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Das Schloss der bösen Träume

©2018 130 Seiten

Zusammenfassung

Das Schloss der bösen Träume
Romantic Thriller von Frank Rehfeld

Der Umfang dieses Buchs entspricht 121 Taschenbuchseiten.

Als Jasmin aus einem Urlaub zurückkehrt, erwartet sie eine schreckliche Überraschung. Ihr Verlobter will die Verbindung lösen. Doch an dem Abschiedsbrief ist etwas merkwürdig, und auch die Beobachtungen eines Freundes machen sie stutzig. Da stimmt etwas nicht. Entschlossen fährt sie in den winzigen Ort, wo sich David aufhalten soll. Als sie ihn endlich aufspürt, benimmt er sich so seltsam, dass ihr Verdacht neue Nahrung erhält. Was hat Mandolyn Rothloon, eine scheinbar sympathische Schlossherrin damit zu tun? Die Wahrheit hinter dieser mysteriösen Angelegenheit ist so schrecklich, dass niemand ihr glauben würde. Jasmin muss allein gegen das Böse kämpfen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Das Schloss der bösen Träume

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Romantic Thriller von Frank Rehfeld

Der Umfang dieses Buchs entspricht 121 Taschenbuchseiten.

Als Jasmin aus einem Urlaub zurückkehrt, erwartet sie eine schreckliche Überraschung. Ihr Verlobter will die Verbindung lösen. Doch an dem Abschiedsbrief ist etwas merkwürdig, und auch die Beobachtungen eines Freundes machen sie stutzig. Da stimmt etwas nicht. Entschlossen fährt sie in den winzigen Ort, wo sich David aufhalten soll. Als sie ihn endlich aufspürt, benimmt er sich so seltsam, dass ihr Verdacht neue Nahrung erhält. Was hat Mandolyn Rothloon, eine scheinbar sympathische Schlossherrin damit zu tun? Die Wahrheit hinter dieser mysteriösen Angelegenheit ist so schrecklich, dass niemand ihr glauben würde. Jasmin muss allein gegen das Böse kämpfen.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de  

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Enttäuscht blickte sich Jasmin Taylor auf dem Londoner Flughafen um. Sie hatte gehofft, David Norton, ihr Verlobter, würde sie abholen, schließlich hatte sie ihm extra ein Telegramm geschickt und ihm mitgeteilt, um wie viel Uhr sie ankäme.

Nachdem sie drei Wochen allein Urlaub in der Südsee gemacht hatte, sollte seine Wiedersehensfreude eigentlich groß genug dafür sein. Als Erbe der Norton-Werke, einer Firma mit Millionenumsätzen, war er auch terminlich nicht so angespannt, dass er sich nicht für ein paar Minuten freimachen könnte. Das Flugzeug war pünktlich gelandet, er konnte also auch nicht die Geduld verloren haben.

Nun gut, dann eben nicht, dachte sie. Wahrscheinlich war ihm etwas Unerwartetes dazwischen gekommen. Sie wartete, bis ihr Gepäck vom Fließband rollte, lud alles auf einen kleinen Handkarren und bestieg eines der vor dem Flughafengebäude wartenden Taxis. Es war später Vormittag, und sie gerieten genau in den Berufsverkehr, der die Straßen Londons zu dieser Zeit stets verstopfte. So dauerte es über eine Stunde, bis sie ihr Appartement in der City erreichte. Der Taxifahrer half ihr, die Koffer bis in den Fahrstuhl zu tragen.

Im zehnten Stock angekommen, lud sie alles aus und schloss ihre Wohnungstür auf. Erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen und rauchte in Ruhe eine Zigarette. Der Flug war anstrengend gewesen, und die Zeitumstellung machte ihr zu schaffen. Sie betrachtete sich in einem Wandspiegel. Unter ihren leicht mandelförmigen, braunen Augen lagen dunkle Ringe, aber ansonsten konnte sie mit ihrem Gesicht durchaus zufrieden sein. Nun ja, wenn sie nicht ausgefallen hübsch wäre, hätte sie bei einem so begehrten Mann wie David Norton, der nicht wegen seines vielen Geldes der Schwarm zahlreicher Frauen war, wohl auch keine Chancen gehabt. Kastanienbraunes Haar fiel in sanften Locken über ihre Schultern, und auch ohne Diät gelang es ihr, stets ihr Idealgewicht zu halten.

Es war ein schöner Urlaub gewesen, obwohl sie immer noch bedauerte, dass David sie nicht hatte begleiten können, wie es ursprünglich geplant gewesen war. Aber seine Eltern waren wenige Wochen vorher tödlich verunglückt. Dadurch war die Leitung der Norton-Werke in Davids Hände übergegangen, und aufgrund der damit verbundenen Arbeit war an einen Urlaub nicht mehr zu denken gewesen. Zwar hatte er Berater, aber er musste sich in die Geschäftsleitung erst einarbeiten, und das erforderte viel Zeit.

Jasmin betrachtete Davids Foto, das in einem offenen Fach des Schrankes stand. Er hatte kräftiges schwarzes Haar, das ein scharf geschnittenes Gesicht mit schmaler Nase und vollen Lippen einrahmte. Seine Haut wies einen fast bronzenen Farbton auf. In seinen strahlend blauen Augen schien ein Erfahrungsschatz zu ruhen, über den er mit seinen fünfundzwanzig Jahren kaum verfügen konnte. Auf dem Foto war seine sportliche, durchtrainierte Figur nicht zu sehen, aber auch so erinnerte sich Jasmin nur zu gut daran.

Sie riss sich von seinem Foto los und trat ans Telefon. Die Nummer seiner Stadtrandvilla kannte sie auswendig. Eigentlich hatte Jasmin ebenfalls schon längst dort einziehen sollen, doch mit Rücksicht auf seine gesellschaftliche Stellung hatten sie bislang darauf verzichtet. Sie waren nicht verheiratet, und die Medien hätten es trotz ihrer Verlobung wahrscheinlich zu einem Skandal hochgespielt.

Horace, der Butler meldete sich. Sie erkundigte sich, ob David im Haus wäre.

„Oh, Sie sind es, Miss Taylor. Nein, es tut mir leid, Mister Norton ist nicht hier. Er ist vor vier Tagen abgereist und bislang nicht zurückgekehrt. Ich weiß nicht, wohin er gefahren ist.“

„Was?“ Jasmin fuhr von ihrem Stuhl hoch und hätte fast das Telefon zu Boden gerissen. „Aber das kann doch nicht sein! Er wusste doch, dass ich heute aus dem Urlaub kommen würde. Hat er wenigstens eine Nachricht für mich hinterlassen?“

„Jawohl, Miss Taylor, hier liegt ein Brief für Sie.“

„Gut, dann komme ich ihn gleich abholen.“

Verwirrt hängte sie ein. Es kam öfter vor, dass David Geschäftsreisen unternahm, aber meist dauerten sie nur ein oder zwei Tage. Vier Tage waren sehr lange, von dem bekannten Termin ihrer Rückkehr ganz zu schweigen.

Sie verließ ihre Wohnung und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage unter dem Haus herab, wo ihr Wagen parkte. Auch jetzt musste sie sich langsam durch den Berufsverkehr quälen. Die Rushhour in London war der reinste Alptraum. Entnervt erreichte sie schließlich die in einem parkähnlichen Garten gelegene Villa. Sie eilte über einen Kiesweg zum Haus, ohne dem gepflegten englischen Rasen, den Springbrunnen, Buschgruppen und farbenprächtigen Blumenbeeten mehr als einen flüchtigen Blick zu widmen. Dies alles war ihr vertraut, und die Verwirrung über Davids seltsames Verhalten dämpfte ihre Wiedersehensfreude ganz erheblich.

Horace öffnete ihr die Tür und führte sie nach einer kurzen Begrüßung in das Wohnzimmer. Dort überreichte er ihr einen verschlossenen Briefumschlag. Jasmin riss ihn auf und las das in Davids steiler Handschrift verfasste Schreiben, das sich darin befand.

Liebe Jasmin,

ich weiß, dass Dir dieser Brief Schmerzen zufügen wird, aber es lässt sich nicht vermeiden. Ich war mir sicher, Dich zu lieben, aber jetzt, da ich Dich einige Tage nicht gesehen habe, konnte ich in notwendigem Abstand über unsere Beziehung nachdenken, und mir ist bewusst geworden, dass es sich wohl doch nur um eine Affäre handelt. Eine Heirat kommt deshalb nicht in Frage, und ich muss unsere Verlobung lösen. Mein Anwalt ist angewiesen, eventuelle finanzielle Ansprüche deinerseits zu überprüfen.

Ich werde für eine ungewisse Zeit verreisen, um in Ruhe über alles nachzudenken. Versuche nicht, mich zu finden, es hätte keinen Sinn.

Mit freundlichen Grüßen

David Charles Norton

Fassungslos las Jasmin den Brief noch einmal, dann ließ sie das Blatt sinken. Sie hatte das Gefühl, einen Schlag ins Gesicht erhalten zu haben. David sollte sie nicht mehr lieben? Ihre Beziehung stellte für ihn plötzlich nur noch eine belanglose Affäre dar?

Das war unfassbar. Sie konnte es nicht glauben. Vor ihrer Abreise waren sie noch ein Herz und eine Seele gewesen, hatten sogar schon konkrete Pläne für die Hochzeit geschmiedet.

Ein schrecklicher Schmerz schien Jasmins Brust zu zerreißen. Tränen schossen in ihre Augen. Ohne ein Wort wandte sie sich um und stürmte aus dem Haus.

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Minutenlang blieb sie erschüttert in ihrem Wagen sitzen. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie unmöglich fahren konnte. Hastig sog sie an einer Zigarette und inhalierte den Rauch tief. Als die Zigarette zur Hälfte abgebrannt war, warf Jasmin sie aus dem Fenster und zündete sich sofort eine neue an. Der Schmerz brannte in ihrem Inneren. Nur ganz langsam beruhigte sie sich ein wenig. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fuhr los.

Etwas an dem Brief stimmte nicht. Auch wenn er eindeutig in Davids nahezu unnachahmlicher Handschrift verfasst war, entsprach er ganz und gar nicht seiner Art. Wenn er ihre Verlobung lösen wollte, würde er dies nicht auf eine solche Art tun. Solch ein Schreiben hätte sie ihm niemals zugetraut. Es war so nüchtern und kaltschnäuzig gehalten, dass es zwar von ihm geschrieben, aber nicht entworfen worden war. David war nicht feige und wich Problemen nicht aus. Er hätte sich mit ihr zusammengesetzt und offen mit ihr gesprochen. Er hatte es nicht nötig, sich hinter unpersönlichen Briefen zu verstecken.

Besonders die letzte Zeile empfand sie geradezu als Beleidigung. Mit freundlichen Grüßen. So konnte man Geschäftsbriefe beenden, aber keinen Abschiedsbrief. Und auch die Unterschrift kam ihr seltsam vor. David hasste seinen zweiten Vornamen, er unterschrieb immer nur mit seinem ersten. Dass er diesmal anders gehandelt hatte, betrachtete sie als einen Hinweis, dass etwas nicht stimmte. Es kam ihr fast wie ein stummer Hilfeschrei vor.

Unsinn, schalt sie sich. Jetzt steigerte sie sich in etwas hinein, das unmöglich sein konnte. Es würde ihr nur neue Schmerzen zufügen, wenn sie sich Hoffnungen machte, die nicht in Erfüllung gehen konnten.

Vielleicht hatte David das Schreiben von einem Anwalt aufsetzen lassen und es dann nur abgeschrieben.

Sie musste sich damit vertraut machen, dass er es ernst meinte, abfinden würde sie sich damit jedoch nicht. Das konnte er nicht von ihr verlangen. Sie würde ihn nicht einfach so aufgeben, sondern um ihn kämpfen. Etwas stimmte an den Umständen dieses Abschiedes nicht, und sie würde es herauszufinden versuchen.

Es gab einen Menschen, der ihr dabei helfen konnte. Jeff Baxter, der engste Mitarbeiter und beste Freund Davids. Auch sie verstand sich gut mit ihm. Wahrscheinlich leitete er während Davids Abwesenheit die Firma, er würde also mit ziemlicher Sicherheit dort anzutreffen sein, und deshalb lenkte Jasmin ihren Wagen dorthin.

Sie hatte Glück, Jeff Baxter war im Werk, und er bat sie sofort in sein Büro, als er von ihrem Kommen erfuhr. Immer noch musste Jasmin mit den Tränen kämpfen, und so reichte sie ihm nur schweigend das Schreiben.

Während er las, betrachtete sie ihn über seinen Schreibtisch hinweg. Baxter war um fast einen Kopf größer als sie, blond und athletisch. Man sah ihm an, dass er viel Sport trieb. Obwohl er die dreißig bereits überschritten hatte, machte er einen sehr jugendlichen Eindruck. Der Ausdruck Sonnyboy schien eigens für ihn erfunden zu sein, auch wenn er jetzt überaus ernst blickte.

„Das kann doch nicht sein“, sagte er und gab ihr das Blatt zurück.

„Genau das habe ich im ersten Moment auch gedacht“, erwiderte Jasmin und rang sich ein schwaches Lächeln ab, obwohl ihr viel mehr zum Weinen zumute war. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass David das wirklich so meint, wie er es schreibt. Und dann diese Unterschrift.“

„Er gibt seinen zweiten Vornamen nicht einmal auf Geschäftsbriefen an. Es kann also kaum ein Zufall sein, wenn er es hier tut.“ Baxter streckte seine Hand aus und legte sie sanft auf ihren Arm. „Das ist ein harter Schlag für dich, nicht wahr?“

„Im ersten Moment wäre ich am Liebsten mit dem Wagen gegen die nächste Mauer gerast.“

„Das ist zwar eine Möglichkeit, alle Probleme auf einen Schlag zu lösen, aber die allerschlechteste.“

„Das habe ich mir dann auch gedacht. Deshalb bin ich hergekommen. Ich habe gehofft, dass du mir vielleicht helfen könntest, du bist schließlich sein bester Freund.“

Er nickte mit unheilverkündendem Gesicht.

„Zumindest habe ich das gedacht. David hat sich schon die ganze Woche vor seiner plötzlichen Abreise sehr seltsam benommen. Er wurde wortkarg und eigenbrötlerisch, selbst mit mir sprach er kaum noch. In der Firma ließ er sich kaum noch sehen, und wenn ich ihn sah, wirkte er so geistesabwesend, dass er fast an einen Schlafwandler erinnerte. Er sah völlig übermüdet aus, machte den Eindruck, als ob er sich jeden Abend hemmungslos betrinken würde.“

„Aber er trinkt doch fast nie Alkohol“, warf Jasmin ein.

„Eben. Ich dachte mir, dass er große Probleme haben müsste. Also fuhr ich eines Abends zu ihm hin. Ich sah gerade noch, wie eine Frau aus einem Wagen stieg und ins Haus ging. Daraufhin habe ich beschlossen, David in vornehmer Zurückhaltung doch nicht zu besuchen. Zwar hätte ich es für eine Riesensauerei gehalten, wenn er dich solcherart betrogen hätte, doch ich wusste ja nicht, ob es nicht vielleicht ein ganz harmloses Treffen war. Ich habe fast eine Stunde gewartet, bevor ich weggefahren bin, doch die Frau kam nicht wieder heraus. Am nächsten Tag ist David dann für unbestimmte Zeit und mit unbekanntem Ziel abgereist.“

„Eine Frau?“, fragte Jasmin beklommen. „Weißt du wirklich nicht, wer sie war?“

„Nein, leider nicht. Sie sah ziemlich hübsch aus, ich würde sie auf Anfang dreißig schätzen. Schlank, kurzes, blondes Haar, schmales Gesicht und ausdrucksvolle Augen. Ein wenig erinnerte sie mich an eine Zigeunerin, doch sie trug ein sehr geschmackvolles und teures Kleid.“

Jasmin schlug die Hände vors Gesicht, lehnte sich zurück und zündete sich dann eine Zigarette. Sie hatte geahnt, dass eine andere Frau an Davids Entschluss beteiligt gewesen war, trotzdem taten die Worte ihr weh.

Sehr weh.

„Was willst du nun tun?“, erkundigte sich Jeff Baxter besorgt.

„Keine Angst, ich werde mir nichts antun“, stieß sie hervor. „Ich werde noch einmal mit Horace sprechen. Vielleicht kann er mir etwas über diese Frau sagen.“

Sie verabschiedete sich von Jeff Baxter. Er begleitete sie bis zur Tür und hielt sie dort noch einmal zurück.

„Du weißt, dass ich dich mag, und wie gerne ich eine Hochzeit zwischen dir und David gesehen hätte“, sagte er. „Es tut mir wirklich sehr Leid, dass das geschehen ist. Wenn ich irgend etwas für dich tun kann, dann lass es mich wissen.“

Jasmin bedankte sich und verließ fast fluchtartig das Büro.

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Die nächsten Stunden vergingen für sie wie ein schrecklicher Alptraum. Mit dem Hinweis auf seine Schweigepflicht verweigerte Horace jede Auskunft. Er wusste zwar nichts von der Aufkündigung der Verlobung, hatte sich nach ihrer Reaktion auf den Brief aber wohl auch seine Gedanken gemacht hatte. Wahrscheinlich glaubte er, es handele sich um eine Liebesaffäre seines Chefs, die er decken müsse. Erst als Jasmin andeutete, dass David vielleicht in Gefahr sei, und er telefonische Rücksprache mit Jeff Baxter gehalten hatte, der ihn ermunterte, ihr alles zu sagen, wurde er ein wenig gesprächiger.

Er bestätigte, dass David Norton sich in letzter Zeit sehr seltsam verhalten hatte. Die unbekannte Frau war beinahe jeden Tag zu Besuch gekommen und oft erst spät in der Nacht wieder gefahren. Seine Beschreibung von ihr deckte sich mit der, die Baxter gegeben hatte. Wer sie war, konnte er auch nicht sagen.

Zum Schluss erzählte er noch, dass Davids Sportwagen in der Garage stünde, er also nicht damit gefahren sei.

Entweder hatte die Unbekannte David also mitgenommen, oder er war mit öffentlichen Verkehrsmitteln gereist. Jasmin erkundigte sich, ob er einen Flug gebucht hätte, aber das war nicht der Fall. Ohne große Hoffnung fuhr sie anschließend zum Bahnhof und zeigte den Schalterbeamten ein Foto Davids.

Und sie hatte Erfolg.

Einer der Beamten erkannte ihn wieder, und sie erfuhr nach kurzem Warten sogar das Fahrtziel, weil sich David ein Abteil hatte reservieren lassen und die Unterlagen auf ihre Bitte hin nachgesehen wurde. Es handelte sich um Arcenborough, einen winzigen Ort im schottischen Bergland.

In dieser Nacht konnte Jasmin erst einschlafen, nachdem sie ein paar starke Schlaftabletten genommen hatte. Bereits früh am nächsten Morgen stand sie auf. Ihr Entschluss stand fest.

Auch wenn David geschrieben hatte, dass sie es nicht tun sollte, würde sie ihm nach Arcenborough folgen und ihn zur Rede stellen.

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Arcenborough war wirklich nur ein winziger Ort, der auf kaum einer Karte verzeichnet war. Jasmin erreichte ihn erst am späten Nachmittag, da sie sich mehrmals verfahren hatte. Sie konnte es kaum glauben, als sie endlich das Ortsschild vor sich auftauchen sah.

Das Dorf lag in einem weitläufigen Gebirgskessel, ringsum ragten Berge auf. Schon seit Dutzenden von Meilen war die Straße von Wald gesäumt gewesen, dichtem Tannenwald, der ungeheuer düster auf Jasmin wirkte.

Nun fuhr sie in den Ort hinein und parkte ihren Wagen vor einer Kirche im Zentrum des Dorfes. Die Passanten starrten sie an, als ob sie von einer anderen Welt stammen würde. Es schienen nicht oft Fremde nach Arcenborough zu kommen. Das steigerte Jasmins Hoffnung, David rasch zu finden. Wenn sie solches Aufsehen erregte, hatte er es sicherlich auch getan. Man würde sich an ihn erinnern.

Sie sprach einen Passanten an, eine ältere Frau, und erkundigte sich nach einem Hotel oder einer Pension.

„Eine Pension? Tut mir leid, so etwas gibt es hier nicht.“

Jasmin schluckte. Es erschien ihr kaum vorstellbar, dass es hier für Fremde überhaupt keine Möglichkeit zum Wohnen geben sollte.

„Wüssten Sie denn vielleicht jemanden, der Zimmer vermietet?“, fragte sie weiter.

„Höchstens die Cunnings-Schwestern. Sie finden Sie, wenn Sie hier die Straße entlang gehen, und sich an der dritten Abzweigung nach rechts wenden. Am Ende der Straße finden sie das Haus. Es ist nicht zu verfehlen; ein großes, altes Gebäude.“

Jasmin wollte sich schon bedanken, als ihr eine Idee kam. Sie zog Davids Foto aus der Tasche und zeigte es der alten Frau.

„Haben Sie diesen Mann vielleicht in den letzten Tagen hier gesehen?“

„Nein, bestimmt nicht. Seit Monaten habe ich schon keinen Fremden mehr in Arcenborough gesehen.“

„Dann haben Sie vielen Dank.“

Jasmin wandte sich in die Richtung, die die Frau ihr beschrieben hatte und fand das Haus auf Anhieb. Es handelte sich um ein uraltes, düster anmutendes Gemäuer, das hinter einem kleinen, gepflegten Vorgarten versteckt lag. Auf einem kleinen Schild neben dem Eingang stand, dass noch Zimmer frei wären.

Skeptisch ließ Jasmin ihren Blick über die mit zahlreichen Stuckverzierungen bedeckte Fassade gleiten. Das Haus gefiel ihr nicht. So wie der ganze Ort fünfzig Jahre in der Vergangenheit zurückgeblieben zu sein schien, wirkte besonders dieses Gebäude wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie klingelte und eine Frau die Tür öffnete, deren Geburtsdatum sicherlich noch im vorigen Jahrhundert lag. Sie hatte schlohweißes Haar, das sie im Nacken zu einem Knoten gebunden trug. Ihr Rücken war vom Alter gekrümmt, das Gesicht war mit tiefen Falten und Runzeln übersät. Unwillkürlich fühlte sich Jasmin an eine Hexe aus den Märchen erinnert, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte.

Misstrauisch musterte die Alte sie. Ihre schmalen, blutleeren Lippen entblößten beim Sprechen ein künstliches Gebiss, das sich im Laufe der Zeit dunkel verfärbt hatte.

„Was wollen Sie?“

Jasmin zuckte unmerklich zusammen. Die Stimme klang hoch und schrill.

„Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich suche einen Mann, der vor ein paar Tagen nach Arcenborough gekommen ist. Man sagte mir, dass er vielleicht hier wohnen würde.“ Mit diesen Worten zog sie Davids Foto hervor.

„Hier wohnt kein Mann“, erwiderte die Alte, ohne einen Blick auf das Bild geworfen zu haben. „Unsere Zimmer stehen alle leer.“

„Wüssten Sie denn vielleicht, wo er sonst wohnen könnte?“, hakte Jasmin nach.

„Nein, sonst vermietet hier niemand Zimmer. Sie müssen sich täuschen, es wohnt kein Fremder in Arcenborough. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt.“

Blitzschnell überlegte Jasmin. Wenn David hier nicht abgestiegen war, dann musste er bei der Unbekannten wohnen. Sie zweifelte nicht daran, dass die Frau sich ebenfalls in Arcenborough aufhielt, und dass sie für den überhasteten Aufbruch verantwortlich war. Das erschwerte die Suche nach David, machte sie aber nicht unmöglich. Sie würde eine Weile hierbleiben müssen, also blieb ihn nichts anderes übrig, als hier zu wohnen. Zwar gefiel ihr weder das Haus, noch die Alte, aber anscheinend konnte sie nicht besonders wählerisch sein.

„Dann würde ich gerne für ein paar Tage hier einziehen“, sagte sie.

„Das ist etwas anderes.“ Die Alte gab die Tür frei. „Kommen Sie doch herein. Ich werde Sie meinen älteren Schwestern vorstellen.“

Jasmin schluckte. Sie glaubte, sich verhört zu haben. Sollte die Alte, die schon wie die Urgroßmutter Methusalems aussah, tatsächlich noch ältere Schwestern haben? Und wie alt mochten diese erst sein?

Sie trat in den Flur des Hauses. Ein muffiger Geruch, wie ihn alte Möbel oftmals ausstrahlten, schlug ihr entgegen, und alt waren die Möbel wahrhaftig, mit denen das Haus eingerichtet war. Sie erinnerten sie ein wenig an die Einrichtung ihrer Großmutter, die vor ein paar Jahren gestorben war. Und doch war hier alles anders. Jasmins Großmutter war eine weltoffene, modern denkende Frau gewesen, während dieses Haus hier den puritanischen Mief des viktorianischen Zeitalters geradezu auszuatmen schien. Wieder hatte sie das Gefühl, in diese Zeit zurückversetzt zu werden. Diese sonderbaren Cunnings-Schwestern hatten hier die Vergangenheit konserviert, hatten ein Museum errichtet, innerhalb dessen Mauern sie ihre Jugendzeit in die Gegenwart herübergerettet hatten.

„Charlotte, Beverly, kommt her, meine Schwestern, wir haben einen Gast!“, rief die Alte, dann wandte sie sich wieder Jasmin zu. „Übrigens, ich heiße Miriam. Da wir uns niemals der Lust hingegeben und geheiratet haben, und daher alle noch den Namen Cunnings tragen, ist es am einfachsten, Sie nennen uns bei unseren Vornamen. Und wie heißen Sie, Kindchen?“

„Jasmin Taylor“, antwortete sie. Sie mochte es nicht, wenn man sie mit ihren vierundzwanzig Jahren noch Kindchen nannte, nahm es aber im Hinblick auf das Alter der Frau widerspruchslos hin.

Miriams Schwestern traten in den Flur. Sie ähnelten ihrer Schwester zum Verwechseln, woran sicherlich das hohe Alter schuld war, das die Gesichter aller drei in eine Faltenlandschaft verwandelt hatte. Auch trugen sie ähnliche Kleidung. Es fiel Jasmin schwer, die drei Schwestern auseinanderzuhalten.

„Das ist Charlotte, das ist Beverly“, stellte Miriam Cunnings vor. „Und das ist Miss Taylor. Sie möchte für ein paar Tage ein Zimmer bei uns mieten.“

Jasmin begrüßte die beiden. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich in der Nähe der drei alten Schwestern so unangenehm beklommen fühlte.

„Mein Gepäck ist noch im Wagen“, sagte sie. „Ich werde es rasch holen.“

„Aber nein, dafür ist später noch Zeit“, widersprach Miriam. „Wir wissen ja noch gar nicht, ob wir Sie überhaupt aufnehmen. Erst müssen wir noch über die Miete und die Hausordnung sprechen. Setzen wir uns doch und plaudern ein wenig.“

Jasmin ließ sich nicht anmerken, was sie dachte, als sie den drei Frauen in ein ebenfalls altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer folgte. Wenn sie nicht im Wagen schlafen wollte, musste sie sich den drei Alten wohl anpassen.

„Nehmen Sie ein paar selbstgebackene Biskuits“, ermunterte Beverly und wies auf eine Konfektschale auf dem Tisch. „Möchten Sie auch eine Tasse Tee?“

„Danke nein. Es wäre mir lieber, wenn direkt zur Hausordnung kommen könnten.“

„Nun, wenn Sie hier wohnen, gibt es einige Regeln, an die Sie sich unbedingt halten müssen“, sagte Miriam. „Als erstes einmal keinerlei Herrenbesuche im Haus, und kein Lärm, also auch kein Radio. Wir gehen um neun Uhr abends schlafen, sollten Sie sich verspäten, wird Ihnen niemand mehr die Tür öffnen.“

„Bekomme ich denn keinen eigenen Schlüssel?“

„Nein, völlig ausgeschlossen. Frühstück gibt es um sechs Uhr. Auch hier werden Sie nichts mehr bekommen, wenn Sie sich verspäten. Rauchen und das Trinken von Alkohol sind im Haus streng verboten. So, das sind die Regeln, an die Sie sich zu halten haben. Es mag Ihnen streng vorkommen, aber dafür sind die Kosten auch sehr niedrig. Wir freuen uns immer, wenn wir Gäste bekommen, da es nicht sehr oft geschieht.“

Kein Wunder, dachte Jasmin, die den Komfort moderner Hotels gewohnt war. Gegen dieses Haus war ja ein Gefängnis noch der reinste Kurort. Trotzdem nickte sie, zumal der genannte Preis wirklich sehr günstig war.

„Einverstanden, ich werde mich daran halten.“

„Und wie lange werden Sie bleiben?“

„Ich weiß es noch nicht.“

„Arbeiten Sie denn nicht?“

„Nein, ich habe meine Arbeit aufgegeben, als ich meinen Verlobten kennenlernte.“

„So ist es richtig“, lobte Miriam. „Eine Frau gehört in den Haushalt und hat ihren Mann zu versorgen, wenn sie sich für einen entschieden hat.“

In diesem Punkt war Jasmin zwar entschieden anderer Ansicht, aber sie zog es vor, sich nicht darüber zu streiten. Sie hatte ihre Arbeit auch nicht aufgegeben, um David zu dienen, sondern weil sie durch die Verbindung finanziell so unabhängig war, dass sie es sich leisten konnte, nur das zu tun, was ihr gefiel. An eine Trennung hatte sie ja nicht im Traum gedacht.

„Dieser Mann auf dem Foto“, bohrte Miriam neugierig nach. „Ist das Ihr Verlobter?“

„Ja, ich habe gehört, dass er hierher gefahren sei und suche ihn. Deshalb weiß ich auch noch nicht, wie lange ich bleiben werde.“

„Also gut, kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Zimmer.“

Miriam Cunnings führte Jasmin eine Treppe in den ersten Stock hinauf und öffnete eine Tür. Wie nicht anders zu erwarten, sah auch das Gästezimmer wie ein Museum für alte Möbel aus, aber es war überraschend groß und geräumig. In einer Ecke hing sogar ein Waschbecken. Jasmin bezahlte die Miete für drei Tage im Voraus in bar, dann verließ sie das Haus wieder.

Sie hatte das Gefühl, ganz dringend frische Luft schnappen zu müssen.

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Als erstes machte sie sich auf den Weg zu der kleinen Bahnstation, die ein wenig außerhalb des Ortes lag. Zu ihrem Bedauern gab es keinen Schalterbeamten, sondern nur einen Fahrkartenautomaten, so konnte sie sich nicht erkundigen, ob David hier angekommen war. Auch in der kleinen Polizeiwache, in der nur ein älterer Beamter seinen langweiligen Dienst versah, hatte sie kein Glück. Der Polizist hatte David noch nie gesehen.

Enttäuscht kehrte sie zum Marktplatz zurück. Direkt neben der Kirche lag ein Friedhof. Er wurde von einer verwitterten Mauer umgeben, die stellenweise von Efeu überwuchert war. Dahinter erhoben sich die Kronen uralter Bäume. Sie bildeten ein düsteres Dach über den Gräbern. Ein Baum war abgestorben und streckte seine kahlen Zweige in Richtung des Himmels.

Vor einem schmiedeeisernen Tor blieb Jasmin stehen und betrachtete die gepflegten Grabreihen. Irgendwie mochte sie die alten Friedhöfen eigene Melancholie. Sie waren von einem Hauch des Geheimnisvollen, Unbegreiflichen umgeben, bildeten ein Symbol für die Unvollkommenheit und Sterblichkeit des Menschen. Stumme Zeugen, die mahnten, dass der Tod jeden irgendwann ereilen würde, so ungern sich die meisten Menschen auch daran erinnerten.

„Sie sind fremd hier?“, vernahm sie hinter sich eine Stimme. Jasmin zuckte erschrocken zusammen und fuhr herum. Sie war so in ihre Gedanken vertieft gewesen, dass sie die Schritte des Mannes nicht gehört hatte.

Es handelte sich um einen Priester, einen sympathisch wirkenden Mann von etwa vierzig Jahren. Sein Haar war bereits leicht angegraut. Er trug einen Talar und eine Kette mit einem silbernen Kruzifix. Freundlich schaute er Jasmin an.

„Entschuldigen Sie, ich ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Schon gut. Ja, ich bin erst vor einer Stunde in Arcenborough angekommen. Ich heiße Jasmin Taylor.“

„Pater Kamillon. Seien Sie herzlich willkommen, Miss Taylor.“ Sie schüttelten sich die Hände. „Es kommen nicht oft Fremde hierher. Die Welt hat Arcenborough vergessen. Um so mehr freue ich mich, wenn jemand den Weg hierher findet. Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen?“

Jasmin lächelte.

„Heißt es nicht, dass der Teufel den Alkohol gemacht hätte?“

„Im Gegenteil, der Herr lässt auch die Reben für den Wein wachsen, es hat also nichts mit der Hölle zu tun. Da ich so selten Fremde treffe, unterhalte ich mich gerne mit ihnen. Es erweitert den eigenen Horizont.“

Die Offenheit, die der Priester ihr entgegenbrachte, erstaunte Jasmin, aber da ihr der Mann sympathisch war und sicherlich keine bösen Absichten hegte, nahm sie die Einladung an. Gemeinsam betraten die Kirche. Es roch nach Weihrauch, Kerzentalg und altem Holz. Über dem Altar hing ein großes Holzkreuz, in einer Nische stand eine Madonnenstatue, vor der mehrere Kerzen brannten. Einer impulsiven Regung folgend warf Jasmin einige Geldstücke in den Opferstock, was sie schon lange nicht mehr getan hatte.

„Sind Sie gläubig?“, erkundigte sich der Priester, während sie zwischen den Bankreihen durchgingen.

„Nicht besonders“, antwortete Jasmin ehrlich. „Ich war schon lange nicht mehr in einer Kirche.“

„Es freut mich, dass Sie es so offen zugeben. Viele Menschen fallen in der modernen Zeit vom Glauben ab, vor allen in den Großstädten. Hier, in einem so kleinen Dorf ist das anders. Aber lassen Sie uns nicht darüber streiten. Ich fürchte, ich bin kein guter Missionar, aber Ihnen steht sicherlich nicht der Sinn nach einer solchen Diskussion.“

Sie traten in eine Sakristei. Kamillon nahm eine Flasche Wein und zwei Gläser aus dem Schrank und schenkte ein. Jasmin setzte sich und nippte an ihrem Glas.

„Ich war schon lange nicht mehr in London“, sagte der Priester. „Ich würde mich freuen, wenn Sie mir etwas darüber erzählen würden.“

„Woher wissen Sie, dass ich aus London komme?“, fragte Jasmin verblüfft.

„Ich habe es am Nummernschild Ihres Wagens erkannt. Es kann sich ja nur um Ihren Wagen handeln.“

Sie kam seinem Wunsch nach. Fast eine Stunde lang unterhielten sie sich über alles Mögliche, dann stand Jasmin auf. Sie hatte schon lange nichts mehr gegessen und war hungrig.

„Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, aber jetzt muss ich gehen“, sagte sie.

„Das ist schade, aber es hat mich gefreut, dass sie überhaupt die Zeit geopfert haben. Eines wundert mich allerdings. Sie haben mich nicht wie alle anderen Touristen bislang gefragt, ob ich Sie auf den Kirchturm hinaufführen könnte.“

„Daran habe ich gar nicht gedacht. Interessieren würde mich das schon. Von dort oben hat man bestimmt einen hervorragenden Ausblick.“

„Das stimmt. Kommen Sie doch morgen noch einmal her, dann führe ich Sie hinauf.“

„Das werde ich machen, vielen Dank. Ach ja, fast hätte ich etwas vergessen“, sagte sie, zog Davids Foto aus der Tasche und reichte es ihm. „Kennen Sie vielleicht diesen Mann?“

Kamillon betrachtete das Bild, dann nickte er. Jasmin hatte kaum mit einer Zustimmung gerechnet. Ihr Herz schlug plötzlich schneller.

„Wirklich? Wissen Sie, wo er wohnt?“

„Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe ihn vor ein paar Tagen spät am Abend gesehen, als ich einen kleinen Spaziergang unternahm. Ich wollte ihn ansprechen, doch er lief sofort weg. Das kam mir sehr sonderbar vor, aber ich habe mir weiter keine Gedanken darüber gemacht.“

„Danke, Pater, Sie haben mir sehr geholfen. Jetzt weiß ich wenigstens, dass ich auf der richtigen Spur bin.“

„Sie suchen diesen Mann? Darf ich fragen, um wen es sich handelt?“

Jasmin sah keinen Grund, es ihm nicht zu sagen.

„Er heißt David Norton und ist mein Verlobter. Vor ein paar Tagen reiste er überraschend hierhin ab. Jetzt möchte ich gerne den Grund dafür erfahren.“

„Ich werde meine Augen weiterhin offen halten und Ihnen Bescheid sagen, falls ich den Mann noch einmal sehen sollte. Wohnen Sie bei den Cunnings-Schwestern?“

„Ja.“

„Das sind liebenswerte, gottesfürchtige Menschen, auch wenn sie manchmal etwas sonderbar erscheinen. Sie sind dort in besten Händen.“

In den besten Händen, dachte Jasmin, als sie die Kirche verließ. Es kam eben immer nur auf die angelegten Maßstäbe an.

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Da sie kein richtiges Restaurant finden konnte, aß Jasmin in einer einfachen Gaststätte zu Abend und kehrte anschließend zu den Cunnings zurück. Sie ging direkt in ihr Zimmer, um sich ein wenig auszuruhen.

Trotz des Verbots der alten Schachteln rauchte sie am offenen Fenster eine Zigarette. Jasmin hatte nichts gegen alte Leute, im Gegenteil, sie hatte stets Hochachtung vor ihnen, doch das ging nicht soweit, dass sie deren Ansichten voll übernahm. Mit ihrer altmodischen Art stellten die Cunnings-Schwestern für sie Mumien dar, Fossilien einer vergangenen Zeit, die sie nur noch bedingt ernst nehmen konnte.

Nachdem sie die Zigarette aufgeraucht hatte, zerriss sie den Stummel in kleine Stückchen und spülte sie im Waschbecken fort, um keine verräterischen Spuren zu hinterlassen. Der Geruch des Rauchs würde schnell verfliegen.

Sie hörte, wie die Türklingel anschlug. Neugierig verließ sie ihr Zimmer und lauschte im Flur. Eine der Schwestern öffnete die Tür.

„Hast du alles ausgerichtet?“, fragte sie. Jasmin glaubte, Miriam Cunnings’ Stimme zu erkennen.

„Ja, ich war auf dem Schloss und habe der Herrin alles gesagt, was Sie mir aufgetragen haben“, antwortete eine andere Stimme, die dem Klang nach einem Jungen gehören musste, der sich noch im Stimmbruch befand.

„Gut so, mein Junge“, lobte Miriam. Geld klimperte leise. „Hier, das ist für dich. Und du weißt ja, zu niemandem ein Wort darüber, sonst wird dir das sehr leidtun.“

„Ich werde bestimmt nichts sagen.“

Die Haustür wurde wieder geschlossen. Jasmin kehrte verwirrt in ihr Zimmer zurück. Sie bedauerte, dass ihr Zimmer nach hinten heraus lag, so dass sie den Jungen nicht sehen konnte, aber da der seltsame Vorfall sie nichts anging, kümmerte sie sich nicht weiter darum. Sie legte sich aufs Bett und dachte nach.

Der Priester hatte gesagt, er hätte David spät am Abend gesehen, während er den anderen Leuten völlig unbekannt war. Es war also anzunehmen, dass David nicht gesehen werden wollte und seine Unterkunft zur Sicherheit immer nur nachts verließ. Darauf deutete auch hin, dass er sofort weggelaufen war, als der Priester ihn entdeckt hatte.

Wenn diese Vermutung zutraf, konnte auch sie ihn höchstens nachts entdecken. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich von einem normalen Hotel aus nachts auf die Suche machen. Hier aber war es unmöglich, da sie das Haus nach zehn Uhr nicht mehr verlassen konnte.

Wirklich unmöglich?

Jasmin erhob sich und trat noch einmal ans Fenster. Ein schmaler Sims verlief darunter. Ein Stückchen weiter grenzte ein niedriger Schuppen ans Haus. Von dessen flachem Dach aus war es kein Problem mehr, zu Boden zu springen. Wenn sie leise genug war, konnte sie das Haus auf diesem Weg heimlich verlassen. Der Rückweg würde schwieriger werden, aber sie war zuversichtlich, auch das zu schaffen.

Noch in dieser Nacht würde sie sich auf Entdeckungstour begeben. Dafür aber war es nötig, dass sie jetzt ein wenig schlief. Die lange Fahrt hatte sie müde werden lassen, und es machte sich bemerkbar, dass sie in der vergangenen Nacht so wenig geschlafen hatte. Zwar besaß sie keinen Wecker, aber wenn sie sich fest vornahm, zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen, gelang es ihr meist mit geradezu verblüffender Pünktlichkeit.

Es war jetzt kurz nach sieben. Um zehn wollten die Cunnings schlafen gehen, und zu dieser Zeit würde es auch dunkel sein. Also nahm sie sich vor, um elf Uhr aufzuwachen. Dann würden die Mumien hoffentlich tief schlafen und sie nicht bemerken. Früher würde sich auch David nicht hervorwagen.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738920697
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
schloss träume
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Titel: Das Schloss der bösen Träume