Zusammenfassung
Die erfahrene Tänzerin Sandra leitet eine Kindertanzgruppe. Als der Vater einer ihrer Schülerinnen ihr Avancen macht, ist sie verärgert, schließlich ist seine Frau hochschwanger – auf der anderen Seite gefällt ihr Robert Hermann ausnehmend gut ...
Die musisch begabte Finja will unbedingt ihre Leidenschaft zum Beruf machen und Musik studieren. Das Tanzen fällt ihr nicht leicht, trotzdem lässt sie sich von ihrer Freundin Anna zu einem Tanzkurs überreden und lernt dabei Olli und Lennard kennen. Die beiden sind nicht die begabtesten Tänzer, erweisen sich aber als Freunde in der Not …
Melanie ist mit ihren siebenunddreißig Jahren nicht die Jüngste im Tanzclub, trotzdem hat ihr Schwarm Mirko sie als seine neue Partnerin auserkoren. Doch trotz des ständigen Trainings, für das sie ihre Freizeit opfert und eine Entlassung bei ihrer Arbeitsstelle als Buchhändlerin riskiert, ist Mirko nicht mit ihr zufrieden. Sie ist verzweifelt – ist sie denn wirklich eine so schlechte Tänzerin…?
Dieses E-book enthält folgende drei Love Stories:
Der Regentanz bringt die Liebe
Tanzen macht auch Sportmuffeln Spaß!
Erfolg lässt sich nicht erzwingen
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Table of Contents
Der Regentanz bringt die Liebe
Tanzen macht auch Sportmuffeln Spaß!
Erfolg lässt sich nicht erzwingen
Tanz in die Liebe
Drei Love Stories von Eva Joachimsen
Der Umfang dieses Buchs entspricht 188 Taschenbuchseiten.
Die drei unterhaltsamen Geschichten handeln vom Tanzen und – wie könnte es anders sein? – von der Liebe:
Die erfahrene Tänzerin Sandra leitet eine Kindertanzgruppe. Als der Vater einer ihrer Schülerinnen ihr Avancen macht, ist sie verärgert, schließlich ist seine Frau hochschwanger – auf der anderen Seite gefällt ihr Robert Hermann ausnehmend gut ...
Die musisch begabte Finja will unbedingt ihre Leidenschaft zum Beruf machen und Musik studieren. Das Tanzen fällt ihr nicht leicht, trotzdem lässt sie sich von ihrer Freundin Anna zu einem Tanzkurs überreden und lernt dabei Olli und Lennard kennen. Die beiden sind nicht die begabtesten Tänzer, erweisen sich aber als Freunde in der Not …
Melanie ist mit ihren siebenunddreißig Jahren nicht die Jüngste im Tanzclub, trotzdem hat ihr Schwarm Mirko sie als seine neue Partnerin auserkoren. Doch trotz des ständigen Trainings, für das sie ihre Freizeit opfert und eine Entlassung bei ihrer Arbeitsstelle als Buchhändlerin riskiert, ist Mirko nicht mit ihr zufrieden. Sie ist verzweifelt – ist sie denn wirklich eine so schlechte Tänzerin…?
Dieses E-book enthält folgende drei Love Stories:
Der Regentanz bringt die Liebe
Tanzen macht auch Sportmuffeln Spaß!
Erfolg lässt sich nicht erzwingen
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Regentanz bringt die Liebe
von Eva Joachimsen
1. Kapitel
„Hallo, Sandra!“
Die junge Frau mit der knabenhaften Figur und den kurzen Haaren stockte. Dann drehte sie sich von den Schuhen im Schaufenster weg zu den Passanten hinter ihr und blickte in das Gesicht ihrer alten Klassenkameradin Julia Ehlers. Trotz der roten Haare erkannte sie sie sofort.
„Wie geht es dir?“ Julia umarmte Sandra und hauchte ihr rechts und links Küsschen auf die Wangen.
„Danke, gut. Leider habe ich immer noch keine Ganztagsstelle.“
„Du verdienst wenigstens schon Geld und stehst auf eigenen Füßen. Bis ich einmal soweit bin ...“
Sandra zuckte mit den Schultern. „Ich bin vor einem Jahr in eine eigene Wohnung gezogen. Aber das Geld reicht hinten und vorne nicht.“
„Willst du nicht wieder tanzen?“
„Hast du einen Partner für mich?“ Sandra grinste Julia herausfordernd an.
Julia schüttelte den Kopf. „Torsten gebe ich nicht her.“
Obwohl Torsten und Julia erst sechzehn waren, als sie sich kennengelernt hatten, hielt die Beziehung bereits seit acht Jahren. Dabei waren Julias Eltern sehr entsetzt gewesen und hatten dementsprechend Stress gemacht, als die beiden sich Hals über Kopf verliebten. Bald darauf suchten sie eine eigene Wohnung, obgleich Julia noch minderjährig war und kurz vor dem Abitur stand, während Torsten erst seine Gesellenprüfung machen musste. Um die Miete zu finanzieren, gab Julia Nachhilfe und Torsten arbeitete nebenberuflich als Diskjockey. Aber er war vernünftig und hielt Julia an, fleißig zu lernen. Und so schaffte sie einen guten Schulabschluss und studierte im zehnten Semester Chemie. Da sie ihn nicht für einen Tanzkurs begeistern konnte, gingen sie gemeinsam zu den Line Dancern und gehörten inzwischen zu den besten Tänzern der Gruppe.
„Hast du Zeit für einen Kaffee?“ Julia zeigte auf die Bäckerei.
„Eine Stunde, dann muss ich zur Stuhlgymnastik ins Altersheim.“ Julia war zwar seit drei Jahren ausgebildete Physiotherapeutin, trotzdem hatte sie keinen festen Vollzeitjob und musste sehen, wie sie ihr Leben bestreiten konnte.
Sie setzten sich in eine ruhige Ecke und tranken einen Latte macchiato. Julia erzählte von ihrem Studium. „Im nächsten Sommer bin ich hoffentlich fertig.“
„Wohnst du immer noch in dieser Altbauwohnung?“
„Nein, schon lange nicht mehr. Seit Torsten Geselle ist, haben wir eine kleine Wohnung, die in einem erheblich besseren Zustand ist. Torsten will nicht einmal anteilig Miete von mir haben. Immerhin habe ich es erreicht, dass wir uns die Nebenkosten teilen.“
Sandra berichtete von ihrer Suche nach einem Nebenjob. „Ich habe meinen Übungsleiterschein gemacht. Aber unser alter Sportverein hat mich nur als Schwangerschaftsvertretung eingestellt. In vier Monaten will Jana wieder arbeiten, dann brauche ich etwas Neues.“
„Was machst du denn?“
„Kinderturnen, Kindertanz, eine Zeit lang habe ich auch Seniorengymnastik gemacht. Ab und zu vertrete ich eine Freundin im Altersheim. Alles nichts Festes.“
Julia nagte an ihrer Unterlippe. „Vaters Tanzschule könnte Nachwuchs gebrauchen. Für Jugendliche gibt es zwar Hip-Hop und Musical Dance, aber für Kinder bietet sie nichts an. Ich frage Vater, ob er nicht eine Kindertanzgruppe einrichten will, damit er auch in Zukunft genug Tänzer hat.“
Sandra bewarb sich in den nächsten Tagen weiter. Die Hoffnung, eine zweite Stelle in einer Praxis eines Physiotherapeuten zu erhalten, zerschlug sich leider. Immerhin wurde sie von einer Seniorenresidenz für zwei Stunden in der Woche engagiert.
Am Freitagnachmittag klingelte es Sturm. Julia stand vor der Tür. „Ich habe Vater überzeugt, du darfst eine neue Kindergruppe aufmachen. Am Nachmittag, wenn der kleine Saal frei ist.“ Sie sprudelte vor Begeisterung über und ließ Sandra gar nicht zu Wort kommen. „Wir machen Werbung im Anzeigenblatt und hängen Plakate in den Läden auf. Die Gruppe soll mindestens ein Jahr laufen. Dann wird geprüft, ob es ausreichend Nachfrage gibt. Bis dahin wirbeln wir, damit du den Job länger behältst.“
Endlich schaffte es Sandra, sie in die Wohnung zu ziehen, bevor die Nachbarn sich über den Lärm beschwerten, und einen Kaffee zu kochen.
Für sie bedeutete es einen Termin mehr. Jetzt musste sie sehen, dass sie schnell genug von der Tanzschule zum Sportverein kam. Allerdings sie konnte das Geld gut gebrauchen, und sie freute sich auf die Kinder. Mit den Kleinen zu arbeiten, machte ihr immer Spaß. Sorgfältig bereitete sie ihre ersten Stunden vor, hängte mit Julia zusammen Plakate auf und half beim Verteilen der Flyer. Julias Vater, Andreas Ehlers, sprach mit der Presse und erhielt einen ausführlichen Artikel in der Zeitung.
Der erste Nachmittag, an dem zwölf Kinder erschienen, deckte zwar die Kosten nicht, war aber ein großer Erfolg. Sandra war froh, dass so viele gekommen waren, denn Herr Ehlers war persönlich anwesend. Er begrüßte alle Eltern und Kinder im Namen der Tanzschule und stellte sie als erfahrene Übungsleiterin vor. Danach übernahm er den Bartresen, bediente die Mütter und beobachtete die Gruppe durch die Glasscheibe.
Natürlich erhöhte das Sandras sowieso schon vorhandene Nervosität. Zum Glück half ihr die Erfahrung aus der Lateinformation, wo sie ständig vor Zuschauern getanzt hatte. Sie konzentrierte sich auf die Kinder. Begeistert machten die Kleinen mit, liefen hinter ihr her, hoben die Arme, klatschten im Takt und hopsten wie die Kaninchen. Es war eine Freude, ihnen zuzusehen. Am Ende der Übungsstunde hüpften die Kinder fröhlich zu ihren Müttern und drei Frauen sprachen Sandra an, dass ihnen die Stunde gut gefallen habe und sie wiederkommen würden. Verständlicherweise hoffte Sandra jetzt auf Mundpropaganda.
2. Kapitel
„Mama, geh nicht.“ Lina klammerte sich an ihre Mama.
Frau Hermann versuchte, ihre Hände zu lösen. „Frau Petow, ich weiß nicht, ob es der richtige Moment ist, mit dem Kindertanzen anzufangen. Lina ist so anhänglich, seit sie erfahren hat, dass sie ein Geschwisterchen bekommt. Sie lässt mich gar nicht mehr los. Das hat sie früher nicht gemacht.“
„Wir können es doch einfach probieren. Sie können die ersten Male dabeibleiben.“ Sandra lächelte Frau Hermann ermutigend an.
Dann rief sie die Kinder zu sich. „Wir machen den Regentanz. Immer wenn das Wort Regen fällt, lassen wir ihn mit den Händen herunterfallen.“ Sie hob ihre Hände und führte sie mit zappelnden Fingern nach unten. Die Kinder ahmten sie begeistert nach. Auch Lina machte mit.
Sandra stellte die Musik an und die Kinder ließen ihre Hände im passenden Augenblick regnen.
„Sehr schön. Ihr habt sicher gehört, am Ende werden die Schirme aufgespannt. Dann müsst ihr so tun, als ob ihr Schirme aufspannt.“ Lina hatte sich vorgenommen, den Tanz so gut zu üben, dass sie ihn aufführen konnte. Eltern und Großeltern verlangten bei den Kindergruppen ständig nach Vorführungen und die Kinder hatten Spaß daran. Sie würde kleine Schirmchen besorgen, damit es noch besser aussehen würde.
Es folgten andere Tänze, die die meisten Kinder schon mehrmals getanzt hatten. Selbst Lina vergaß ihre Mama und machte voller Freude mit, sodass Frau Hermann bald davonschlich.
„Wie war es?“, fragte sie hinterher.
„Prima, Lina hat Sie nicht vermisst. Sie wird sich bald an die veränderten Umstände gewöhnen.“
In den folgenden Wochen machte Lina problemlos mit. Ihre Mutter saß nicht mehr bei Moni an der Bar und trank Kaffee oder Wasser, sondern fuhr Einkaufen oder nach Hause und holte sie anschließend wieder ab.
An einem Dienstag im Februar fiel Sandras Kollegin aus. „Sandra, kannst du zwei Patientinnen von Annika übernehmen? Wir haben die Patienten bereits hin- und hergeschoben und ein paar auf die nächsten Tage vertröstet, aber die beiden sind dringend.“
„Wann sind die Termine?“, fragte Sandra.
„Um zehn vor zwei und zehn nach zwei.“
„Das wird knapp, um drei habe ich meine Kindertanzgruppe. Na es wird schon gehen.“ Sie stimmte zu und verschwand mit einer alten Dame in einer Kabine.
Mittags besorgte der Chef für die gesamte Belegschaft Pizza, weil alle verkürzte Pausen hatten. Doch dann kam der erste Patient von Annika erst zehn Minuten verspätet. „Tut mir leid, aber ich konnte nicht weg. Ich musste noch ein dringendes Kundengespräch führen.“
Sandra nickte und begann. Sie behandelte ihn fünf Minuten kürzer, trotzdem half es nicht, da auch die zweite Patientin nicht pünktlich war. „Oh, ich habe Ihrem Chef gesagt, dass ich Probleme mit dem verschobenen Termin bekomme. Ich muss mich schließlich durch den Verkehr quälen.“
Sandra unterdrückte ein passendes Wort und fing mit der Behandlung an. Anschließend verabschiedete sie sich hastig, zog sich um und schwang sich auf ihr Rad. Sie musste sich beeilen, nach Hause konnte sie nicht mehr, aber zum Glück hatte sie die meisten ihrer Kinderlieder auf dem PC des Vereins gespeichert.
Die Tanzkinder warteten bereits, das hieß, sie tobten laut kreischend durch den Saal.
„Oh, entschuldigt bitte, meine Kollegin war krank, daher musste ich Überstunden machen.“ Sie nickte den Müttern zu, wechselte die Schuhe und betrat den Saal. Natürlich beachteten die Kinder sie überhaupt nicht. Also stellte sie die Musik an. Jetzt kamen die meisten zu ihr, nur Fine und Jonas tollten noch herum. Sandra pfiff auf zwei Fingern. Die Kleinen blieben erstaunt stehen und drehten sich zu ihr um.
„Hallo, Fine und Jonas, wir wollen beginnen.“
Es half, nun kamen auch die beiden Letzten. Sandra stellte die Musik aus und begrüßte die Kinder erst einmal. „Ich musste etwas länger arbeiten, deshalb bin ich nicht vor der Zeit da gewesen wie sonst, aber es ist jetzt genau drei Uhr.“ Sie zeigte auf die Uhr über der Musikanlage. Die Kleinen nickten und Sandra unterdrückte ein Schmunzeln. Keins von den Kindern ging schon zur Schule. Sicher konnten sie nicht die Uhr lesen.
Am Ende der Stunde kam Frau Hermann auf sie zu. „Frau Petow, es kann sein, dass mein Mann in der nächsten Zeit Lina bringt und auch abholt. Er will mir helfen und hat mir versprochen, ab und zu den Dienstagnachmittag freizunehmen.“
„Das ist in Ordnung“, sagte Sandra. „Wann ist es denn so weit?“
„Zwei Monate noch, aber langsam wird es ungemütlich.“
Sandra lächelte sie an. „Schön, wenn Ihr Mann Sie entlasten kann.“
„Mama, wir führen beim Fasching den Regentanz vor“, sprudelte Lina hervor.
„Oh je, dann müssen wir wohl zum Fasching gehen.“
„Im Verein wird dreimal Fasching gefeiert. Einmal Kinderfasching, einmal für die Erwachsenen und ein Diskoabend für die Jugendlichen. Sie können es sich aussuchen.“
„Na, ich glaube, mir reicht der Kinderfasching.“
Sandra grinste. „Dazu brauchen Sie Lina nur kostümiert abzugeben. Es ist sozusagen unsere Generalprobe. Wenn es klappt, führen wir den Regentanz auch auf dem Faschingsfest der Erwachsenen und auf dem nächsten Turnier vor.“
„Wann ist das? Vielleicht kann ich dann gar nicht mehr kommen.“
„In diesem Fall bitten Sie eine andere Mutter, Lina mitzunehmen.“
Vor der nächsten Stunde bat Sandra die Mütter, ob sie eine Telefonliste machen dürfte. „Dann müssen Sie nicht immer die Kinder selbst herbringen, sondern können Fahrgemeinschaften machen.“
Alle waren damit einverstanden und Moni, die Bürokraft des Vereins, erklärte sich bereit, die Liste zu tippen.
„Du bist ein Schatz“, lobte Sandra.
3. Kapitel
Der Reifendruck wurde immer schwächer. Da Sandra aber die Tanzschule schon fast erreicht hatte, schob sie das Fahrrad die letzten Meter bis in den Hof. Erst dort holte sie die Luftpumpe aus ihrem Rucksack und pumpte. Vergeblich, die Luft entwich sofort. „So ein Mist“, fluchte sie und drehte das Rad, um das Loch zu finden. Tatsächlich, da steckte in der Nähe des Ventils ein Glassplitter im Mantel. Sandra schaute auf die Uhr. Sie hatte noch eine Viertelstunde. Hoffentlich reichte sie, sonst hätte sie nachher Probleme, pünktlich in der Schulsporthalle zu erscheinen. Sie zog das Flickzeug aus dem Rucksack und versuchte, den Mantel zur Seite zu ziehen, doch der flutschte immer wieder zurück.
„Soll ich helfen?“, fragte eine warme, dunkle Stimme hinter ihr.
Sandra blickte hoch. Ein schlanker, mittelgroßer blonder Mann sah auf sie herab. Mit seinem ebenmäßigen Gesicht hätte er gut ein Fotomodell sein können.
„Wenn Sie es schaffen, wäre es toll. Ich muss gleich arbeiten und habe keine Zeit.“
„Bei meinem Fahrrad habe ich es schon öfter gemacht.“
„Normalerweise nehme ich das Rad ab, das kann ich allein“, meinte Sandra kläglich und zog eine Grimasse.
Mit wenigen Handgriffen zog der Fremde den Mantel ab und den Schlauch hervor. Vorsichtig zog er den Splitter heraus.
Sandra reichte ihm Raspel, Kleber und Flicken. Sie selbst kontrollierte mit spitzen Fingern die Innenseite des Mantels, aber die Scherbe war vollständig entfernt.
„Klebeband haben Sie nicht zufällig?“, fragte er.
„Nein, nur Pflaster. Vielleicht genügt es fürs Erste.“ Sie fand in ihrem Erste-Hilfe-Set sogar Leukoplast und klebte den Mantel ab. Der Mann war inzwischen mit der Reparatur fertig, schob den Schlauch in den Mantel und zog ihn wieder auf die Felge.
„Fünf Minuten, das ist rekordverdächtig“, meinte Sandra und lächelte ihn dankbar an. „Vielen Dank, Sie haben meinen Tag gerettet!“
Er sah vom Aufpumpen hoch und lächelte zurück. „Gern geschehen. Radfahrer helfen einander, ist doch selbstverständlich.“ Damit gab er ihr die Pumpe zurück.
„Kann ich Sie bei Gelegenheit zu einem Bier einladen?“, bot Sandra an. Sie stopfte die Luftpumpe in den Rucksack und hoffte auf eine Zusage. Den Mann wollte sie natürlich näher kennenlernen.
„Gern.“ Er kramte in seinem Portemonnaie und zog eine Visitenkarte heraus. „Rufen Sie mich an, wenn Sie einmal Zeit haben.“
Sandra griff danach und steckte sie ungelesen in ihre Jeanstasche. Seine Hände sahen dreckig aus. „Kommen Sie bitte zum Händewaschen herein. So kann ich Sie nicht laufen lassen.“
„Ja, ich komme gleich hinterher“, rief der Mann und lief zum Parkplatz. Sandra konnte nicht länger warten und sprang die Stufen zur Haustür hinauf.
Zuerst legte sie Musik auf, dann wechselte sie die Schuhe. Nebenbei hörte sie einer Mutter zu, die ihr Kind für die nächsten zwei Wochen abmeldete. Als sie wieder aufsah, brachte ihr Fahrradhelfer Lina zu ihr. Er lächelte und wollte etwas sagen, doch in dem Moment kam Jonas und musste Sandra sein neues Auto zeigen und als Sandra es genug bewundert hatte, war der Mann verschwunden.
Lina war inzwischen so vertraut mit Sandra und der Kindergruppe, dass sie problemlos blieb und mitmachte, selbst wenn ihre Mutter sie nicht gebracht hatte.
Der Regentanz klappte schon recht gut. So holte Sandra die Kinderschirme, die sie besorgt hatte, hervor und ließ die Kinder den Tanz mit den Schirmen üben. Beim vierten Mal waren die Kleinen in der Lage, sich im richtigen Augenblick von den Schirmen zu trennen und sie auf den Fußboden zu legen. Fast alle hoben sie rechtzeitig auf. Sandra war zufrieden. Sie wechselte die Musik, dabei schaute sie verstohlen auf die Visitenkarte. „Robert Hermann“ stand drauf. Aha, der Ehemann. Sie legte den Tiertanz auf. Auch er sah gut aus und machte den Kindern Spaß, daher beschloss Sandra, beide Tänze vorzuführen.
Beim Verabschieden sagte sie den Kindern, dass sie Geld für die Schirme mitbringen sollten. Natürlich hatte Moni, die Bürokraft, Informationszettel für die Eltern geschrieben und ausgedruckt, mit den genauen Terminen und der Bitte, Geld für die Schirme mitzugeben.
„Nach der Aufführung beim Fasching dürft ihr die Schirme behalten.“
„Mir ist es lieber, wenn die Schirme hier im Verein bleiben. Bei uns wird er bloß kaputt gespielt und zur nächsten Aufführung brauchen wir sicher einen neuen“, meinte eine Mutter. Die anderen Mütter nickten zustimmend und schlossen sich der Bitte an.
„Gut, dann werden wir die Schirme im Büro bei Moni einschließen.“
Die Kinder verabschiedeten sich. Nur Linas Vater quälte sich lange mit den Schuhen herum. Schließlich erbarmte sich Sandra, kniete sich hin und zog Lina die Schuhe noch einmal aus. „Kein Wunder“, sagte sie und zog Jonas Auto aus dem linken Schuh hervor.
„Warum sagt sie nichts?“ Der Mann schüttelte den Kopf.
Sandra sah Lina an.
„Du hast nicht zugehört“, flüsterte Lina so leise, dass sie kaum zu verstehen war.
„Dann war es wohl meine Schuld. Ich habe nicht so viel Erfahrung mit Kindern.“ Er zuckte hilflos die Schultern.
Sandra verkniff sich die Bemerkung, dass er nicht alles seiner Frau überlassen sollte. Was gingen sie die Familienverhältnisse ihrer Tanzmäuse an?
Der Mann war sowieso erheblich jünger als Frau Hermann. Vielleicht bemutterte sie ihn ja genauso wie Lina.
„Eigentlich kann Lina es schon selbst. Nur Schleifenbinden muss sie noch üben“, meinte Sandra nur.
Inzwischen versuchte Herr Hermann, Lina in die Winterjacke zu zwängen. Dabei rutschte der Pulloverärmel ganz hoch und bildete oben einen Wulst.
Deshalb fasste er von unten in den Ärmel, doch dafür war der Ärmel zu schmal.
Sandra sah eine Weile zu, da sie aber anschließend in der Grundschule die Kinderturngruppe hatte, griff sie schließlich ein. Sie zog Lina die Jacke wieder aus, zog den Ärmel hinunter und ließ Lina ihn mit der Hand festhalten. Jetzt klappte es mit der Jacke.
„Tanzen Sie selbst oder unterrichten Sie es nur?“, fragte er.
„Momentan unterrichte ich nur. Ich habe früher hier in der Formation getanzt. Turniertanz ist Herrn Ehlers Hobby. Daher gibt es nicht nur die Tanzschule ‚Immer gut gelaunt‘, sondern außerdem den Verein ‚Flotte Sohle e.V.‘ mit der Lateinformation und den Standardturniertänzern. Als ich für die Prüfung lernen musste, hatte ich zu wenig Zeit zum Training. Kurz darauf hörte auch noch mein Partner auf, weil er mit dem Studium fertig war und durch den Job keine Zeit mehr hatte.“
„Ich habe die Tanzschule besucht und da ständig Herren fehlten, habe ich jahrelang als Gastherr getanzt.“
„Und keine Lust, es weiterzumachen?“, fragte Sandra aus Höflichkeit. Seit sie wusste, dass er verheiratet war, interessierte es sie nicht mehr.
„Wenn ich die Kinder sehe und ihren Spaß daran, dann komme ich in Versuchung, es erneut zu probieren. Aber ich habe keine Partnerin dafür.“
Sandras Handy vibrierte, daher kam sie nicht dazu, zu fragen, warum er nicht mit seiner Frau tanzte. Vielleicht haperte es einfach am Babysitter.
Sie nickte ihm zu, und drehte sich weg, um in Ruhe mit ihrer Kollegin Annika zu sprechen. Anschließend musste sie sich beeilen, um rechtzeitig im nächsten Verein zu sein. Sie brachte nur noch schnell die Schirme ins Büro. „Die Mütter bitten, sie hierzulassen, damit sie heil bleiben.“
„Sicher besser“, meinte Moni. Sie legte die Rechnung zur Seite, stand auf und packte die Schirme in den großen Büroschrank.
Wie gut, dass ihr Fahrrad wieder heil war, so kam sie gerade pünktlich in der Turnhalle an.
In der Mittagspause schaffte Sandra es in die Buchhandlung. Melanie, eine der Turniertänzerinnen des Vereins „Flotte Sohle“ arbeitete hier, deshalb besorgte Sandra alle Bücher in diesem Laden. Aber Melanie hatte zu tun. Sie musste kassieren, daher zeigte sie Sandra nur, wo die Reiseführer standen und empfahl zwei.
Sandra wühlte auf der Suche nach den genannten Büchern zwischen den Reiseführern herum.
„Ach, Frau Petow!“ Als sie mit Namen angesprochen wurde, sah sie auf. Herr Hermann stand mit einem Krimi und einem Roman von Hans Fallada in der Hand vor ihr.
„Wollen Sie nach Italien reisen?“, fragte er mit einem Blick auf das Regal.
„Ja, mit einer Freundin an den Gardasee und vielleicht weiter nach Mailand und Venedig. Wir haben nur eine Woche fest gebucht, den Rest schauen wir. Wir fahren außerhalb der Saison, da können wir es uns leisten, ins Blaue zu fahren.“
„Italien ist schön, ich bin nach der Schule ein halbes Jahr in Italien gewesen. Erst habe ich am Gardasee gekellnert, später bin ich weitergefahren. Ab und zu habe ich ein paar Wochen gejobbt und dann bin ich weitergezogen bis nach Sizilien.“
„Sprechen Sie Italienisch?“
Er nickte. „Ja, wir hatten als Kinder zwei Italienerinnen als Au-pairs. Die haben mit uns italienisch gesprochen und da meine Mutter es gut fand, dass wir eine Fremdsprache beherrschen, hat sie uns gleich weiter in irgendwelche Kurse geschickt. In der Schule wäre mir Englisch oder Französisch lieber gewesen.“ Er lachte.
Sie unterhielten sie noch eine Weile angeregt über Italien. Schließlich empfahl er ihr einen der Reiseführer und sie gingen gemeinsam zur Kasse.
„Na, hast du dich entschieden?“, fragte Melanie lächelnd.
„Bei dem Wetter brauche ich sonnige Aussichten“, stöhnte Sandra, ehe sie ihr Buch in den Rucksack packte und in den Regen hinausging.
„Soll ich Sie mitnehmen? Ich bin mit dem Auto da“, bot Herr Hermann an.
„Danke, aber ich bin mit dem Fahrrad unterwegs.“ Sie zog ihr Fahrradcape an. „Es gibt kein schlechtes Wetter ...“
„... sondern nur falsche Kleidung“, ergänzte er und winkte ihr zu, bevor er den BMW aufschloss.
Sandra bekämpfte ihren Neid. Es war ihr schon aufgefallen, dass Hermanns genug Geld besaßen. Die Kleine war immer in teuren Markensachen gekleidet und Frau Hermann sah aus, als ob sie auf dem Laufsteg für irgendein Label lief.
„Nein, das will ich ja gar nicht“, sagte Sandra laut und grinste, als eine ältere Dame sie verwundert anschaute. Eigentlich fuhr sie aus Prinzip Fahrrad, doch manchmal fiel es ihr schwer. So wie jetzt. Knapp über dem Gefrierpunkt und dazu Dauerregen.
4. Kapitel
Am nächsten Dienstag brachte wieder Herr Hermann Lina in den Verein. „Lina weigert sich, mit den anderen Müttern mitzufahren, dabei wohnt Katharina nur eine Straße weiter.“
„Wenn sie sich an die Umstellung gewöhnt hat, wird es sicher besser“, tröstete Sandra.
„Haben Sie am Samstagabend Zeit?“, fragte er beim Abholen.
Sandra sah ihn überrascht an.
„Im Yorckschlösschen spielt eine Jazzband. Haben Sie Lust mitzukommen?“ Er sah sie mit einem Dackelblick an.
Sandra musste sich beherrschen, ihn nicht anzupöbeln. Da war seine Frau hochschwanger und ihm fiel nichts Besseres ein, als mit einer Fremden auszugehen? Sie war enttäuscht, bisher war er ihr sympathisch gewesen.
„Nein, ich habe schon etwas vor“, log sie. Dabei hatte sie Gewissensbisse, weil sie versprochen hatte, ihm ein Bier auszugeben. Aber sie konnte doch unmöglich mit ihm ausgehen, deshalb hatte sie sich vorgenommen, die Familie Hermann nach der Entbindung zu Kaffee und Kuchen einzuladen.
„Das Kleid steht Ihnen“, sagte er in der folgenden Woche. Sandra trug ausnahmsweise einmal ein Minikleid über Leggins. Mit ihren kurzen dunklen Haaren und der schlanken Figur wirkte sie sonst recht knabenhaft. Aber sie liebte dieses Outfit und die Kurzhaarfrisur, es war so praktisch.
„Danke“, erwiderte sie kurz angebunden.
„Gehen Sie zum Vereinsfasching?“, fragte er.
„Weiß ich noch nicht“, antwortete sie unwirsch. Was wollte er bloß ständig von ihr? Reichte ihm seine Frau nicht oder gehörte er zu den Typen, die nicht mehr mit ihren schwangeren Frauen schlafen mochten und daher Ersatz brauchten?
Als Moni sie später fragte, ob sie zum Fasching kommen würde, fiel ihr der attraktive Herr Hermann ein, nein, lieber nicht. Sie wollte sich nicht in Schwierigkeiten bringen. Und erst recht keinen Skandal in der Tanzschule anzetteln. Sie war froh, diesen Nebenjob zu haben. Von ihren dreißig Stunden konnte sie gerade ihre Wohnung finanzieren. Da brauchte sie schon einen zusätzlichen Job, um die Extras zu bezahlen. Außerdem machte ihr die Arbeit mit den Kindern Spaß. Sie überlegte, ob sie Andreas Ehlers nicht ein oder zwei weitere Gruppen schmackhaft machen konnte. Sie benötigte nur eine gute Idee, was sie anbieten konnte.
„Ich habe keine Zeit“, antwortete sie deshalb.
„Schade. Die Formation hat fast vollständig zugesagt. Aber du kannst auch spontan kommen, wenn du doch noch Zeit haben solltest. Ein paar Extrastühle finde ich sicher.“
Sandra umarmte Moni. „Danke. Ich werde sehen.“
Der Kinderfasching war ein voller Erfolg. Sandras Kleinkindergruppe und die etwas größeren Kinder, die schon richtig Gesellschaftstanz machten, tanzten zur Musik von der Musikanlage. Natürlich hatten sich Sandra und Moni Spiele ausgedacht und die Kleinen kämpften mit vollem Einsatz darum, beim Eierlaufen und Sackhüpfen Erste zu werden. Später gab es Kuchen und Würstchen mit Brot. Und als die Kinder endlich abgeholt worden waren, räumten sie gemeinsam auf und fegten.
„Mann, bin ich kaputt“, stöhnte Sandra.
Daheim legte sie sich sofort ins Bett. Sie hatte sich noch immer nicht entschieden, ob sie zum Fasching gehen wollte oder nicht.
Auf dem Weg zur Arbeit traf sie am Morgen Julia, die zu einer Vorlesung fuhr. „Kommst du heute Abend? Das wird bestimmt lustig. Die Formation und die Line Dancer sind fast vollständig vertreten.“
Sandra bekam Sehnsucht nach dem Tanzen, nach ihren Formationsfreunden, mit denen sie sechs Jahre lang getanzt hatte. Mit einigen unternahm sie öfter etwas. Wie gern hätte sie wieder mitgemacht. „Gut, überredet, ich komme, auch wenn ich gar nicht weiß, was ich anziehen soll.“
„Kein Problem. Ich kann dir etwas leihen.“
Das war aber nicht nötig. Sandra wühlte in ihrem Kleiderschrank und fand noch ein Katzenkostüm von einer Aufführung mit dem Sportverein. Sie würde sich allerdings erst umziehen, nachdem die Kinder abgeholt worden waren.
Pünktlich eine halbe Stunde vor dem Auftritt traf Sandra in der Tanzschule ein. Sie zog ihre Gymnastikschuhe an, holte die Schirme aus dem Büro und gab Torsten die CD mit der Musik. So nach und nach trudelten die Kinder ein und zogen sich in der Garderobe um.
Lina wurde heute von ihrer Mutter gebracht. Sandra wunderte sich, dass der Vater nicht mitkam. Hatte er kein Interesse an seinem Kind? Die Kleinen waren so aufgeregt, dass sie alle Hände voll zu tun hatte, sie zu beruhigen. Deshalb nickte sie Frau Hermann nur kurz zu.
Sie verteilte die Regenschirme und sang im Umkleideraum ein paar Kinderlieder mit den Tanzmäusen. Endlich kam der große Auftritt. Gemeinsam betraten sie den Raum. Die Feier war schon seit einer Stunde im Gange, aber da Samstag war, waren die Eltern mit der späten Vorführung einverstanden gewesen.
Eigentlich hatte Sandra nur am Rand stehen wollen, doch die Kinder schauten unsicher zu ihr und warteten ab. Also ließ sie das Lied noch einmal von Anfang an laufen, stellte sich dazwischen und tanzte mit. Jetzt machten die Kinder eifrig mit und ließen sich von den Zuschauern nicht mehr stören. Beim Tiertanz ging Sandra nach der ersten Strophe aus dem Kreis heraus, ohne dass sie sich beirren ließen.
Hinterher gab es begeisterten Beifall. Klar, die Kinder hatten auch ihre Eltern und Großeltern mit, die vor der Bar standen und zuschauten.
Sie mussten sogar noch eine Zugabe geben. Den beliebten Pinguintanz. Dabei hatten sie ihn gar nicht extra eingeübt. Anschließend verneigten sie sich und Sandra trieb sie unerbittlich zu ihren Eltern. Am Tresen spendierte Andreas Ehlers Saft und Kuchen für die Kinder, während Moni und Sandra die Schirme einsammelten.
Nachdem die Kinder alle fort waren, schlüpfte Sandra in ihr Katzenkostüm und schminkte sich sorgfältig nach Vorlage der Musical-Darsteller. Danach setzte sie sich zu Melanie an den Tisch. „Willst du nicht wieder tanzen? Wir könnten weitere Paare gebrauchen“, fragte ein Turniertänzer.
„Habt ihr einen Partner für mich?“, gab Sandra zurück.
„Wir können dich in unserer Partnerbörse aufnehmen.“
„Nutzlos, da war ich schon lange Zeit. Hat nichts gebracht.“
„Vielleicht hättest du Lust, Modern Dance zu machen“, schlug Melanie vor. „Ich habe es mir überlegt, als ich keinen Tanzpartner hatte.“
„Bieten wir aber nicht an.“
„Dann überreden wir Andreas eben.“
Sandra grinste. „Dazu müssen wir Julia vorschicken, die wickelt ihren Vater um den Finger.“
Die anderen lachten zustimmend.
Nach einer Weile holte sie sich ein neues Getränk vom Tresen. Wie immer bei den Feiern stand Moni dort und bediente. „Du hast wohl auch kein Zuhause“, zog Sandra sie auf.
„Da hast du recht. Selbst mein Mann hält sich inzwischen hier auf.“
„Tanzt ihr zusammen?“, fragte Sandra überrascht. Zum großen Unmut von Moni hatte sich ihr Mann jahrelang geweigert, einen Tanzkurs zu machen.
„Ja, endlich habe ich es geschafft. Einmal die Woche drehen wir unsere Runden.“
„Toll, hoffentlich finde ich auch eines Tages einen Partner, der gern tanzt.“ Damit zog sie weiter. Die Formationstänzer saßen im kleinen Saal bei den Line Dancern und ein paar anderen jungen Leuten.
„He, wo bleibst du denn?“, rief Katrin. Sie zeigte auf den Stuhl neben sich. „Habe ich extra freigehalten.“
„Danke, ich musste zuerst die Aufführung über die Runden bringen und die Kinder nach Hause scheuchen. Anschließend habe ich mich mit Melanie unterhalten.“
Immerhin fanden sich genug Tänzer, sodass Sandra nicht nur zusehen musste. Und die Stimmung war wirklich nett.
Kurz vor Mitternacht forderte sie ein Pirat auf. Im ersten Augenblick war Sandra überrascht. Sie kannte den Mann nicht. Sie ging sämtliche Bekannte im Verein durch, doch dann, als er tanzte, fiel es ihr ein. So bewegte sich nur jemand aus den Anfängerkursen. Es war Linas Vater, Robert Hermann. Die Schritte von fortgeschrittenen Tänzern waren viel raumgreifender. Wenigstens war er im Takt und beherrschte die üblichen Figuren.
„Wie sind Sie denn an die Eintrittskarte gekommen?“, fragte sie.
„Oh, ganz einfach, ich habe Moni um eine Karte gebeten und sie war dankbar. Sie meinte, sie hätte noch viel zu viel übrig.“
Sandra lachte. „Dabei sieht es richtig voll aus.“
Er zog sie enger an sich. „Ich konnte leider nicht den ganzen Abend kommen, da ich im Prüfungsstress bin.“
Sandra versuchte, unauffällig etwas Abstand zu bekommen. Nach dem dritten Tanz wollte sie sich wieder hinsetzen, doch er hielt sie fest. „Nächste Woche gibt es von der Tanzschule Schulze einen Ball. Würden Sie mit mir mitkommen?“
„Tut mir leid, aber ich habe keine Zeit.“ Sie löste sich von ihm und lief zu ihrem Platz, dabei ärgerte sie sich, dass sie so höflich geblieben war. Warum war sie so feige gewesen, statt ihm zu sagen, dass er mit seiner Frau hingehen sollte?
Die Reihen lichteten sich, dafür war die Tanzfläche jetzt freier und alle konnten besser tanzen. Ihre Tischnachbarn waren auf dem Parkett. Die Gelegenheit nutzte sie, auf Toilette zu gehen. Im Flur traf sie erneut Herrn Hermann. Diesmal verstellte er ihr den Weg. „Ich mag dich, können wir uns nicht mal treffen?“
Sandra versuchte, an ihm vorbeizuschlüpfen, doch er griff nach ihr, zog sie an sich und küsste sie. Erst sanft, dann leidenschaftlich. Wutentbrannt wandte sie sich aus seinen Armen und rannte schwer atmend zum Saal zurück. Erleichtert tauchte sie im Gedränge unter und arbeitete sich zum Tresen durch. Moni hatte noch immer alle Hände voll zu tun und stellte ihr die Flaschen ohne ein Wort hin. Vorsichtig balancierte Sandra das Tablett mit den Getränken zu ihren Freunden.
„Was ist los, du siehst so verärgert aus“, fragte Julia.
„Bin ich auch“, knurrte sie. Hielt sich sonst aber mit weiteren Bemerkungen zurück. Sie wollte nicht schuld an einer Ehekrise bei den Hermanns sein. Es musste nicht zwei weitere Scheidungswaisen geben. Stattdessen verabschiedete sie sich bald darauf. Warum mussten die interessantesten Männer schon vergeben sein?
5. Kapitel
Sandra eilte an der Bar vorbei Richtung Saal. Zwei der Kleinen waren am Werk, die Musikanlage zu demolieren. Dabei war sie doch nur kurz im Büro gewesen, um ein Anmeldeformular zu holen, und hatte die Kinder unter Aufsicht ihrer Mütter zurückgelassen. Allerdings saßen die inzwischen an der Bar und unterhielten sich. Sie riss die Tür auf, ohne auf die Umstehenden zu achten. Jemand sprang einen Schritt zurück und verhinderte so, dass ihn die Tür traf. Gleich darauf zog es Sandras Beine weg. Doch bevor sie hart aufschlug, fing sie jemand auf und hielt sie fest. Sie stürzte trotzdem, aber ihr Helfer verlangsamte den Fall. Im letzten Augenblick ließ er sie los, damit er nicht auf sie drauf fiel.
Sandra brauchte einen Wimpernschlag, um sich zu besinnen, dann raffte sie sich auf, sammelte ihre Glieder ein und stand auf. Der Po und die Hände taten weh. Zum Glück konnte sie sich problemlos bewegen. Sie schaute sich um und blickte in Herrn Hermanns Gesicht. Er sah geschockt aus.
„Vielen Dank. Sie haben sicher einen Arm- oder Beckenbruch verhütet.“ Mühsam zwang sie sich ein Lächeln ab.
„Der Fußboden ist nass.“ Er zeigte mit dem Finger auf die Saftpfütze auf dem Parkett.
Sandra hatte sich inzwischen soweit vom Schock erholt, dass sie ihren feuchten Hosenboden spürte. Erst einmal brüllte sie: „Lasst sofort die Musikanlage in Ruhe, sonst können wir heute nicht tanzen!“
Erschrocken fuhren die beiden Jungen zusammen und rannten weg. „So, das erste Problem haben wir gelöst“, murmelte Sandra. Dann ging sie hinter den Tresen und suchte nach dem Wischlappen und dem Schrubber.
„Das kann ich machen.“ Herr Hermann nahm ihr die Teile galant aus der Hand und wischte die Pfütze auf. Sandra lief vorsichtig in den Saal hinein, die Augen auf den Fußboden gerichtet. An zwei Stellen war der Boden nass und sie rief Herrn Hermann herbei, sie zu trocknen.
„So, damit nicht womöglich jemand anderes stürzt, trinken wir augenblicklich nur noch an der Bar. Bringt bitte eure Flaschen zu den Tischen. Anschließend können wir anfangen.“ Sie beobachtete die Kinder, wie sie ihre Getränke wegbrachten. Erst als alle weggeräumt waren, stellte sie die Musik an und winkte Herrn Hermann dankend zu. Sie war hin- und hergerissen. Er gefiel ihr und gleichzeitig ärgerte sie sich maßlos über ihn.
Eine Woche später kam Lina mit Katharinas Mutter. „Frau Hermann holt die Kinder dann ab“, sagte sie. „Ich muss mit dem Kleinen zum Kinderarzt.“
Sandra nickte ihr zu und half Lina, ihre Gymnastikschuhe anzuziehen. Vertrauensvoll hielt Lina sich an ihrer Hand fest, als sie in den Saal gingen.
Sandra betrachtete sie schmunzelnd. Die Kinder waren so lieb. Sie hätte auch gern welche. Später, noch hatte es Zeit. Hoffentlich fand sie einen geeigneten Partner dafür.
Geduldig erklärte sie immer wieder den neuen Tanz. Nach einer Weile hörte Sandra, dass die Stimmen der Mütter an der Bar lauter wurden. Einige blieben, weil es sich nicht lohnte, nach Hause zu fahren. Sie tranken einen Kaffee, klönten und beobachteten ihren Nachwuchs durch die Glasscheibe. Aber wenn die anderen eintrafen, wurde es immer unruhiger. Ein Zeichen für Sandra, auf die Uhr zu schauen. Die anderthalb Stunden waren wieder wie im Flug vergangen.
„So, Schluss für heute“, rief sie und ließ die Kinder ihr Abschiedslied singen. Gleich darauf strömten die Kleinen zu ihren Müttern in den Umkleideraum und plapperten aufgeregt los. Sandra sah ihnen lächelnd hinterher.
Lina und Katharina sahen sich suchend um.
„Hat jemand schon Frau Hermann gesehen?“, fragte Sandra die Mütter.
„Es gab einen Unfall. Vielleicht steckt sie im Stau“, meinte Jonas Mutter.
„Na, dann ziehen wir uns erst einmal um“, beschloss Sandra und hoffte, dass Frau Hermann bald erschien.
Jonas Mutter half ihr bei Katharina, sodass sie nur ein Kind umziehen musste.
Nachdem sie die Schnürsenkel gebunden hatte, gingen sie zur Bar. Moni räumte in der Küche gerade die Getränke in den Kühlschrank.
„Hoffentlich kommt Linas Mutter gleich. Ich muss doch weiter zum Kinderturnen.“
Da klingelte ihr Handy. „Frau Petow, es tut mir leid, ich stehe im Stau, können Sie die Kinder einen Augenblick behalten? Ich komme gleich.“
„Ja, natürlich“, murmelte Sandra.
„Geh schon, ich passe auf. Ich arbeite sowieso hier.“ Moni holte den Kuchen aus dem Kühlschrank, der vom Sonntag übrig geblieben war.
„Ich muss weg, aber Moni ist da. Sie passt auf die Kinder auf“, erklärte Sandra und schaltete ihr Handy aus.
Die beiden waren mit dem Schokoladenkuchen beschäftigt. „Und anschließend könnt ihr mir beim Einräumen helfen“, sagte Moni.
Sandra winkte ihr zu, schnappte sich ihren Rucksack und eilte Richtung Turnhalle. Sie kam auf die Minute genau dort an. Die Kinder warteten schon unruhig auf sie.
Zwei Tage später erschien Frau Hermann auf ihrer Arbeitsstelle und brachte einen Blumenstrauß vorbei. „Es tut mir so leid, dass ich nicht pünktlich war. Sie haben doch auch zu tun.“
„Wie haben Sie mich gefunden?“
„Moni hat mir die Adresse verraten. Es tut mir so fürchterlich leid. Und ich hatte solche Sorgen, dass Lina ganz verzweifelt ist, weil sie nicht abgeholt wird, aber als ich kam, malte sie zusammen mit Katharina ein Bild vom Regentanz.“
Sandra lachte. „Ich glaube, Moni hat es richtig Spaß gemacht, die Kinder zu betreuen. So eine Verspätung kann schließlich einmal passieren.“
Dann musste Sandra die nächste Patientin behandeln und Frau Hermann ging.
6. Kapitel
Beim nächsten Übungsnachmittag erzählte Lina aufgeregt, dass die Mami schon ganz viel für das Baby besorgt hätte und das Zimmer für das neue Baby inzwischen fertig wäre.
„Das war Papas Zimmer, aber jetzt muss er im Schlafzimmer arbeiten“, erklärte sie. Sie kam sich ganz wichtig vor, weil sie ihrer Mutter beim Wäschesortieren geholfen hatte und ein paar Sachen aussuchen durfte. Nebenbei war auch ihre Puppe neu eingekleidet worden. Sandra bewunderte sie ausgiebig, als Lina sie vorführte.
Herrn Hermann sah Sandra in der nächsten Zeit nicht. Jedes Mal erwartete sie mit Herzklopfen, wer Lina abholen würde, zum Glück es war immer die Mutter. Dafür war sie dankbar und ihr Herzklopfen konnte sie sich gar nicht erklären.
Die Gruppe war in den letzten Wochen klein geworden. Einige Kinder hatten Erkältungskrankheiten, außerdem ging Scharlach herum. Daher freute sich Sandra, dass Lina regelmäßig kam, obwohl ihre Mutter Angst vor Ansteckung hatte.
„Aber ich kann es doch nicht verhindern, wenn es sein soll, dann kommt es“, meinte sie und Sandra nickte dazu.
„Manches holt man sich beim Einkaufen oder beim Arztbesuch.“
„Stimmt, ich traue mich kaum noch zu meinen Vorsorgeuntersuchungen. Jedes Mal sitzen da so viele hustende und schnupfende Patientinnen im Wartezimmer.“
„Machen wir den Regentanz?“, fragte Lina.
„Nein, ich will einen neuen Tanz mit euch üben.“ Doch da die Kinder so enttäuscht waren, machten sie doch noch den Regentanz und Lina und Jonas durften von Moni sogar die Schirme holen, damit es schöner war.
Der neue Tanz war erheblich schwieriger. Die Kinder mussten nicht nur im Kreis herumlaufen, mit den Händen den Regen imitieren und die Schirme aufspannen, sondern sie mussten sich verschiedene Wege merken und umeinander herumgehen.
„Das schaffen wir heute nicht, das ist nicht schlimm, die meisten sind sowieso nicht da. Aber wenn ihr es schon ein bisschen könnt, helft ihr nächste Woche den anderen.
Die Kinder nickten ernsthaft.
Hinterher räumten sie alles wieder auf.
„Ich habe einen Arzttermin und muss jetzt los“, sagte Moni und schloss das Büro ab.
„Bis nächste Woche“, sagte Sandra.
Ein Kind nach dem anderen wurde abgeholt, nur Lina nicht. Lina war schon ganz weinerlich. „Bestimmt steht deine Mama wieder im Stau.“
„Aber sie ruft nicht an.“
„Wenn man Auto fährt, kann man nicht telefonieren.“ Tröstend fuhr sie Lina über den Kopf.
Dann schaute sie zum zehnten Mal auf die Uhr. Sie musste unbedingt weg. Doch sie war die Einzige in der Tanzschule. Die nächste Gruppe fing erst in zwei Stunden an.
„Weißt du was? Du kommst einfach zum Kinderturnen mit“, sagte Sandra. Sie holte sich aus der Bar einen Zettel und einen Stift. „Ich nehme Lina zum Kinderturnen mit.“ Darunter schrieb sie die Adresse von der Schule auf, in der sie turnte.
„So, jetzt macht sich deine Mama keine Sorge, wenn sie hier erscheint und du nicht da bist. Kommt, das Turnen ist lustig, fast so schön wie das Tanzen“, erklärte sie, als sie den Zettel mit Klebestreifen an die Tür heftete.
Sie nahm Lina an die Hand und lief mit ihr die Treppe hinunter. Unten packte sie Linas Tasche auf den Gepäckhalter, schulterte ihren Rucksack und hob die Kleine auf den Sattel. Anschließend schob sie das Fahrrad eilig durch die Straßen. Natürlich kamen sie fünf Minuten zu spät.
„Tut mir leid. Linas Mutter ist nicht erschienen und im Verein war niemand, der sie betreuen konnte“, entschuldigte sie sich.
Die Kinder warteten längst auf die Stunde und Sandra warf ihr Programm um, da es zu spät war, Geräte aufzubauen. Stattdessen machten sie Ballspiele und während die größeren Kinder schon herumtobten, zog sie schnell Lina die Sportsachen über. Eine wartende Mutter war so lieb und kam in den Turnsaal herein und half Lina, wenn ein paar Dinge zu schwer für sie waren. Schließlich waren die anderen Kinder zwei bis vier Jahre älter.
„Mama ist immer noch nicht da“, weinte Lina, als alle anderen gegangen waren. Sandra war inzwischen selbst besorgt. Sie zog ihr Handy heraus und rief bei Hermanns an, da nahm niemand ab. In der Tanzschule war auch niemand erreichbar. „Wir fahren bei dir zu Hause vorbei“, schlug sie vor. Wieder packte sie das Gepäck und Lina auf das Fahrrad und schob es. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie bei Lina daheim waren. Auf ihr Sturmklingeln öffnete niemand. Sie versuchte es mehrmals mit dem Telefon, aber auch da ging niemand ran.
„Wo ist denn dein Papa?“, fragte Sandra.
„Verreist.“
Natürlich - Männer, die Augen für andere Frauen haben, verreisen selbst, wenn ihre Frau kurz vor der Niederkunft steht. Zum Glück war Herr Hermann nicht da, sonst hätte er einiges zu hören bekommen. Stattdessen klingelte Sandra bei den Nachbarn. Eine ältere Dame war da, sie hatte beobachtet, wie Frau Hermann am Nachmittag weggefahren war, sie aber nicht zurückkommen sehen. Endlich nahm Andreas Ehlers den Hörer in der Tanzschule ab. Sein Tanzkurs begann gleich. Von Frau Hermann hatte er nichts gehört. „Der Anrufbeantworter war leer“, sagte er.
„Ich nehme die Kleine zu mir nach Hause, irgendwo muss sie ja bleiben. Kannst du es bitte der Mutter sagen, wenn sie vorbeikommt?“
Danach läutete sie ein weiteres Mal bei der älteren Dame und richtete ihr aus, dass sie Lina mitnehmen würde. „Haben Sie etwas zu schreiben? Dann notiere ich meine Adresse und Telefonnummer, damit Frau Hermann ihre Tochter findet.“ Den Brief steckte sie in den Briefkasten.
„So, und wenn wir daheim sind, backen wir Kartoffelpuffer. Magst du Kartoffelpuffer?“
Lina hatte noch nie welche gegessen. Also erzählte Sandra, wie sie gemacht werden. „Du musst mir helfen, weil es ganz viel Arbeit ist.“
Eigentlich hatte sie gar keine Lust zum Kochen, aber sie hatte kaum Vorräte im Schrank und irgendwie musste sie das Kind beschäftigen. Da war Kartoffel schälen und reiben sicher ein aufregender Zeitvertreib. Sie hatte recht. Lina war so mit ihrer Aufgabe beschäftigt, dass sie erst nach dem Essen nach ihrer Mutter fragte.
„Ich weiß es nicht, Lina. Vielleicht hatte es das Baby eilig und sie ist im Krankenhaus.“
Sie holten eine Luftmatratze vom Dachboden und pusteten sie auf, dann bezog Sandra eine Wolldecke und zwei Sofakissen und legte alles in ihrem kleinen Schlafzimmer vor den Kleiderschrank.
„Zähneputzen!“, erinnerte Lina.
Sandra kratze sich an den Fingern. Eine Ersatzzahnbürste hatte sie nicht, erst recht keine Kinderbürste.
„Hm, das müssen wir diesmal ganz anders machen. Ich drücke die Zahnpasta auf deinen Finger und du putzt mit dem Finger die Zähne.“ Hoffentlich gab es nicht gleich ein Loch. Immerhin war Lina beruhigt und fand es sogar lustig, so ihre Zähne zu putzen.
Sandra las ihr vor. Zum Glück besaß sie ihre eigenen Kinderbücher noch. Da Lina nicht allein bleiben wollte, legte sie sich notgedrungen auch ins Bett. Nur um sich eine halbe Stunde später fortzuschleichen und im Wohnzimmer zu lesen. Den Fernseher anzumachen, traute sie sich nicht, damit Lina von den Geräuschen nicht aufwachte.
Was sollte sie am nächsten Morgen machen? Sie musste doch zur Arbeit. Was war mit Frau Hermann passiert, dass sie sich nicht kümmerte, nicht einmal eine Nachricht sandte? Sandra machte sich Sorgen. Ob Moni die Kleine betreuen konnte? Sie suchte im Telefonbuch nach ihr, fand sie aber nicht. Also rief sie wieder in der Tanzschule an. Moni hatte sich freigenommen,
Zum Glück nahm Andreas Ehlers das Gespräch an und konnte ihr Monis Telefonnummer geben.
„Ihr könnt das Kind nicht einfach behalten. Ihr müsst das Jugendamt einschalten. Die haben ganz andere Möglichkeiten, die Mutter zu suchen“, sagte er.
„Ich weiß, natürlich können wir die Kleine nicht längere Zeit versorgen. Aber ich hoffe, dass sich die Familie, wenigstens der Vater, bei uns meldet. Die arme Kleine, die können wir doch in kein Kinderheim geben.“ Nein, solange es eine Möglichkeit gab, sie von Bekannten hüten zu lassen, sollte diese Idee vergessen werden.
Moni erreichte sie erst kurz vor zehn Uhr. Sie erklärte sich sofort bereit, am Vormittag auf Lina aufzupassen, sie brauchten dann nur für den Nachmittag noch einen Babysitter. Sandra verschob die Lösung des Problems auf den nächsten Tag und blätterte in dem Buch, nur um es wieder wegzulegen. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Stattdessen setzte sie Teewasser auf und starrte in die Dunkelheit hinaus. Wie schnell konnte ein geordnetes Leben aus den Fugen geraten.
Um elf, diesmal lag sie wirklich im Nachthemd im Bett, klingelte es an ihrer Tür Sturm. Sie sprang hoch und rannte zur Gegensprechanlage. „Pst, müssen Sie alle wecken?“
„Frau Petow aus der Tanzschule?“
„Ja, was ist?“
„Hermann, ist Lina bei Ihnen?“
„Ja, gut dass Sie kommen.“
Sandra drückte den Türschließer. Dann schaute sie an sich herunter, öffnete die Tür einen Spalt und lief ins Schlafzimmer, um sich wenigstens einen Bademantel überzuziehen. Aber an den Schrank kam sie nicht heran, da Lina davor lag. Also schlüpfte sie in ihre Jeans und zog einen Pulli über.
„Hallo?“, rief er auch schon aus dem Flur.
„Hallo, kommen Sie.“ Sie führte ihn in das Wohnzimmer. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte sie aus Gewohnheit.
„Danke nein. Ich wollte nur Lina abholen.“
„Sie schläft. Was ist passiert. Warum ist Ihre Frau nicht zur Tanzschule gekommen? Ist das Baby da?“
„Nein, das Baby ist noch nicht da. Es wäre auch viel zu früh. Nicole hatte einen Autounfall und ist ins Krankenhaus gebracht worden. Nichts Schlimmes, aber sie muss die nächste Zeit stramm liegen und kann sich nicht um Lina kümmern.“
„Konnte Sie sich nicht bei uns melden?“
„Nein, Sie hat sich das Bein gebrochen und das wurde operiert. Sie hat wohl vorher etwas von Lina erzählt, aber das war so wirr, dass die Schwestern nichts davon verstanden haben. Nachdem sie aus der Narkose erwachte, fragte sie nach und konnte meine Telefonnummer sagen.“
„Haben Sie denn Ihre Frau und Ihre Tochter nicht vermisst?“
Er stutzte, dann lachte er. „Nein, Nicole ist meine Schwester. Ich wusste nichts von dem Unfall. Mein Schwager ist seit vier Wochen dienstlich in den USA. Er kommt erst kurz vor dem errechneten Termin zurück.“
„Oh je, ich dachte, Sie wären der Vater.“
„Meine Schwester hat ihren Mädchennamen behalten.“ Er grinste. „Am besten schnappe ich mir jetzt Lina. Was mit ihr geschieht, weiß ich nicht. Ich muss mich morgen um eine Kinderbetreuung kümmern. Ich stecke mitten in der Prüfung und kann mir nicht freinehmen.“
„Hm, ich habe vorhin mit Moni telefoniert. Sie würde Lina morgen Vormittag nehmen. Wenn Sie am Nachmittag auf sie aufpassen, kann ich sie am Abend übernehmen. Vielleicht mit ihr auf den Spielplatz gehen.“
„Würden Sie das wirklich machen? Ich ziehe zu meiner Schwester, dort ist mehr Platz als in meiner Studentenbude.“
„Klar, nur die folgenden Tage müssen wir dann noch organisieren.“
„Danke, ich werde morgen schauen, was machbar ist. Bestimmt hat Nicole auch ein paar Freunde, die helfen können.“
7. Kapitel
Verständlicherweise fand sich in Nicoles Bekanntenkreis niemand, der Lina nehmen konnte. Die Frauen arbeiteten alle. Ihre Schwiegereltern waren zu alt, um sich um ein Kleinkind zu kümmern. Und Robert war bereits ohne Kinderbetreuung mit seiner Dissertation im Rückstand. Schließlich einigte er sich mit Moni. Sie würde Lina vom Kindergarten abholen und für sie kochen. Eigentlich wollte sie es als Hilfe für eine Bekannte umsonst machen, doch Nicole bestand darauf, dass sie normal bezahlt würde. Nachmittags musste sich dann Robert bemühen. Sandra versprach, an ihren freien Tagen auszuhelfen. Ein paar Mal konnte sie Lina zum Kinderturnen mitnehmen.
„Wann kommt dein Schwager nach Hause?“
„Erst in einem Monat. Sein Projekt läuft nicht wie geplant und der Kunde ist verärgert. Er kann unmöglich alles hinwerfen. Er hat sowieso schon Sorgen, seinen Job zu verlieren, weil das Projekt hakt.“
„Und wie sieht deine Arbeit aus?“
Robert zuckte die Schultern. „Ich gehe morgen zu meinem Professor und bitte um Verlängerung.“
Er sah so verzagt aus, dass er Sandra leidtat. „Der ist doch kein Unmensch, der sagt sicher ja.“
„Hm.“
„Was ist?“
„Ich habe schon einmal verlängert, weil ich im Herbst eine Lungenentzündung hatte.“
„Da kannst du doch nichts dafür.“
„Nein, ich hatte sogar ein ärztliches Attest. Aber selbst der geduldigste Professor sagt irgendwann einmal nein.“
Sandra hatte das Gefühl, dass es ein zusätzliches Problem gab.
„Was bedrückt dich sonst noch?“
„Bei Forschungsaufgaben kommen auch andere auf die gleiche Idee. Manchmal ist es einfach ein Wettlauf mit der Zeit. Ich habe Sorge, dass mir jemand zuvorkommt. Dann ist die Arbeit der letzten drei Jahre umsonst gewesen.“
Am nächsten Abend rief Sandra Robert an. „Na, was sagt dein Professor.“
„Nein, das heißt, eigentlich würde er ja sagen, aber er hat von einem Kollegen gehört, dass eine Gruppe einer anderen Universität an der gleichen Sache arbeitet.“
„Also doch ein Wettlauf mit der Zeit.“
„Ja.“
„Gibt es im Kindergarten keine Mütter, die sich etwas dazuverdienen wollen?“ Sandra konnte gar nicht verstehen, warum es so problematisch war.
„Da geht Scharlach um. Die Mütter haben alle mit ihren kranken Kindern zu tun.“
„Na, dann steck dich mal nicht an.“
Robert grinste gequält. „Bei meinem Pech passiert das bestimmt auch noch.“
„Also machen wir so weiter wie diese Woche. Vormittags Kindergarten, mittags ist sie bei Moni, dienstags Nachmittag und am Abend beschäftige ich sie, die restlichen Stunden hast du sie. Die Wochenenden kann ich zudem übernehmen.“
„Vielen Dank. Ihr seid Engel.“ Er klang so erleichtert, dass Sandra lachte.
„Die arme Lina, hoffentlich verkraftet sie es, immer hin und her geschoben zu werden.“
Am Samstag holte Sandra Lina bei Robert ab, danach gingen sie zum Bäcker und kauften Brötchen. „Was essen wir heute Mittag?“, fragte Lina.
„Was magst du?“
„Hamburger.“
„Hm, wie wäre es mit Hotdog?“
„Was ist das?“
„So etwas Ähnliches wie ein Hamburger, nur im Brötchen, ist keine Boulette, sondern ein Würstchen.“
Lina erklärte sich bereit, es zu probieren. Also besorgten sie gleich im Supermarkt Würstchen, Gurken, Mayonnaise und Ketchup.
Nach dem Frühstück spielten sie auf dem Spielplatz. Und dann bereiteten sie ihre Hotdogs zu, um rechtzeitig Linas Mama im Krankenhaus zu besuchen.
„Vielen Dank, dass Sie und Moni sich um Lina kümmern. Der arme Robert, der hat schon Angst, seine Doktorarbeit im letzten Augenblick zu versemmeln.“
„Es ist nie der richtige Zeitpunkt“, meinte Sandra.
Sie unterhielten sich eine Weile. Bis Sandra das Gefühl hatte, dass Frau Hermann blass aussah und erschöpft war.
Bloß Lina wollte sich nicht von ihrer Mama trennen. Sie weinte und klammerte sich an sie.
„Lina, bitte, deine Mama braucht Ruhe. Wenn du jetzt nicht brav mitkommst, besuche ich nie wieder mit dir deine Mama.“
Lina schaute sie mit großen Augen an, ließ ihre Mama trotzdem nicht los.
„Lina, wenn deine Mama keine Ruhe bekommt, ist sie länger krank.“
Das wirkte. Lina ließ die Hand los und ging mit Sandra hinaus. Um sie schnell abzulenken, besuchte Sandra mit ihr eine Freundin mit Hund. Lina war begeistert von dem kleinen Mops, der fröhlich herumsprang und sie beschnupperte, sodass sie ihren Kummer vergaß.
Sandra atmete erleichtert auf, dass ihr der Hund eingefallen war. Morgen musste sie sich etwas Neues ausdenken, um Lina den Abschied zu erleichtern.
Als sie am Abend Lina ablieferte, war Robert noch ganz in seiner Arbeit vertieft.
„Hast du genug im Kühlschrank?“, fragte Sandra.
Er antwortete nicht.
Fürsorglich strich Sandra rasch Brote, damit Lina nicht hungern musste, und setzte sich mit ihr an den Küchentisch.
„Niemand hat Zeit für mich“, klagte Lina.
„Blödsinn. War ich nicht den Vormittag mit dir auf dem Spielplatz und den Nachmittag hast du mit Rocky getobt?“
Lina nickte.
„Und hat Moni nicht in der letzten Woche mit dir gespielt und dir vorgelesen?“
Lina nickte wieder.
„Na also. Ganz viele liebe Menschen haben sich um dich gekümmert.“
„Aber Mama nicht.“
Sandra stöhnte. „Deine Mama würde sich viel lieber um dich kümmern, als im Krankenhaus zu liegen.“ Um sie abzulenken, erzählte sie von der kleinen Meise, die regelmäßig bei ihr vorbeischaute und sich vom Fensterbrett das Futter holte. „Und wenn ich es vergesse, schimpft sie und pickt an die Fensterscheibe.“
Nachdem Lina gewaschen und mit geputzten Zähnen im Bett lag, brachte sie Robert belegte Brote. Hinterher machte sie schnell den Abwasch. Erst als die Küche aufgeräumt und sauber war, ging sie. Robert saß noch immer vertieft vor seinem PC und hörte vermutlich gar nicht, was sie sagte. Manchmal kam eben alles zusammen.
Am nächsten Vormittag besuchte sie wieder mit Lina das Krankenhaus. Sie hatte es sich lange überlegt, ob es sein musste, aber Robert würde kaum die Nerven aufbringen, mit Lina dahin zu gehen, also mussten Moni und sie es tun.
Bevor Lina auf die Idee kam, sich an ihre Mutter zu klammern, erzählte Sandra von einer Freundin, die Pferde hatte.
„Sie hat einen kleinen Bauernhof mit Hühnern, Gänsen und Truthähnen. Außerdem zwei Katzen und einen Hund und drei Pferde. Hättest du Lust, mit mir dahinzufahren?“
„Darf ich die Tiere streicheln?“, fragte Lina.
„Die Katzen und den Hund und die Pferde sicher.“
Sandra beglückwünschte sich zu dem guten Einfall. Lina war viel zu sehr an den Tieren interessiert, um großen Trennungsschmerz zu empfinden.
Sie setzten sich in die S-Bahn und fuhren Richtung Straußberg. Am Bahnhof erwartete sie Nora schon. Eigentlich war sie keine Freundin von Sandra, sondern von Sandras Mutter, aber das zu erklären war ihr zu kompliziert gewesen.