Zusammenfassung
Der Berg der Götter
Ein Mann bricht auf, um die Götter herauszufordern. Er begeht den größt möglichen Frevel und steigt auf ihren Berg, um zu beweisen, dass sie keine Macht haben – und steht ihnen schließlich Auge in Auge gegenüber.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Manche behaupteten später über ihn, er sei ein Lügner gewesen, der, um das völlige Misslingen seiner Unternehmung zu verwinden, Hohn und Spott über die erhabenen Götter gehäuft habe.
In Wirklichkeit hätten ihm die Gottheiten das Betreten ihres heiligen Berges Uytrirran verwehrt und er habe unverrichteter Dinge sein ebenso obskures wie frevelhaftes Unternehmen abbrechen müssen.
Nun, ganz offensichtlich war es so, dass Lakyrs Erlebnisse sich nicht mit den Vorurteilen der meisten seiner Zeitgenossen in Einklang bringen ließen und ihm vor allem deswegen zunächst Ablehnung entgegenschlug.
Aber wir wollen die Geschichte in der Reihenfolge erzählen, wie es der Abfolge der Geschehnisse entspricht, auch wenn mir hier und da der eine oder andere Einschub gestattet sei.
Lakyr-a-Dergon (der von seinen Eltern nach Lakyr von der zweiköpfigen Katze benannt worden war, einem mythischen, etwas zwielichtigen Helden, der im Zusammenhang mit den Überlieferungen unseres Gottes Mergun steht, es aber aus irgendeinem Grund nie selbst zur Göttlichkeit und dem damit verbundenen Aufstieg auf den Berg der Götter geschafft hat) stammte aus einer der angesehensten Familien von Palniarak, und einer seiner Ahnen, Dergon-a-Dergon, lenkte in schweren Zeiten die Geschicke unserer geliebten Stadt als Bürgermeister.
Was für ein Mensch war Lakyr, so werden sich nicht wenige fragen. Jener Lakyr-a-Dergon, den man später auch Lakyr Ohnefurcht oder Lakyr den Gottesverächter genannt hat. Es gab zugegebenermaßen auch noch ein paar weitaus weniger schmeichelhafte Namen und selbstverständlich avancierte er zeitweise zu einem Hassobjekt der Priester.
Wie ist überhaupt die Seele eines Mannes beschaffen, der so Unmögliches wagte und sich Dinge abverlangte, vor denen die meisten zurückschreckten – und es auch wohl heute noch tun würden?
War es nur Ruhmsucht, die ihn vorwärts trieb?
Sie allein wäre dazu kaum im Stande gewesen, wie ich denke.
Es musste noch einiges hinzukommen.
Niemand erschüttert leichtfertig die geistigen und religiösen Fundamente, auf denen unsere Welt steht.
Nun, mir sind ein gutes Dutzend Jahre der Bekanntschaft mit ihm vergönnt gewesen, und so hatte ich Gelegenheit genug, diesen außergewöhnlichen Charakter zu studieren.
Die hohen und vornehmen Herrschaften sind sich im Allgemeinen zu fein dazu, das Schreiben und Lesen zu erlernen und ziehen es daher vor, Personal anzustellen, das über derartige Fähigkeiten verfügt.
Ich war ein solcher Schreiber im Hause Dergon.
Und das erste Zusammentreffen zwischen Lakyr und mir fand statt, als ich mich bei ihm vorstellte, um eine Anstellung in jenem Hause zu finden.
Mir fiel sofort dieser Zug um seinen Mund auf, der sowohl Spott als auch Wohlwollen signalisieren konnte. Seine Augen wirkten intelligent und aufmerksam und auf seiner Stirn waren ständig irgendwelche Falten zu finden. Als ich sein Schreiber wurde, war er gut dreißig Jahre alt und hatte sein Leben bisher nur mit Dingen verbracht, die man getrost als unnütz qualifizieren kann. Er lebte von dem, was der Schweiß seiner Vorfahren geschaffen hatte und schien sich dabei nicht einmal unwohl zu fühlen.
Der dauernde Müßiggang hatte ihn zu einem Mann ohne jegliche Disziplin werden lassen und die Disziplinlosigkeit wiederum ließ ihn seine Intelligenz nutzlos verschwenden.
Er brachte es einfach nicht fertig (und schien im Übrigen auch gar nicht das Bestreben danach zu haben) seine Kraft auf irgendetwas zu konzentrieren, auf irgendein Ziel hin vielleicht.
Ziele?
Er schien keine zu haben, außer dem Genuss.
Nun, das sollte sich später ändern, aber so weit sind wir noch nicht.
*
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WIE, SO FRAGE ICH, kommt im Menschen das Bedürfnis zustande, sich höheren Wesen, Göttern etwa, unterzuordnen, ihren Willen über den eigenen zu stellen und ihnen auf Gedeih und Verderb zu gehorchen?
Einmal abgesehen davon, dass ein Großteil meiner Zeitgenossen allein eine solche Frage schon für Frevel und Verrat am Höchsten und Heiligsten hält, ist sie doch, wie ich denke, von einigem Interesse – und gar nicht so einfach zu beantworten.
Vielleicht verhält es sich so, dass ein Mensch, der seine eigene Person als nicht sehr wertvoll betrachtet, sich diesen, wie er meint, ‚fehlenden Wert’ borgt, indem er sich einer Gottheit unterordnet (oder auch einem charismatischen Führer) und damit Teil hat an dessen Macht und Glanz.
Wie aber wächst in einem Menschen das Bedürfnis, den Göttern zu trotzen?
Vielleicht aus demselben Grund, nämlich aus dem Glauben heraus, nicht genügend Wert allein durch die eigene Person zu besitzen. Aus der Überzeugung heraus (und sei sie auch noch so irrig) nur dann genügend gelten zu können, wenn da niemand mehr ist, der mächtiger ist, dessen Glanz heller strahlt und der über einem zu stehen scheint.
*
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ES WAR AUF EINER JENER unzähligen Festlichkeiten und Gelage, die im Hause Dergon abgehalten wurden.
Ein Dichter von zweifelhafter Qualität namens Drasque trug seine Verse vor, die die meisten der Anwesenden (unter anderem auch mich) zu Tode langweilten.
Aber die hohen Herrschaften liebten es, sich mit derartigen Leuten zu umgeben, bewies es doch, dass man einen Sinn für Kultur hatte.
Nun, während der Poet seine Zeilen in den Saal schmetterte und der eine oder andere doch erhebliche Mühe hatte, ein Gähnen zu unterdrücken, fiel mein Blick auf Lakyr – und ich sah, dass der Hausherr mit seinen Gedanken sicherlich auch meilenweit von den Begebenheiten voll blutvoller Leidenschaft und Übertreibung entfernt war, die der Dichter mit seinem Werk zu beschwören suchte. Außer Bediensteten und Freunden, die hin und wieder für einige Zeit bei ihm weilten, wohnte niemand in seinem Haus. Die Eltern waren zur Zeit der letzten Pestepidemie, die Palniarak heimgesucht hatte, dahingesiecht, ein Bruder war Waffenhändler in Rôlsur – weit im Osten gelegen – und eine Schwester, mit einem angesehenen palniarakischen Bürger verheiratet, hatte den Tod im Kindbett gefunden.
Lakyr bemerkte in diesem Moment, dass ich ihn beobachtete, und erwiderte meinen Blick. Ich weiß nicht, was in diesem Augenblick in seinem Kopf vor sich ging, aber vielleicht begann hier so etwas wie Freundschaft.
Dann hatte der Dichter seinen Vortrag beendet und das Publikum klatschte artig, einige der Damen ließen sich sogar zur Exaltiertheit hinreißen.
„Bemerkenswert, diese Ausdrucksstärke! Ich bin regelrecht gerührt!“, hörte ich Dlaguna-a-Luason sagen, die Frau des gegenwärtigen Bürgermeisters von Palniarak, welcher ihr nickend beipflichtete.
Natürlich wagte niemand, sich kritisch zu dem Dargebotenen zu äußern, denn das wäre einerseits dem Gastgeber gegenüber unhöflich gewesen und hätte den Betreffenden zusätzlich dem Verdacht ausgesetzt, keinen Sinn für Poesie zu haben und nicht wirklich begreifen zu können, was der Dichter zum Ausdruck bringen wollte.
„Gedichte, die das Wirken der Götter verherrlichen!“, meldete sich Sringos, seines Zeichens oberster Priester des Arodnap-Tempels von Palniarak, zu Wort. „Kann ein Poet etwas Sinnvolleres schaffen?“
Ich hörte, wie Lakyr-a-Dergon ein heiseres und keineswegs wohlwollendes Lachen von sich gab. Es war hohntriefend und bewirkte, dass sich sowohl auf der Stirn des Priesters wie auf der des Dichters selbst tiefe Furchen des Missbehagens bildeten.
„Hat Euch mein Vortrag etwas nicht gefallen, Herr Lakyr?“, fragte Drasque gereizt. „So sagt es mir frei heraus! Kritisiert mich, so kann ich mich rechtfertigen.“
Lakyr nahm einen Schluck Wein aus seinem Becher und musterte den Poeten nachdenklich. Dann entschied er offensichtlich, dass ein Streit um die Kunst mit diesem Menschen nicht lohnte.
„Oh nein, ich habe nicht über Euren Vortrag gelacht. Und es lag mir ganz gewiss fern, Euch, Herr Drasque, angreifen zu wollen. Nein, mein Spott galt der Bemerkung unseres ehrenwerten Priesters Sringos.“
„Was war an seiner Bemerkung auszusetzen?“, ereiferte sich Drasque.
„Eigentlich nichts, denn schließlich kann man von jemandem wie ihm kaum erwarten, dass er etwas anderes sagt. Ich für mein Teil denke, dass es für Poeten sinnvollere Aufgaben gibt, als die Götter zu verherrlichen.“
„Jedem anderen wäre ich jetzt vielleicht gram“, entgegnete Sringos gelassen. „Aber ich kenne Euch zu lange, um nicht die ketzerischen Tendenzen in Eurem Denken, werter Herr Lakyr, längst bemerkt zu haben, die sich aber bei näherem Hinsehen als bloße Lust an der Provokation herausstellen. Ihr sagt einfach etwas in den Raum oder – so wie jetzt – gebt irgendeine andere Äußerung von Euch, ein Lachen etwa oder ein Aufstoßen an geeigneter Stelle. Und schon werden sich Leute zu Genüge finden, die sich um dieses Vorfalls willen ereifern werden.“
„Es erstaunt mich sehr, so etwas von Euch, einem ehrenwerten und tadellosen Priester des Arodnap, zu hören! Wie könnt Ihr Verständnis für derartige Respektlosigkeit zeigen!“, rief Lusason-a-Luason, der Bürgermeister von Palniarak.
Lakyrs Blick glitt zu mir hinüber, der ich etwas abseits saß, denn immerhin war ich nur ein Bediensteter, der auf Abruf bereitzustehen hatte, um irgendetwas aufzuschreiben oder vorzulesen.
„Dies ist Keregin, mein Schreiber“, stellte er mich vor und ich bemerkte plötzlich, wie die Aufmerksamkeit sich mir zuwandte.
„Keregin wird von mir als Mann mit klugem Geist und hoher Bildung geschätzt. Stellen wir ihm die entscheidende Frage: Existieren die Götter? Oder sind sie nur Wesen, die unsere Einbildung geschaffen hat?“
Ich sah, wie Sringos seine Augenbraune anhob und Dlaguna-a-Luason hochmütig den Mund verzog.
„Nun, ich denke nicht, dass ich der richtige Mann bin, der eine solche Frage abschließend beurteilen könnte!“, erklärte ich. Es war mir, wie ich gestehen muss, äußerst unangenehm, dass Lakyr mich mit seiner Frage so sehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt hatte. Aber die Situation war nun einmal da und es schien kaum ein Ausweichen zu geben.
„Eure Bescheidenheit ehrt Euch, mein lieber Keregin“, sagte Lakyr daraufhin. „Aber ich bin an Eurer Meinung zu dieser Sache sehr interessiert – und wie ich denke, gilt dies in gleicher Weise für die anderen.“
Es wurden jetzt Trauben gereicht und während Sringos schmatzte und schlürfte, brachte er noch heraus: „Nur zu, Keregin! Vielleicht habt Ihr ja etwas Geistvolles dazu zu sagen! Schreiber sind zumeist intelligente Leute, mit denen ein Gedankenaustausch lohnt.“
Auch an mich trat jetzt eine Dienerin heran, um mir Trauben anzubieten, doch ich lehnte ab.
„Entweder die Götter existieren“, so begann ich dann, „oder sie existieren nicht. Wenn sie existieren, dann stellt sich die Frage, ob die Götter den Menschen oder der Mensch die Götter geschaffen hat. Wenn sie nicht existieren, so stellt sich die Frage, welche Macht statt ihrer die Welt ordnet und erhält. Vielleicht ist es so, dass die Welt und ihre Ordnung sich von allein erhalten, ohne dass es dazu der Einflussnahme höherer Wesen bedarf. Dem Menschen aber erschien dies ganz offensichtlich als eine zu unwahrscheinliche Möglichkeit, vielleicht gefiel es ihm auch ganz einfach nicht völlig allein auf der Erde zu wandeln, umgeben nur von einer kalten Ordnung oder einem verwirrenden Chaos – je nachdem, als was die Welt empfunden wird. Und so erschuf er sich die Götter.
Wenn es aber tatsächlich so ist, wie die meisten unserer Zeitgenossen glauben und wie es uns auch die Priester in den Tempeln lehren, dass nämlich die Gottheiten vor den Menschen existierten und diese erschaffen haben ...“
„... wie im Übrigen wohl sämtliche religiöse Schriften berichten“, unterbrach Sringos.
„Ja, genau“, beeilte ich mich zu bestätigen. „Wenn es also so ist, dass die Götter den Menschen geschaffen haben, dann stellt sich doch unwillkürlich die Frage, wer dann die Götter erschuf!“
Lakyr wandte sich an Sringos.
„Wie ist Arodnap, der Gott, dem Ihr verpflichtet seid, erschaffen worden?“
Sringos wirkte jetzt gelöst, die Falten waren von seiner Stirn verschwunden, und er erwiderte sogar das spöttische Lächeln seines Gastgebers.
Seltsam, dachte ich. Die Priester, die ich bisher kennengelernt habe, waren von anderer Natur gewesen. Intoleranter, fanatischer, ja manchmal konnte man den Eindruck von Besessenheit gewinnen. Sringos’ Mimik und Gehabe schienen jedoch fast etwas Komödiantisches zu haben. Jedenfalls war es verwirrend für mich.
„Unser erhabener und zorniger Gott Arodnap?“ Sringos lehnte sich zurück und stopfte ein halbes Dutzend Trauben auf einmal in seinen Mund, so dass ihm der Saft am Kinn hinunterlief und seine geweihte Robe besudelte. „Arodnap, so lehrt uns die heilige Überlieferung, zeugte sich vor Urzeiten selbst. Und zwar aus Fels, Sand und Feuer.“
„Das ist richtig“, nickte Bürgermeister Luason-a-Luason. „Und wir haben keinerlei Grund, an dem Wahrheitsgehalt der Überlieferungen zu zweifeln.“
„Ach nein?“, fragte Lakyr mit vor Zynismus triefender Stimme.
„Die Götter dulden keinen Frevel“, fuhr der Bürgermeister fort. „Sie werden denjenigen, der sich gegen sie versündigt, schwer zu bestrafen wissen!“
„So lehren es die Überlieferungen“, stimmte Sringos zu, während ihm der Becher aufgefüllt wurde.
Lakyr verzog das Gesicht.
„Als ich das letzte Mal in Balan war“, erzählte er, „traf ich dort einen Mann, der behauptete, dass einzig und allein die Gesetze der Natur und der Logik das Universum regierten! Was wir höheren Wesen zuschreiben, wären nichts weiter als Phänomene, die der Mensch bisher noch nicht erklären vermocht hat. Ich glaube, dieser Mann hat recht.“
„Diese Stadt“, so erklärte jetzt ein gewisser Asertzu aus Rôlsur, der ein weithin angesehener und bekannter Kaufmann war und das bisherige Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, „gestattet es jedem ihrer Bürger – so ist es Gesetz und Herr Luason wird mir da zustimmen müssen – an den Gott zu glauben, der ihm beliebt. Oder auch an mehrere gleichzeitig. Die Vielzahl der verschiedensten Tempel und Kultstätten innerhalb unserer Mauern zeigt, wie lebhaft die Palniaraker davon Gebrauch machen. Ungewöhnlich ist es hingegen, wenn man an gar nichts glaubt, so wie Ihr, Herr Lakyr.“
Lakyr zuckte mit den Schultern.
„Ob ungewöhnlich oder nicht, ich denke, dass sich meine Sicht der Dinge eines Tages durchsetzen wird. Es gibt immer mehr Philosophen, die die nüchterne Erkenntnis dem Glauben an Wunder und höhere Wesen vorziehen. Es ist alles nur eine Frage der Zeit. Die Mühlen der Geschichte mahlen langsam und das zarte Pflänzchen der menschlichen Vernunft muss sich erst noch zu seiner vollen Größe entfalten.“
„Wir werden sehen“, brummte Sringos leise. „Wir werden sehen.“
„Man müsste auf den Uytrirran, den Berg der Götter, steigen. Dann würde sich schon erweisen, was an ihnen dran ist, an diesen Wesen, die angeblich unsere Welt regieren!“
„Dabei könntet Ihr unangenehme Dinge erleben, Freund Lakyr“, meldete sich Luason zu Wort. „Schließlich ist es den Sterblichen untersagt, den heiligen Ort zu betreten.“
Lakyr zuckte mit den Schultern.
„Alles Aberglauben. Was soll schon geschehen?“
„Ich hoffe doch, dass Ihr das alles nur im Scherz gesagt habt!“, sagte Dlaguna-a-Luason. Lakyrs Augen blitzten lustig.
„Wer weiß?“
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4.
Musiker nahmen jetzt ihre Plätze ein, stimmten die Instrumente und erfüllten den Saal anschließend mit Wohlklängen.
Zunächst kam kunstvoll zubereiteter Schafskäse auf den Tisch, hinterher Fleisch – erst Lamm, dann Geflügel.
Es wurde gerülpst und geschmatzt, der Wein floss in Strömen und die Stimmung lockerte sich zusehends.
Als dann der Fisch gereicht wurde, war ein Großteil der Gäste unfähig, auch nur einen weiteren Brocken herunterzuwürgen und so mussten vorab Brechschalen und Federn gereicht werden.
Ich hörte, wie Drasque, der Dichter, der sich inzwischen zu einer Gruppe von Damen gesellt hatte, erklärte: „Er ist eigentlich ein Banause und barbarischer Kunstverächter. Ihr habt es gesehen, meine Damen, wie wenig er die Tiefe meiner Dichtung zu schätzen wusste, wie wenig es die Kraft meiner Verse vermochte, eine Seite in ihm zum Schwingen zu bringen.“
Es war unzweifelhaft, dass sich diese Bemerkungen auf den Gastgeber bezogen.
„Vielleicht muss man mit einer besonderen Ader geboren sein, um die Poesie wirklich zu verstehen und tatsächlich in das Wesen der Dinge eindringen zu können!“, schnatterte eine schrill klingende Stimme; ganz offensichtlich einzig und allein zu dem Zweck, den Dichter zu beeindrucken. Die Aufgeblasenheit und unter schönen, klingenden Worten verborgene Oberflächlichkeit und Hohlheit dieser Leute rief in mir höchstens so etwas wie Bedauern hervor, denn ich wusste, auf welch unsicherem Fuß sie im Innersten ihrer Seele standen und wie leicht ihr Glaube an sich selbst und die eigenen Fähigkeiten zu erschüttern war.
Sie waren keinesfalls die Geistesriesen, die sie vorgaben zu sein. sie waren von einer von ihnen selbst als jämmerlich empfundenen Mittelmäßigkeit, mit der sie sich allerdings keinesfalls abfinden konnten. Auf diese Weise waren sie ständig gezwungen, bei Anlässen wie diesem eine Nebelwand aus Wortgeklingel und Phrasen um sich herum aufzubauen.
Ich denke, dass zum Leben das Lebenlassen gehört. Man kann derartige Existenzen durchaus hinnehmen und mit ihnen leben, ohne sie ständig auf ihre Kleinheit und Hohlheit hinweisen zu müssen, oder sogar seinen offenen Spott damit zu treiben – so wie es Lakyr-a-Dergons Art war. Wer will schon letztgültig entscheiden, wer tatsächlich weise ist und wer nur schön verpackte Einfalt zur Schau trägt?
Es wird immer auch andere Sichtweisen geben, aus denen heraus sich die Dinge gänzlich anders darstellen. Wer will da den Hochmut besitzen zu behaupten, das Wahre vom Unwahren zweifelsfrei erkennen zu können?
Nun, jener Mann, der im Mittelpunkt dieser Geschichte steht, Lakyr-a-Dergon nämlich, war von jener Art. Mit einer für andere manchmal erschütternden Unbekümmertheit machte er die Positionen seiner Gegenredner lächerlich, während er selbst der einzige Mann auf Erden zu sein schien, der dazu im Stande war logisch zu denken!
Ja, er war lästerlich und respektlos – und zwar nicht nur auf jene Art und Weise, die Leute wie Luason-a-Luason an ihm kritisierten, also den Göttern gegenüber – das wäre im Übrigen meiner Ansicht nach durchaus verzeihlich gewesen – sondern er brachte auch kaum einem seiner Mitmenschen Achtung entgegen.
Schon am nächsten Tag sollte er den Plan dazu fassen, das Weltbild der Menschen von Palniarak zu verspotten.
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ZU FRÜHER STUNDE LIESS mich Lakyr zu sich rufen. Und während ich verschlafen und mit einem dicken Kopf bei ihm auftauchte, wunderte ich mich darüber, dass der Hausherr trotz des gestrigen Gelages bereits aufgestanden und offensichtlich hellwach war.
Was konnte er zu dieser Stunde für Arbeit haben, die einen Schreiber benötigte um getan zu werden?
Bald jedoch sollte sich mir eröffnen, dass es um etwas ganz anderes ging.
„Na, wie geht es Euch, werter Keregin?“
„Ich habe Kopfschmerzen.“
„Das ist der Kater. Offensichtlich seid Ihr nichts Gutes gewöhnt!“
Lakyr grinste, doch ich war außerstande, dies zu erwidern. Ich fühlte mich scheußlich.
„Weshalb habt Ihr mich rufen lassen, Herr Lakyr? Was für eine Arbeit ist zu tun?“ Ich seufzte. Es würde am besten sein, alles so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
„Setzt Euch erst einmal! Ihr seht in der Tat elend aus.“
„Was gibt es also?“
Und während ich mich auf ein weiches Sofa fallenließ, rieb ich mir verzweifelt die Schläfen. Der Nebel aus Schmerz, der meinen Verstand umhüllte, wollte einfach nicht weichen.
„Ich habe einen Plan gefasst, von dem ich Euch in Kenntnis setzen möchte“, verkündete Lakyr. Ich zuckte mit den Schultern.
„So?“
Wenn mich sein Plan in diesem Augenblick auch nicht im Mindesten interessierte: Was sollte ich tun? Ich war bei ihm angestellt und von ihm abhängig. So musste ich also zuhören, obwohl ich mich ins Bett wünschte.
„Ich möchte eine Reise unternehmen, Keregin. Eine Reise ganz besonderer Art!“ Er strich sich über das Kinn und seine Augen begannen eigentümlich zu funkeln. „Ich habe vor, den Göttern auf dem heiligen Berg Uytrirran einen Besuch abzustatten!“
Jetzt ist er verrückt geworden, dachte ich. Vollends verrückt.
Er sprang auf und baute sich vor mir auf.
„Was haltet Ihr davon?“
Ich zuckte mit den Schultern. Für einen Streit fehlte mir im Augenblick die Kraft.
„Los, sagt schon etwas! Ich will Eure Meinung hören!“
„Wenn Euch irgendein Gott die Gnade einer Audienz erweisen sollte, so grüßt ihn bitte von mir“, brummte ich sarkastisch, woraufhin Lakyr den Mund verzog.
„Ihr glaubt mir nicht, habe ich recht?“
Ich sagte nichts.
„Ihr denkt, dass ich Euch einzig und allein aus dem Bett geholt habe, um Euch zu ärgern, stimmt’s?“
Nun, es war eine Tatsache, dass er mein Wohlwollen damit etwas über Gebühr strapaziert hatte. Im Übrigen dachte ich mir, dass es besser war, ihn zu verspotten, bevor er Gelegenheit hatte dasselbe mit mir zu tun.