes und haben daher eine gewisse Verantwortung für die Erhaltung der öffentlichen Moral.“

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AUF DIESE WEISE ENDETE also die wenig vielversprechende Karriere des Lakyr-a-Dergon als Volksvertreter.

Dieser Verlust jedoch schien ihm nicht besonders viel auszumachen.

Stattdessen ließ er Vorbereitungen für die Reise treffen.

Ein paar Drohbriefe trafen bei ihm ein, aber er lachte nur über sie. Die öffentliche Aufregung um sein Vorhaben schien ihm sogar Spaß zu machen. Es amüsierte ihn, wie sich die Bürger ereiferten.

„Ich verstehe das nicht“, bekannte er mit einem Augenzwinkern. „Wenn sie wirklich so sehr von der Richtigkeit ihrer Weltanschauung überzeugt sind, dann sollten sie froh über meinen Plan sein, denn schließlich kann unsere Reise ja auch ihre Ansicht bestätigen!“

„Sie haben Angst“, erklärte ich. „Sie haben Angst, dass ihr Weltbild zerstört wird. Ist das so schwer zu verstehen?“

Lakyr zuckte mit den Schultern.

„Wer hätte da keine Angst? Aber es gibt Umwälzungen, die auf lange Sicht unvermeidlich sind. Das Weltbild dieser Menschen ist verstaubt, Keregin. Glaubt es mir, es bedarf einer gründlichen Entrümpelung!“

„Und Ihr fühlt Euch dazu berufen, dies zu tun?“

Er antwortete nicht darauf. Vielleicht hatte er den leichten Zynismus aus meinen Worten herausgehört, vielleicht die Ironie erkannt, mit der ich seine Selbstgefälligkeit bedachte – gleichwohl ich im Grundsatz seinen Ansichten zustimmen musste.

Aber wenn ein Mensch etwas sagt, dann lässt sich das immer unter zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Zum einen kann man sich über das angesprochene Thema oder die vertretenen Thesen an sich unterhalten – zum anderen gibt es aber eine zweite, ebenfalls mitunter sehr aufschlussreiche Ebene, die einzig und allein den Charakter des Sprechers betrifft; denn egal über was sich ein Mensch auch immer auslassen mag – er sagt nie nur etwas zur Sache, sondern auch immer etwas über sich selbst, wenn auch oft verborgen und verschlüsselt.

Lakyr-a-Dergon war ein Mann von großer Eitelkeit, so wurde mir in diesem Augenblick bewusst. Und sein Vorhaben, das verstaubte Weltbild seiner Mitmenschen zu demolieren entsprang sicher nicht nur einer selbstlosen Motivation.

*

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AM TAGE UNSERER ABREISE stellte Lakyr mir einen Mann namens Ganjon vor. Er war von großer Gestalt und (so schien es mir auf den ersten Blick) von primitivem gewissenlosem Charakter.

„Er ist der beste Bogenschütze weit und breit!“, lachte Lakyr. „Ich habe ihn der Garde des Bürgermeisters abwerben können!“

Ich zog misstrauisch die Brauen zusammen. Grobschlächtiges Gesindel! Ein hartes Urteil und sicherlich auch kein gerechtes.

Aber so ist der Lauf der Dinge. Man entscheidet im Augenblick und ist sich der eigentlichen Beweggründe oftmals gar nicht völlig bewusst.

Jedenfalls bedeutete es für mich nicht gerade eine besonders angenehme Vorstellung, mit diesem Subjekt mehrere Wochen gemeinsamer Reise verbringen zu müssen ...

„Wozu brauchen wir ihn?“, fragte ich daher.

„Wozu?“ Lakyr schüttelte den Kopf. „Was für eine Frage, werter Keregin! Was für eine Frage! Er soll uns beschützen!“

„Wovor?“

„Wir werden den vielfältigsten Bedrohungen ausgesetzt sein.“

Es schien zwecklos, gegen die Anwesenheit dieses Barbaren argumentieren zu wollen. So schwieg ich also, obwohl ich eher in Ganjon als in etwas anderem, das uns auf unserem Weg begegnen konnte, eine Bedrohung erblicken konnte.

So ist das eben.

Das Geld regiert die Welt, nicht die Vernunft.

Und Lakyr-a-Dergon gehörte nun einmal zu denjenigen, die von Geburt an damit gesegnet sind, ohne dass sie auch nur einen Handschlag dafür zu tun hatten, währen ich (und Ganjon – dies dürfte der einzige verbindende Punkt zwischen uns gewesen sein -) ein Angestellter, ein Bediensteter war, der das zu tun hatte, was ihm aufgetragen wurde.

Nun denn, wer hat schon die Wahl ...

Lakyr besaß ein eigenes Schiff samt dazugehöriger Crew. Sonst fuhr er damit den breiten Rir-Fluss hinab zur nahegelegenen Mündung und dann die Küste entlang – nach Gun oder Rogii, manchmal auch bis Balan, um dort Handel zu treiben. Des Öfteren aber auch einfach nur zum Vergnügen.

Flussaufwärts ging die Reise seltener.

Was gab es schon Besonderes in Malint oder Moimarak?

Aber diesmal würde die Reise dorthin gehen – und noch viel weiter. Den Kapitän hatte ich bereits vorher kennengelernt und er schien mir ein fähiger Vertreter seines Fachs zu sein.

Es ging also den Fluss hinauf – und das war einfacher gesagt als getan. Wenn der Wind günstig stand, wurde gesegelt. Wenn das unmöglich war, musste gerudert werden.

Zu beiden Seiten des großen Stroms erstreckte sich das fruchtbare Hügelland. Die Bauern bestellten ihre Felder oder trieben ihre Rinder auf die Weiden. Palniarak hatte ein blühendes Umland.

„Bin gespannt, was Ihr auf dem Uytrirran finden werdet“, brummte der Kapitän, an Lakyr-a-Dergon gewandt. „Ich weiß nicht so genau, aber ich schätze, ich bin wohl ziemlich in der Mitte zwischen Glauben und Unglauben stehengeblieben ... Einerseits kann ich mir nicht vorstellen, dass die Welt sich von allein in Gang hält, dass da nichts ist, das sie ordnet, das bestimmt, was geschieht und was nicht geschieht. Die Welt sieht mir nicht aus, als wäre sie ausschließlich chaotischer Natur. Aber andererseits fällt es mir schwer mir vorzustellen, dass Wesen wie unsere Götter – so wie man sie in den Tempeln als Steinbildnisse bewundern kann – es sind, die die Ordnung auf der Erde gewährleisten und bestimmen.“

„Ihr habt Euch die Kraft des gesunden Zweifels bewahrt, Kapitän“, entgegnete Lakyr. „Es sollte mehr Menschen geben, die, wie Ihr, ihren Kopf zum Denken gebrauchen – und nicht als Ablageplatz für Kopfschmuck!“

*

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WAS LÄSST SICH ÜBER Malint sagen?

Vielleicht, dass es die nächste größere Siedlung flussaufwärts ist.

Oder dass die Malinter allesamt das palniarakische Bürgerrecht besitzen. Alles in allem aber haftete dieser kleinen Stadt der Makel des Provinziellen an. Alle wichtigen Einrichtungen der Republik befanden sich in Palniarak selbst, der Bürgermeister kam nur höchst selten hierher.

Der Hafen wirkte etwas heruntergekommen. Viele Reeder und Kaufleute waren bereits flussabwärts gegangen – und diese Abwanderung hielt an.

Jedenfalls legte unser Schiff hier an – einerseits, um in Malint eine einigermaßen komfortable Möglichkeit der Übernachtung zu finden, andererseits, weil Lakyr-a-Dergon ein paar Freunde zu besuchen beabsichtigte, denen er sich bereits brieflich angekündigt hatte.

„Es ist lange her, dass ich hier zum letzten Mal war“, brummte Lakyr. Und dann begann ein Grinsen sich um seinen Mund herum breit zu machen. „Ich bin ehrlich gespannt, wie diese Provinzler auf mein Vorhaben reagieren!“

Ich ahnte, dass die Reaktionen hier in Malint noch um einiges aufgebrachter sein würden als im verhältnismäßig weltoffenen Palniarak.

Es stellte sich allerdings sehr bald heraus, dass die Kunde von unserem Vorhaben, den Uytrirran zu besteigne, uns selbst längst vorausgeeilt war und sich wie ein Flächenbrand verbreitet haben musste.

Als wir ans Ufer stiegen, begann sich bereits eine neugierige Menge zu versammeln.

„Da sind sie, die Frevler!“, rief jemand, was mich doch unwillkürlich erschreckte.

Sie sahen uns an, als wären wir etwas Nichtmenschliches, Dämonisches, vor dem man sich zu fürchten hatte.

Sie bildeten eine Gasse für Lakyr, mich – und Ganjon, den Lakyr stets in seiner Nähe wissen wollte.

Ein scheues Gemurmel war entstanden, wir waren Teufel für sie – absonderlich und faszinierend zugleich, eine furchtbare, nicht auszudenkende Abnormität, auf die man aber dennoch mit Vergnügen seine Blicke wirft ...

„Werft sie in den Fluss! Haltet sie ab von ihrem Tun!“, rief jemand.

Es war eine heisere Stimme aus den hinteren Reihen, so dass nicht auszumachen war, wer da gesprochen hatte.

Da kamen ein paar Reiter heran, die meisten schwer bewaffnet.

Die Menge wich nun zurück, um nicht in eine eventuelle Auseinandersetzung unfreiwillig verwickelt zu werden.

„Seid Ihr Lakyr-a-Dergon?“, fragte der offensichtliche Anführer der Gruppe. Er trug die Robe der Arodnap-Priester.

„Ja, der bin ich.“

„Ist es wahr, was über Euch verbreitet wurde? Stimmt es, dass Ihr den heiligen Berg der Götter, den Uytrirran, zu besteigen beabsichtigt?“

„Ja, das ist wahr.“

„Dann seid Ihr in Malint nicht willkommen.“ Ein zustimmendes Gemurmel entstand in der zuschauenden Menge. Ich bemerkte, wie Lakyr Ganjon – fast unmerklich – ein offenbar vorher verabredetes Zeichen gab.

„Es gibt kein Gesetz, das es mir verbieten könnte, mich hier aufzuhalten ...“

„Wir scherzen nicht“, erklärte der Priester ernst. „Die Anwesenheit von jemandem wie Euch, hier in Malint, muss jeden beleidigen, der aufrichtig an die Götter glaubt ...“

„Weshalb? Vielleicht ergibt unsere Mission, dass wir im Unrecht waren, und dass die Götter tatsächlich existieren, so wie es die Priester und die Schriften behaupten.“

„Darum geht es nicht, Herr Lakyr. Und das wisst Ihr nur zu gut.“

Ein Augenblick der Stille folgte, der gleichzeitig auch ein Moment äußerster Spannung war. Ich musterte die schwer bewaffneten Reiter, ausgerüstet mit langen Schwertern und Lanzen.

Sie sahen entschlossen genug aus, uns eventuell allesamt in den Fluss zu werfen, wie es jener Rufer aus der Menge gefordert hatte.

„Wir sollten nachgeben“, brummte ich. „Es hat wenig Sinn, sich hier auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Übernachten können wir auch anderswo ...“

„Haltet den Mund, Keregin!“

„Worte scheinen bei Euch nicht viel auszurichten, Lakyr-a-Dergon!“, rief jetzt der Priester mit drohendem Unterton. Gut, dann werden wir handeln müssen!“

Doch ehe diese treuesten Diener ihrer Gottheiten und Bewahrer der bestehenden Weltordnung nahe genug heran waren, um mit ihren plumpen Waffen – langen Hellebarden und schweren Beidhändern – etwas ausrichten zu können, hatte Ganjon, jene finstere Gestalt, die uns zu unserem Schutz begleitete, bereits drei von ihnen mit gezielten Pfeilschüssen aus dem Sattel geholt.

Auf dem Gesicht des sie anführenden Priesters war jetzt eine deutliche Spur des Entsetzens zu sehen. Er hatte den Mund weit aufgerissen und zügelte sein Pferd, während zwei weitere seiner Leute getroffen in den Staub sanken. Und ich muss gestehen – auch ich erschrak. Dieser Ganjon – ein skrupelloses Subjekt ohne Gewissen, genau wie ich es erwartet und vorausgesagt hatte – besaß schier unglaubliche Fähigkeiten, was das Schießen mit Pfeil und Bogen anbetraf. Dergleichen hatte ich noch nicht gesehen. Er riss mit einer schnellen Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn in den Bogen spannte ihn und schoss. Kaum den Bruchteil eines Augenblicks nahm er sich Zeit um zu zielen.

Ich glaube nicht an die Magie und das Schamanentum. Aber wenn es so etwas wie Zauberei entgegen meiner Wahrnehmung der Dinge doch gegeben hat, dann war dieser Bogenschütze ein lebendiges Beispiel für sie.

Es starben noch zwei oder drei weitere von des Priesters Männern, ehe sich die Reiterschar endgültig zurückzog und davonpreschte.

Aber Ganjon, der Bogenschütze, hielt trotz alledem nicht ein mit dem Schießen. Pfeil um Pfeil sandte er hinter den Davoneilenden her und hörte erst damit auf, als die Reiter außerhalb seiner Reichweite waren. In seinem Gesicht las ich nackte Mordlust, was mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Der Bogenschütze grinste mich hässlich an und entblößte sein wuchtiges Gebiss.

Nun, dieser Mann hatte unser Leben gerettet. Wäre er nicht in unserer Begleitung gewesen, so hätte unsere Expedition bereits ein jähes Ende gefunden, bevor wir auch nur die relativ engen Grenzen der Republik Palniarak erreicht gehabt hätten.

Eigentlich, so sollte man meinen, war dieser Vorfall ein Anlass dazu, meine Meinung über diesen Menschen zu ändern, und ich versuchte mir selbst einzureden, dass ich ihn mit zu vielen Vorurteilen gesehen hatte. Wie gesagt, ich verdankte ihm mein Leben.

Dennoch blieben Misstrauen und eine gehörige Portion Abneigung, wie ich hier ganz offen zugeben muss. Doch zurück zum eigentlichen Fluss des Geschehens:

Die Schaulustigen, die sich hier versammelt hatten um mitzuerleben, wie die gemeinen Frevler und Ketzer ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden, schienen wie gelähmt zu sein vor Entsetzen.

„Wer war das, der gerade diese Reiterschar gegen uns gehetzt hat?“, rief Lakyr-a-Dergon ungehalten der Menge entgegen, doch es schien ihm niemand antworten zu wollen. Scheu wichen sie vor ihm zurück, als er näher trat; es war, als glaubten sie, dass ihm übernatürliche, verderbliche Kräfte innewohnten.

„Wer?“

Lakyr atmete tief durch. „Es war ein Priester des Arodnap, nicht wahr? Mir ist die Robe nicht verborgen geblieben!“

Lakyr packte einen der Bürger beim Kragen. „Sag mir: War es der Priester des Arodnap-Kultes?“

„Ja, Herr. Der war es!“, stammelte der unglückliche Mann in höchster Not.

„Wie ist sein Name?“

„Herr...“

„Wie ist sein Name?“

„Delengi, Herr. Sein Name ist Delengi-a-Brualssm!“

Lakyr nickte leicht und ließ den Mann los.

„Sagt diesem Delengi-a-Brualssm, ich besäße Zauberkräfte, die die seines Gottes Arodnap weit in den Schatten stellen würden!“ Lakyr lachte, studierte eingehend die Gesichter der erschrockenen Bürger und lachte abermals. „Es ist einzig und allein ein Akt des Großmuts, dass ich ihn persönlich diesmal noch habe davonkommen lassen ... Ich bin ein Menschenfreund und es gefiel mir so, ihn am Leben zu lassen ... Aber wehe ihm, wenn ich ihn eines Tages tot sehen will!“

Die Menschen wussten nicht so recht, ob sie Lakyr Glauben schenken sollten oder nicht. Ihre Gesichter verrieten Zweifel und Angst, aber auch Unsicherheit. Sie waren beeindruckt von Lakyr, auch wenn sie ihn fürchteten – so wie sie den Zorn ihrer Götter fürchteten.

Lakyr seinerseits genoss, wie mir keinesfalls verborgen blieb, diese Situation auf eine höchst morbide, unschöne, ja man muss sagen zynische Art und Weise. Er trieb seinen grausamen Spott mit der Dummheit und Einfalt der Menschen von Malint.

*

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URGSSINN-A-TERDAREMBIS hieß jener Mann, bei dem Lakyr sich für diese Nacht einzuquartieren gedachte. Es handelte sich hierbei um einen alten, vielleicht etwas heruntergekommenen Freund der Familie, dessen Geschäfte schon seit langem nicht mehr so gingen, wie Urgssinn selbst sich das gewünscht hätte.

Lakyr hatte diesen Namen fast vergessen gehabt, denn – wie gesagt- wer braucht schon Bekannte in Malint?

Wohl nur jemand, der vorhat, den Rir hinaufzusegeln und das wiederum war nur etwas für Verrückte, Abenteurer, reiche Müßiggänger, Einsiedler, die die Einsamkeit suchten – oder aber für jemanden, der das Wohlwollen der Götter zu strapazieren gedachte!

Nachdem wir eine Weile am Hafen gewartet hatten und die Sonne sich anschickte, hinter dem Horizont zu versinken, kam ei – für diese ländlichen Verhältnisse – luxuriöser Wagen herbei. In Palniarak – oder gar in Balan oder Gûn – hätte man mit so etwas unmöglich Staat machen können; hier aber, gemessen an der Einfachheit, mit der sich das Leben des Großteils der Bevölkerung in Malint vollzog, war sie etwas Besonderes.

Die Kutsche – es handelte sich um einen geschlossenen Wagen – hielt wenige Meter von uns entfernt; ein Diener, der seinen Platz neben dem Kutscher, vorne auf dem Bock hatte, sprang dienstbeflissen herbei und öffnete die Tür.

„Ihr seid Lakyr-a-Dergon, nicht wahr?“

Lakyr nickte dem Diener zu, etwas irritiert, wie es mir schien.

„Herr Urgssinn-a-Terderembis lässt Euch und Eurem Gefolge seine herzlichsten Grüße ausrichten. Ich darf Euch nun bitten, einzusteigen ...“

Lakyr zog die Stirn in Falten, und ich, der ich nun schon so einiges über den Charakter dieses – zweifellos in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen – Menschen wusste und mir zumindest ein ungefähres Bild von der topographischen Beschaffenheit seiner Seele zu machen in der Lage war, mit all den Unebenheiten und Abgründen, die da zu finden waren und die ihn zu dem Mann machten, der er war: Ich glaubte zu wissen, was dieses Runzeln zu bedeuten hatte, worin es begründet lag.

„Ist Herr Urgssinn nicht hier – in der Kutsche?“

Der Diener schüttelte den Kopf.

„Nein, werter Herr Lakyr! Mein Herr lässt sich entschuldigen.“

Lakyr nickte leicht und verzog etwas den Mund. Ich hatte richtig vermutet: Es war die Eitelkeit, die verletzt worden war. Stünde es einem kleinen, unbedeutenden Provinzkaufmann nicht gut zu Gesicht, einen Mann wie mich persönlich zu empfangen? wird Lakyr sich erbost gefragt haben. Nun, es stand zu vermuten, dass Urgssinn seinerseits gute Gründe dafür hatte, auf diese Weise zu verfahren. Später sollte sich herausstellen, dass wir noch von Glück sagen konnten, dass Urgssinn ein Gläubiger des Hauses Dergon war. Vielleicht wären wir andernfalls überhaupt nicht aufgenommen worden.

Wir wurden ordentlich durchgeschüttelt, als der Wagen über die holperigen Pfade rumpelte. Feldwege waren das, aber nichts, was die Bezeichnung Straße verdient hätte!

Urgssinn, soviel wusste ich, residierte auf einem Landsitz, etwas außerhalb von Malint gelegen.

Lakyr hatte während der ganzen Fahrt noch kein Wort gesagt. In Gedanken versunken saß er da und starrte vor sich hin, ab und zu auf die Felder hinausblickend, dann aber sogleich die Augen wieder auf den Boden der Kutsche gerichtet.

„Wenn ich Euch einen Rat geben darf ...“

Lakyr reagierte nicht und so begann ich zu sprechen.

„Ihr solltet etwas mehr Disziplin üben, was Eure Empfindungen angeht, Herr Lakyr. Gerade in kritischen Situationen heißt es, einen kühlen Kopf zu bewahren.“

Lakyr gab durch keinerlei Äußerung zu erkennen, dass er mir zugehört und mich verstanden hatte; stattdessen hielt er sich weiter in Schweigen gehüllt, während Ganjon neben ihm saß und ein schwachsinniges Grinsen zur Schau stellte.

Das Anwesen der Terdarembis war ein protziger Marmorbau. Auf einem kleinen Hügel gelegen konnte man von hier aus das gesamte ebene Umland überblicken.

Der Wagen fuhr vor, der Diener sprang vom Kutschbock und es wurde uns die Tür geöffnet.

„Seid gegrüßt, wertester Lakyr-a-Dergon!“

Ihr Gastgeber trat ihnen durch das aufwändige Portal entgegen, aber ich bemerkte sogleich, dass dies keine wirkliche Freude war, die Urgssinn seinen Gästen vorzuspielen versuchte. In Wirklichkeit stand der Herr des Hauses unter einer seltsamen Spannung, die eine unbehagliche Stimmung zu verbreiten geeignet war.

„Ich hoffe, Ihr hattet keine zu anstrengende Reise, Herr Lakyr!“

„Weshalb wart Ihr nicht am Hafen?“

Urgssinn, ein schmächtiger, hagerer Mann mit schütterem Haar, gab jetzt eine sehr klägliche Figur ab und schien am liebsten im Marmorboden versinken zu wollen.

„Nun, ich hatte keinesfalls die Absicht, Euch zu kränken ...“

„Nein? Hattet Ihr tatsächlich nicht?“, fragte Lakyr spöttisch.

Urgssinns Gesicht wurde nun plötzlich von tiefen Falten durchfurcht, die Maske der Freundlichkeit war mit einem Mal von ihm abgefallen und das Tatsächliche trat hervor.

„Herr Lakyr, es sei mir an dieser Stelle folgende Bemerkung gestattet: Es kostet im Augenblick Mut, Euch überhaupt zu empfangen und im eigenen Haus übernachten zu lassen! Vergesst das nicht! Ihr und Euer Vorhaben habt dieses Land in große innere Unruhe gestürzt! Lange Zeit hat sich die Priesterschaft der verschiedenen Kulte damit zufriedengegeben, wenn die Bürger der Form halber ihre rituellen Pflichten erfüllten. Dafür wurden ihnen Sünden vergeben, man versprach ihnen ein besseres Jenseits oder irgendetwas anderes. Jetzt aber, da Ihr ein derart provokantes Vorhaben in aller Öffentlichkeit ankündigt, da kommen sie wie die Ratten aus ihren Löchern und wollen genauestens wissen, auf wessen Seite man steht: auf der Seite der Rechtgläubigen, auf der Seite der alten, wahren Weltordnung, so wie sie seit Anbeginn der Zeiten besteht und wie sie durch die Götter geschaffen wurde – oder auf Eurer Seite, Herr Lakyr! So werdet Ihr früher oder später Delengi-a-Brualssm begegnen, einem Priester des Arodnap, der eine Meute von Räubern zusammengebracht hat und jeden aus dem Weg räumt, der ...“

„Wir sind diesem Delengi bereits begegnet“, unterbrach ihn Lakyr. „Und wir konnten ihn und seine Rotte von Gesindel in die Flucht schlagen. Aber ich verstehe Euch sehr gut: Es bedarf großen Mutes, mich gegenwärtig öffentlich zu empfangen. Und woher, so frage ich mich, kommt Euer Mut, Herr Urgssinn, wo ich Euch doch gut genug kenne um zu wissen, dass Ihr von Natur aus nicht mit allzu viel davon ausgestattet seid?“ Lakyr lachte zynisch. Es war absolut unnötig, diesen Mann weiter in den Staub zu treten.

Die Rolle, die er gegenwärtig in dieser Schmierenkomödie innehatte, war ohnehin schon erbärmlich genug. Aber Lakyrs Eitelkeit forderte unerbittlich Genugtuung. Ohne die hätte sie ihm keine Ruhe gelassen.

„Ich sage Euch“, so fuhr Lakyr fort, „es ist gar kein Mut vorhanden, sondern einzig und allein Furcht. Ihr habt einerseits Furcht vor den Malintern, allen voran Delengi-a-Brualssm, aber andererseits wisst Ihr auch mich zu fürchten, denn dieses Haus gehört – bedenkt man die Schuldscheine, die Ihr mir unterschreiben musstet – bereits ebenso sehr mir, wie es Euch gehört.“

Urgssinn war blass geworden, sein Mund stand vor Schrecken weit offen, während Lakyr lächelte und die Situation, deren uneingeschränkter Herr er nun war, genüsslich auskostete wie einen guten Wein – sorgsam darauf bedacht, keinen Tropfen zu verschütten ...

Er wandte sich an mich.

„Ich denke, werter Keregin, dass wir im Moment nichts zu befürchten haben, denn ganz offensichtlich ist seine Angst vor mir noch weitaus größer als seine Furcht vor Delengi, diesem fanatischen Priester und seiner Horde. Sollte sich das Schwergewicht seiner Angst jedoch einmal auf die andere Seite, auf die Delengis nämlich, verlagern, so würde er uns ohne Skrupel verraten oder ausliefern ...“

*

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DIE QUARTIERE WAREN – gemessen an den Übernachtungsmöglichkeiten an Bord eines Flussschiffes – luxuriös und enthielten keinerlei Grund zur Beanstandung. Die Diener des Hauses trugen ein vorzügliches Mahl auf – und hätte das alles unter anderen Vorzeichen stattgefunden, man hätte sich sicher vorzüglich amüsieren können.

Urgssinns Frau trug den Namen Gele’endra und war eine Person von großem Stolz, die eine gewisse Würde auszustrahlen in der Lage war. Zwar war ihr Haar inzwischen ergraut, aber ihr Gesicht war feingeschnitten und ihre Augen hellwach.

Dem Eindruck nach, den sie in der Öffentlichkeit verbreitete, war sie zurückhaltend und höflich. Sie konnte ihr Verhalten in außergewöhnlich guter Weise kontrollieren, womit sie im Gegensatz zu ihrer einzigen Tochter stand: Fellgeva war ein launenhaftes, streitsüchtiges Wesen, dem jeder – Vater und Mutter eingeschlossen – gern aus dem Weg ging. Wie ich allerdings später durch Lakyr erfuhr, der über die Verhältnisse in Malint eindeutig besser informiert war als ich, war Gele’endra (trotz ihrer scheinbaren Harmlosigkeit) eine Intrigantin ersten Ranges, die es geschickt verstand, verschiedene Temperamente gegeneinander auszuspielen.

Mit am Tisch saß auch noch Gosronnib, der Verwalter dieses Anwesens – ein dicker, stattlicher und etwas grobschlächtig wirkender Mann, dessen erstes Interesse der Speise zu gelten schien. Was die stattfindenden Gespräche anging, so blieb er weitgehend teilnahmslos.

„Wie lange gedenkt Ihr in Malint zu bleiben?“, erkundigte sich Gele’endra-a-Terdarembis kühl.

Lakyr zuckte, ohne sich die Mühe zu machen, von seinem Stück Braten zu ihr aufzusehen, mit den Schultern und meinte:

„Wir werden sehen. Vielleicht zwei Nächte. Vielleicht auch länger. Ich weiß es noch nicht. Ich habe noch dem einen oder anderen Geschäftsfreund einen Besuch abzustatten.“

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738921465
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Dezember)
Schlagworte
berg götter

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Berg der Götter