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Galaxienwanderer Zyklus Sammelband 4 Romane

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 1000 Seiten

Zusammenfassung

Galaxienwanderer Zyklus Sammelband 4 Romane
von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 1000 Taschenbuchseiten.

Dieses Buch enhält folgende Science Fiction Romane des Galaxienwanderer-Zyklus:

Alfred Bekker: Raumschiff Caesar

Alfred Bekker: Mission Schwarzes Loch

Alfred Bekker: Eine Krise der Raumzeit

Alfred Bekker: Herrscher über Galaxien

Ein Raumschiff mit extraterrestrischer Technologie und eine zusammengewürfelte Crew auf einer kosmischen Odyssee durch die Unendlichkeit des Alls... Menschen, Androiden und Extraterrestrier müssen sich zusammenraufen, wenn sie den namenlosen Gefahren zwischen den Sternen standhalten und das Erbe einer uralten kosmischen Zivilisation antreten wollen.

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Galaxienwanderer Zyklus Sammelband 4 Romane

von Alfred Bekker

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DER UMFANG DIESES BUCHS entspricht 1000 Taschenbuchseiten.

Dieses Buch enhält folgende Science Fiction Romane des Galaxienwanderer-Zyklus:

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ALFRED BEKKER: RAUMSCHIFF Caesar

Alfred Bekker: Mission Schwarzes Loch

Alfred Bekker: Eine Krise der Raumzeit

Alfred Bekker: Herrscher über Galaxien

Ein Raumschiff mit extraterrestrischer Technologie und eine zusammengewürfelte Crew auf einer kosmischen Odyssee durch die Unendlichkeit des Alls... Menschen, Androiden und Extraterrestrier müssen sich zusammenraufen, wenn sie den namenlosen Gefahren zwischen den Sternen standhalten und das Erbe einer uralten kosmischen Zivilisation antreten wollen. 

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ALFRED BEKKER IST EIN bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author /Titelbild Michael Heywood 123rf mit Steve Mayer Pixabay

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Raumschiff CAESAR

Galaxienwanderer

von Alfred Bekker

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DER UMFANG DIESES BUCHS entspricht 238 Taschenbuchseiten.

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EIN RAUMSCHIFF MIT extraterrestrischer Technologie und eine zusammengewürfelte Crew auf einer kosmischen Odyssee durch die Unendlichkeit des Alls... Menschen, Androiden und Extraterrestrier müssen sich zusammenraufen, wenn sie den namenlosen Gefahren zwischen den Sternen standhalten und das Erbe einer uralten kosmischen Zivilisation antreten wollen. 

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ALFRED BEKKER IST EIN bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author /Titelbild Michael Heywood 123rf mit Steve Mayer Pixabay

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Prolog

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“Meinst du, man kommt da hinein?”, fragte Bradford. Es war überwältigend für ihn, der Größte Moment seines Lebens, nein der ganzen Menschheitsgeschichte! In plumpen Raumanzügen hatte er zusammen mit Josephine und Marcus vor dem Objekt gestanden.

Einem Objekt, das nur außerirdischer Herkunft sein konnte.

Ein Raumschiff.

“Ich komme überall hinein”, hörte er die Stimme von Marcus über den Helmfunk. Marcus war einer der beiden Androiden, die Bradford auf der Mission begleiteten. Und die hatten ein paar entscheidende Vorteile. Die größere Toleranz gegenüber Strahlung war nur einer davon.

“Hier müsste die Eingangsschleuse des Objekts sein”, meldete sich Josephine, die zweite Androidin im Team.

“Man sieht nichts”, sagte Bradford.

“Aber die Messungen sind eindeutig. Das ist zwar Alien-Technik, aber es dürfte kein Problem sein, einen Zugang zu bekommen.”

“Das Ding liegt halb unter Geröll begraben”, meinte Marcus. “Aber wenn man es freischaufeln würde, hätte es die Form eines ...”

“Raubvogels”, murmelte Bradford, als er die Daten in Form einer Drei-D-Darstellung auf sein Helmdisplay projiziert bekam.

“Ein toter Adler”, meinte Josephine. Dann geriet alles in Unordnung, wurde wirr.

Bradford erwachte schweißgebadet. Sein Puls war unregelmäßig. Der Traum zerfiel in Einzelteile und glitt von ihm ab, bis nur ein vages Gefühl übrig blieb, worum es gegangen war. Es war eine Erinnerung gewesen. Das Raumschiff, dieser kosmische Raubvogel war keineswegs tot gewesen. Das sie das entdeckt hatten, war nun schon eine ganze Weile her, rief sich Bradford in Erinnerung. Manchmal konnte Bradford kaum glauben, dass es wirklich geschehen war. In der Erinnerung wirkte alles so wahnwitzig.

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DAS SCHIFF WAR BELEBT und bevölkert. Es war voll von Alien-Schläfern. Aber das hatten Bradford und seine Begleiter nicht geahnt.

Bradford hatte auch nicht geahnt, wie leicht es sein würde, sich mit der Gedankensteuerung in Verbindung zu setzen und einen Start auszulösen.

CAESAR - so hatte er das Schiff insgeheim bereits genannt, als ihm klar geworden war, dass es sich tatsächlich um ein außerirdisches Raumfahrzeug handelte. CAESAR - der Name eines Eroberers. Und mit diesem Schiff würde man die Sterne erobern können.

Ich hätte es nach einem Entführer benennen sollen, ging es ihm später durch den Kopf. Denn genau als das hatte sich das Schiff erwiesen. Als ein Entführer.

Der ungewollte Start, das Wurmloch, das sich geöffnet hatte und dann ...

Eine Reise durch die Raumzeit. Jahrhunderte in der Zukunft, unendlich viele Lichtjahre vom Ausgangspunkt entfernt. Und mit einer zusammengewürfelten Mannschaft aus Schläfern und gestrandeten Aliens an Bord.

Darunter die alten Herren des Schiffs.

Die Noroofen.

Es gab wirklich angenehmere Umstände für eine kosmische Odyssee, fand Bradford.

Aber inzwischen hatte er eingesehen, dass es sinnlos war, sich darüber zu beklagen.

Man musste das hinnehmen wie schlechtes Wetter oder den nächsten Gamma-Strahlen-Ausbruch eines Neutronensterns.

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1. Kapitel: An Bord der CAESAR - so viel später ...

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Ein Raumschiff am Rande der Unendlichkeit, so weit weg von jedem von Menschen besiedelten Planeten, dass man es sich kaum vorstellen kann. Ein Schiff, das nicht von Menschen konstruiert wurde, was manchmal Schwierigkeiten verursacht. Ein Raumschiff, das wir auf dem Mars fanden. Unter rotem Staub und Marsgeröll.

Bradford atmete tief durch.

Der Strom der Gedanken machte sich manchmal selbstständig.

Gedanken an eine Vergangenheit, die ihm nun manchmal vollkommen unwirklich erschien.

Wie aus einem anderen Leben.

Einem anderen Universum.

Durch Raum und Zeit von allem getrennt, was einem bekannt war.

Manchmal fragte sich Bradford, ob er das Schiff, das er CAESAR genannt hatte, damals auch betreten hätte, wenn er gewusst hätte, was daraus für ihn folgte. Für ihn und die beiden Androiden, die ihn bei der Expedition begleitet hatten.

Vor allem fragte er sich, ob er es dann betreten hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, dass die eigentlichen Herren des Schiffes noch an Bord waren.

Und schliefen.

Und dass sie erwachen und mit ihm einfach in die Unendlichkeit davonfliegen würden.

Dass er um die Herrschaft auf dem Schiff würde kämpfen müssen, wenn er sich die Chance bewahren wollte, zurückzukehren.

Jetzt waren sie eine zusammengewürfelte Mannschaft auf einem Raumschiff im Nichts. Das Schicksal hatte sie zusammengeführt. Der Zufall. Der Wahrscheinlichkeitsalgorithmus des Universums.

Was auch immer.

Jedenfalls waren sie in gewisser Weise alle aufeinander angewiesen. So unterschiedlich sie auch sein mochten und auf welch verworrenen Wegen sie auch an Bord gelangt sein mochten.

Ich bin der Commander, ging es Bradford durch den Kopf.

Ein militärischer Rang, der Bedeutung gehabt hatte, als er eine Mission auf dem Mars angeführt hatte.

Hier draußen bedeutete das alles nichts mehr.

Gar nichts.

Und doch - jetzt, nachdem Bradford die Systeme des Schiffs unter seine Kontrolle gebracht und die Schiffs-KI ihn auf Grund welcher algorithmischer Berechnungen auch immer als legitimen Kommandanten ansah, war er es tatsächlich auch wieder.

Der Commander.

Nein, korrigierte er sich. Commander von Gnaden der Schiffs-KI.

Am Ende lief es immer auf eine Herrschaft der Maschine über jedes Geschöpf hinaus.

Immer.

*

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COMMANDER JOHN BRADFORD war eins mit dem Schiff.

Die Alien-Technik machte es möglich.

Das Schiff ...

Dessen feine Sensoren waren zu seinen Augen und Ohren geworden. Zu seiner Verlängerung seines eigenen Körpers.

Du hast die Kontrolle über die Steuerung der CAESAR zurück!, signalisierte ihm ALGO-DATA, die Schiffs-KI.

CAESAR - so hatte er das Alien-Schiff einst genannt. Nach einem Eroberer. Und erobern sollte es ja auch. Ein Eroberer der Sterne sollte es für die Menschheit werden. Die Dinge laufen eben manchmal etwas anders, dachte Bradford.

Was ist mit Arat-Nof?, fragte Bradford. Im Gegensatz zu seinem sonstigen Gedankenstrom, war dies ein Gedanke, den die telepathischen Sensoren von ALGO-DATA beachteten. Die KI war sehr gut darin, zu unterscheiden, welche Gedanken an sie gerichtet oder auch nur für sie relevant waren.

Oder für den Betrieb des Schiffes.

Die Perfektion von ALGO-DATA erschreckte Bradford manchmal.

Arat-Nof hat seinen Sarkophag verlassen, lautete ALGO-DATAs Antwort.

Bradford war etwas verwirrt. Wollte er uns nicht zu den Koordinaten des verborgenen Katzoiden-Systems führen?

ALGO-DATA bestätigte dies.

Das hat er getan!, erklärte die KI. Die Positionsdaten sind eingegeben. Sie stehen jederzeit zur Verfügung, ganz gleich, wer die Steuerung der CAESAR übernimmt.

Bradford fragte sich, weshalb Arat-Nof seinen Steuer-Sarkophag eigentlich verlassen hatte. Kurz zuvor schien es diesem androgyn wirkenden, vollkommen haarlosen Humanoiden, den die CAESAR-Crew unterwegs aufgelesen hatte, noch sehr wichtig gewesen zu sein, den Kurs zu bestimmen. Er konnte seine körperliche Gestalt auflösen und sich in pure Energie verwandeln. In dieser Form war er auch in der Lage, fremde technische Systeme zu infiltrieren und einfach zu übernehmen.

Nachdem sein Schiff havarierte, mit dem er von Andromeda in die Milchstraße gereist war, befand er sich nun an Bord von John Bradfords Schiff.

Ein Schiffbrüchiger sozusagen.

Inzwischen wussten Bradford und die anderen an Bord, dass er einem Volk angehörte, das sich als ‚Bhalakiden’ bezeichnete und ein kosmisches Netz sogenannter Xaradim-Stationen verwaltete, mit deren Hilfe eine Nullzeit-Reise von Galaxis zu Galaxis möglich war.

ALGO-DATA schien zu erraten, was Bradford durch den Kopf ging.

Arat-Nof gab an, ein Regenerationszeitquantum nehmen zu wollen!, erklärte die KI.

Was soll das sein?, wollte Bradford wissen.

ALGO-DATAs Antwort war ernüchternd: Tut mir Leid. Über die bhalakidische Kultur sind bislang in meinen Datenspeichern so gut wie gar keine Informationen verfügbar.

Ich verstehe, übermittelte Bradford.

Ich nehme an, es handelt sich bei deiner letzten Gedankenübermittlung um eine Botschaft mit verborgenem Hintersinn!, glaubte die KI.

Wie kommst du denn darauf?, erwiderte John Bradford beinahe amüsiert.

Weil deine Botschaft inhaltlich nicht den Tatsachen entsprechen kann!, erläuterte der Bordrechner der CAESAR. Es ist unmöglich, dass du verstehst, weshalb Arat-Nof seinen Sarkophag verließ, um ein sogenanntes Regenerationszeitquantum zu nehmen, weil dir sämtliche zur Beurteilung dieses Sachverhalts relevanten Informationen fehlen – genau wie mir.

Wer wird denn so spitzfindig sein?, erwiderte Bradford.

Darauf ging ALGO-DATA nicht weiter ein.

Stattdessen meinte die KI: Vielleicht interessiert dich noch, dass Arat-Nof um eine Möglichkeit bat, geringe Mengen an Energie abzuzapfen, um seinen energetischen Status stabil zu halten.

Dagegen hatte Bradford nichts einzuwenden.

Ein anderer Stein lag ihm auf dem Herzen. Ich hatte gedacht, wir wären uns einig darüber, dass deine Loyalität ausschließlich dem Kommandanten der CAESAR gilt, stellte er fest.

ALGO-DATA bestätige dies. Das ist richtig.

Dann verstehe ich nicht, weshalb du einfach SEINEN Befehlen folgen konntest und mir jegliche Kontrolle entzogen wurde, als er die CAESAR mitten in das zentralgalaktische Schwarze Loch steuerte!

Diese Frage beschäftigte Bradford schon seit Längerem.

ALGO-DATAs Antwort war verblüffend einfach.

Ich hatte nicht die Möglichkeit, zu widerstehen!, gestand die KI.

Was soll das heißen?, fragte Bradfords Gedanke.

ALGO DATAS Antwort lautete: Es ist genau so, wie ich dir übermittelt habe. Ich hatte nicht die Möglichkeit, zu widerstehen.

*

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JOHN BRADFORD LAG IN einer der sarkophagähnlichen Pilotensitze, die ursprünglich für die sieben Hohen der Noroofen vorgesehen gewesen waren. Aber die Zeiten, da John Bradford mit den Anführern der Noroofen um die Herrschaft über die CAESAR hatte streiten müssen, waren längst vorbei. ALGO-DATA, die allgegenwärtige Schiffs-KI hatte ihn längst als Kommandanten anerkannt, so dass er der unumschränkte Herr über das Schiff war.

Der Grund dafür blieb Bradford ein Rätsel.

Jedenfalls mussten auch die Noroofen dies akzeptieren. Wohl oder übel. Bradford glaubte durchaus, dass sie nach einer Möglichkeit sannen, das Blatt wieder zu wenden. Aber das war Spekulation. So lange ALGO-DATA auf Bradfords Seite war, konnte er sicher sein, das Kommando zu behalten.

Die CAESAR bewegte sich zurzeit mit Hilfe der überall im Weltraum vorhandenen Schwarzen Energie vorwärts. Die diesbezüglichen Ressourcen waren – gemessen an menschlichen Vorstellungen – schier unermesslich.

Was für eine seltsame Odyssee liegt hinter dir!, ging es ihm durch den Kopf. Die eigenartigste und fantastischste Reise, die je ein Mensch unternommen hat ... Buchstäblich durch Raum und Zeit. Von der Erde des 21. Jahrhunderts war er mit der CAESAR durch die Raumzeit-Anomalie eines Wurmlochs in jene Epoche gerissen worden, in der man die Menschen und ihr Imperium der Humanität überall fürchtete und sie als eroberungssüchtige Geißel der Galaxis betrachtete. Von dort aus hatte ihn sein Weg – mehr oder minder als Gefangener der Noroofen - in die Große Magellansche Wolke geführt, wo sie auf die alten Feinde der Noroofen, die Hegriv, gestoßen waren und wo es ihm gelungen war, die CAESAR schließlich zurückzuerobern.

Nein, das war keine echte Eroberung, dachte Bradford. Eher ein Gnadenakt der KI. Vielleicht aus einem eigenen Überlebensinteresse, weil ihr die Ziele und Operationen der Noroofen zu riskant geworden waren.

Aber das war nur eine Mutmaßung.

ALGO-DATA klärte niemanden näher über die Grundlagen von Entscheidungen auf.

Ein dienender Mechanismus, der sich seinen Herrn selbst erwählte.

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JETZT BEFAND SICH DAS Raumschiff unweit des galaktischen Zentrums.

Riugerob, ein Katzoide und Mitfahrer auf der CEASAR, mit der eigenartigen Fähigkeit, sich selbst vergessen machen zu können, hatte seine letzte Ruhe auf seiner legendären Heimatwelt Katzana finden sollen, deren Position er auf einer Art Sternenkarte in der CAESAR hinterlassen hatte.

Diesen Dienst hatte Bradford dem Katzoiden gerne erweisen wollen.

Ein Dienst an einem Freund.

Denn das war der Katzoide während seiner Zeit auf der CAESAR geworden.

Während eines Angriffs, in den die Besatzung während ihrer Reise verwickelt worden war, war der Katzenartige gestorben.

So was kam vor.

Das Universum war ein belebter Ort. Alle naselang versuchten irgendwelche fremden Lebensformen, in das Schiff einzudringen. Beutejäger, Eroberer, Plünderer. Viele dieser Aliens hatten dabei kaum ein schlechteres Gewissen als die Besatzungen menschlicher Prospektorenschiffe, die im Kuiper-Gürtel auf die Suche nach Asteroiden und transneptunischen Objekten waren, denen sie Helium 3 oder Platin entreißen konnten.

Bradford dachte nicht gerne daran zurück. Manchmal fragte er sich, ob er den Tod des Katzoiden hätte verhindern können. Aber das war Unsinn. Sein Verstand wusste das. Sein Gefühl sagte da manchmal unvernünftigerweise etwas anders.

Das Universum war voller Kreaturen. Nicht alle waren freundlich. Und einige hatten eben eine ausgeprägte Abneigung gegen Katzenartige.

So war das nun mal.

Und objektiv betrachtet hatte es niemals in Bradfords Ermessen gestanden, daran etwas zu ändern.

Niemals.

Nun war Riugerob zurückgekehrt - dorthin, wo seine verworrene Odyssee durch das Universum einst begonnen hatte.

So ist das manchmal, dachte John Bradford. Manchmal geht der Weg am Ende wieder zum Anfangspunkt zurück.

Eine Frage stand unbeantwortet in Bradfords Gedanken.

Wird das eines Tages auch auf mich zutreffen?

In dieser Hinsicht wagte er keine Prognose.

Nur in einem konnte er sich relativ sicher sein.

Sein Weg, sollte er jemals zurück zur Erde führen, würde ganz gewiss nicht geradlinig und vorgezeichnet sein.

Vielleicht ein Weg, der zu lang ist, um innerhalb eines menschlichen Lebens bewältigt werden zu können, ging es Bradford durch den Kopf. Selbst, wenn man bedenkt, dass die Zeit etwas Relatives ist ... Aber uns Menschen ist so verflucht wenig davon gegeben!

John Bradford nahm mit den Pseudo-Sinnen der CAESAR den umgebenden Raum wahr: Die Sonnen, die in dieser galaktischen Region ausgesprochen dicht beieinander lagen. Gigantische Materieansammlungen, die Fusionsfeuer von unvorstellbarer Intensität in Gang hielten. Die Lichter der einzelnen Gestirne waren oft gar nicht voneinander zu unterscheiden und bildeten riesige Leuchtfeuer.

Aber da war auch diese gut achtzehn Lichtjahre durchmessende Zone der Leere, in der sich scheinbar nichts befand.

Genau dort befand sich aber die Position der katzoidischen Heimatwelt, die Riugerob angegeben hatte.

Der Planet der Katzenartigen.

Katzana.

Ein Landeteam der CAESAR-Crew war bereits mit einer Kapsel dort gewesen, um Riugerob die letzte Ruhe zu geben. Die perfekte Tarnung löste sich auf, sobald man in das System hineinflog.

Anschließend hatte ihr Weg Bradford und seine Crew hinter den Ereignishorizont des galaktischen Black Hole geführt. Dorthin, wo die Spezies der Bhalakiden ihre geheimnisvollen Xaradim-Stationen betrieben. An einem Ort, der eigentlich kein Ort war.

Ein Ort jenseits der Vorstellung, ausgestattet mit einer Station, die zusammen mit ungezählten anderen sogenannten Xaradim-Stationen eine Art kosmisches Netz bildete, das die Bhalakiden einst errichtet hatten.

Bradford würde das nie vergessen.

Und er hatte eigentlich auch keine Lust, das zu wiederholen, wenn es sich vermeiden ließ.

Und dazu standen die Chancen gar nicht schlecht.

Schließlich hatte Bradford jetzt die Schiffskontrolle. Zwar letztlich nur von Gnaden der Schiffs-KI, aber das war besser als nichts. Und es schien derzeit ausgeschlossen zu sein, dass der Bhalakide Arat-Nof noch einmal die Schiffskontrolle an sich zu reißen vermochte.

Das schwarze Loch ...

Allein der Gedanke ließ Bradford nach wie vor schaudern.

Kurz nachdem der Bhalakide Arat-Nof an Bord gelangt war, hatte er plötzlich die Kontrolle über die CAESAR übernommen und sie in dieses Land der Alpträume vorstoßen lassen, aus dem es unter normalen Umständen eigentlich keine Rückkehr gab ...

Beängstigend.

Mit diesem einen Wort hätte Bradford seine Erinnerung an diese Ereignisse wohl zusammengefasst.

Beängstigend.

Und es gab wirklich nicht viele Dinge, vor denen sich Bradford fürchtete.

Ganz im Gegenteil.

Die Möglichkeiten der bhalakidischen Technik sind beängstigend, ging es Bradford durch den Kopf. Noch beängstigender sind allerdings die Möglichkeiten des bhalakidischen Geistes.

Die Kräfte eines bhalakidischen Geistes waren nichts anderes als eine tödliche Waffe.

Allein ihre mentale PRÄSENZ konnte willensschwache Geschöpfe töten.

Aber was hätte man auch anderes erwarten sollen? Die Bhalakiden jonglierten mit den stärksten Kräften des Universums, als wären sie nichts.

Nur überlegene Geister vermochten sich manche der Dinge überhaupt vorzustellen, die für sie offenbar selbstverständliche Werkzeuge waren.

Und dazu gehörte es auch, hinter den Ereignishorizont eines schwarzen Lochs mit einer Selbstverständlichkeit vorzudringen, als würde es sich nur um ein anderes Zimmer handeln.

*

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NICHT EINMAL DAS LICHT konnte der gewaltigen Gravitation eines Schwarzen Lochs entkommen. Alles, was jenseits des Ereignishorizonts gelangt war, war für gewöhnlich rettungslos verloren und wurde unaufhaltsam vom großen dunklen Schlund im Zentrum der Milchstraße angezogen, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

Die Bhalakiden jedoch schienen Mittel und Wege zu kennen, diese Kräfte zu beherrschen oder zumindest nicht von ihnen vernichtet zu werden.

Arat-Nof hatte die Station Xaradim angesteuert – jene geheimnisvolle Bhalakiden-Station, die Teil eines gigantischen Transport- und Informationsnetzes war.

Aber die Station war entvölkert gewesen und Arat-Nof in eine kastenförmige Falle geraten, die offenbar nur für einen einzigen Zweck konstruiert worden war: um Bhalakiden einzufangen und auszuschalten.

Nur dem Eingreifen der CAESAR-Besatzung hatte Arat-Nof seine Befreiung zu verdanken.

Jetzt hatte er das Raubvogelschiff zurück in die Leerzone geführt, in dem das verborgene Heimatsystem der Katzoiden zu finden war.

Genau auf diese Position steuerte die CAESAR nun zu.

Arat-Nof schien erstaunlicherweise überhaupt keine Schwierigkeiten zu haben, die Position des Systems wiederzufinden.

Fast so, als ob für ihn die Tarnung nicht existierte ...

Unter Beibehaltung der gegenwärtigen Geschwindigkeit werden wir die angegebene Zielposition in etwa drei Stunden erreichen – gemessen an den Einheiten deiner irdischen Heimat, übermittelte ALGO-DATA ihm per Gedankenbotschaft.

Danke, gab Bradford zurück. Kurs und Geschwindigkeit beibehalten.

Ein schnelleres Erreichen des Zielpunktes wäre unter geringfügiger Veränderung einiger Parameter durchaus möglich, belehrte ihn die künstliche Intelligenz der CAESAR. Wird eine Optimierung gewünscht?

Nein, entgegnete Bradford. Es wäre ganz gut, wenn wir uns erst über das weitere Vorgehen geeinigt hätten, bevor wir die Zielregion erreichen.

Ich bin überzeugt davon, dass wir uns sehr schnell über das weitere Vorgehen einigen könnten, Bradford, erklärte ALGO-DATA.

Bradford musste innerlich über die letzte Äußerung der KI schmunzeln. Wir beide würden uns mit Sicherheit schnell einigen, meinte er, aber ich möchte auch die anderen Besatzungsmitglieder in die Entscheidungen mit einbeziehen.

ALGO-DATAs Reaktion ließ überraschend lange auf sich warten.

Ich verstehe, gab die KI schließlich ein Signal der Bestätigung. Aber Bradford kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass da noch etwas anderes war. Etwas, das sie nicht verstand.

Übernimm die Steuerung!, wies Bradford die KI an.

Steuerung übernommen!, meldete ALGO-DATA. Ich hätte eine Frage an dich, Bradford. In deiner Erwiderung auf meine Feststellung, dass wir beide uns sicher schnell über die weitere Vorgehensweise einigen würden, schwang ein Bedeutungsgehalt mit, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob ich ihn richtig erfasst habe ...

Ironie?, erwiderte Bradford.

Genau das schien es zu sein, womit ALGO-DATA Schwierigkeiten hatte.

Was ist Ironie?, fragte die KI.

Aber Bradford hatte jetzt keine Lust, um sich mit ALGO-DATA über die Feinheiten er menschlichen Kommunikation auszutauschen. Wir unterhalten uns ein andermal darüber.

ALGO-DATAs Erwiderung überraschte Bradford. Auf deine Verantwortung, Bradford!, äußerte die KI.

Wieso auf meine Verantwortung?, fragte Bradford irritiert.

Nun, falls durch mein mangelndes Wissen über ein Phänomen, das du Ironie nennst, unsere Kommunikationsbasis fehlerhaft sein sollte, liegt die Verantwortung für daraus resultierende Probleme bei dir!, erklärte ihm die KI mit bestechender Logik.

Diese Verantwortung übernehme ich!, war Bradfords trockene Erwiderung, wobei ihm erst im Nachhinein bewusst wurde, dass auch in dieser Gedankenbotschaft etwas von jener für ALGO-DATA offensichtlich verwirrende Bedeutungsebene mitschwang, die Menschen als Ironie bezeichneten.

Aber im Moment gab es Wichtigeres, als die Optimierung des Verständnisses zwischen der Schiffs-KI und ihrem Kommandanten.

Bradford öffnete den sarkophagähnlichen Pilotensitz der CAESAR und erhob sich daraus.

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JOHN BRADFORD LIEß den Blick durch die Zentrale der CAESAR schweifen. Den Großteil des Fluges in diese Region des Alls hatte die Besatzung im Stase-Schlaf verbracht, während das Energiewesen Arat-Nof, ALGO-DATA den Weg gezeigt hatte.

Aber ALGO-DATA hatte Bradford und seine zusammengewürfelte Mannschaft an Bord der CAESAR deutlich vor Erreichen des Zielgebietes geweckt, was auch durchaus sinnvoll war. Schließlich musste zunächst über das weitere Vorgehen bei Erreichen von Katzana, der Heimatwelt der Katzoiden, beraten werden.

Insbesondere ging es auch darum, das Schicksal von Miij zu klären, jenem geflügelten, mit einer goldenen Rüstung gewappneten Wesen, das bei dem ersten Vorstoß auf Katzana zurückgeblieben war.

Es war völlig unklar, was aus ihm geworden war.

Möglicherweise lebte er gar nicht mehr ...

John Bradford machte einen Schritt nach vorn, auf den großen aus Protomaterie bestehenden Panorama-Schirm der CAESAR zu. Daneben gab es mehrere Holosäulen, die sich nach Belieben umgestalten, verkleinern oder vergrößern ließen und jeweils bestimmte Ausschnitte des beeindruckenden Panoramas heranzuzoomen vermochten.

Nur eine einzige Person befand sich außer Bradford im Moment in der Zentrale.

Es war Josephine, die Gen-Android-Frau.

Sie war Teil eines Klonprogramms der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen und hatte Bradford vom Beginn einer erstaunlichen Odyssee an begleitet, mitunter waren seine Gefühle ihr gegenüber durchaus ambivalent gewesen. Aber das gehörte ebenso der Vergangenheit an wie die Regierung der seit zweihundert Jahren nicht mehr existierenden USA oder das damalige Gen-Android-Programm.

Die Klonfrau mit der sportlichen Figur und den charakteristischen Tätowierungen, die bei ihr die Augenbrauen ersetzten, stand an einer Konsole und war darin vertieft, sich einig Messdaten aus der unmittelbaren Umgebung der CAESAR anzeigen zu lassen, sodass sie Bradford im ersten Moment gar nicht zu bemerken schien.

„Wir müssen entscheiden, was wir tun, sobald wir Katzana erreichen“, stellte Josephine schließlich fest. Sie sah auf.

Bradford nickte. Sein Blick hing an dem gewaltigen Panorama des Hauptschirms. Die Protomaterie, aus der er geformt war, ermöglichte dreidimensionale Effekte, die alles, was die Technik der Menschheit je hervorgebracht hatte, bei weitem in den Schatten stellte. Man hatte das Gefühl, tatsächlich nur einen Schritt tun zu müssen, um in den freien Raum hinaus zu schreiten. Es sah aus wie ein offenes Fenster und dabei war es nichts weiter als eine geschickte Projektion.

„Ich bin für einen erneuten Kapselvorstoß“, bekannte Josephine unverblümt.

John Bradford hob die Augenbrauen.

„Dir ist schon klar, dass die Anzahl der Rettungskapseln an Bord der CAESAR begrenzt ist und für einen sehr, sehr langen Zeitraum reichen muss“, stellte der Kommandant des Raubvogelschiffs fest.

Josephine hob leicht die Schultern und bedachte Bradford mit einem nachdenklichen Blick. „Ich sehe keinen anderen Weg, um herauszufinden, was mit Miij geschehen ist. Und dass wir ihn einfach so zurücklassen, ohne uns darum zu kümmern, was aus ihm geworden sein mag, wirst du ja wohl nicht im Ernst erwarten!“

„Natürlich nicht. Aber es macht auch keinen Sinn, erneut ein Landeteam auf die Katzoiden-Welt zu schicken, dessen Mission dann genauso zum Scheitern verurteilt ist, wie es das letzte Mal der Fall war.“

„Natürlich nicht?“

John Bradford atmete tief durch und machte eine Pause. „Wir müssen diesmal sicherstellen, dass unser Landeteam mehr Erfolg hat. Vielleicht ist tatsächlich ein Kapselvorstoß die einzige Möglichkeit, einerseits herauszufinden, was mit Miij geschehen ist und andererseits endlich etwas mehr über Katzana in Erfahrung zu bringen.“

„Unser Wissen über Riugerobs Heimatwelt gleicht einem winzigen Bruchstück“, erklärte er. „Wir wissen weder, was es genau mit diesen Angriffen von Flugmaschinen auf die Dörfer der Katzoiden auf sich hat, von denen die Mitglieder des ersten Außenteams berichteten, noch haben wir gegenwärtig ein Mittel gegen den gefährlichen Schwingstaub.“

„Ich denke, mit ALGO-DATAs Hilfe werden wir eine Lösung finden, was das letzte Problem angeht“, war Josephine überzeugt.

Bradford nickte.

Woher kommt nur ihr plötzlicher Optimismus?, fragte er sich. Er selbst war davon nämlich keineswegs so felsenfest überzeugt, wie es bei der Gen-Android-Frau der Fall zu sein schien.

Josephine deutete auf die Anzeigen ihrer Konsole. „Ich habe mir von ALGO-DATA verschiedene Variationen von Energiefeldern simulieren lassen, die sich möglicherweise als Schutz vor dem schädlichen Einfluss des Schwingstaubs verwenden lassen. Leider sind die Resultate bislang ...“ Die Gen-Android-Frau zögerte, ehe sie weiter sprach. „... unbefriedigend.“ 

„Dabei ist zu bemerken, dass die Simulation erst seit einem kurzen Zeitintervall aktiviert wurde“, meldete sich nun die Kunststimme der Schiffs-KI. Während Bradford und seine Getreuen quasi als Gefangene der beiden Noroofen Ozobeq und Oziroona an Bord der CAESAR weilten, hatte die Schiffs-KI ihre Kommunikation über Audiokanal fast vollständig eingestellt und sich beinahe ausschließlich telepathisch mitgeteilt. Seit John Bradford jedoch das Kommando über das raubvogelförmige Schiff zurückerlangt hatte, hatte sich auch der Bordrechner wieder an die veränderten kommunikativen Erfordernisse angepasst und äußerte sich nun wieder vorwiegend akustisch.

„Soll das heißen, es gibt vielleicht für das Problem mit dem Schwingstaub doch noch eine Lösung?“, vergewisserte sich John Bradford.

„Ich verwende derzeit etwa zwanzig Prozent meiner Rechnerkapazitäten darauf, hierfür eine zufriedenstellende Alternative zu entwickeln“, erklärte ALGO-DATA – beantwortete damit aber Bradfords Frage keineswegs.

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen.

Josephine hatte auf ihrer Konsole ein Holodisplay aktiviert. Es zeigte den verborgenen Planeten Katzana, dessen Darstellung auf den Scan-Daten des ersten Besuchs der CAESAR basierte. Katzana befand sich mitten in der Zone scheinbarer Leere, die jedem Betrachter sofort als für das galaktische Zentrum vollkommen untypisch auffallen musste. Achtzehn Lichtjahre pures Nichts inmitten der größten und dichtesten Materiezusammenballung im Umkreis von mehreren hunderttausend Lichtjahren – das widersprach einfach zu sehr allen Gesetzen der Masseverteilung, als dass man es als gegeben hinnehmen konnte.

Es waren nur die groben Konturen der Oberfläche auf dieser Projektion zu sehen. In Äquatornähe war ein Punkt rot markiert. Die Markierung blinkte rhythmisch auf. Josephine deutete darauf und sagte: „Genau an dieser Position befindet sich die beinahe von den korallenartigen Wäldern überwucherte Noroofenbasis ...“

„Und du meinst, das wäre der richtige Zielort für einen zweiten Kapselvorstoß?“

„Es ist der einzige Anhaltspunkt, den wir haben.“

„Richtig.“

„Vielleicht gelingt es uns ja, vor einer Kapsellandung den vermutlichen Ursprung der mysteriösen Flugmaschinen herauszufinden, die die Katzoidendörfer angegriffen haben.“

Josephine schüttelte den Kopf.

„Das glaube ich nicht, aber selbstverständlich werden wir mit ALGO-DATAs Ortungskapazitäten den Planeten intensiv scannen lassen.“

Nach einer kurzen Pause meinte Bradford: „Wenn wir einen neuen Vorstoß unternehmen, müssen wir das Außenteam kleinhalten.“

„Um das Risiko zu minimieren?“

„Ja.“

„An wen hast du gedacht?“

„Fairoglan.“

„Weil er schon einmal dort unten war, nehme ich an.“

„Ja, und weil er mitbekommen hat, was mit Miij geschah. Ich werde noch mal mit ihm darüber sprechen müssen.“

„Und sonst?“

„Marcus. Ich könnte mir vorstellen, dass man seinen Nanokörper am besten gegen den Schwingstaub schützen kann. Außerdem ...“

„... war er auch schon beim letzten Mal dabei.“

„Wo ist übrigens Arat-Nof?“

Josephine lächelte flüchtig. „Unser bhalakidische Gast hat sich zurückgezogen, kurz nachdem du die Steuerung über den Sarkophag übernommen hattest. Und da er momentan auch nicht als Lotse vonnöten war ...“ Sie zuckte die Achseln. „Ich habe keine Ahnung, ob Wesen dieser Art irgendein Ruhebedürfnis oder dergleichen haben.“

Bradford nickte.

„ALGO-DATA, ich möchte mit Arat-Nof sprechen.“

„Ich lokalisiere ihn für dich“, erklärte die KI.

Auf einer Holosäule erschien ein dreidimensionales Abbild der CAESAR. Der Raum, in dem sich der Bhalakide befand, war markiert. „Den bioenergetischen Werten nach scheint unser Gast aktiv zu sein“, stellte ALGO-DATA fest. „Allerdings fehlen mir, um ehrlich zu sein, in diesem Fall auch die Vergleichsparameter, sodass die Irrtumswahrscheinlichkeit recht hoch angesetzt werden muss.“

„Ich werde mich zu ihm begeben“, sagte Bradford und ging auf einen der Türtransmitter in der CAESAR-Zentrale zu. Augenblicke später war er entmaterialisiert.

*

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ARAT-NOF HATTE DIE Gestalt eines androgynen Humanoiden angenommen, als John Bradford seinen Raum betrat. Der Bhalakide hatte darauf verzichtet, diesen Raum nach seinen Bedürfnissen zu modifizieren – was ohne weiteres möglich gewesen wäre.

Bradford erinnerte sich in diesem Augenblick an das erste Zusammentreffen mit dem Energiewesen. Die CAESAR hatte einen Notruf empfangen und wenig später einen Würfel an Bord genommen.

Aber schon in den nächsten Augenblicken hatte Arat-Nof seine Gestalt verändert und seinem Körper – wenn das denn der richtige Ausdruck dafür war – eine quasi-humanoide Form gegeben, mit der er sich möglicherweise an seine Umgebung angepasst hatte.

Das Wesen hatte sich vorgestellt und gleich darauf aufgelöst. Wie sich sehr schnell herausstellte, war es in das Schiff selbst hineingesickert und hatte problemlos ALGO-DATA übernommen, ohne dass es da irgendwelche Hindernisse gegeben hatte.

Die Fähigkeiten des Bhalakiden waren beängstigend, aber da er nicht bestrebt schien, die Macht an Bord erneut an sich zu reißen, sondern sich mit der Rolle eines hilfreichen Gastes zufriedengab, sah Bradford derzeit keinen Anlass zur Besorgnis. Zumal sie auf die Unterstützung des Bhalakiden durchaus angewiesen waren ...

Seine Hoffnung war es wohl gewesen, auf der Station Xaradim seinesgleichen wiederzufinden.

Darum seine Übernahme des Schiffes. Darum das riskante Manöver, das die CAESAR hinter den Ereignishorizont und unerwarteterweise auch wieder zurück ins Normaluniversum geführt hatte.

Aber diese Hoffnung hatte sich ja zerschlagen, als er die Station unbewohnt vorgefunden hatte. Unbewohnt und mit einer Falle ausgestattet, die nur ein Feind der Bhalakiden aufgestellt haben konnte.

„Sei gegrüßt, Bradford“, sagte Arat-Nof. „Ich habe mir erlaubt, mich etwas zurückzuziehen, nachdem meine Anwesenheit auf der Brücke zeitweilig entbehrlich schien.“

„Wenn wir das Rätsel der Katzoiden-Welt lösen wollen, werden wir deine Hilfe benötigen.“

„Ich bin ein Gast – aber ich helfe gerne.“

Er hätte jederzeit die Macht, mehr zu sein, als nur ein Gast!, ging es Bradford durch den Kopf. Über diesen Punkt gab er sich keinerlei Illusionen hin. Aber Arat-Nof verzichtet darauf. Jedenfalls im Moment ... Offenbar hat er mit uns und der CAESAR seine eigenen Absichten. Es wäre vielleicht nicht schlecht, mehr darüber zu wissen ...

„Uns interessiert, was mit unserem Gefährten Miij auf der Katzoiden-Welt geschehen ist. Vielleicht ist er tot und unsere Bemühungen sind vollkommen umsonst. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er nur entführt wurde.“

„Das ist mir verständlich“, bestätigte er Bhalakide.

„Diese Leere, die wir durchfliegen, ist ebenso ein Rätsel wie Katzana selbst.“

„Leere in einem Gebiet mit derart hoher Materiedichte ist ein absolut unnatürlicher Zustand“, bestätigte der Bhalakide, der sich Bradford nun ein Stück weit näherte. „Aber vielleicht kann ich mit eurer Hilfe dazu beitragen, es zu lösen.“

„Was versprichst du selbst dir davon?“

„Es ... ist wichtig.“

Er weicht aus!, erkannte Bradford.

„Wichtig?“, echote Bradford. „Wichtig wofür oder für wen?“

„Wichtig für mich“, erklärte der Bhalakide. „Die Möglichkeit eines erneuten Kapselvorstoßes würde ich sehr begrüßen.“

Er muss zwischenzeitlich Kontakt zu ALGO-DATA gehabt haben!, erkannte Bradford. Anders war es nicht erklärlich, dass er von diesem Plan offenbar bereits wusste.

*

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MARCUS’ KÖRPER GLICH einer humanoiden Gestalt. Einem schwarzen Umriss, dessen Oberfläche von Milliarden winzigster Insekten überlaufen zu werden schien und die ständig in Bewegung war. Ursprünglich war er wie Josephine ein Teil eines Gen-Android-Programms gewesen. Ein gentechnisch hergestellter Androiden-Klon. Seit dem Tod seines biologischen Körpers existierte er in der aus Milliarden Nanoteilchen bestehenden amorphen Rüstung eines Noroofen. Inzwischen hatte Marcus gelernt, diesen neuen Körper und dessen erstaunliche Möglichkeiten zu beherrschen.

Einzig und allein sein Bewusstsein war jetzt noch menschlich.

Aber je länger er sich in seinem Nanokörper befand, desto mehr fragte er sich, was der Begriff ‚menschlich’ in diesem Zusammenhang eigentlich zu bedeuten hatte.

Als Androide war er ein künstlich geschaffener, aber immerhin eindeutig menschlich gestalteter Organismus gewesen.

Und jetzt?

Letztlich war ihm nichts anders übrig geblieben, als die Tatsachen zu akzeptieren und anzuerkennen, dass seine Existenz als Mensch ihr Ende gefunden und danach etwas Neues begonnen hatte. Etwas, das mit nichts vergleichbar war, was je zuvor einem Menschen widerfahren war.

Nun war er Marcus – der Einzige seiner Art. Ein Wesen, das aus Milliarden kleinster Partikel bestand, das sich auflösen und mühelos die Gestalt ändern oder Wände zu durchdringen vermochte. Selbst im freien Weltraum konnte er überleben.

In der Decke über ihm bildete sich ein trichterförmiger Fortsatz. Ein Blitz zuckte daraus hervor und im nächsten Moment umgab Marcus’ Körper eine aufleuchtende Lichtaura, die jedoch in den nächsten Augenblicken soweit verblasste, dass sie kaum noch wahrnehmbar war.

„Dieses körpernah anliegende Energiefeld müsste dich ausreichend von dem schädlichen Einfluss des Schwingstaubs abschirmen“, erklärte ALGO-DATAs Kunststimme aus einem Lautsprecher heraus. „Für dich habe ich das Feld speziell auf die Struktur deiner Nano-Partikel hin kalibriert. Es könnten vielleicht noch ein paar Feinabstimmungen nötig sein, aber davon abgesehen denke ich, dass ...“

„Wie deaktiviert man dieses ... >Ding<!“, rief Marcus.

„Du kannst es selbst tun“, erklärte ALGO-DATA. „Der Projektor befindet sich mitten in deiner Körpersubstanz, umhüllt von deinen Nano-Partikeln. Ich gebe zu, die Implantierung geschah etwas zu schnell, aber wenn du deine Sinne einen Augenblick lang die immanente Fließstruktur deines Nanokörpers entlangfahren lässt, wirst du es bemerken.“

„Ja ...“, bestätigte Marcus.

Er streckte die Pseudoarme aus, so als würde er sich recken.

Die fließenden Strukturen auf seinem Nanokörper hatten sich seit der Aktivierung des Feldes durch ALGO-DATA sichtbar verändert.

Die zuvor chaotisch wirkenden Ströme, die ohne Richtung durcheinander zu fließen schienen, wie sich gegenseitig durchdringende Heerzüge winziger ameisenähnlicher Tiere, von denen jedes einzelne unvorstellbar einem kleinen schwarzen Punkt glich. Aber die Ströme, die diese Winzlinge jetzt bildeten, wurden größer und breiter. Es gab wenige Abweichungen von den großen Hauptlinien. Das Chaos wich einem Muster.

Marcus fand den Projektor, den ALGO-DATA mehr oder minder in ihn hineingeschossen hatte, ohne dass dabei allerdings die Struktur der Nanopartikel in Marcus amorphem Körper zerstört oder beeinträchtigt worden wäre.

Es handelte sich um ein quaderförmiges Modul, das nun gänzlich von den Nanoteilchen eingehüllt und von diesen zu einem Teil von Marcus’ Körper gemacht wurde. Auch das gehörte zu seinen, gemessen an menschlichen Möglichkeiten, erstaunlichen Fähigkeiten: Die Integration von fast jedweder Technik. Es dauerte nur einen Augenblick und der Projektor war Teil seiner selbst geworden.

Marcus deaktivierte das Feld.

Die Nanoströme auf der Oberfläche seines Körpers fielen in ihre hergebrachten, sehr viel übersichtlicheren Strukturen zurück.

„Wir werden tatsächlich noch einiges daran modifizieren müssen“, erklärte Marcus schließlich.

Er hatte die Veränderung seiner Nanoströme spüren können. Das Energiefeld, dessen Aufgabe es war, ihn vor den schädlichen Auswirkungen des Schwingstaubs zu schützen, hatte offenbar den Partikeln seine spezifische Feldstruktur aufgezwungen, was Marcus im ersten Moment fast aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

Für ihn war das zuerst fast wie ein k.o.-Schlag gewesen. Nur mit letzter Mühe hatte er das Bewusstsein und die Kontrolle über seinen Nanokörper aufrechterhalten können.

„Dieses Feld muss sofort nach der Ankunft auf Katzana aktiviert werden“, erläuterte ALGO-DATA.

Josephine hatte die Szene mit einem skeptischen Gesicht beobachtet, enthielt sich aber eines Kommentars. Auf einer der Anzeigen ihres Holodisplays wurde mit einer schematischen, dreidimensionalen Darstellung veranschaulicht, wie groß der Abstand zur Position des verborgenen Systems noch war, in dem Katzana um seine Sonne kreiste. Die CAESAR hatte den Zielort nahezu erreicht. Es wurde also Zeit, dass für die noch nicht gelösten Probleme praktikable Lösungen gefunden wurden.

„Ich werde jetzt die Feinjustierung des Projektors vornehmen“, erklärte ALGO-DATA.

„Bitte nicht auf die Brachial-Methode wie eben!“, erwiderte Marcus, den die Prozedur bisher wohl doch etwas mehr mitgenommen hatte, als er bisher zugab.

„Keine Sorge. Die eigentliche Kalibrierung musst du ohnehin selbst vornehmen. Der Projektor ist schon zu sehr Teil deines Nanokörpers geworden“, erklärte ALGO-DATA.

Ein schnurgerader, gebündelter Lichtstrahl fuhr aus derselben trichterförmigen Vorrichtung in der Decke, mit der auch der Projektor in Marcus’ Körper implantiert worden war.

Es war ein Datenstrahl, der die noch zu justierenden Feineinstellungen an dem Gerät vornahm.

Das Ganze dauerte nur ein paar Sekunden, dann verblasste dieser Strahl.

Marcus Körperform löste sich auf. Er schien in sich zusammenschmelzen, bildete zunächst ein klumpenförmiges Etwas, das wie ein ungeheuer dicht gedrängter Insektenschwarm wirkte, bevor sich die humanoide Körperform, die er bisher benutzt hatte, rekonstruierte.

Marcus aktivierte den Feldprojektor.

Im nächsten Moment umflorte ihn erneut die rasch verblassende Lichtaura. Es war deutlich sichtbar, dass auch diesmal sich die Ströme seiner Nanopartikel neu konfigurierten – aber die Differenz zu der vorherigen, beinahe chaotisch wirkenden Struktur war nicht so gravierend wie beim ersten Mal.

„Die Anpassung ist abgeschlossen“, bestätigte Marcus und deaktivierte das Feld wieder. „Wenn ich dadurch sicher sein kann, dass mich dieser Schwingstaub nicht wieder außer Gefecht setzt, nehme ich die geringfügigen Nebenwirkungen im Hinblick auf die Integrität meines Nanokörpers gerne in Kauf.“

Wenn jemand, dessen Körper aus feinsten, im Zweifelsfall autonom agierenden Partikeln besteht, von der Integrität seiner Gestalt spricht, kann man das ja wohl nur als Ironie pur auffassen!, ging es Josephine durch den Kopf.

Ein mattes Lächeln glitt über ihr Gesicht.

Fast ein Reflex.

Aber dieses Lächeln erstarb, als sich die Vorderseite von Marcus’ Kopf in ihre Richtung wandte.

Augenlos.

Gesichtslos.

Ein wimmelndes amorphes Etwas, das mit einem menschlichen Antlitz nicht mehr das Geringste zu tun hatte. Dementsprechend fehlte für Josephine auch jegliche Möglichkeit, sich anhand mimischer Regungen über die genaue Bedeutung von Marcus’ Worten rückzuversichern.

Wir sind einmal gleich gewesen, dachte sie. Klone des Gen-Android-Programms. Was ihm zugestoßen ist, hätte auch mir widerfahren können.

ALGO-DATA erlöste sie beide aus der Verlegenheit.

„Ich habe eine ähnliche Apparatur für Fairoglan vorgesehen, dessen Psi-Fähigkeiten ja durch die Auswirkungen des Schwingstaubs wohl mehr oder weniger ausgeschaltet worden sind“, erklärte die Schiffs-KI. Die Holosäulen veränderten sich. Eine von ihnen, die bislang einen Überblick über die fortlaufend durchgeführten Scans der näheren Raumumgebung präsentiert hatte, schmolz in sich zusammen und machte einem kugelförmigen Gebilde Platz, das sich innerhalb von Sekundenbruchteilen in eine holographische Darstellung von Fairoglan aus dem intergalaktischen Volk der Yroa verwandelte. Eine schlanke, humanoide und völlig haarlose Gestalt mit blaugrün schimmernder Haut. Am Gürtel trug er ein quaderförmiges Modul, das jetzt von ALGO-DATA näher herangezoomt wurde.

Ja, dachte Josephine. So müsste das funktionieren.

In diesem Moment rekonfigurierte sich abrupt die Holosäule, auf der die Ortungsscans angezeigt wurden.

Ein Alarmsignal schrillte.

„Ein Objekt nährt sich mit halber Lichtgeschwindigkeit!“, meldete ALGO-DATA.

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FAIROGLAN GING IN DEM von Pflanzen aller Art bewachsenen Raum auf und ab. Er holte zu einer entschiedenen Geste aus. „Ich kann mich nur wiederholen“, sagte er. „Dieser dunkle Schemen, der Miij auf Katzana quasi vom Himmel pflückte, hat gedacht. Da bin ich mir hundertprozentig sicher – trotz meiner nur schwach ausgebildeten paranormalen Begabung.“ Fairoglan atmete tief durch und blickte zu seinen beiden Gesprächspartnern. Da war einerseits das humanoide Klon-Mädchen Naea sowie andererseits der Pflanzenhüter-Klon Otlej, in dessen Raum sie sich aufhielten. Die besondere Verbindung zu Pflanzen spiegelte sich in der „Einrichtung“ dieses Raums überdeutlich wider. Er war in der Lage, mit Pflanzen auf empathischer Ebene zu kommunizieren. Jene Flora, um die er sich seinerzeit auf der Erde kümmern musste, hatte er als „seine Kinder“ betrachtet und die Trennung von ihnen war für ihn ausgesprochen schwierig gewesen. Schließlich war er zu nichts anderem geschaffen worden, als sie zu beschützen, sie zu hegen und zu pflegen. Allein das Abreißen des geistig-emotionalen Bandes zu diesen Pflanzen hatte ihm regelrecht körperlich manifestierbare Beschwerden verursacht. Zeitweilig hatte er sich in einem Zustand befunden, der dem Wahnsinn sehr nahegekommen war.

Doch inzwischen hatte sich sein Zustand längst stabilisiert.

Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Tatsache, dass er an Bord der CAESAR Pflanzen halten konnte. Ein zweiter stabilisierender Faktor war mit Sicherheit die Freundschaft zu dem Mädchen Naea, die ihren Anfang wohl schon während ihrer gemeinsamen Odyssee durch das Ghetto von Peking genommen hatte, wohin die Ausgestoßenen verbannt wurden.

Aber das alles schien ihrem Gefühl nach lange zurückzuliegen. 

Es war fast wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben, die mit ihrer jetzigen Existenz kaum noch etwas gemein hatte.

Eins stand jedenfalls fest:

Weder Otlej noch Naea konnten hoffen, die Erde je wiederzusehen.

„Konntest du irgendetwas von diesen Gedanken näher spezifizieren?“, fragte Otlej in die entstehende Stille hinein.

Fairoglan hob leicht den Kopf.

„Nein“, sagte er.

„Und doch bist du dir sicher, dass du Gedanken wahrgenommen hast?“

„Ja. Ich weiß, dass das widersprüchlich klingt, aber so ist es nun einmal. Leider besitze ich nicht die überragenden telepathischen Fähigkeiten meines Hassbruders Schafor. Ich bin eben nur ein Klonzweitling ...“

„Es kommt nichts dabei heraus, wenn wir Fairoglan nach den feinsten Nuancen seiner Wahrnehmung löchern“, meldete sich nun eine Stimme zu Wort, die direkt aus dem dichten Gewirr des künstlich angelegten Dschungels kam, den Otlej in seinem Raum angelegt hatte. Ein Rascheln folgte, dann eine Bewegung. Auf den ersten Blick war der Sprecher gar nicht als solcher erkennbar gewesen. Es war Yc, der Pflanzenartige. Ein pflanzenhaftes Wesen, das auf den ersten Blick wie ein wuchernder Strauch wirkte, aber keineswegs durch Wurzeln an die Erde gekettet war, sondern sich hervorragend fortzubewegen wusste. Dutzende von Augenknospen musterten Fairoglan aufmerksam. „Wenn wir alles bedenken, was wir über Miijs Verschwinden bislang wissen, können wir nur zu der Feststellung gelangen, dass nichts davon sicher ist. Was war das für Schemen? Wirklich eine denkende Lebensform? Fairoglan konnte keine verwertbaren Gedanken empfangen. Aber könnte es nicht einfach so sein, dass er die Gedanken dieses Wesens nicht verstehen konnte?“

In diesem Augenblick ertönte ein Kom-Signal.

Im nächsten Moment meldete sich die Stimme von ALGO-DATA.

„Ihr sollt euch sofort in die Zentrale begeben!“, verkündete die Schiffs-KI. „Das ist eine Anweisung des Kommandanten. Es gilt höchste Alarmbereitschaft!“

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2. Kapitel: Rückkehr

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Nach und nach fand sich die gesamte gegenwärtige Besatzung der CAESAR in der Zentrale ein.

„Maximaler Zoomfaktor“, meldete ALGO-DATA. Auf dem großen Panoramaschirm der CAESAR wurde jetzt eine geflügelte, entfernt humanoide Gestalt in einer golden schimmernden Rüstung sichtbar.

„Das ist Miij!“, stieß Fairoglan unwillkürlich hervor. „Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.“

„ALGO-DATA! Identität dieses Objekts noch einmal überprüfen!“, forderte Bradford.

„Identitätsprüfung abgeschlossen“, meldete sich ALGO-DATA nur Augenblicke später. „Sämtliche aus dieser Distanz messbaren Parameter stimmen mit den Vergleichswerten von Miij aus dem Volk der Ellobargen überein.“

„Lebenszeichen?“

„Sind vorhanden“, bestätigte ALGO-DATA. „Allerdings fehlen mir die Vergleichsdaten, um beurteilen zu können, ob sie für ellobargische Verhältnisse im tolerablen Rahmen liegen oder es sich lediglich um reflexartige Pseudo-Bioaktivität handelt. Die Wahrscheinlichkeit dafür setze ich allerdings nur mit zwanzig Prozent an.“

In einem Holodisplay wurden die Geschwindigkeitswerte angezeigt.

Josephine schüttelte fassungslos den Kopf.

„Halbe Lichtgeschwindigkeit! Mein Gott, wie kann er dermaßen schnell sein? Er rast geradezu auf uns zu!“

John Bradford wandte sich an Arat-Nof. „Wie lautet deine Erklärung dafür?“

Der Bhalakide wich einer konkreten Antwort aus, wie Bradford es zuvor schon das eine oder andere Mal bemerkt hatte. „Letztlich ist die Geschwindigkeit eines Körpers im All nur von einem kinetischen Ausgangsimpuls abhängig!“

„Objekt wird in wenigen Sekunden aufprallen“, meldete ALGO-DATA. „Ausweichmanöver ist unmöglich. Schutzschirm ist aktiviert. Es besteht auf Grund der erheblichen relativen Geschwindigkeit des Objekts die Gefahr, dass die Außenhülle durchschlagen wird!“

Wie ein Geschoss von unvorstellbarer Wucht würde Miij, auf die CAESAR aufprallen.

„Maximale Beschleunigung und Ausweichmanöver!“, forderte Bradford.

„Ausweichmanöver unmöglich“, war die lapidare Antwort der Schiffs-KI. „Vorbereitungen für den Zusammenprall wurden getroffen. Es besteht keine ernstzunehmende Gefahr für den Bestand des Schiffs.“

Doch es kam anders.

Sekunden vergingen.

„Geschwindigkeit sinkt“, stellte Josephine plötzlich fest.

Sie deutete dabei auf die Anzeigen.

Kurz bevor der Körper des Ellobargen Miij in seiner Rüstung – Wrabiss genannt – auf die CAESAR prallen konnte, bremste der Ellobarge abrupt ab.

Seine relative Geschwindigkeit zur CAESAR sank auf null.

„Das ist vollkommen unmöglich“, stellte Marcus fest. „Was ist mit den Gesetzen der Trägheit. Befinden wir uns etwa in einem Raumsektor, in dem die nicht mehr gelten?“

„Auch ein paar andere Naturgesetze scheinen es hier ebenfalls etwas schwerer zu haben als im Rest des Universums“, ergänzte Josephine und spielte damit auf die scheinbare Leere an, die in diesem Sektor das Bild prägte.

„Miij soll sofort an Bord genommen werden!“, verlangte Bradford.

Auf dem Panoramaschirm sowie einer schematischen Übersichtsdarstellung auf einer der Holosäulen war zu sehen, wie ein Traktorstrahl den frei im All schwebenden Miij durch die Hauptschleuse der CAESAR an Bord nahm, wo er von den bordeigenen spinnenförmigen Robotern in Empfang genommen wurde.

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ÜBER EINE DER TRANSMITTERTÜREN gelangten John Bradford, Marcus und Fairoglan in die Hauptschleuse.

Miijs Körper befand sich zunächst in einer Art Leichenstarre. Allerdings wurde durch einen sofort durch ALGO-DATA durchgeführten Medoscan festgestellt, dass alle Lebensfunktionen des Ellobargen intakt waren und offenbar keine akute Lebensgefahr bestand.

Die Spinnenroboter hatten bereits die Anweisung zum Abtransport in eine Krankenkabine erhalten, als sich plötzlich ein Arm des Ellobargen etwas bewegte. Er hob sich leicht. Als Nächstes rührte sich ein Fuß und der Flügel. Die Erstarrung, die seinen Körper befallen hatte, wich von ihm. ALGO-DATA registrierte penibel, dass die Atemtätigkeit des geflügelten Wesens wieder einsetzte.

Miij rang zunächst nach Luft.

Sein vom Helm des Wrabiss bedeckter Kopf wandte sich in Bradfords Richtung.

„Ich danke dir“, erklärte er. Ein Augenblick des Schweigens folgte, ehe er fort fuhr: „Es ist schön, wieder an Bord zu sein.“

„Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht“, ergriff Fairoglan das Wort, noch ehe Bradford etwas hatte sagen können. „Was ist geschehen? Ich habe nur einen undeutlich wahrnehmbaren Schemen bemerkt, der irgendwie ...“

„Ja?“, hakte Miij nach, als der Yroa stockte.

Fairoglans Blick war von einer Sekunde zur anderen nach innen gewandt. Er schien durch die anderen hindurchzusehen und sich auf irgendetwas sehr stark zu konzentrieren. Einen Moment später schloss er sogar die Augen, um eine noch bessere Konzentration zu gewährleisten.

„Kannst du seine Gedanken wahrnehmen?“, fragte Bradford an den Yroa-Klonzweitling gerichtet.

„Ich kann immerhin bestimmen, dass er nachgedacht hat. Allerdings nicht worüber und zu welchem Zweck. Aber ich weiß, dass wir keinen Fremden an Bord geholt haben.“

„Du musst uns berichten, Miij!“, forderte Bradford den Ellobargen auf.

„Das werde ich tun!“, versprach der Ellobarge.

Er erhob sich langsam.

Betastete mit seinen Händen die glatte, metallisch wirkende Außenhülle des Wrabiss.

Er stand auf.

Fairoglan half ihm dabei.

Die Flügel zuckten einmal heftig und falteten sich dann auf Miijs Rücken zusammen.

„Bringen wir ihn in die Zentrale!“, schlug Fairoglan vor.

„Ja“, stimmte Miij zu. „Und dann will ich euch erzählen, was mit mir geschah ...“

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3. Kapitel: Miijs Erlebnisse, Katzana ...

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Da war die undeutliche Erinnerung an einen dunklen Schemen und an eine Kraft, die ihn umschloss, gefangen nahm, fesselte ... Es war unmöglich, dafür einen passenden Begriff zu finden, der auch nur annähernd das auszudrücken vermochte, was Miij im Zusammenhang mit dieser Erinnerung empfand.

Danach war jedenfalls zunächst einmal alles dunkel gewesen.

So als hätte jemand einfach ein Stück aus seinem Leben herausgetrennt und gelöscht.

Miij erwachte.

Er stellte fest, dass sein Körper nach wie vor vom Wrabiss bedeckt wurde und ihm niemand die golden schimmernde Rüstung abgenommen hatte.

Offenbar war demjenigen, der ihn gefangen genommen hatte, nichts über die Kräfte bekannt, die dem Wrabiss innewohnten. Kräfte, mit deren Hilfe sich auch massive Steinwände durchdringen ließen ...

Umso besser, überlegte der Ellobarge in der Hoffnung, nicht lange in diesem Gefängnis zubringen zu müssen – wer auch immer ihn hier eingesperrt haben mochte.

Aber dass es sich bei seiner Umgebung tatsächlich nur um ein Gefängnis handeln konnte, daran bestand für ihn von der ersten Sekunde des Erwachens an nicht der geringste Zweifel.

Der Raum, in dem er sich befand, war kahl, die Wände glatt. An der Decke leuchtete eine mäßig helle Lichtquelle.

Einen Aus- oder Einfang schien es nicht zu geben, was nur bedeuteten konnte, dass er sehr geschickt verborgen worden war.

Der Ellobarge bewegte sich leicht, setzte sich auf und entdeckte in der anderen Ecke des etwa dreißig Quadratmeter großen Raumes eine kauernde Gestalt. Sie befand sich zunächst im Schatten, sodass Miij nicht viel mehr als die ausgefahrenen Rückenstacheln sowie die Umrisse des katzenhaften, raubtierhaften Kopfes erkennen konnte.

Ein Katzoide!, erkannte Miij sofort, denn diese Konturen erinnerten gleich an das Äußere des verstorbenen Riugerob.

Der Katzenartige erhob sich und musterte Miij mit einem Blick, der nach Interpretation des Ellobargen zunächst einmal Misstrauen ausdrückte.

Miij fiel auf, dass sich die Kleidung dieses Katzoiden, mit dem er seine Zelle und sein Schicksal als Gefangener zu teilen schien, sich deutlich von dem martialisch wirkenden Äußeren unterschied, das für Riugerob so kennzeichnend gewesen war. Statt der Montur eines Kriegers trug dieser Katzoide eine weit fallende Tunika aus grauem Stoff, die allerdings auf dem Rücken über spezielle Öffnungen für die ausfahrbaren Stacheln verfügte.

Schließlich unterlag das Ausfahren dieser Rückenstacheln bei Katzoiden nicht immer der willentlichen Kontrolle des Einzelnen, sondern geschah oft auch reflexartig.

Der Katzoide kam jetzt aus seiner Ecke hervor und näherte sich Miij zögernd. Als er in den Schein der Lichtquelle trat, fiel Miij auf, dass die Haut des Katzenartigen einen Farbton angenommen hatte, der dem Grau seines Gewandes ähnelte.

Möglicherweise, so glaubte Miij, war dies darauf zurückzuführen, dass sein Zellengefährte schon sehr lange in diesem Verlies vor sich hin vegetierte und vielleicht für lange Zeit kein einziger Sonnenstrahl seine Haut berührt hatte.

„Ich bin Miij“, stellte sich der Ellobarge vor. Er benutzte dabei die Sprache Riugerobs, deren Wortschatz und Grammatik auf dem Übersetzungschip gespeichert waren, den ALGO-DATA in Miijs Rüstung integriert hatte.

Die Reaktion des Katzoiden verlief jedoch alles andere als wunschgemäß.

Er wich ein Stück zurück und stieß einen unartikulierten Laut aus, den Miij als einen Ausdruck der Furcht interpretierte.

Vielleicht gehört die Gruppe, der dieser Katzoide zuzuordnen ist, einem anderen Dialekt an, überlegte Miij. Es konnte also sein, dass seine als freundliche Begrüßung gemeinten Worte von seinem Gegenüber völlig missverstanden worden waren.

Eine andere Möglichkeit bestand natürlich darin, dass dieses Wesen schon dermaßen lange hier gefangen gehalten wurde, dass es jegliches Vertrauen - gleichgültig ob in sich selbst oder in andere - verloren hatte.

Miij hob die von seinem Wrabiss bedeckten Hände.

Geöffnete und augenscheinlich waffenlose Hände waren als universelles Friedenszeichen kaum misszuverstehen, glaubte Miij. Gleichzeitig bewegten sich aber auch seine Flügel ein wenig, was den Katzoiden sehr zu beunruhigen schien.

Er kauerte in einer Haltung da, die man nur als Abwehrhaltung auslegen konnte. Er war zweifellos keine Kämpfernatur, so wie Riugerob es gewesen war. Zumindest deutete nichts an ihm darauf hin.

Miij war klar, dass er sehr behutsam vorgehen musste und seinen Zellengenossen wohl zunächst einmal am besten einfach in Ruhe ließ, bis dieser sich einigermaßen beruhigt hatte.

Unterdessen versuchte Miij die Zeit zu nutzen, indem er mit Hilfe des Wrabiss sein Gefängnis erkundete.

Zumindest versuchte er es.

Aber erschrocken stellt er fest, dass die Rüstung einfach nicht zu ihrer gewohnten Machtentfaltung kam.

Es war ihm unmöglich, mit ihrer Hilfe die massiven Steinwände zu durchdringen, ja, er vermochte noch nicht einmal einen kleinen Teil ihrer verborgenen Kräfte zu aktivieren. Irgendetwas hinderte Miij daran, die Rüstung so einzusetzen, wie er es gewohnt war.

Das ist also der Grund dafür, dass man mir den Wrabiss gelassen hat!, erkannte er schaudernd, denn nun wurde dem Ellobargen zum ersten Mal bewusst, dass dieses Gefängnis für ihn tatsächlich fürs Erste ein Gefängnis bleiben würde.

Zum letzten Mal versuchte er, die Kräfte des Wrabiss wachzurufen. Seine von der Rüstung bedeckte Hand prallte mit einem metallischen Geräusch gegen die Wand, aber mehr als einen Kratzer hinterließ sie dort nicht.

Miij stieß einen unartikulierten Laut der Wut aus, ein heftiges Schlagen der Flügel folgte, woraufhin sie sich jedoch sogleich wieder auf dem Rücken zusammenfalteten.

Miij fühlte den halb misstrauischen, halb interessierten Blick seines katzoidischen Zellengenossen auf sich ruhen.

„Das ist sinnlos“, stellte der Katzoide schließlich nach einer längeren Zeit des Schweigens fest. „Was du tust, ist sinnlos.“

Da Miij die Sprache des Katzoiden mit Hilfe des in seine Rüstung integrierten Übersetzungschips mühelos verstand, stand auch fest, dass dieser Bewohner Katzanas keineswegs ein anderes Idiom benutzte, als es seinerzeit Riugerob getan hatte.

„Vielleicht hast du Recht“, sagte Miij schließlich, sichtlich darum bemüht, beim zweiten Versuch einer Kontaktaufnahme etwas behutsamer vorzugehen. Schließlich waren sie beide in gewisser Weise aufeinander angewiesen. Bislang hatte Miij nicht die geringste Ahnung davon, was eigentlich mit ihm geschehen war - und vor allem, warum! Was war die Absicht desjenigen, der ihn gefangen genommen und in dieses Verlies gesperrt hatte?

Gut möglich, dass der Katzoide ebenso ahnungslos ist, wie ich es bin, überlegte Miij. An den Gedanken, hier womöglich über lange Zeit hinweg festgehalten zu werden, wie er es im Fall seines Zellengenossen vermutete, mochte sich Miij erst gar nicht gewöhnen.

Es musste einen Weg hinaus geben, so sagte er sich. Und er nahm sich vor, alles zu unternehmen, um ihn zu finden.

„Mein Name lautet Miij“, erklärte der Ellobarge noch einmal, da er glaubte, jetzt ein günstigeres Gesprächsklima vorzufinden.

„Miij aus dem Volk der Ellobargen.“

„Du wiederholst dich“, war die kühle, überraschend abweisende Erwiderung des Katzoiden.

Sein Kommunikationsbedürfnis schien fürs Erste vollkommen gestillt zu sein. Jedenfalls setzte er sich in seiner Ecke nieder und wandte demonstrativ den Kopf zur Seite. Eine Geste, die kaum irgendwelchen Spielraum für Interpretationen ließ. Im Moment hatte er einfach genug von dieser Unterhaltung.

Miij kam zu dem Schluss, dass er dies akzeptieren musste. Wenn seine Annahme stimmte, und dieser Katzoide vielleicht tatsächlich schon unsagbar lange Zeit in diesem Kerker verbracht hatte, so war seine Reaktion sogar verständlich.

Er scheint die Gesellschaft anderer gar nicht mehr gewöhnt zu sein, wurde es Miij klar. Ich werde Geduld mit ihm haben müssen. Viel Geduld.

Mit ihm und auch mit mir selbst.

*

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DIE ZEIT KROCH SO ZÄHFLÜSSIG dahin wie ein erkaltender Lavastrom - und drohte in Miijs subjektiver Wahrnehmung ebenso langsam aber sicher zu erstarren. Es geschah buchstäblich nichts.

Mehr als ein paar misstrauische Blicke tauschte er mit seinem katzoidischen Zellengenossen nicht aus. Dieser schien dem Ellobargen von Grund auf zu misstrauen und wenn er näher darüber nachdachte, so fand Miij, dass er es ihm auch kaum verübeln konnte.

Der Ellobarge dachte daran, was wohl aus seinen Gefährten geworden war, den anderen Mitgliedern des Außenteams, das mit einer Kapsel der CAESAR auf der verborgenen Katzoiden-Welt gelandet war. Marcus, Josephine, Fairoglan ...

Hatten sie sich retten und vielleicht sogar an Bord der CAESAR zurückkehren können oder wurden sie vielleicht an anderer Stelle gefangen gehalten?

Die Tatsache, dass er vollkommen zur Untätigkeit verurteilt war, ärgerte Miij und machte ihn innerlich fast rasend. Aber in diesem Punkt musste er den Worten seines Zellengenossen zumindest vom Verstand her Recht geben. Im Moment hatte es keinen Sinn, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen. Diese Grenzen, die ihm die Mauern dieses düsteren Gefängnisses zogen, musste er zunächst einmal wohl einfach schlicht und ergreifend akzeptieren, bevor er seine Chance suchen konnte, sie zu überwinden.

Aber träumte davon der Katzoide mit dem vor Sonnenmangel grau gewordenen Gesichtszügen nicht ebenfalls schon seit langer Zeit und hatte es doch nicht geschafft?

Ein deprimierender Gedanke.

Je weiter die Zeit fortschritt, desto schwerer fühlte Miij die wachsende Lethargie auf seinem Bewusstsein lasten. Er fühlte sich wie lebendig begraben. Langsam, aber sicher schien jegliche Hoffnung dahinzusiechen. Wie hatte der Katzoide, dessen finsteres Schicksal er nun zwangsweise teilte, es so lange aushalten können, ohne vollständig den Verstand zu verlieren, so fragte sich Miij irgendwann und war sich nicht mehr sicher, ob er seinen Zellengenossen nun wegen dem, was hinter ihm lag, bedauern oder seiner mentalen Stärke wegen bewundern sollte.

*

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EIN GERÄUSCH RISS MIIJ aus seiner Lethargie heraus und sorgte auch bei dem Katzoiden dafür, dass er augenblicklich aktiv wurde und aufsprang.

Nach Miijs subjektiver Empfindung war seit seinem Erwachen in diesem Kerker eine unermesslich lange Zeitspanne vergangen. Die Zeit schien sich auf groteske Weise gedehnt zu haben und jeder einzelne Augenblick zu einer schieren Ewigkeit zu zerfließen. Genau das Gegenteil wurde durch das Geräusch ausgelöst. Alles schien sich auf einmal zu beschleunigen - bis hin zu den Biofunktionen des Ellobargen.

Das Geräusch wiederholte sich noch einmal. Es glich einem Schaben, so als würde Stein sich an Stein reiben und sich irgendwo eine Tür öffnen.

Miij ließ den Blick kreisen. Nirgends war allerdings auch nur eine Öffnung erkennbar. Der Raum war so kahl, leer und rundherum geschlossen wie zuvor.

Was geht hier vor?, fragte sich Miij. Wollte man ihn und seinen Mitgefangenen zum Narren halten?

Aber der Katzoide wusste natürlich mehr darüber, was das Geräusch zu bedeuten hatte.

Er sah Miij an.

In seinen Augen blitzte es herausfordernd.

„Beunruhigt?“, fragte er.

„Was war das?“, wollte Miij sofort wissen und erkannte sogleich, dass er wieder einmal im Umgang mit seinem Zellengenossen zu ungeduldig gewesen war.

Der Katzoide wich - wie schon bei anderer Gelegenheit - einer direkten Antwort auf Miijs Frage aus.

Stattdessen sagte er: „Du wirst sehen, es ist nicht schlimm.“

„So?“

„Nein. Dies nicht.“

„Eine Tür ist aufgegangen.“

„Keine Tür. Nur eine kleine Öffnung.“

„Wo ist sie?“

„Du kannst sie nicht sehen. Noch nicht ...“

Einige Augenblicke angespannten Schweigens folgten. Dann deutete der Katzoide plötzlich auf eine der Wände, in der sich eine Öffnung gebildet hatte, die vom Boden aus etwa zwanzig Zentimeter in die Höhe reichte. Zwei zylinderförmige Behälter waren offenbar durch diese Öffnung hindurchgeschoben worden.

„Wieso habe ich diese Öffnung vorhin nicht wahrgenommen?“, fragte Miij.

Der Katzoide vollführte mit seinem rechten Arm eine Geste, deren Bedeutung Miij natürlich nicht bekannt war und die ihm auch der Sprachchip in seiner Rüstung nicht zu übersetzen vermochte.

„Sie haben ihre Tricks“, erwiderte der Katzoide einsilbig.

„Und wer sind sie?“

Miij erhielt auf diese Frage keine Antwort.

Der Katzoide trat auf die beiden auf dem Boden stehenden, oben offenen Behälter zu, nahm sie beide an sich und wandte sich anschließend zu Miij herum. Erneut ertönte das schabende Geräusch.

Die Öffnung war auf einmal verschwunden.

Einen kurzen Moment nur hatte Miij sich nicht konzentriert ...

Der Katzoide trat jetzt auf Miij zu. Langsam, fast zögernd - und in jeder Hand hielt er einen der beiden Behälter.

Schließlich reichte er einen davon an Miij.

„Unsere Nahrung“, kommentierte der Katzoide diese Geste und zog sich sofort wieder einen Schritt zurück.

Miij warf einen Blick in den Behälter. Darin befanden sich keksähnliche Brocken, die in rechteckiger oder dreieckiger Form vorhanden waren.

Der Katzoide hatte sich bereits eines der Dreiecke genommen und es verschlungen.

Wenig später ertönte noch einmal das Geräusch, das das Öffnen der die meiste Zeit über unsichtbaren Tür ankündigte.

Diesmal gab es zwei krugähnliche Gefäße, in denen sich Wasser befand, von denen ganz offensichtlich je einer für Miij und einer für den Katzoiden bestimmt waren. Das Nahrungsangebot wurde anscheinend nicht je nach Spezies differenziert. Was das Wasser anging, so war es die Basis aller organischen Lebensformen, aber davon abgesehen konnte Miij nur hoffen, dass die Nährstoffe, die dem Katzoiden schmeckten, auch ihm guttaten.

Zögernd biss der Ellobarge in eines der keksartigen Dreiecke hinein.

Die Nahrung hatte keinerlei Geschmack.

Aber wählerisch sein konnte Miij hier nicht.

Es ging darum, zu überleben – und das war ohne ausreichende Nahrungszufuhr nun mal nicht möglich. Während Miij bereits den zweiten dreieckigen Keks verzehrte, überlegte er, inwieweit die ungesunde Hautfarbe des Katzoiden möglicherweise auch durch eine mangelhafte Ernährung verursacht worden war.

Der Katzoide beendete seine Mahlzeit schließlich. Anschließend ging er an eine bestimmte Stelle an der Wand und ritzte mit Hilfe einer seiner Krallen eine Markierung in den Stein. Das Geräusch, das dabei entstand, war unangenehm und wie man den Krallen des Katzoiden ansehen konnte, waren sie eigentlich nicht hart genug für diese Arbeit.

Aber er tat es trotzdem.

Miij sah auch schnell den Grund dafür.

Offenbar setzte der Katzoide nach jeder Essensausgabe eine Markierung, weil das die einzige Möglichkeit für ihn war, die Zeit zu messen und einigermaßen den Überblick darüber zu behalten, wie lange er schon hier war. Und auch das nur unter der Voraussetzung, dass die Nahrungsmittel- und Trinkwasserausgaben regelmäßig durchgeführt wurden.

Der Katzoide bemerkte Miijs Interesse.

Er machte eine Geste, die Miij nach anfänglichem Zögern so interpretierte, dass er sich nähern sollte.

„Viel Zeit ist vergangen“, sagte der Katzoide und deutete auf die Markierungen, die er bislang in die Wand geritzt hatte. „Sehr viel Zeit ...“

Unter der Voraussetzung, dass die Nahrungsmittelausgabe täglich stattfand, befand sich der Katzoide bereits seit mehr als einem halben Katzana-Jahr in Gefangenschaft.

„Mein Name ist Voscaguir“, erklärte der Katzoide schließlich.

Na endlich!, dachte der Ellobarge.

„Und ich bin Miij.“

„Du wiederholst dich.“

„Ein Gebot der Höflichkeit, wenn man sich gegenseitig vorstellt.“

„Ich verstehe nicht, was du sagst. Aber wir sind beide Gefangene in diesem Kerker. Besser, wenn jeder den Namen des anderen sagen kann.“

„Ja.“

*

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DAS SCHWEIGEN DAUERTE diesmal bis zur nächsten Essens- und Trinkwasserausgabe, die sich exakt genauso abspielte wie beim ersten Mal. Voscaguir machte die nächste Markierung und Miij fragte sich, ob er vielleicht auch damit anfangen und sich darauf einstellen sollte, vielleicht Monate oder Jahre in diesem kahlen Raum zuzubringen.

„Du siehst seltsam aus“, erklärte Voscaguir in die Stille hinein und benannte damit vielleicht auch den Grund für die anfängliche übergroße Scheu, die er vor dem Ellobargen gezeigt hatte. „Wie ein Geschöpf der Legenden, die erzählt werden, um junge Katzoide zu erschrecken, von denen aber jeder Erwachsene eigentlich weiß, dass sie nur Ausgeburten der Fantasie sind.“

„Und du dachtest anfangs auch, ich sei eine Ausgeburt der Fantasie?“, fragte Miij.

„Ja. Ich war die ganze Zeit allein, dann erwachte ich und finde dich in ein- und demselben Kerker wieder wie ...“

„... wie was?“

„Es liegt nicht in meiner Absicht, dich zu beleidigen. Magst du äußerlich von ausgesprochener Hässlichkeit sein, so gönnt man selbst dem schlimmsten Monstrum der Legende nicht das, was uns in diesem Kerker widerfährt ...“

Miij rief sich ins Gedächtnis, dass bis zu dem Zeitpunkt seiner Entführung noch kein Erstkontakt zwischen den Katzoiden und dem Landeteam der CAESAR stattgefunden hatte. Da Voscaguir ja ohnehin bereits seit mehr als einem halben Jahr in Gefangenschaft war, konnte er noch weniger als jeder andere Katzoide von der Existenz einiger Fremdweltler wissen, die den Boden des katzoidischen Heimatplaneten betreten hatten.

„Du musst von sehr weit her kommen - denn du bist eine Missgeburt, die direkt aus den Alpträumen entsprungen ist. Zuerst hielt ich dich für einen bösen Geist, mit dem meine Entführer mich zu peinigen suchten.“

„Was hat dich davon überzeugt, dass ich kein böser Geist bin?“, fragte Miij.

„Die Tatsache, dass du offenbar in der Lage bist, dieselben Nahrungsmittel zu verdauen wie ich“, erklärte Voscaguir. „Geister verdauen nichts. Sie nehmen keine Nahrung zu sich und trinken auch kein Wasser.“

„Ich kann mir deine Angst gut vorstellen“, erklärte Miij nachsichtig. „Schließlich unterscheiden wir uns rein äußerlich ja in einigem.“

„Das kann man laut sagen!“, stieß der Katzoide hervor und ließ einen tiefen, kehligen Laut folgen, bei dem sich Miij nicht sicher war, ob es sich um eine Äußerung handelte, die Erleichterung oder Belustigung zum Ausdruck bringen sollte. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem.

„Ich versichere dir, dass ich genau wie du ein Gefangener bin“, sagte Miij.

„Dann kommst du von weit her. Aus einer abgelegenen Gegend? Einem abgelegenen Tal oder einer entfernten Insel, auf der sich die Missbildung auf deinem Rücken über die Generationen verbreiten konnte, ohne dass man davon irgendwo anders etwas gehört hätte.“

„Das ist keine Missbildung auf meinem Rücken.“

„Es erinnert entfernt an Flügel, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ...“

„Warum nicht?“, unterbrach Miij seinen Gesprächspartner. „Es handelt sich tatsächlich um Flügel - auch wenn es dir schwerzufallen scheint, dies zu glauben.“

„Und du vermagst damit auch zu fliegen?“

„Natürlich - allerdings ist dies ein denkbar schlechter Ort, um dir das vorführen zu können.“

„Funktioniert es genau so wie bei den Tlamarillas der südlichen Täler?“

Miij musste zugeben, von diesen Tlamarillas noch nie etwas gehört zu haben. Die Aufenthaltsdauer des Außenteams war im Übrigen auch viel zu kurz gewesen, um sich bereits eingehend mit Fauna und Flora der Katzoiden-Welt befassen zu können, zumal das Ziel der Mission ja auch ein ganz anderes gewesen war.

Aber Miijs katzoidischer Mitgefangener schien inzwischen mehr und mehr Vertrauen gefasst zu haben und so sprudelte es nur so aus ihm heraus.

In blumigen, bildhaften Worten beschrieb Voscaguir eine Spezies, die etwa einen Meter großen Insekten ähnelte und offensichtlich flugfähig war.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in der Lage bist, deine sogenannten Flügel schnell genug zu bewegen, um dich damit in die Lüfte zu erheben.“

Miij versuchte, seinem staunenden Gegenüber zu erklären, dass sich sein Flugstil von dem insektenähnlicher Flieger erheblich unterschied und nicht auf schnellen Bewegungen hauchdünner Flugmembranen basierte. Miij war ein Gleitflieger.

Für den Katzoiden schien dieses Flugprinzip jedoch schwer nachvollziehbar zu sein.

Miij versuchte, das Gespräch auf ein anderes, ergiebigeres Terrain zu lenken. Schließlich wollte er so viel wie möglich an Informationen sammeln. „Es gibt mehr Möglichkeiten, sich in die Lüfte zu erheben. Die Tlamarillas, von denen du sprachst, haben die ihre, ich die meine und dann gibt es da ja noch diese Flugmaschinen, die eure Dörfer angreifen.“

Aus irgendeinem Grund ging Voscaguir darauf nicht weiter ein. Miij fragte sich, was der Grund dafür sein mochte. Befanden sie sich möglicherweise in einer vom Landepunkt des Außenteams weit entfernten Region Katzanas, in der niemand etwas von den Flugmaschinen wusste?

Oder wollte Voscaguir ganz einfach nicht über diese Sache sprechen - aus welchen Gründen auch immer?

Miij fiel noch eine dritte Variante ein. Es war ja auch möglich, dass das Problem mit den angreifenden Flugmaschinen vor etwas mehr als einem halben Jahr, als Voscaguir in Gefangenschaft geriet, noch nicht virulent gewesen war.

Eine Phase des Schweigens schloss sich an.

Sie dauerte bis zur nächsten Nahrungsausgabe.

*

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DIE EINSAMKEIT TREIBT einen langsam, aber sicher in Wahnsinn“, bekannte Voscaguir, nachdem er sich gesättigt und ausgiebig getrunken hatte. „Deswegen bin ich froh, dass du da bist – auch wenn dieses Schicksal für dich ein Unglück bedeutet. Aber bedenke eins: Du bist zwar ein Gefangener, aber ich war ein Gefangener, der allein in seiner Zelle leben musste, während du Gesellschaft hast.“

Ein schwacher Trost!, dachte Miij, während der Katzoide ihm mit umständlichen und zunächst nur schwer verständlichen Umschreibungen deutlich zu machen versuchte, dass er bereits daran gedacht hatte, sich selbst das Leben zu nehmen. Seine seelische Stabilität war offenbar auf das Äußerste angegriffen.

Miij nahm sich daher vor, im Hinblick auf seinen Zellengenossen vorsichtiger und bedachter zu agieren.

Erneut entstand eine längere Phase des Schweigens.

Diesmal war es Miij, der die Stille brach. „Wie bist du hierhergeraten?“, fragte er Voscaguir. „Und weißt du vielleicht den Grund dafür, dass man dich hier festhält?“

„Zwei Fragen. Die Antwort auf die erste ist leicht. Ich war auf der Jagd, folgte einem Korallenläufer in die tiefsten Verästelungen eines Matang ...“

„Was ist ein Matang?“

Offenbar kannte nicht einmal der Übersetzungschip eine Entsprechung dafür, die Miij verstanden hätte.

„Das ist schwer zu erklären. Stell dir eine Höhle aus pflanzlichem, wurzelartigem Material vor. Korallenläufer benutzen sie als Wohnstätte. Zumeist sorgen sie dafür, dass ein Matang zwei Ausgänge besitzt, um eine Möglichkeit zur Flucht zu haben. Ich folgte dem Korallenläufer, aber er war zu schnell für mich. Er war durch den hinteren, von ihm selbst angelegten Ausgang verschwunden. Ich erreichte diesen Ausgang, bemerkte noch Bewegung ... dann sah ich einen Schatten, der sich von hinten über mich senkte. Mehr weiß ich nicht mehr. Die nächste Erinnerung ist mein Erwachen in dieser Zelle.“

Nach einer kurzen Pause, in der Voscaguir auf einem der dreieckigen Kekse herumgekaut hatte, die er sich aufzusparen pflegte, fragte er: „Du hast mir noch immer nicht gesagt, wo du eigentlich herkommst.“

Eine schlichte Feststellung.

Eigenartig, dachte Miij. Es schien den Katzoiden mehr zu interessiere, wo er herkam als die näheren Umstände der Gefangennahme.

„Ich wurde auf ganz ähnliche Weise gefangen genommen“, erklärte Miij. „Ist dir irgendwann gesagt worden, weshalb das geschehen ist, was man mit dir vorhat?“

„Nein.“

„Hast du ein Verbrechen begannen oder ein Tabu verletzt?“

„Nein.“

„Bist du irgendwann hier in diesem Kerker jemandem begegnet, der ...“

„Ich bin niemandem begegnet, außer dir, Fremder aus einer fremden Heimat.“

Miij hob leicht den Kopf. „Ich komme von viel weiter her, als du dir auch nur vorstellen kannst, Voscaguir!“, bekannte Miij.

„Von einem fernen, unerforschten Kontinent?“

„Nein, weiter ... Ich komme von einem Schiff, das zwischen den Sternen zu reisen vermag. Wir nennen es Raumschiff. Mit ihm sind wir hierhergeflogen.“

Der Katzoide schien Mühe zu haben, Miijs Worte zu begreifen. „Du sprichst von einem fliegenden Schiff?“

„Wenn du es so ausdrücken willst, ja. Dieses Schiff vermag von einem Stern zum nächsten zu fliegen.“

„Warum schwimmt es nicht? Der Himmel ist blau und unsere Weisesten haben immer schon behauptet, dass dort die Urflut des Himmels zu finden sei, die nur vom löchrigen Firmament davon abgehalten wird, vollständig herunterzuregnen.“

„Nein, das entspricht nicht den Tatsachen“, erwiderte Miij. „Da draußen zwischen den Sternen ist das Nichts. Man nennt es Weltraum. Unser Schiff ist in der Lage, durch diesen Weltraum zu fliegen.“

„Ist dieses Schiff deine Heimat?“, fragte Voscaguir.

„In gewisser Weise ist es das im Augenblick“, bekannte Miij. „An Bord befinden sich unterschiedlichste Wesen, die von verschiedenen Welten stammen.“

„Welten?“, echote der Katzoide. „Gibt es denn mehr Welten, als diese eine, auf deren Scheibe wir alle stehen?“

„All die Sterne, die du siehst, wenn du in der Nacht in Himmel schaust, sind Welten wie die eure!“

Voscaguir stieß einen unartikulierten Laut aus, der einem Seufzen sehr ähnlich war.

„Ich weiß nicht, ob ich alles verstehe, was du sagst. Aber etwas so Erstaunliches habe ich bislang noch nie gehört.“

„Es ist aber die Wahrheit.“

„Vielleicht muss ich einfach nur noch mehr darüber hören, um es wirklich begreifen zu können, Miij.“

„Das wäre ein Weg, da stimme ich dir zu.“

„Mal vorausgesetzt, deine seltsame Geschichte entspricht der Wahrheit – aus welchem Grund hat euer Schiff diese Welt angeflogen? Warum seid ihr hier gelandet und nicht auf einer der unzähligen anderen Welten, die da draußen in der Dunkelheit der Nacht angeblich existieren sollen?“

„Das kann ich dir erklären. An Bord unseres Schiffes befand sich ein Krieger mit dem Namen Riugerob. Er war ein Katzoide, so wie du. Aber er starb während eines Kampfs. Da er allen an Bord ein wertvoller Freund gewesen war, beabsichtigten wir, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Er wollte auf seiner Heimatwelt Katzana die letzte Ruhe finden. Um seine sterblichen Überreste zurückzuführen, deswegen landete ich mit zwei weiteren Gefährten auf der Oberfläche dieses Planeten.“

Voscaguir schwieg daraufhin eine Weile.

Er schien darüber nachzudenken, ob er dieser Geschichte Glauben schenken oder sie als wahnhafte Idee eines Verrückten abtun sollte.

„Du sagtest, dass dieser getötete Krieger Riugerob hieß“, vergewisserte sich der Katzoide schließlich.

„Ja.“

„Das ist ein hier üblicher Name.“

„Du glaubst mir noch immer nicht.“

„Verzeih mein Misstrauen, Miij. Das ist wohl eine Folge der Gefangenschaft. Ich war zu lange ein Spielschwert in den Händen von Unbekannten.“

„Ein Spielschwert?“, echote Miij etwas erstaunt.

„Damit werden Turnierkämpfe ausgefochten. Die Klinge ist stumpf, um Verletzungen soweit wie möglich zu vermeiden ...“

„Wie kommst du jetzt auf Schwerter?“

„Ich benutzte eine bei uns übliche bildliche Redeweise, Miij.“

*

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MIIJ STELLTE IM LAUF der Zeit fest, dass sein Zellengenosse ein ausgesprochen systematischer und hartnäckiger Fragensteller war. Dinge, die ihn interessierten, verlor er nicht aus den Augen.

„Warum weilte dieser Krieger namens Riugerob an Bord eures Sternenschiffs?“, wollte Voscaguir wissen.

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Wir haben viel Zeit und eine Geschichte – gleichgültig ob lang oder kurz – wird bei mir den drohenden Wahnsinn vielleicht etwas hinauszögern.“

Miij versuchte zunächst, auszuweichen und dafür seinerseits an zusätzliche Informationen über das Leben auf Katzana zu gewinnen, aber Voscaguir ließ nicht locker.

Er kam immer wieder auf Riugerobs Schicksal zurück.

Miij berichtete so knapp und zusammenfassend wie möglich von dem, was er über Riugerobs fantastische Odyssee wusste. Er sprach über die Noroofen, die von überall her sogenannte Proben genommen hatten. Lebewesen, die sie in Stase-Schlaf versetzten und mitnahmen, um sie zu untersuchen. So war Riugerob seiner Heimatwelt entrissen worden.

Plötzlich schwieg Voscaguir.

Miij hielt in seiner Erzählung inne und wartete ab.

Das Interesse seines Gesprächspartners schien auf einmal abgerissen zu sein.

Die Gestalt des Katzoiden begann sich plötzlich zu verändern. Sie zerfloss regelrecht.

„Voscaguir!“, stieß Miij hervor.

Der Ellobarge wich erschrocken zurück, während sich sein Mitgefangener vollständig aufgelöst hatte. Lediglich ein golden schimmernder Lichtpunkt war noch zu sehen.

Was war geschehen?

Hatten die geheimnisvollen Herren dieses einsamen Kerkers ihren Gefangenen aus irgendeinem Grund bestraft und desintegriert? Ein rasch per Energieblitz vollzogenes Todesurteil, wobei Miij der Grund dafür in keiner Weise einsichtig war.

Mit Schrecken dachte der Ellobarge daran, dass nun er möglicherweise über sehr lange Zeit hinweg allein in diesem Gemäuer bleiben würde, dem Wahnsinn nahe vor Monotonie und Einsamkeit.

Miij hatte eigentlich erwartet, dass der goldene Lichtpunkt verschwand, das tat er nicht. Er schwebte in einer Höhe von etwa einen Meter fünfzig in der Luft und begann sich wieder auszudehnen, wobei er an Helligkeit verlor.

Schon nach wenigen Augenblicken war der Umriss eines Humanoiden, aber androgynen Körpers erkennbar. Mit der Gestalt des Katzoiden Voscaguir hatte dieses Wesen nicht das Geringste gemein.

Fassungslos starrte Miij zu ihm - oder ihr, ganz wie man wollte - hin und wartete ab, bis die Verwandlung abgeschlossen war.

„Verzeih mir“, sagte die Stimme des Androgynen.

In Miij lösten diese Worte nichts als Verwirrung aus. Was wurde hier gespielt? War alles nur eine optische Täuschung gewesen, die einzig und allein dem Zweck gedient hatte, ihm so viele Informationen wie möglich zu entlocken?

Die Gedanken rasten nur so in Miijs Kopf.

Daher also die vielen Fragen nach dem Sternenschiff und dessen Herkunft sowie den Zielen, die das Außenteam mit seiner Landung verfolgt hatte.

Der Androgyne fuhr fort: „Ich weiß jetzt, dass du nicht zu IHNEN gehörst. Verzeih, dass du dies alles hast erleiden müssen, aber es gab keinen anderen Weg. Ich musste mir erst sicher sein. Zu viel steht auf dem Spiel und ich durfte kein Risiko eingehen.“

„Wer bist du?“, fragte Miij.

„Mein Individualname ist Naryavo.“

„Und wer sind SIE - vor denen du dich so sehr zu fürchten scheinst?“

Die Beantwortung dieser Frage blieb Naryavo dem Ellobargen schuldig.

„Lass uns keine Zeit verlieren.“

„Ich verstehe nicht, was du jetzt meinst!“

„Ich bin schon viel zu lange auf diesem Planeten.“

„Aber ...“

„Lass uns gehen, Miij.“

„Gehen?“, echote der Gefangene. Er vollführte eine ausholende Geste. Ringsum waren sie von massiven Mauern umgeben. Es war unmöglich, diesen Ort zu verlassen. „Ich kann nirgendwohin gehen“, erklärte Miij. „Und außerdem ...“

Der Bhalakide schnitt Miij das Wort ab und sagte: „Ich weiß, was du sagen willst, Miij. Und ich kenne jeden Einwand, den du nun vorbringen könntest. Aber du solltest zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass dies keineswegs ein Gefängnis ist, auch wenn es dir im Moment noch so erscheinen mag. Und wir sind auch keine Gefangenen. Ich habe dich hierhergebracht, um dich kennenzulernen.“ Der Bhalakide trat näher an Miij heran und fuhr nach ein paar Augenblicken des Schweigens fort: „Ja, ich war der Schatten, der dich gefangen nahm, Miij. Aber nun hast du nichts mehr zu befürchten.“

„Was geschieht jetzt?“

„Warte es ab, Miij.“

*

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ES ERTÖNTE DAS GERÄUSCH, das bis dahin stets die Essensausgabe angekündigt hatte.

Aber diesmal waren es weder Nahrungsmittel noch Trinkwasser, die ins Innere des Gefängnisses geschoben wurden.

Die Öffnung, die jetzt in der Wand entstand - oder vielleicht auch schon immer dort vorhanden gewesen und nur durch irgendeine ganz bewusst eingesetzte Sinnestäuschung verborgen worden war - wirkte sehr viel größer als diejenige, die bei den Essensausgaben jeweils für ein paar Augenblicke zu sehen gewesen war.

Sie war so groß, dass Miij hätte hindurchgehen können, wenn er die Flügel zusammenfaltete und den Kopf etwas einzog. Ein dichter Klangteppich von Geräuschen drang von draußen herein. Stimmen, Rufe, Schreie, Rascheln, Surren, das an Insekten erinnerte ... Das alles ergab eine einzigartige Melange aus akustischen Eindrücken.

„Folge mir“, forderte Naryavo den Ellobargen auf, der einige Momente wie erstarrt dastand, innerlich noch ganz gefangen von den Eindrücken des Erlebten.

*

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MIIJ UND NARYAVO TRATEN ins Freie. Das Zentralgestirn stand im Zenit und strahlte exakt senkrecht auf die Oberfläche des Planeten Katzana herab, aber nur ein Bruchteil des Lichtes erreichte auch den Boden. Schuld daran waren die korallenartigen Strukturen, die große Teile der Oberfläche von Katzana bedeckten. Es waren regelrechte Wälder aus verhärtetem, zum Teil abgestorbenem organischen Material, das den nachwachsenden Organismen als Behausung, Schutz oder Stütze diente, um sich daran emporranken zu können. Das galt sowohl für das pflanzliche als auch das tierische Leben des Planeten.

Mangrovenartige Strukturen hatten sich im Laufe von Zeitaltern gebildet und boten mannigfachen Lebensformen Platz.

Miij war schier überwältigt von dem Anblick wimmelnden Lebens, das ihn umgab.

Miij drehte sich herum und sah nun, worum es sich bei seinem Gefängnis tatsächlich gehandelt hatte: um eine etwa zehn Meter große, golden schimmernde Kuppel.

Eine metallisch schimmernde Schleusentür schloss sich hinter ihm.

Die Tatsache, dass Miij in seiner Umgebung alle Wände so wahrgenommen hatte, als würde es sich um Bestandteile eines massiven Steingebäudes handeln, war offensichtlich auch nichts weiter als eine optische, speziell für ihn eingerichtete Täuschung.

An der oberen Hälfte der Kuppel waren schwere Beschädigungen sichtbar. Mehrere Hüllenbrüche und einige mäandernde Risse, die sich weitläufig über die Oberfläche zogen und immer stärker verzweigten, konnte man schon auf den ersten Blick erkennen.

„Dies ist mein Sternenschiff“, erklärte Naryavo. „Wie auch für dich sicherlich leicht erkennbar ist, weist es erhebliche Schäden auf.“

„Wie kam es zu deiner Havarie?“, wollte Miij wissen.

Der Bhalakide schien jedoch nicht gewillt zu sein, darauf näher einzugehen.

„Ich weiß nicht, ob sich das mit den Beobachtungen deines Landeteams deckt, aber es scheint so zu sein, dass hoch entwickelte Technologie auf diesem Planeten entweder gar nicht oder nur sehr eingeschränkt funktioniert. Auf jeden Fall war es bislang unmöglich für mich, diese Welt wieder zu verlassen.“

„Aber was habe ich mit alledem zu tun? Wenn du einen Notruf gesendet hättest, wäre unsere Besatzung mit Sicherheit bereit gewesen, dir zu helfen. Warum musstest du mich stattdessen gefangen nehmen und glauben lassen, mir stünde ein langer, einsamer Aufenthalt in einem unfreundlichen Verlies bevor - einer Umgebung, die andere Insassen bereits an den Rand des Wahnsinns getrieben hat!“

„Ich kann mich nur wiederholen und dafür um Verzeihung bitten. Aber ich hatte keine andere Wahl, das musst du mir glauben.“

„Dann erkläre es mir!“, verlangte Miij.

„Wie gesagt, ich versuchte vergeblich, mein Raumschiff wieder startklar zu bekommen. Aber einige technisch entscheidende Komponenten ließen sich einfach nicht wieder in Betrieb nehmen. Da seid ihr auf dieser Welt gelandet ... Ich wurde rasch auf deine Rüstung aufmerksam. Sie wird von einer Energiequelle gespeist, die offenbar von den allgegenwärtigen schädlichen Einflüssen, die auf dieser Welt wirksam sind, nicht beeinflusst wird! Das ist doch richtig, oder?“

„Ja“, bestätigte Miij.

„So habe mir also gedacht, mir diesen Umstand irgendwie zu Nutze machen zu können, um vielleicht doch in die Lage versetzt zu werden, diesen Planeten endlich zu verlassen.“

„Langsam verstehe ich“, gestand Miij. Ein deutliches Unwohlsein verbreitete sich in ihm. Was mochten Naryavos weiteren Pläne mit ihm sein?

„Mein Ziel war es, dich und deine Rüstung zur Flucht von diesem zurückgebliebenen Planeten zu benutzen“, gestand Naryavo.

Miij war konsterniert.

„Der Wrabiss ist nicht weltraumtauglich“, wandte der Ellobarge ein. „Zumindest habe ich das nie probiert.“

Der Bhalakide schien die emotionale Aufgewühltheit seines Gegenübers zu spüren und versuchte Miij daher zu beruhigen.

„Vertrau mir“, sagte er.

Offenbar wollte er sich nicht weiter mit weitschweifigen Erklärungen aufhalten. Er löste seine androgyne Gestalt auf und verwandelte sich wieder in golden schimmerndes Licht. Dieses Licht wurde im nächsten Moment vom Wrabiss absorbiert.

Im nächsten Augenblick begannen sich Miijs Flügel wie von selbst zu bewegen.

Er schwebte empor, beschleunigte dabei auf atemberaubende und nie gekannte Weise. Mit traumwandlerischer Sicherheit schnellte er zwischen den Verästelungen des korallenartigen Waldes hervor.

Das gleißende Sonnenlicht blendete Miij im ersten Moment. Höher und höher stieg er – und das in einer Geschwindigkeit, die immer noch weiter anzusteigen schien.

Miij konnte nichts dagegen tun.

Er war Spielschwert einer fremden Macht, wie der Katzoide Voscaguir es ausgedrückt hätte, von dem Miij inzwischen hatte erfahren müssen, dass er nichts weiter als eine Täuschung gewesen war, um ihn gefügig zu machen und besser manipulieren zu können.

Der Abstand zur Oberfläche wurde immer größer. Die korallenartigen Strukturen waren aus der Höhe deutlich erkennbar.

Miij stieg inzwischen in die Stratosphäre auf.

Die den Planeten Katzana umgebende Lufthülle war schon recht dünn, eine Existenz für ein Sauerstoff atmendes Wesen ohne raumtaugliche Ausrüstung eigentlich unmöglich.

Sollte es tatsächlich der Fall sein, dass ich die Möglichkeiten des Wrabiss bisher unterschätzt habe?, fragte sich Miij. Naryavo hingegen hatte das Potenzial der Rüstung des geflügelten Ellobargen offenbar sehr viel besser eingeschätzt.

Das Licht Naryavos, das in seine Rüstung eingedrungen war, quoll nun wieder daraus hervor und bildete eine schimmernde Aura, die sich um den Wrabiss – und damit auch um Miij – schloss.

Einen Moment später befand sich Miij bereits im Weltraum.

Im Nichts.

Dort, wo die Kälte regierte und organisches Leben nicht ohne Hilfsmittel zu existieren vermochte.

Aber Miij spürte nichts von dieser Kälte, wie auch das Vakuum keinerlei Auswirkungen auf ihn hatte. Was ist es, was mich vor der Lebensfeindlichkeit des Alls schützt?, fragte sich der Ellobarge. Ist es wirklich nur der Wrabiss, der mich schützt?

Noch immer bewegten sich Miijs Schwingen wie automatisch. Offenbar vermochten sie selbst im freien Raum seinen Körper voranzutreiben. Auf welche Weise das geschah, davon hatte Jim nicht die geringste Vorstellung.

Der Planet Katzana verschwand.

Miij war allein – mitten in der Leere des Alls.

Und er beschleunigte noch immer – bis plötzlich ein gewaltiges Objekt vor ihm auftauchte.

Die CAESAR.

Miij bremste abrupt ab.

Ein Traktorstrahl erfasste ihn und zog ihn auf das Schott der Außenschleuse zu.

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4. Kapitel: Miijs Begleiter

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Es dürfte klar sein, dass Miij nicht allein zurückkehrte“, stellte John Bradford fest, nachdem der Ellobarge seine Schilderungen beendet hatte. Der Kommandant der CAESAR wandte sich an Arat-Nof und fragte: „Ich nehme an, dass du derselben Ansicht bist.“

„Das ist zutreffend“, erklärte der Bhalakide auf seine zurückhaltende Art.

Arat-Nof trat auf Miij zu, der noch ganz unter dem schockierenden Eindruck seiner Rückreise zur CAESAR stand.

Der Bhalakide verwandelte sich in Licht und drang anschließend durch die Außenhaut des Wrabiss. Für einen Moment war nichts mehr von ihm zu sehen, dann quoll ein gleißendes Licht aus der Rüstung des Ellobargen hervor, schwebte ein paar Meter in die Zentrale der CAESAR hinein und begann sich dann zu teilen.

Aus jedem der dabei entstehenden Lichtpunkte bildete sich eine humanoide Gestalt.

Sie waren äußerlich kaum zu unterscheiden.

Bradford war sich im ersten Moment nicht sicher, wer von beiden nun Arat-Nof war.

Beide schienen miteinander zu kommunizieren. Ihre Körperhaltung verriet dabei, dass sie sich mit großem Interesse begegneten. Schließlich trat einer der beiden Bhalakiden ein paar Schritte vor.

„Ich bin Arat-Nof – falls es echte Schwierigkeiten bereiten sollte, uns optisch auseinander zu halten. Auf Grund der geringen Abweichung in der äußeren Erscheinung wäre das durchaus möglich.“ Er streckte einen Arm aus und deutete damit auf den zweiten Bhalakiden. „Dies ist Naryavo.“

John Bradford wechselte einen kurzen Blick mit Josephine.

Die Gen-Android-Frau schien seine Besorgnis zu teilen. Zumindest interpretierte er ihren Gesichtsausdruck so.

Ein zweiter Bhalakide an Bord der CAESAR - davon war Bradford alles andere als begeistert. Es gefiel ihm schon nicht, mit Arat-Nof ein Wesen an Bord zu haben, das ihm jederzeit und nach Belieben die Kontrolle über das Schiff abzunehmen vermochte, ohne dass dies besondere Mühe gekostet hätte.

Bislang hatte Arat-Nof seine Fähigkeiten sehr maßvoll eingesetzt und sich insgesamt in äußerster Zurückhaltung geübt.

Aber nach dem, was Miij in Bezug auf Naryavo geschildert hatte, war nicht unbedingt davon auszugehen, dass in seinem Fall dasselbe gelten würde.

Schließlich war er mit ziemlich großer Rücksichtslosigkeit vorgegangen, um seine Ziele durchzusetzen.

Was, wenn er die CAESAR als willkommenes Werkzeug sieht – für was auch immer?, ging es Bradford schaudernd durch den Kopf.

Arat-Nof erhob erneut seine Stimme.

„Höchste Achtung gebührt Naryavo“, erklärte das Energiewesen, das für sich selbst bisher nur den Status eines Gastes reklamiert hatte. „Ich verbürge mich für ihn und erbitte auch in seinem Fall den Status eines Gastes, der mir gewährt worden ist. Er wird nichts tun, was der Besatzung dieses Schiffes nicht recht wäre oder gar irgendjemandem seinen Willen aufzwingen.“

Aber faktisch könnten wir nicht verhindern, wenn er es täte!, vollendete Bradford in Gedanken den Satz des Bhalakiden.

Fairoglan wandte den Kopf kurz in Bradfords Richtung.

War dieser Gedanke in Bradfords Bewusstsein möglicherweise so stark und intensiv gewesen, das der nur mit mäßiger bis schwacher Psi-Begabung ausgestattete Yroa ihn wahrgenommen hatte.

„Bevor ich darüber entscheide, würde ich gerne noch mehr über Naryavo wissen“, erklärte John Bradford, womit er einer direkten Antwort auf das Anliegen des Bhalakiden zunächst einmal auswich. Bradford war dabei durchaus bewusst, dass er dies nicht lange durchhalten konnte.

Aber vielleicht ließen sich die beiden Bhalakiden darauf ein und gaben noch etwas mehr von ihrem Wissen preis. Woher kamen Sie? Was waren ihre Ziele? Was bewegte ihr Handeln? Es war einfach noch so vieles im Dunkeln, was unbedingt einer näheren Klärung bedurfte.

Bradford schien im Hinblick auf die beiden Androgynen den richtigen Ton getroffen zu haben.

Arat-Nof beugte sich etwas nach vorn. Welche Bedeutung diese Geste hatte – oder ob es sich überhaupt um eine Geste handelte, blieb Bradford dabei natürlich verborgen.

„Naryavo ist eines der verschollenen Besatzungsmitglieder der Station Xaradim. Er wird euch berichten, was auf der Station geschah und wie es dazu kam, dass er auf Katzana strandete ...“

„Gut“, stimmte Bradford zu. „Ich bin sehr gespannt. ALGO-DATA?“

„Ja, Bradford?“

„Einen kurzen Statusbericht über die fortlaufende Ortungsscans!“

„Keine besonderen Datenvarianzen“, erklärte der Bordrechner der CAESAR. „Die Suche nach eventuell feindlichen Fremdschiffen blieb bislang ergebnislos.“

„Das freut mich zu hören“, murmelte Bradford. Er wandte sich an den mit Miij an Bord genommenen Bhalakiden Naryavo und forderte: „Was ist geschehen?“

„Ihr sollt alles erfahren“, versprach das Energiewesen. „Vieles habe ich euch schon berichtet, manches sollt ihr jetzt noch erfahren. Über das Netzwerk der Xaradim-Stationen, über die Station im Zentrum unserer Galaxis, die ja bereits einige von euch kurz betreten haben - und über die Zeit vor dem Exodus der Wartungsmannschaft. Erinnert euch an die Station ... Bei eurem kurzen Aufenthalt in der Station Xaradim habt ihr nur einen flüchtigen Eindruck dessen gewonnen, was das Leben dort ausmachte, als sie noch bevölkert war. Ihr besitzt kaum mehr als eine vage Ahnung davon, was es wirklich bedeutet, dass Materie und Energie letztlich ein und dasselbe sind und sich folglich auch restlos ineinander umwandeln lassen. Für uns Bhalakiden ist dieses Wissen eine Grundlage unserer Existenz. Wir haben sowohl eine rein energetische als auch eine körperliche Form und können zwischen beiden nach Belieben wechseln. Die engen Beschränkungen der Materie, die ich bei so vielen Spezies und unzähligen Galaxien erlebt habe, gelten nicht für uns. Aber es gibt Beschränkungen anderer Art, jedoch ich glaube nicht, dass ihr in der Lage wärt, diesen Punkt wirklich zu verstehen. Die Meisten haben mit der ungeheuren Verantwortung zu tun, die uns von den Schöpfern der Stationen auferlegt wurde. Schließlich sind wir es, die für deren Erhalt und reibungslosen Betrieb zu sorgen haben. Dass sie permanent in der Zeit existieren, heißt ja nicht, dass sie immun gegen jegliche Störungen wären ...“

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Naryavos VERGANGENHEIT

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Die Xaradim-Station im Zentrum der Milchstraße, in der Zeit vor dem Exodus der Bhalakiden ... 

Ein hundert Kilometer durchmessender Körper, golden schimmernd und einer Station gleichend, die jemand auf geheimnisvolle Weise am Ereignishorizont jenes gigantischen Schwarzen Loches befestigt hatte, das sich im Zentrum der Milchstraße befand, so hätte sie auf einen hypothetischen Betrachter gewirkt. Aber normalerweise war es für kein Lebewesen möglich, den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs zu überschreiten.

Die unglaubliche, für niemanden wirklich vorstellbaren Gravitationskräfte jenes Monstrums, das einer Sonne gleich im Zentrum der Galaxis hockte und sich nach und nach von deren Materie ernährte, ließen für gewöhnlich niemanden wieder fort, der diese Grenze überschritten hatte. Die Grenze, nach der jede Rückkehr ausgeschlossen war.

Die Xaradim-Station im Zentrum der Milchstraße war nur ein winziges Glied in einer unvorstellbar großen Kette weiterer Stationen, deren Funktion die Aufrechterhaltung eines Kommunikations- und Transportnetzes war. Ein Netzwerk, das von schier unvorstellbar großer Ausdehnung war und es ermöglichte, in Nullzeit von einer Galaxis zur anderen zu gelangen.

Aber dieses Netzwerk breitete sich nicht in die Unendlichkeit des Raumes aus, sondern auch in der Zeit und allen weiteren, höheren Dimensionen.

Jede der Milliarden Xaradim-Stationen, die es in den Zentren von Milliarden Galaxien gab, zeichnete sich durch diese besondere Art von Permanenz aus.

Ewigkeit im wahrsten Sinn des Wortes.

Eine Xaradim-Station existierte vom Anbeginn der Zeit an bis zum Ende des Universums.

Eine Kontinuität, die allerdings wohl nur für die Station selbst und nicht für deren Bewohner, die Bhalakiden, galt, die das Wartungspersonal dieses Wunderwerks einer ungeheuer alten und ungeheuer fortgeschrittenen Dimensionen überwindenden Technologie darstellten.

Die Bhalakiden waren nicht die Erbauer, aber sie hatten viel Zeit damit verbracht, nach diesen geheimnisvollen und sicher selbst im Vergleich zu uns unvorstellbar mächtigen Wesen zu suchen.

Bislang jedoch vergeblich.

Die Schöpfer der Xaradim-Stationen blieben im Verborgenen.

Naryavo hatte ein Zeitquantum mit der Reinigung seiner Gedanken und Übungen zur seelischen Stabilisierung verbracht. Übungen, die für jeden Pflicht waren, dem ein Zeitquantum im Dienst der Erhaltung einer Xaradim-Station bevorstand, denn diese Arbeit erforderte ein Höchstmaß an geistiger Konzentration.

Naryavo befand sich in der Mitte eines Raumes, dessen Inneres golden-metallisch schimmerte, aber über so gut wie keine Einrichtungsgegenstände verfügte. Die Wände waren aus jener absolut glatten Legierung, deren konturlose Oberfläche prägend sowohl für das Innere als auch das Äußere der Station war.

Dieser Raum stand Naryavo für seine ganz persönlichen Bedürfnisse zur Verfügung.

Bei einem Wesen, das seine Körpermaterie jederzeit in pure Energie umzuwandeln vermochte, waren dies naturgemäß in erster Linie geistige Bedürfnisse. Die Schlichtheit der Inneneinrichtung dieses Raums war ein Spiegelbild. Je schlichter das Äußere, umso mehr Raum bietet sich dem Geist, so lautete ein Axiom der uralten Überlieferung der Bhalakiden.

Einer Überlieferung, von der manche sagten, dass Teile davon älter waren als das Volk der Bhalakiden selbst und vielleicht sogar noch aus jener Zeit stammten, als die Schöpfer der Stationen ihre >Ewige Kette< selbst instand gehalten und verwaltet hatten.

Naryavo wusste, das Zeit etwas Relatives war und das sein Zeitbegriff erheblich von dem der meisten anderen Intelligenzen abwich, auf die er in jenen ungezählten Galaxien getroffen hatte, die er bereits besucht hatte. Wie hätte es auch anders sein können. Jenseits des Ereignishorizontes eines Schwarzen Lochs war nichts so wie in dem Raum, der diesen umgab.

Auch die Zeit nicht.

Es wäre verwunderlich gewesen, wenn das Zeitempfinden der Bhalakiden von dieser Tatsache völlig abgekoppelt gewesen wäre.

Naryavo schwebte als Lichtball in der exakten geometrischen Mitte des Raums. Mit Hilfe seiner Geisteskraft dehnte er diesen Lichtballon abwechselnd auf und ließ ihn auf Punktgröße in sich zusammenfallen.

Eine jener Übungen, durch die ein Bhalakide geistige Disziplin erlangte. Die Voraussetzung dafür, jene Kraft aufbringen zu können, die nötig war, um mitzuhelfen, die Ewige Kette aufrechtzuerhalten.

Niemand wagte, dies mental intensiv oder gar akustisch laut, geschweige denn in einer aggressiven energetischen Impulsfolge, zu äußern, und doch wusste im Innersten jeder Bhalakide, dass es so war: Die Kette war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Noch funktionierte sie reibungslos und Entfernungen waren der wichtigste Faktor bei der Planung einer Reise.

Aber überall nahmen kleinste Schäden zu. Die Wartungsmannschaften der Stationen schafften es nur unter immer größeren Anstrengungen, dafür zu sorgen, dass die Straßen zwischen den Sterneninseln, deren Endpunkte die Xaradim-Stationen darstellten, passierbar blieben.

Das kosmische Netz, das einen ungeheuer großen Teil des Kosmos miteinander verband, verfiel.

Der Zeitpunkt, da es reißen würde, musste unweigerlich kommen.

Es war nur eine Frage der ...

Ja, der Zeit, dachte Naryavo. Dieser unberechenbarsten Dimensionen des n-dimensionalen Kosmos.

>Die Zeit ist veränderlich  - trotz einer permanenten Existenz< lautete ein anderer Satz der bhalakidischen Überlieferung, die dem legendären Lichtbringer zugeschrieben wurde, von dem niemand wusste, ob es sich nur um eine kollektive Projektion bhalakidischer Wunschvorstellungen handelte oder über eine Person, die real existiert hatte.

Dieser Satz war lange beinahe in Vergessenheit geraten, aber in letzter Zeit wurde er wieder häufiger aus dem Fundus der Vergangenheit hervorgeholt, den jeder Bhalakide in seinem mentalen, auf Quantenebene arbeitenden Gedächtnisspeicher verinnerlicht hatte.

Kein Wunder.

Die Zahl derjenigen, die sich Sorgen machen, wuchs, auch wenn sie von der Mehrheit noch als unglaubwürdige Schwarzseher abgetan wurden.

Naryavo spürte die Anwesenheit eines anderen Individuums, das mit ihm Kontakt aufzunehmen wünschte.

Es war der Ruf Mantayans, der ihn erreichte.

Diesen Bhalakide hatte er vor mehreren Zeitquanten zum letzten Mal gesehen und sich mit ihm ausgetauscht. Möglicherweise hätten Angehörige anderer Spezies den Begriff Zuneigung für das benutzt, was Naryavo diesem Bhalakiden entgegenbrachte.

Naryavo hatte Ähnliches vor allem bei Spezies kennengelernt, die in verschiedene Geschlechter gespalten waren und von daher viel mehr aufeinander angewiesen waren, als dies bei Bhalakiden der Fall war.

Naryavo selbst bevorzugte den Begriff Wertschätzung.

Er bewunderte an Mantayan die Gedankenschärfe, die diesen Bhalakiden auszeichnete und die bewirkte, dass der geistige Austausch zwischen ihnen stets fruchtbar war. Ihm verdankte Naryavo viele Bereicherungen seiner eigenen Gedankenwelt und daher sah er einem Wiedersehen mit Freude entgegen.

„Du bist willkommen“, signalisierte Naryavo.

Daraufhin schmolz sein derzeit im vollenergetischen Stadium befindlicher Körper zunächst zu einem winzigen, dafür aber ausgesprochen intensiv leuchtenden Punkt zusammen, bevor eine stofflich fassbare androgyne Gestalt geformt wurde.

Im nächsten Moment drang ein Licht durch die Wand.

Naryavos Privatraum verfügte über keinerlei Türen. Für Wesen, die sich in Energie zu verwandeln vermochten, war das auch nicht nötig.

Das aus der Wand hervorbrechende Licht formte sich zu einem zweiten Bhalakiden-Körper, der Naryavo fast völlig glich. Die äußeren Unterschiede zwischen Bhalakiden waren verschwindend gering. Die Gestalt ist nichts, die Substanz alles, so lautete ein anderer Satz aus der Überlieferung des Lichtbringers.

Die äußere Erscheinung war instabil, ihre Wahrnehmung leicht manipulierbar.

Es blieb nur das Bewusstsein.

Die Struktur der Persönlichkeit.

Das, was das Individuum unterschied.

Alles andere war nur vordergründiger Schein, dem man nicht trauen durfte.

„Sei gegrüßt, Mantayan“, begrüßte Naryavo seinen Gast.

„Sei ebenfalls gegrüßt, Naryavo.“

„Ich habe im zentralen Datenspeicher dieser Xaradim-Station gesehen, dass dein Dienstzeitquantum unmittelbar bevorsteht ...“

„Das ist richtig.“

„So werden wir uns nicht lange dem Austausch von Gedanken und Erlebnissen hingeben können.“

„Bedauerlicherweise, aber uns beide dürfte klar sein, wie wichtig der Dienst an der Xaradim-Station ist ...“

„Natürlich. Wie auch immer, ich brauche sehr dringend die Möglichkeit, mich mitteilen zu können und eine zweite Beurteilung einzuholen.“

„Du weißt, dass ich dir dazu immer zur Verfügung stehe!“

„So werde ich mich kurz fassen“, sagte Mantayan. „Ich kehre gerade aus einer Galaxis zurück, die in unseren Sternkarten unter der Bezeichnung 33456667 zu finden ist. Es ist ein sehr exotisches Gebilde. Eine gigantische Materieansammlung, die aus der Kollision mehrerer kleinerer Galaxien entstand und nun eine vollkommen bizarre und irreguläre Form bildet ... aber davon werde ich dir ein anderes Mal berichten.“

„Was liegt dir dann auf dem Herzen?“

„Die Umstände meiner Rückkehr. Es gibt in 33456667 nicht nur ein zentrales Schwarzes Loch, sondern mehrere, von denen jedes von nur ein paar Äonen das Zentrum einer eigenen Galaxis bildete. Dementsprechend existieren hinter dem Ereignishorizont eines jeden dieser Schwarzen Löcher auch Xaradim-Stationen. Ich gab meine Zieldaten wie immer ein, ich hatte es mit einer gut geführten Stationsmannschaft zu tun, die ihre Station in hervorragendem Zustand hielt ... Keine Ahnung, woran es gelegen haben mag, aber zunächst wollte die Reise hier einfach nicht klappen. Zuerst glaubte ich, dass die Ursache in 33456667 zu finden sei und so reiste ich dort von einer Xaradim-Station zur anderen. Aber es gelang mir auch von dort nicht, in die Heimat zurückzukehren. Ich dachte schon, dass es mit den besonderen astronomischen Verhältnissen in 33456667 zu tun hätte, schließlich handelt es sich um ein wahrhaft außergewöhnliches Objekt.“

„Angesichts des Zustandes, in dem sich manche Stationen befinden, hätte ich eher auf ein wartungstechnisches Problem getippt“, erklärte Naryavo.

Er bekam von Mantayan Signale der Zustimmung.

„Auch daran hatte ich gedacht. Jeder von uns kennt die Schwierigkeiten, die es zurzeit in der Ewigen Kette gibt. Dennoch – ich habe noch nirgends von einem Fall gehört, dass die Kette tatsächlich unterbrochen wurde, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja.“

„Und genau das schien hier ja der Fall zu sein!“

Naryavo sandte einen Impuls an das Steuersystem seines Raums. Aus dem Boden wuchs ein Konturensitz, der sich dem Körper des Bhalakiden perfekt anpasste, als er sich darauf setzte.

Ein weiterer, eher beiläufiger Impuls signalisierte Mantayan, dass ihm dasselbe gestattet wäre und er Zugang zum System dieses Privatraums hatte. Nachdem auch Mantayan sich auf einen zweiten, aus dem Boden emporwachsenden Möbelstück, das einer Couch ähnelte, niedergelassen hatte, fuhr er fort: „Wie du siehst, gelang es mir schließlich doch noch, hierher zurückzukehren. Das war nur mit ein paar Tricks und der Hilfe einiger Freunde auf den Xaradim-Stationen von 33456667 möglich. Wir benutzten einen anderen Transportkanal. Der Hauptkanal, der 33456667 mit meiner Heimatstation verband, war jedoch blockiert! Und zwar eindeutig von >dieser< Seite aus.“

„Ein Transportkanal blockiert? Wie kann das möglich sein?“ Naryavo hatte noch nie davon gehört, dass so etwas geschehen war. „Da gibt es wirklich keinen Zweifel?“

„Nein.“

„Bist du beim Stationsweisesten vorstellig geworden?“

„Ja. Es wird an der Behebung des Schadens gearbeitet. Ich frage nun dich, ob du nicht irgendetwas davon gehört hast!“

Naryavo sandte einen deutlichen, fast vehement zu nennenden Impuls der Verneinung. „Natürlich nicht! Glaubst du, ich hätte soeben dir gegenüber den Ahnungslosen gespielt?“

„Möglicherweise will der Stationsweiseste zunächst nichts von diesem Geschehen verbreiten, um keine Panik ausbrechen zu lassen. Was den Zustand dieser und anderer Xaradim-Station angeht, hört man ja durch besorgniserregende Gerüchte.“

„Jedenfalls kannst du davon ausgehen, dass ich mit dem Stationsweisesten sprechen werde“, versprach Naryavo.

Wenn Mantayans Darstellung den Tatsachen entsprach, war das der schlimmste Störfall im Betrieb des intergalaktische Netzes, von dem Naryavo in all den Äonen gehört hatte.

„Ich will dich jetzt nicht länger aufhalten“, sagte Mantayan. „Schon genug deines Zeitquantums habe ich verschwendet ...“

„Ja, das ist wahr. Aber wie heißt es so schön in der Überlieferung des Lichtbringers? Nicht allein für dich selbst und den Frieden deiner Seele lebst du, sondern um das Band zu halten, das Netz zu knüpfen und die Tore nicht zu schließen ...“

„Ja, diese altertümlichen Überlieferungen“, entgegnete Mantayan. Diese Äußerung war mit Impulsen so eindeutiger Gleichgültigkeit oder gar Geringschätzung vermischt, dass Naryavo unwillkürlich zurückschrak.

Fast scheint es so, als würde Mantayan jetzt bereits zu jenen gehören, die den Glauben an die Ewige Kette und die Möglichkeit ihrer Erhaltung verloren hatten. Bhalakiden, die nicht mehr davon ausgingen, dass ihr Volk eine wichtige, ja, einzigartige Mission im Kosmos zu erfüllen hatte, sondern die Xaradim-Stationen als langsam verfallendes Netzwerk betrachteten, dessen einzelne Komponenten immer häufiger und immer schwerer versagten.

Naryavo hatte diese Geisteshaltung immer verachtet.

Aber es war ihm nicht verborgen geblieben, dass sie sich mehr und mehr ausgebreitet hatte.

Schleichend.

Und damit trug sie dazu bei, dass sich genau jene düsteren Prophezeiungen bewahrheiteten, die die Angehörigen dieser Denkrichtung als unvermeidlich ansahen. 

Mantayan schien die Gedanken seines Gegenübers zu erraten. „Du weißt, dass ich nie zu der kleinen Gruppe jener gehörte, die im Hinblick auf die Erfüllung unserer Aufgabe den dazu notwendigen Optimismus verloren gab - doch mittlerweile frage ich mich, ob die Skeptiker nicht recht haben. Ich jedenfalls bin nicht bereit, meine Sinne vor der Realität zu verschließen, nur um nicht in Widerspruch mit der allgemeinen Doktrin zu geraten, die uns überliefert wurde.“

„Das ist Doktrinabweichung“, stellte Naryavo fest.

„Das mag sein. Aber ist dir wirklich nie in den Sinn gekommen, dass die Fraktion der Skeptiker vielleicht recht haben könnte und die Ewige Kette tatsächlich auf lange Sicht gesehen vor ihrem Ende steht?“

„So schlimm habe ich die Situation niemals eingeschätzt“, widersprach Naryavo. Er hat Recht, meldete sich gleichzeitig eine unüberhörbare Stimme in seinem Bewusstsein. Du hast es bisher nur nicht wahrhaben wollen, aber auch du hast die Zeichen doch bemerkt, wenn du in dich gehst und deine Erinnerungen ehrlich befragst.

Die Worte Mantayans drangen nun wie aus weiter Ferne in Naryavos Gedanken.

„Ich werde nicht mehr lange abwarten. Wenn sich meine Befürchtungen bestätigen, wonach sich meine Heimatstation absichtlich vom Rest der Ewigen Kette zu isolieren versucht, gehe ich fort.“

„Fort?“, echote Naryavo, dem jetzt erst mit voller Konsequenz bewusst wurde, wie ernst Mantayan seine bisherigen Worte gemeint hatte und wie tief ihn seine Erlebnisse im Zuge der Rückkehr zu seiner Heimatstation beeindruckt hatten.

„Ich möchte einfach nicht eines Tages aus meiner energetischen Traummeditation erwachen und isoliert sein.“

„Weißt du nicht, wie viele Bhalakiden in dieser Xaradim-Station leben, von der du behauptest, sie sei deine Heimat!“, stieß Naryavo geradezu entsetzt hervor.

Eine Verbundenheit zur jeweiligen Xaradim-Heimat war jedem Bhalakiden eigen. Zwar nutzten sie ausgiebig die fantastischen Reisemöglichkeiten, die ihnen das kosmische Transportnetz bot, aber dennoch blieb der überwiegende Teil von ihnen für die Dauer seiner Existenz seiner Xaradim-Heimat treu und kehrte immer wieder dorthin zurück. Selbst dann, wenn die Erfüllung wichtiger Aufgaben es notwendig machte, dass der Betreffende den überwiegenden Teil seines persönlichen Existenzzeitquantums an einem unvorstellbar weit entfernten Ort verbrachte.

Trotz all seiner Reisen, die Naryavo daher bis dahin hinter sich hatte, wäre es für ihn, wie für die meisten anderen Bhalakiden auch, unvorstellbar gewesen, seiner Xaradim-Heimat für immer den Rücken zu kehren.

Die Vorstellung allerdings, vom Rest des kosmischen Transport- und Kommunikationsnetzes abgeschnitten zu sein, ängstigte ihn beinahe noch mehr.

„Es wird schon nicht so schlimm kommen, wie du befürchtest“, äußerte Naryavo.

Aber nicht einmal er selbst glaubte daran, dass sich diese Aussage bewahrheiten würde.

*

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NACHDEM MANTAYAN SICH verabschiedet, seinen Körper in eine energetische Form verwandelt und durch die golden schimmernde Außenwand entschwunden war, musste sich Naryavo zu seinem Dienstort begeben. In seinem Fall war das die Steuerzentrale der Xaradim-Station, wo er für die Stabilisierung des Energieflusses im Transportsystem verantwortlich war. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um eine Überwachungsaufgabe, die allerdings seine volle Aufmerksamkeit verlangte und daher mental sehr anstrengend war. So anstrengend, dass nicht alle Bhalakiden dazu in der Lage waren, ihre geistigen Kräfte ausreichend zu sammeln und die nötige Konzentration aufzubringen. Das war erst nach einem intensiven Training möglich, das nur gut dreißig Prozent der Bewerber erfolgreich abzuschließen pflegten.

Die mentalen Anforderungen wurden dabei immer höher, denn die Zahl der Störungen im Energiefluss der Transportsysteme war im Verlauf des letzten Großzeitquantums aus unerfindlichen Gründen stark angestiegen. Zunächst hatte Naryavo geglaubt, dass es sich dabei lediglich um eine subjektive Wahrnehmung handelte, bei der es sich um erste Anzeichen einer instabilen mentalen Verfassung handeln konnte. Ein Alarmzeichen also, das bedeuten konnte, dass er auf längere Sicht seinen Dienst nicht mehr ausfüllen konnte.

Aber wenn dem so war, so schien die schnellere mentale Erschöpfung alle Bhalakiden zu betreffen, die innerhalb dieser Xaradim-Station mit derartigen Überwachungsaufgaben betraut waren.

Je länger Naryavo darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm Mantayans skeptische Haltung.

Gewiss, es war unter den Bhalakiden bislang nicht verpönt, ein Skeptiker zu sein. Aber Naryavo fühlte, dass sich dies schon sehr bald ändern konnte.

War es wirklich eine reale Gefahr, dass diese Xaradim-Station schon in relativ kurzer Zeit vom Rest des kosmischen Transport- und Kommunikationsnetzes abgekoppelt sein würde?

Bei dem Gedanken daran graute ihm ebenso wie Mantayan.

Aber noch schloss er die Option, deswegen seine Heimat-Xaradim-Station zu verlassen, so gut wie aus.

Naryavo schwebte durch die Decks der gewaltigen Station. Er strebte auf die Zentralregion hin. Dort befand sich der Kontrollraum, von dem aus sämtliche Transport- und Kommunikationsfunktionen der Xaradim-Station gefeuert wurden.

Nur die mental stabilsten Bhalakiden taten hier ihren Dienst. Naryavo gehörte zu ihnen.

In einem Konturensitz, der sich exakt in der Mitte der Zentrale auf einer kleinen Erhöhung befand, hatte Gantorayn Platz genommen, der seit mehreren Großzeitquanten die Position eines Stationsweisesten bekleidete.

Ein Stationsweisester zeichnete sich durch ein besonders hohes Niveau an mentaler Stabilität aus. Ihm oblag die letzte Entscheidungsbefugnis innerhalb der Xaradim-Station. Allerdings war es Tradition unter Bhalakiden, dass Entscheidungen, soweit das irgend möglich war, im Konsens getroffen wurden.

Von seiner Entscheidungsbefugnis machte ein Stationsweisester so wenig Gebrauch wie möglich, da dies der mentalen Stabilität des Gemeinwesens diente.

Die Überlieferung der Bhalakiden kannte eine Legende von einem Stationsweisesten, der sein Amt mit den Worten niederlegte: „Ich bin in eine Lage geraten, in der ich eine Entscheidung zu treffen hatte. Mit anderen Worten: Ich habe versagt.“

Der Stationsweiseste wandte sich an Naryavo.

„Es gibt Schwierigkeiten“, erklärte Gantorayn. „Die energetischen Schwankungen in den Transportkanälen sind besonders hoch. Du wirst dein ganzes Können brauchen.“

„Was ist die Ursache dieser Schwierigkeiten?“, verlangte Naryavo zu wissen.

„Bisher unerkannt“, war die ratlose Antwort des Stationsweisesten. „Es leisten viele Bhalakiden unserer geliebten Xaradim-Heimat doppelte Dienstzeitquanten, sonst würden wir den Netzbetrieb kaum aufrechterhalten können.“

„Ich werde tun, was ich kann.“

„Davon bin ich überzeugt.“

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NACH DEM ENDE DIESES Dienstzeitquantums fühlte sich Naryavo so ausgelaugt und energiearm wie nie zuvor. Er war kaum noch in der Lage, seine körperliche Form wieder naturgetreu zu konfigurieren. Nur mit äußerster Anstrengung gelang ihm dies, nachdem er in energetischer Form einen Großteil der Station durchdrungen hatte.

Er verzichtete darauf, zunächst in sein Privatgemach zurückzukehren, sondern suchte gleich einen jener Gemeinschaftsräume auf, in denen die Energiezufuhr in ritualisierter Form durchgeführt wurde. Für Bhalakiden war das ein soziales Ereignis ersten Ranges. Die Energiezufuhr stellte ein Gemeinschaftserlebnis dar und wurde öffentlich zelebriert.

Naryavo setzte sich in einen der Schalensessel. Darüber befanden sich trichterförmige Vorrichtungen, die der Energieübertragung dienten. Der Stoffwechsel der Bhalakiden brauchte nicht den Umweg über die Aufnahme und Verbrennung von Nahrungsmitteln um mit Energie versorgt zu werden. Stattdessen waren sie in der Lage, buchstäblich jegliche Form von Energie zu absorbieren und bis zu einem gewissen Grad auch zu speichern.

Aus dem trichterförmigen Energiespender schoss ein breiter, blassrosa schimmernder Strahl hervor und hüllte ihn in ein Feld ein.

Naryavo fühlte, wie die Kraft in ihn zurückkehrte.

Er lauschte den Gesprächen der anderen. Überall war von Schwierigkeiten mit dem Transport- und Kommunikationsnetz die Rede. Der Verbindung zu ganzen Galaxienhaufen war zeitweilig abgerissen.

„Es gibt ein Gerücht, aber ich weiß nicht, ob es stimmt“, sagte jemand.

„Was für ein Gerücht?“

„Angeblich steht unsere geliebte Xaradim-Heimat vor ihrem Ende.“

„Aber wie verträgt sich das mit ihrem Zustand der zeitlichen Permanenz?“

„Ich meinte das Ende ihrer Funktionsfähigkeit. Sie mag bis zum Ende der einen existieren, aber sie ist dann nicht viel mehr als ein bizarrer Materiebrocken an einem bizarren Ort ...“

Weitere Stimmen erhoben sich.

„Aber das kann nicht sein“, widersprach jemand.

„Aber wieso? Sehen wir nicht um uns herum, dass alles sich ändert? Dass unser gesamtes Universum dem Verfall unterworfen ist und in einen Zustand immer größerer Entropie zusteuert? Die thermodynamischen Gesetze sorgen für die Zunahme des Chaos' und es gibt nichts, was dagegen getan werden kann, außer den Verfall zu verlangsamen.“

„Dagegen steht die Permanenz der Xaradim-Station. Im Gegensatz zu einem meiner Vorredner möchte ich nämlich bemerken, dass die Existenz einer Xaradim-Station nur in einem funktionstüchtigen Zustand und nicht als verlassene Ruine denkbar ist.“

„Wie kommst du zu dieser Annahme?“

„Weil wir uns an einem Ort befinden, der für alle anderen Leben im Universum tödlich wäre. Ein Ort, der in einer Zone des Todes liegt. Alles, was sich hier befindet, unterliegt normalerweise den gigantischen Kräften des nahen Schwarzen Loches, und wenn die vollkommen funktionsunfähig wird, vielleicht sogar auf Energiestatus von Null sinkt, dann stürzt sie in die namenlose Schwärze, die sogar das Licht und die Zeit zu verschlingen scheint.“

„Niemand weiß, was mit einer funktionsuntüchtigen Xaradim-Station geschehen würde“, wandte ein anderer Sprecher ein. „Möglicherweise gibt es sogar Notfunktionen, die sie selbst bei Abwesenheit der Besatzung an ihrer Position hielten. Bis in alle Ewigkeit.“

Naryavo hatte inzwischen genug Energie in sich aufgenommen, um wieder aktiv werden zu können und sich in das Gespräch einzuschalten.

„Ich habe im Verlauf dieser vielstimmigen Unterhaltung immer wieder davon reden hören, dass die Xaradim-Station >verlassen< wird ... Das es überhaupt als Möglichkeit angesehen wird, um den gegenwärtigen Schwierigkeiten zu entgehen, löst in mir großen Schrecken aus. Was soll geschehen, wenn die Bhalakiden nicht nur dieser Station, sondern vielleicht hundertfach, tausendfach, millionenfach ihre Xaradim-Heimat verlassen? Das kann niemand wollen. Dieser Gedanke ist ...“ Naryavo zögerte. „Er sprengt den großen Konsens über unsere Aufgabe und unsere Bestimmung“, erklärte Naryavo dann entschieden.

Einige Augenblicke lang herrschte in Naryavos Umgebung betretenes Schweigen, während in anderen Bereichen des großen Gemeinschaftstraums die Debatten mit ungebremstem Temperament fortgesetzt wurden.

„Es ist nicht verboten, Gedanken zu äußern, die dem großen Konsens widersprechen“, wandte schließlich einer der anderen Bhalakiden ein.

„Nein“, bestätigte Naryavo. „Aber es ist unehrenhaft.“

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WAS HAST DU DA EIGENTLICH gesagt?, durchzuckte es Naryavo wie ein greller Blitz, nachdem er den Gemeinschaftsraum verlassen hatte. Er fühlte sich zum Bersten mit Energie geladen und obgleich seine geistigen Prozesse mit einem Höchstmaß an Brillanz und Präzision abliefen, hatte er ein Gefühl der Verwirrung. Warum hast du dich als Verteidiger des großen Konsenses aufgespielt? Angst vor der Realität? Angst vor der Veränderung? Vielleicht ist all das, woran du geglaubt hast, nichts anderes als ein schwacher Trost gegen die übermächtige Entropie ...

Naryavo hatte genügend andere Spezies kennengelernt, um zu wissen, dass die meisten von ihnen diese Furcht vor dem Chaos und dem Tod kannten. Ihre Lebensspannen waren oft so lächerlich gering wie ihre Reisemöglichkeiten, dass Naryavo diese Verzweiflung bei ihnen sehr gut verstehen konnte. Viele suchten Trost in religiösen Vorstellungen, die weit unter dem Niveau ihrer naturwissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit lagen und hielten doch daran fest.

So wie du in deinem Glauben an den großen Konsens?, meldete sich eine Stimme in Naryavo, die der Bhalakide am liebsten zum Schweigen gebracht hätte.

Unter normalen Umständen hätte Naryavo das ihm zur Verfügung stehende Zeitquantum zur Pflege sozialer Kontakte – auch über Galaxien hinweg – genutzt.

Oder aber zur inneren Versenkung und Meditation, vielleicht sogar mit der Vertiefung in die Überlieferung.

Aber nicht nach diesem Dienstzeitquantum, das er erlebt hatte.

Nicht im Anschluss an die deprimierende Lagebeurteilung durch den Stationsweisesten.

Naryavo suchte sich einen Zugang zum Hauptrechner, den jeder Bhalakide mühelos herstellen konnte. Er wollte wissen, wie häufig energetische Schwankungen in den Transport- und Kommunikationskanälen in der Vergangenheit gewesen waren.

Erstaunlicherweise waren sämtliche Informationen dieser Kategorie mit einem Geheimhaltungszugang versehen, unter den Naryavo nicht fiel. Er war kein Zugangsberechtigter.

Im dazugehörigen Datenprotokoll war ersichtlich, auf wessen Anweisung und in wessen Verantwortung dies geschehen war.

Es war niemand geringeres als Gantorayn, der Stationsweiseste persönlich.

Offenbar sollte der Ernst der Lage vor dem Großteil der Bhalakiden geheim gehalten werden.

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MANTAYAN SUCHTE NARYAVO während dessen Regenerationszeitquantum auf.

„Ich bin entschlossen zu gehen“, verkündete Mantayan seinen Entschluss.

Für Naryavo war dies nach dem letzten Gespräch, das er mit Mantayan geführt hatte, keine Überraschung mehr.

„Wohin wirst du dich wenden?“

„Es gibt so viele Galaxien ...“

„Du hast dich noch nicht entschieden?“

„Galaxis 33456667 wäre die erste Wahl – aber mittlerweile würde ich jede andere funktionierende Fernverbindung nehmen.“

„Dein Skeptikertum werde ich wohl nie verstehen.“

„Das brauchst du auch nicht.“

Die Verabschiedung war kurz. Sowohl Naryavo als auch Mantayan gingen davon aus, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie sich begegneten.

Sie irrten sich.

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EIN KLANGTEPPICH AUS sehr tiefen Tönen erfüllte den Raum. Mantayan hatte immer wieder Zeitquanten dafür geopfert, Musik zu komponieren – eine Kunstform, die sich auf vielen Welten unabhängig voneinander entwickelt hatte.

Die meisten anderen Bhalakiden verachteten diese Aktivität jedoch und hielten sie für die Aneignung einer primitiven Sitte. Mantayan hingegen hatte festgestellt, dass ihm das Komponieren von komplexen Klangbildern ein höheres Maß an mentaler Stabilität gab. Allerdings musste er aufpassen, dass davon nicht zu sehr Notiz genommen wurde. Andernfalls kam es vielleicht zu einem Konsens darüber, dass Mantayan seine Fähigkeiten nicht zur Genüge der Gemeinschaft der Heimat-Xaradim-Station zur Verfügung stellte. Schließlich liebte er es, in die Weiten des Alls zu verreisen, anstelle seinen Dienst gewissenhaft zu tun. Möglicherweise führte das dann dazu, dass seine Stabilitätstests wiederholt wurden und er dazu angehalten wurde, mehr und höhere Dienstzeitquanten abzuleisten.

Diese Aussicht schreckte ihn.

Den Auftrag der Erbauer zu erfüllen, darin sahen die Meisten seiner Artgenossen nicht nur den Existenzsinn der bhalakidischen Spezies, sondern auch ihren ganz persönlichen Lebensinhalt.

Für Bhalakiden wie den Stationsweisesten Gantorayn gab es da nicht die geringste Differenz.

Aber Mantayan sah das in Bezug auf seine eigene Person anders. Auf seinen Reisen hatte er viele Kulturen kennengelernt. Manche, die der Individualität des Einzelnen nicht den geringsten Stellenwert beimaßen, und andere, die genau darin den entscheidenden Faktor sahen, der eine Intelligenz von einem Tier unterschied.

Inzwischen war Mantayan zu der Erkenntnis gelangt, dass er ein Recht darauf hatte, sein Leben so zu führen, wie es seinen persönlichen Bedürfnissen entsprach. Der Kampf der Bhalakiden um die Stabilität der Seele und des kosmischen Kommunikations- und Transportnetzes war auf lange Sicht gesehen vergeblich. Davon war Mantayan zutiefst überzeugt. Die Naturgesetze sprachen einfach dafür. Die Entropie nahm den thermodynamischen Gesetzen folgend ständig zu, niemals aber ab, was so manchen Vertreter halbgebildeter, gerade der Primitivität entwachsenen Spezies, die kaum die ersten Schritte zur Erkenntnis hinter sich hatten und immerhin eine Ahnung vom Aufbau des Kosmos', seinem Anfang und seinem Ende besaßen, dazu verleitete, anzunehmen, die Zeit wäre gleichbedeutend mit der Entropiezunahme.

Mantayan speicherte die Daten seiner Komposition in seinem Gedächtnis ab, sodass er jederzeit in der Lage sein würde, sie exakt zu reproduzieren. Der Klangteppich verstummte daraufhin.

Gibt es sonst noch etwas, was dir hier etwas bedeutet?, fragte er sich.

Die Antwort war eindeutig.

Nein.

Mantayan verwandelte sich in Energie und begab sich zum Transportkanal. Das Überwachungssystem stellte seine Identität fest. Eine Reise über ein paar Milliarden Lichtjahre war wirklich keine große Sache.

Die Aufgabe der eigenen Xaradim-Heimat mit dem Vorsatz, nicht zurückzukehren, schon.

Es muss sein, dachte Mantayan.

Im nächsten Moment erschien eine Folge von Symbolen auf einem Projektionsfeld, die nichts anderes bedeuteten, als dass der Transportkanal nach Galaxis 33456667 derzeit blockiert war.

Unbehagen stieg in Mantayan auf.

Das war es, das er befürchtet hatte.

Mantayan versuchte ein anderes Ziel anzuvisieren.

Auch das erwies sich als unmöglich.

Das darf nicht wahr sein!, durchzuckte es ihn. So ist der Verfall weitaus schneller fortgeschritten, als ich es in meinen schlimmsten Albträumen befürchtet habe!

Das intergalaktische Transportsystem war völlig blockiert. Von dieser Xaradim-Station aus gab es keinen Zugang mehr zur Ewigen Kette.

Abgeschnitten vom Universum war er nun. Das, was er am meisten gefürchtet hatte, war eingetreten. Verzweiflung erfüllte ihn. Das darf einfach nicht wahr sein! Ich hätte nicht hierher zurückkehren dürfen! Es war ein verfluchter Fehler ...

Aber all diese Gedanken führten zu nichts. Dasselbe galt für den Zorn und die Wut, die in ihm aufkeimten und für die es keinen wirklich gerechtfertigten Adressaten gab. Welchen Sinn hatte es, auf ein blindes Schicksal und ein kalt funktionierendes Universum zornig zu sein? Was brachte es ein, die eigenen Fehlentscheidungen zu verfluchen? Du wirst dich mit deiner neuen Lage abfinden müssen ...

Mantayan ahnte nicht, dass die Ursache dieser Störung im intergalaktischen Transportsystem der Bhalakiden keineswegs nur in den seit Langem bekannten Schwierigkeiten lag, die im Laufe der Zeit bei der Wartung und Erhaltung des Netzes aufgetreten waren ...

Es gab eine Ursache, von der Mantayan ebenso wenig etwas ahnte wie alle anderen Bhalakiden auf der Xaradim-Station.

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IN DER ZENTRALE DER Xaradim-Station wurde der Totalausfall der Transportkanäle gemeldet.

Die diensthabenden Bhalakiden glaubten erst, ihren Sinnen nicht trauen zu können.

Natürlich hatte es in den letzten Lang- und Mittelzeitquanten immer wieder einmal Probleme mit einzelnen Verbindungen gegeben, weil das System im Laufe der Äonen offenbar immer fehleranfälliger und die Wartung dafür umso komplizierter und aufwändiger geworden war.

Aber dass eine Station komplett vom Rest des Universums abgeschnitten wurde, weil ihre sämtlichen Transportkanäle auf einmal ausfielen – dafür gab es keinen vergleichbaren Fall, der in den umfangreichen Datenbänken verzeichnet gewesen wäre.

„Wir müssen den Stationsweisesten und seinen Stellvertreter sofort verständigen!“, verlangte der Diensthabende mit der höchsten Rangstufe.

„Sie haben beide gegenwärtig ihr Regenerationszeitquantum genommen“, erwiderte einer der anderen anwesenden Bhalakiden.

„Dann werden sie ihre Regeneration unterbrechen müssen“, lautete die Antwort.

Den wenigsten Bhalakiden in der Zentrale war in diesem Augenblick klar, dass die schwerste Krise begonnen hatte, in der sich die Xaradim-Station und ihre Besatzung jemals befunden hatten.

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5. Kapitel: Naryavos Vergangenheit

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Ein schwach energetischer Alarmimpuls riss Naryavo aus seiner Meditation heraus, in der er vergeblich versucht hatte, seine seelische Stabilität wiederherzustellen.

Naryavo war sofort wieder im Hier und Jetzt. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Frage, was wohl die Ursache dieses Alarms sein mochte.

Über einen Kommunikationskanal setzte sich im nächsten Augenblick der Stationsweiseste mit ihm in Verbindung.

„Ich spreche zu allen, die über die Stabilitätsstufe verfügen, die sie zum Dienst auf Kontrollbrücken befähigt. Bitte dringend an den Dienstorten melden. Ein zusätzliches, unbegrenztes Dienstzeitquantum wird angeordnet.“

Naryavo stutzte.

Der Stationsweiseste traf nicht nur eine Entscheidung.

Er ordnete an und machte dabei nicht einmal den Versuch, einen Konsens mit den Betroffenen herzustellen.

Das war ungewöhnlich und konnte nur als ein Zeichen dafür gewertet werden, dass tatsächlich etwas völlig Unvorhergesehenes geschehen war. Etwas noch nie da Gewesenes. Eine Gefahr von unvorstellbaren Dimensionen ... Naryavos Gedanken rasten nur so. Er ermahnte sich selbst zur Ruhe und Gelassenheit.

Zeige deine Stabilität, die dich zum Dienst in der Zentrale befähigte, versuchte er sich selbst anzuweisen.

Gleichzeitig aber bohrten die Fragen in ihm.

Hatte der Augenblick der großen Veränderung begonnen?

Alles in Naryavo sträubte sich gegen den Gedanken, Mantayans Skeptizismus Recht geben zu müssen. Aber nun schien tatsächlich all das einzutreten, wovor er gewarnt hatte.

Das einzig Positive an dieser Situation war, dass Naryavo keine weitere Zeit mehr blieb, um länger darüber nachzudenken. Sein Friedenzeitquantum war beendet, er war jetzt wieder im Dienst seiner Xaradim-Heimat.

„Ein kleines Rädchen innerhalb einer großen Maschine“, so war ihm ein Sprichwort noch in Erinnerung, das ihm auf einer entfernten Welt in einer unvorstellbar weit weg gelegenen Galaxis ein Insektoide gesagt hatte, dessen Volk noch tief in der Epoche der Radmechanik steckte und gerade die Dampfmaschine erfunden hatte.

Naryavo musste jetzt daran denken. Wie könnte man dieses Sprichwort auf bhalakidische Verhältnisse ummünzen?, kam ihm plötzlich ein Gedanke, während er bereits seine körperliche humanoid-androgyne Form aufgelöst und als Lichtpunkt durch die golden schimmernde, kuppelartige Decke seines Privatraums gedrungen war.

Innerhalb von Augenblicken durchschoss er die zahllosen Decks auf dem Weg zur Zentrale.

„Alle auf ihre Posten! Es herrscht höchste Alarmstufe!“, meldete ein Impulsgeber. Diese energetischen Impulse nahm Naryavo direkt auf und vermochte sie innerhalb eines Sekundenbruchteils zu entschlüsseln. Das war nur einer der zahlreichen Kommunikationskanäle, über die ein Bhalakide verfügte, dem die Angehörigen äußerlich sehr ähnlich erscheinenden Völker manchmal wie blind und taub erschienen.

Eine weitere Impulsfolge setzte ihn innerhalb weniger Augenblicke über das in Kenntnis, was den Alarm ausgelöst hatte.

Ein Objekt näherte sich der Xaradim-Station.

Wie betäubt näherte sich Naryavo seiner Konsole. Das, was ihm soeben gemeldet worden war, musste von ihm erst einmal verarbeitet werden.

„Wie kann das sein?“, fragte Naryavo, nachdem er seinen Platz erreicht und seine Konsole aktiviert hatte.

Aber niemand achtete auf ihn.

Keiner der Bhalakiden, die gegenwärtig in der Zentrale ihrer Xaradim-Heimat Dienst taten, hätte dafür im Übrigen auch nur den Ansatz einer Erklärung gefunden. Was da im Begriff war zu geschehen, sprengte jedes Denk-Tabu.

Jeden Konsens, dachte Naryavo und fügte in Gedanken noch bitter hinzu: Das große Nichts für den großen Konsens!

Unter dem großen Nichts verstand die Philosophie der Bhalakiden die Zeit vor dem Urknall – wobei der Begriff Zeit in diesem Zusammenhang wohl nur Hilfsweise verwendet werden durfte. Ein halbes stimmiges Bild, um sich etwas vorzustellen, das jegliche Vorstellung, jegliches Denken sprengte. Wenn man jemandem oder etwas die Nicht-Existenz wünschte, so gab ein Bhalakide diese Redewendung von sich, nur dass er sich gehütet hätte, sie auf so etwas Erhabenes wie den großen Konsens anzuwenden.

„Das Objekt vermindert die Geschwindigkeit“, meldete einer der diensthabenden Bhalakiden. „Es wird in vier Kurzzeitquanten auf die Außenhülle unserer Xaradim-Station auftreffen.“

Auf einer großen, dreidimensionalen Holoprojektion, die in der Mitte der Zentrale direkt über dem Kopf des Stationsweisesten schwebte, wurde die Position dieses geheimnisvollen Objekts durch eine schematische Darstellung veranschaulicht. Jeder der anwesenden Bhalakiden konnte, sofern er dies wollte, die Projektion direkt in seinen vorderen Hirnlappen hineintransferieren lassen, sodass sie ihm ständig vor Augen war.

„Warum wird das Objekt nicht von unseren optischen Sensoren erfasst?“, fragte Gantorayn, der Stationsweiseste mit einer für ihn ungewöhnlichen Ungeduld. Die Lage musste tatsächlich sehr ernst sein, wenn selbst seine seelische Stabilität bereits so offensichtlich erschüttert war.

„Eine optische Ortung ist unmöglich“, erklärte der für die Funktionsfähigkeit der Ortungssysteme verantwortliche Bhalakide.

„Erklärung!“, verlangte der Stationsweiseste.

„Bislang negativ“, gab der Bhalakide zurück. „Weder das Rechnersystem noch irgendeiner der im Ortungsnetzwerk an Bord der Station tätigen Diensthabenden kann sich die Tatsache erklären, dass dieses Objekt optisch unsichtbar ist, während wir andererseits seine Energiesignatur sehr deutlich anmessen können.“

„Was werden wir jetzt tun?“, fragte Naryavo in die entstehende Stille hinein, während sämtliche in der Zentrale befindlichen Bhalakiden wie gefangen von dem sich nähernden Objekt waren, von dem sie - entweder auf der großen Holokugel oder auf der Hirnlappenprojektion - nichts weiter als einen Positionsmarker zu Gesicht bekamen, obwohl unter normalen Umständen eine optische Erkennung längst möglich gewesen wäre.

Naryavos Frage stand im Raum. Er hatte damit ausgesprochen, was jetzt wohl den meisten Bhalakiden in der Zentrale durch den Kopf ging.

Aber es schien keine Antwort zu geben.

Selbst der Stationsweiseste schien von Ratlosigkeit gezeichnet zu sein.

Naryavo bemerkte, dass Gantorayn sogar seine Gesichtszüge nicht mehr unter Kontrolle hatte. Normalerweise waren die Gesichtszüge der androgyn erscheinenden Bhalakiden eher gleichförmig und wiesen im Übrigen auch kaum individuelle Unterschiede auf, was Angehörigen anderer Völker es manchmal sehr schwer machte, sie zu unterscheiden.

Im Allgemeinen verzichteten Bhalakiden fast völlig darauf, ihre Emotionen über den Gebrauch der Gesichtsmuskulatur mitzuteilen, da dies als ein Kennzeichen barbarischer Völker galt.

Nur, wenn die emotionale Betroffenheit sehr hoch war, konnte man dies einem Bhalakiden unter Umständen ansehen.

Naryavo beobachtete die Positionsveränderung des Objekts.

Es schien zu treiben. Die gemessenen Werte bestätigten dies. Die Antriebssysteme, über die es zweifellos verfügte, wie das anfängliche Bewegungsmuster verriet, waren offensichtlich abgeschaltet worden und nun trieb es – was immer es auch sein mochte – in die Todeszone des Schwarzen Lochs hinein.

Bisher hatte es als gesicherte Erkenntnis gegolten, dass niemand außer den Bhalakiden dazu in der Lage war, den Erkenntnishorizont eines Schwarzen Lochs zu überschreiten und eine Xaradim-Station zu erreichen.

Auf Grund dessen gab es in den Stationen auch so gut wie überhaupt keine Sicherheitsvorkehrungen oder Verteidigungsanlagen. Wozu auch? Man hatte schließlich in dem Glauben gelebt, sich an einem Ort zu befinden, der für sämtliche anderen Spezies dieses Universums nicht nur eine unüberwindbare Grenze im physikalischen Sinn darstellte.

Es war auch die Grenze ihrer Verständnisfähigkeit, die hier überschritten wurde.

Gantorayn, der Stationsweiseste brachte die deprimierende Lage auf den Punkt.

„Wer immer es auch geschafft hat, den Ereignishorizont zu überschreiten, um herzugelangen, muss über eine Technologie verfügen, die der unseren oder der der Stationenschöpfer ebenbürtig ist. Sollte dieses Objekt von einer feindlichen Intelligenz ausgesandt worden sein, so haben wir keine Möglichkeit, die Station zu schützen und dem Auftrag der Erbauer treu bleiben.“

„Wir sollten angesichts dieser Lage sämtliche Raumschiffe aus den Hangars ausschleusen!“, verlangte einer der anwesenden Bhalakiden.

Naryavo kannte ihn.

Es handelte sich um Dambiayn, den Stellvertreter des Stationsweisesten.

Die goldenen Schiffe der Bhalakiden verfügten über mächtige Verteidigungssysteme, aber diese waren für den Gebrauch außerhalb der dunklen Zone um das Schwarze Loch konzipiert. Die enorme Schwerkraft, die nicht einmal das Licht entweichen ließ, sorgte auch dafür, dass jegliche Formen von Geschossen nicht in gewohnter Weise funktionierten. Das galt für Projektile ebenso wie für hochkonzentrierte Energiestrahlen. Letztlich landete jeder Strahlenschuss, jedes Wuchtgeschoss und was man sich noch an Vernichtungstechnologien denken konnte, im dunklen Orkus des Schwarzen Lochs.

„Dein Vorschlag läuft auf ein Verlassen der Xaradim-Station hinaus“, stellte Gantorayn fest.

„Diese Option sollten wir nicht ausschließen“, erklärte Dambiayn.

In den Augen des Stationsweisesten blitzte es plötzlich sehr grell auf. Ein optisches Signal dafür, dass er sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befand. Andererseits bedeutete es auch, dass er auf seine Autorität bestand und nicht gewillt war, es zu einem langen Palaver zur Erzielung eines großen Konsenses kommen zu lassen.

Dem Stationsweisesten stand dieses Recht zu.

Das diente insbesondere dazu, in Zeiten unmittelbarer Gefahr die Entscheidungsbereitschaft der Stationsbesatzung aufrechtzuerhalten und nicht durch langwierige Debatten zu lähmen, die ansonsten unweigerlich stattgefunden hätten. 

„Noch wissen wir nur eins über dieses Objekt“, stellte Gantorayn fest. „Es ist nicht natürlichen Ursprungs. Kein Materiebrocken oder Ähnliches, der hinter den Ereignishorizont geschleudert wurde und auf bisher unerklärliche Weise der Schwerkraft des Schwarzen Lochs entging. Nein, es ist ein Mechanismus. Alle Messdaten und insbesondere die angemessenen Energiesignaturen legen das nahe. Möglicherweise sind Intelligenzen an Bord dieses Objekts, sodass man es als Raumschiff betrachten könnte. Aber das wissen wir nicht, genauso wenig wie wir wissen, ob das Objekt vielleicht selbst intelligent ist.“

„Immerhin scheint hier zielgerichtetes Handeln vorzuliegen“, stellte Naryavo fest.

„Nicht einmal das ist zu diesem Zeitpunkt tatsächlich bewiesen“, unterbrach ihn jedoch der Stationsweiseste Gantorayn. „Geschweige denn, dass wir eine Aussage darüber machen könnten, ob das Objekt mit friedlicher oder feindlicher Absicht zu uns gesandt wurde.“

„Es spricht nicht gerade für eine friedliche Absicht, sich im Schutz einer Tarnung an seinen Zielort heranzuschleichen“, stellte sein Stellvertreter Dambiayn fest. „Meiner Ansicht nach sprechen alle Anzeichen für einen Angriff. Es wäre zu überlegen, nicht wenigstens einen Warnruf in das kosmische Netz zu senden.

Eins steht fest, sollte sich die Angriffshypothese bewahrheiten, dann könnte aus unserem lokalen Problem sehr schnell eine Krise werden, die große Teile der Ewigen Kette in Mitleidenschaft zieht. Vielleicht ist sogar das gesamte kosmische Netz betroffen ...“

„Alles nur haltlose Hypothesen“, tadelte Gantorayn. „Wir werden abwarten, was geschieht. Und in den bis zum Kontakt verbleibenden Kurzzeitquanten sollen so viele Ressourcen wie möglich für die Ortung des umliegenden Raumsektors verwendet werden.“

Ja, dachte Naryavo. Was, wenn dieses Objekt nichts weiter als die Vorhut ihrer gigantischen getarnten Armada ist?

Auch das war nicht auszuschließen.

Es war ja denkbar, dass sich der Umstand, dass sich das Objekt hinter dem Ereignishorizont befand, negativ auf die Tarnung auswirkte und es im normalen Raum überhaupt nicht zu orten gewesen wäre.

Naryavo stellte sich die Frage, was den Stationsweisesten Gantorayn wohl zu seinem abwartenden, sehr passiven Kurs bewog.

Verweigerte er sich einfach der Erkenntnis des Offensichtlichen?

Naryavo erinnerte sich daran, dass Mantayan ihm im Grunde genau dasselbe vorgeworfen hatte, als er sich von ihm verabschiedet und den vergeblichen Versuch gestartet hatte, die Xaradim-Station zu verlassen.

Was ist es, dass uns in unserer Mehrheit so lethargisch gemacht hat?, ging es Naryavo durch den Kopf. Der Umstand, dass wir niemals selbst um unsere Bestimmung kämpfen, niemals selbst darum ringen müssen unserer Existenz einen Sinn zu verleihen?

Vielleicht war das die Wurzel jenes Übels, von dem Naryavo durchaus zugab, dass es auch ihn selbst betraf.

Nicht einmal ihre Götter hatten die Bhalakiden selbst erfinden müssen. Die Überlieferung berichtete davon, wie sie von den Schöpfern der Xaradim-Station ihren Auftrag erhalten hatten. Der Auftrag, der letztlich darauf hinauslief, dass sie etwas erhalten und warten sollten, das sie gar nicht bis ins letzte Detail verstanden.

Sie konnten die Technologie der Erbauer zwar bedienen, aber es war eben nicht ihre eigene Technik. Niemals waren sie nur ansatzweise dazu in der Lage gewesen, etwas auch nur annähernd Vergleichbares zu schaffen wie sie - die genialen Wissenschaftler und Ingenieure einer Spezies, von der nicht einmal der Name bekannt war.

*

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MANTAYAN HATTE EINE ganze Weile in seinem Privatraum zugebracht, um mit Hilfe von meditativen Übungen die innere Stabilität zurückzugewinnen, die seit seinem gescheiterten Versuch, die Xaradim-Station zu verlassen, sichtlich gelitten hatte.

Ich habe zu lange gezögert, ging es ihm durch den Kopf. Und dieses Zögern konnte er sich nicht verzeihen, es war genau das eingetreten, was er prophezeit hatte.

Du hättest niemals in deine Xaradim-Heimat zurückkehren dürfen!, durchzuckte es ihn. Jetzt war er ein Gefangener.

Gefangen auf einer Xaradim-Station, die offenbar bereits ein Opfer der allmächtigen Entropie geworden war, die irgendwann dafür sorgen würde, dass die Ewige Kette riss und das kosmische Kommunikations- und Transportnetz sich schließlich auflöste.

Es bestand nur noch die Möglichkeit, mit einem Raumschiff aufzubrechen, um irgendwann nach einigen Großzeitquanten die hoffentlich funktionsfähige Xaradim-Station einer Nachbargalaxis zu erreichen.

Mantayan vertiefte sich in einige Stellen aus der bhalakidischen Überlieferung, um sich abzulenken und den psychischen Stabilitätsfaktor zu erhöhen. Auf ewig seien die schwarzen Augen der Sterneninseln in der ewigen Kette verbunden, sodass der Weg des Reisenden leicht wie ein Windhauch sei ... Jetzt erschienen ihm diese Zeilen, fast wie ein Hohn.

Warum war es nie gelungen, mehr über die legendären Erbauer herauszufinden, die für die Erschaffung der Xaradim-Station verantwortlich waren? Und wohin waren sie verschwunden? Warum hatten sie auf Dauer offenbar kein Interesse daran gehabt, ihr kosmisches Netz selbst zu betreiben, sondern hatten dafür die Bhalakiden eingesetzt?

Das Rätselhafteste an den Erbauern war, dass sie nur wenige Zeugnisse ihrer Gegenwart zurückgelassen hatten.

Mantayan erreichte zeitweilig einen Zustand geistiger Versenkung, der ihm die vollständige Rückgewinnung seiner inneren Stabilität erlaubte. Ein Gefühl der Gleichgültigkeit begann sich in ihm auszubreiten und er genoss dies sogar.

Welchen Sinn machte es, innerlich gegen Zustände zu rebellieren, die nicht zu ändern waren.

Die Entropie nagte an allem. Die Xaradim-Stationen waren schon lange nicht mehr das, was sie mal gewesen waren, und es war vielleicht das Beste, dies einfach anzuerkennen.

Aus Erfahrung wusste Mantayan, dass es nicht lange dauern würde, bis sich wieder andere Gedanken in ihm regten und sein Gefühl der Übereinstimmung mit dem Kosmos und das seiner Umgebung in Frage stellten.

Nach Beendigung seiner Meditation suchte Mantayan einen der Gemeinschaftsräume auf, um sich Energie zuzuführen.

Ihm fiel auf, dass verhältnismäßig wenig Bhalakiden anwesend waren und die Möglichkeiten einer vielfältigen Energiezufuhr in netter Gesprächsatomsphäre nutzten.

Und das, obwohl jetzt gerade eigentlich ein traditionelles Hochfrequenzzeitquantum für die Energiezufuhr verstrich.

„Du hast es tatsächlich nicht gehört?“, fragte ihn ein anderer Bhalakide erstaunt, dessen Energiespenderstrahl soeben verebbt war. Mantayan hatte ihm sein Erstaunen über die geringe Anzahl von Energieaufnehmenden geäußert.

„Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst“, erklärte Mantayan ruhig und gefasst.

Der Bhalakide berichtete Mantayan von dem Alarm, der inzwischen stattgefunden hatte. Mantayan schwieg daraufhin. Die Tatsache, dass er nicht zu jenen gehörte, die darüber informiert worden waren, verdeutlichte nur, wie gering seine Qualitäten im Hinblick auf psychische Stabilität eingeschätzt wurden.

Seine Anwesenheit war derzeit nirgendwo notwendig. Die Tatsache, dass man ihn offenbar im Augenblick schlicht und ergreifend nicht brauchte, um dem so unvermittelt aufgetauchten Problem zu begegnen, verletzte ihn. Aber hatte er es nicht letztlich so gewollt und alles dafür getan, dass man ihn zu möglichst wenigen Dienstzeitquanten heranzog?

Es schien Mantayan so, als würde es in jedem Bhalakiden eine Art inneren Trieb geben, der sie dazu brachte, sich dem Dienst an den Xaradim-Stationen verpflichtet zu fühlen. Vielleicht haben es die Erbauer der Stationen sogar geschafft, dies auf irgendeine Weise in unseren genetischen Code einzuspeisen, überlegte Mantayan. Die biotechnologischen Fähigkeiten dazu mussten sie zweifellos gehabt haben.

„Das Auftauchen des fremden Objekts bedeutet zumindest eine Abwechslung“, war einer der anderen im Gemeinschaftsraum anwesenden Bhalakiden überzeugt, der bereits sein zweites Energiequantum mit großem Genuss zu sich genommen hatte. Mantayan hatte gehört, dass ein übermäßiges Zuführen von Energie zu einer gefährlichen Überladung führen konnte. Das interne Datennetz der Xaradim-Station warnte davor, da es bei den betreffenden Bhalakiden zu irreparablen Schäden führte. Von seinen Reisen wusste Mantayan, dass die Sucht nach übermäßiger Energiezufuhr in manch anderen Stationen bereits zu einem ernstzunehmenden Problem geworden war, das für den Ausfall von für den Betrieb der Station wichtigen Bhalakiden gesorgt hatte.

Vielleicht war das eine andere Art der Flucht vor der Gleichförmigkeit, als Mantayan sie betrieb, der die entferntesten Punkte des Netzes bereist hatte, um der Lethargie zu entgehen.

Andere Bhalakiden stimmten dem Sprecher zu und äußerten, dass sie ebenfalls im Auftauchen des unbekannten Objekts eine willkommene Abwechslung sahen. Allerdings bemängelten sie, dass es der Stationsweiseste verabsäumt hätte, sie alle über einen Datenstrom ausgiebig daran teilhaben zu lassen.

„Angeblich aus Ressourcenmangel!“, höhnte ein Bhalakide. „Aber das kann ich mir kaum vorstellen.“

„Vielleicht wird insgeheim mit einem Angriff gerechnet, auch wenn dies noch kaum jemand öffentlich auszusprechen wagt“, gab jemand anderes zu bedenken. „Schließlich ist es den Fremden auch gelungen, die Grenze des Ereignishorizontes zu überschreiten.“

„Dann wäre die goldene Außenhülle unserer Xaradim-Heimat die letzte Barriere, die sie wohl auch kaum zu überwinden vermögen!“

In diesem Punkt herrschte allgemeine Einigkeit. Niemand machte sich Sorgen darüber, dass die Xaradim-Station keinerlei Verteidigungsanlagen besaß, da sie sich in einer dermaßen lebensfeindlichen Umgebung befand, die normalerweise jeglichen Angriff ohnehin ausschloss.

Und es gab noch einen Grund für die Zuversicht, die unter den Bhalakiden überwog.

„Es gibt schließlich die zeitliche Permanenz!“, stellte einer von ihnen selbstgewiss fest. Es klang wie ein Gebet, dass den Sinn hatte, sich in kritischer Lage der Hilfe einer höheren Macht zu vergewissern. „Da die Xaradim-Station immer existiert, vom Beginn der Zeiten an bis zum Zustand der größtmöglichen Entropie, wie er am Ende des Universums herrschen wird, so ist anzunehmen, dass dies auch für uns Bhalakiden gilt – denn wer sollte sonst die Xaradim-Stationen erhalten.“

„Die Frage ist einfach nur, ob erstens die Permanenz tatsächlich für jede einzelne Xaradim-Station oder nur für die gesamte Ewige Kette als Ganzes gilt, was nicht ausschließen würde, dass es zwischendurch zu Ausfällen einzelner Station kommen könnte!“, mischte sich Mantayan ein. Ausfällen hatte er gesagt. Eine sehr euphemistische Beschreibung dessen, was man auch Vernichtung hätte nennen können, überlegte Mantayan, ehe er fortfuhr: „Die andere Frage, die wir stellen sollten, ist, ob die Permanenz möglicherweise nur für die Stationen – aber nicht für uns Bhalakiden gelten könnte.“

*

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DIE KURZZEITQUANTEN rannen dahin. In der großen Projektion in der Zentrale war zu sehen, wie sich das Objekt immer weiter näherte.

„Ortungsversuch durch die optischen Sensorsysteme weiterhin gescheitert!“, hörte Naryavo wie aus weiter Ferne eine Meldung, die ihn aus seinen Gedanken herausriss. „Distanz verringert sich. Zusammentreffen steht unmittelbar bevor.“

Eine andere Meldung besagte, dass sämtliche Transportkanäle zu anderen Xaradim-Stationen nach wie vor blockiert waren. Dasselbe galt für die Kommunikationswege zur Ewigen Kette.

Es war also nicht einmal möglich, die Besatzungen der anderen Stationen effektiv zu warnen.

Gantorayn hielt es nicht mehr auf dem hervorgehobenen Schalensitz des Stationsweisesten. Er erhob sich und schloss die Augen. Die Hirnlappenprojektion sorgte dafür, dass er einen sehr intensiven Eindruck davon hatte, mit welcher Geschwindigkeit sich das fremde Objekt der Station Xaradim näherte.

Sämtliche Kontaktversuche waren erfolglos geblieben.

Auf welcher Frequenz und in welchem Signalcode die Besatzung der Xaradim-Station auch gefunkt hatte – ihre Botschaften waren ungehört im Jenseits des Ereignishorizontes verhallt.

Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die andere Seite diese Signale überhaupt empfangen, geschweige denn decodiert hatte.

Vielleicht waren sie den Fremden auch einfach nur gleichgültig.

Betretenes Schweigen herrschte in der Zentrale, als das fremde Objekt gegen die Außenhülle der Station stieß. Das Objekt hatte zuvor so stark abgebremst, dass der Aufprall beinahe einer sanften Landung glich.

Die Außensensoren der Station registrierten diese „Berührung“. Sie registrierten ebenso, dass Dutzende von tellerförmigen Gegenständen an der Außenhülle angebracht wurden und dabei aus dem Tarnfeld heraustraten, das das Objekt selbst auch jetzt noch schützte.

„Es scheint sich um Module zu handeln“, stellte Naryavo nach einer rechnergestützten Kurzanalyse gegenüber dem Stationsweisesten fest.

„Welchem Zweck dienen sie?“, verlangte Gantorayn zu wissen.

„Negativ. Dazu liegen keine Erkenntnisse vor. Fest steht nur, dass sie über starke magnetische Kraftfelder verfügen, die sie auf der Oberfläche unserer Xaradim-Heimat fixieren.“

In der großen, über den Köpfen der Bhalakiden schwebenden Projektion wurde die betreffende, von den optischen Außensensoren der Station erfasste Region auf der golden schimmernde Oberfläche erfasst. Das Objekt selbst blieb erstaunlicherweise immer noch unsichtbar, aber man konnte erahnen, welche Ausmaße es hatte und wo es sich befand, denn die tellerförmigen mit Magnethaltungen fixierten Module bildeten ein Oval. Laut den Messdaten begrenzten sie exakt die Auftrefffläche des unsichtbaren Phantoms, dessen eigene Außenhülle sich wiederum perfekt an die Oberfläche der Station anschmiegte.

Es war nicht feststellbar, woraus diese Oberfläche bestand.

Die Instrumente der Bhalakiden zeigten lediglich an, dass dort etwas war. Eine genaue Analyse des Materials, die vielleicht Aufschlüsse über die Herkunft des Objekts hätte geben können, blieb weiterhin negativ.

„Wir haben es mit einem Raumschiff zu tun!“, erklärte Dambiayn plötzlich in die angespannte Stille hinein.

„Dann sind die Fremden jetzt im Begriff, auf ihre Weise anzudocken“, ergänzte Gantorayn.

Dambiayns Ansicht unterschied sich in einem wesentlichen Detail von dem des Stationsweisesten. Er sagte: „Andocken? Das könnte der erste Schritt zu einer Enterung der Station sein.“

„Oder zu einem friedliche Kontaktversuch“, widersprach Gantorayn und gab damit wohl seiner innersten, beinahe schon verzweifelten Hoffnung Ausdruck.

Dambiayn widersprach.

„Mit Verlaub, es gibt nicht viel, was wir über die Besatzung des Phantomschiffs sagen können. Aber so viel dürfte doch klar sein: An Kontakt sind sie nicht interessiert, Stationsweisester!“ Er machte eine Pause. Alle Blicke und alle energetischen Sinne waren in diesem Minimalzeitquantum auf den Stellvertreter gerichtet, der schließlich noch hinzufügte: „Lass die Schiffe klarmachen, Stationsweisester! Schon jetzt scheint ein Teil unserer Systeme auf geheimnisvolle Weise blockiert zu sein – wahrscheinlich durch den Einfluss des Phantomschiffs. Es könnte sein, dass es zu einer Evakuierung zu spät ist, wenn wir noch lange zögern.“

Gantorayn überlegte.

Nach mehreren Minimalzeitquanten erklärte er schließlich seine Entscheidung.

„Ich habe deutlich gemacht, dass ich keinen großen Konsens anstrebe, sondern auf der Vollmacht des Entscheiders bestehe“, so begann er, um jeden Zweifel daran auszuräumen, dass er nicht bereit zu weiteren Diskussionen war. „Die Schiffe sollen startklar gemacht werden. Aber es werden noch keine Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet, um gegenüber den Fremden den Eindruck zu vermeiden, wir würden uns in Panik davonmachen, bevor dazu ein Anlass gegeben ist.“

„Es ist kein Anlass gegeben?“, echote Dambiayn fassungslos. „Bei allem Respekt, aber das kann nicht dein Ernst sein, Stationsweisester ...“

„Du sagst es!“, donnerte Gantorayn und verzog dabei seine Mundwinkel auf eine Weise, die unter Bhalakiden schon fast als unbeherrscht galt. „Ich bin der Stationsweiseste, ich bestehe auf meiner Entscheidungsgewalt und es steht dir nicht zu, dies in Frage zu stellen.“

„Das tue ich auch nicht!“

„Schweig!“ Es herrschte Stille. Der Stationsweiseste wandte den Kopf und schloss die Augen. Endlich fuhr er fort: „Ich werde versuchen, mit den Fremden Kontakt aufzunehmen. Es ist ein letzter Versuch, aber ich bin es der Erfüllung jener großen Aufgabe, die uns die Erbauer stellen, schuldig. Wir sollen die Stationen erhalten und warten – und sie nicht bei der erstbesten Gefahr im Stich lassen. Und das zu einem Zeitpunkt, da wir noch nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob es sich tatsächlich um eine Gefahr handelt, oder nur um etwas, das man als Kommunikationsproblem bezeichnen könnte.“ Gantorayn wandte sich an seinen Stellvertreter Dambiayn. „Falls ich bei dem Versuch einer Kontaktaufnahme scheitern und möglicherweise sogar in den Zustand der Nichtexistenz übergehen sollte, so wirst du an meine Stelle treten und die Evakuierung umgehend einleiten.“

Dambiayns Gesicht blieb unbewegt.

„Ich akzeptiere die Entscheidung des Stationsweisesten“, erklärte er. Dass er diese rituelle Formel benutzte, machte deutlich, welche Distanz er zur Entscheidung Gantorayns empfand.

Aber er sah andererseits auch keine Möglichkeit, diese Entscheidung zu revidieren.

Wir können nur hoffen, dass unser Stationsweisester sich gut überlegt hat, was er tut, ging es derweil Naryavo durch den Kopf, der die verbale Auseinandersetzung zwischen dem Stationsweisesten und seinem Stellvertreter genauso gleichermaßen gespannt wie fassungslos verfolgt hatte wie alle anderen Bhalakiden, die derzeit ihren Dienst in der Zentrale taten.

Etwas Vergleichbares hatte es nie zuvor gegeben.

Zumindest nicht innerhalb jenes Zeitintervalls, in dem Naryavos Erinnerungen zurückreichten.

„So hört eine weitere Entscheidung“, verkündete Gantorayn. „Vierzig Prozent der verfügbaren Energiereserven sollen auf die Außenhülle gelenkt werden, falls sich die Fremden tatsächlich als feindselige herausstellen. Ihrem angedockten Raumschiff dürfte das nicht gut bekommen ...“

Uns und der Station Xaradim vielleicht ebenfalls nicht!, dachte Naryavo – hütete sich aber davor, dies laut zu äußern.

Die Bhalakiden waren zwar nicht in der Lage, die Technik der legendären Stationenschöpfer weiterzuentwickeln oder auch nur sie vollständig zu verstehen. Aber sie wussten genug, um eine Vorstellung davon zu haben, dass der Befehl des Stationsweisesten ein hohes Risiko enthielt. Wenn ein so hoher Anteil der verfügbaren Energieressourcen für einen elektromagnetischen Impuls verwendet wurde, der auf die Außenhülle zu lenken war, konnte die Stabilität der gesamten Station in Gefahr geraten.

Schließlich bedurfte es stets eines hohen energetischen Aufwandes, um sie – gegen alle Gesetze der Natur – an ihrem äußerst ungastlichen Standort zu halten.

Letztlich konnte der Befehl des Stationsweisesten also auf eine Selbstvernichtung hinauslaufen, indem die Xaradim-Heimat hilflos den gigantischen Kräften des zentralgalaktischen Schwarzen Lochs ausgeliefert und von ihnen unrettbar in den Orkus gerissen wurde.

„Du solltest mir Glück wünschen, Dambiayn“, wandte sich Gantorayn ein letztes Mal an seinen Stellvertreter.

„Das Wohlwollen der Erbauer möge mit dir sein“, erwiderte Dambiayn.

In diesem Moment wurde der Eindringlingsalarm ausgelöst.

*

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DIE SENSOREN DER STATION zeigten an, dass sich in dem von tellerartigen Modulen eingegrenzten Gebiet die Struktur der Außenhülle auf subatomarer Ebene zu verändern begann. Zuerst bestand schon die Befürchtung, dass die Fremden es darauf abgesehen hatten, die Stationshülle zu zerstören und für ein gewaltiges Loch in der golden schimmernden Oberfläche zu sorgen. Aber schon nach wenigen Minimalzeitquanten stellte sich heraus, dass dem nicht so war. Das Material, aus dem die Hülle bestand, wurde zwar verändert, aber nicht zerstört.

Der Sinn der Veränderung offenbarte sich sehr bald.

Sie gestattete den Fremden offenbar ein Durchdringen der Außenwand.

Ein zylinderförmiges Ding mit vier Laufbeinen an der Unterseite sowie ebenfalls vier Greifextremitäten, die aus der Oberkante herausragten und jeweils über mehrere Gelenke verfügten.

Die Analysen ergaben sofort, dass es sich um eine Maschine handelte.

Der Roboter bewegte sich zögernd vorwärts. Rund um den zylinderförmigen Rumpf befanden sich kleine, linsenartige Objekte, bei denen es sich wohl um die optischen Sensoren handelte, die dem mechanischen Besucher die Orientierung ermöglichten.

Gantorayn, der Stationsweiseste, löste indessen seine körperliche Form auf und durchraste die vielen Decks der Station, um innerhalb von wenigen Minimalzeitquanten den Ort des Geschehens zu erreichen.

Als Gantorayn einige Meter von dem fremden Roboter entfernt materialisierte, streckte dieser ihm seine Greifarme entgegen. Aus deren Enden fächerten sich kleine Schirme auf, aus denen blassblaue Strahlen hervordrangen.

Offenbar handelte es sich um eine Vorrichtung zur Abtastung der Umgebung.

Das blaue Licht verschwand.

Die Schirmchen wurden wieder eingeklappt.

Der Roboter verharrte beinahe regungslos.

Über eine optische Übertragung nebst direkter Kom-Verbindung vermochten die Diensthabenden in der Zentrale mitzuverfolgen, was sich an der Eintrittsstelle des ersten Roboterphantoms ereignete.

Ein zweiter Roboter drang jetzt durch die Wand. Er glich dem ersten in jeder Hinsicht. Der einzige Unterschied bestand daran, dass er mit jeder seiner vier Greifarme je einen quaderförmigen Gegenstand trug. Der Roboter lief einfach an Gantorayn vorbei, ohne den Stationsweisesten überhaupt zu beachten. Er ging den Korridor entlang.

„Ich will, dass die gesamte Sektion umgehend mit einem Eindämmungsfeld abgesperrt wird!“, übermittelte Gantorayn über seinen Kommunikationskanal an die Zentrale.

Sein Stellvertreter Dambiayn meldete sich nach ein paar Minimalzeitquanten zu Wort.

„Eindämmungsfeld lässt sich nicht aktivieren“, stellte er fest.

„Wieso nicht?“, verlangte Gantorayn zu wissen.

„Es scheint eine Systemblockade vorzuliegen – ähnlich wie bei unseren Transportkanälen in andere Galaxien ...“

Ja, vielleicht hattest du Recht und diese Maschinenwesen sind tatsächlich nichts anderes als ein mechanisches Invasionsheer!, durchzuckte es die Gedanken des Stationsweisesten wie ein greller Blitz. Einige Minimalzeitquanten lang wirkte er wie gelähmt. Diese Starre hatte nicht nur seinen Körper, sondern ebenso sehr sein Bewusstsein erfasst.

Ihm begann zu dämmern, dass die Stationsbesatzung es mit einer überlegenen Macht zu tun hatte, die offenbar fest entschlossen war, ihre eigenen Ziele ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen. Was immer das auch für Ziele sein mochten ...

Weitere zylinderförmige und vielbeinige Roboter drangen durch die Wand - sie hatten unterschiedliche Größe, aber stets dieselbe Form. Auch die Anzahl von Greif- und Laufextremitäten schien genormt zu sein, während die Anzahl der optischen Sensoren am eigentlichen Zylinderrumpf durchaus variierte. 

Sie liefen einfach an Gantorayn vorbei. Manche von ihnen legten die quaderförmigen Gegenstände, die sie bei sich trugen auf den Boden. Nach welchem System sie da vorgingen, war dem Stationsweisesten nicht erkenntlich.

Er bat die Zentrale um eine Analyse.

Das Ergebnis war zunächst unbestimmt. Worum genau es sich bei diesen Kästen handelte, konnten die Systeme der Xaradim-Station bislang nicht herausfinden, aber es sprach eine Wahrscheinlichkeit von über achtzig Prozent dafür, dass es sich auch hier um technische Geräte handelte.

Über den Zweck konnte nur spekuliert werden ...

Es ging immerhin keinerlei Radioaktivität von ihnen aus und es gab es auch sonst keine Anzeichen dafür, dass es sich vielleicht um Sprengladungen handelte. Andererseits war das auch nicht völlig auszuschließen. Immerhin war den Bhalakiden bislang so gut wie nichts über die Fremden und ihre Technologie bekannt.

Gantorayn versuche erneut, auf jeglichen nur denkbaren Signalfrequenzen Kontakt mit den Robotern aufzunehmen, von denen immer mehr aus durch die Außenwand kamen, die Greifhände voll von quadratischen Modulen, die anschließend fleißig verteilt wurden.

Der Stationsweiseste erhielt auch diesmal keine Antwort. Aber über den Kom-Kanal zur Zentrale erhielt er ein Bild direkt auf den Hirnlappen projiziert.

Es handelte sich um eine Drei-D-Projektion der Station. Jene Stellen, an denen die Roboter inzwischen einen der geheimnisvollen, kastenförmigen Geräte zurückgelassen hatten, waren gekennzeichnet. Es kamen lauter neue Markierungen hinzu.

Für Gantorayn bestand kein Zweifel mehr.

Die Roboter verteilten die Module vollkommen systematisch. Sofern zu einem Sektor keine Zugangsmöglichkeit bestand, weil dies für Bhalakiden, die ihre Körperlichkeit in Energie verwandeln konnten, nicht unbedingt notwendig war, so wurde jeweils ein Zugang geschaffen.

Die Roboter setzten dazu tellerähnliche Geräte an die betreffende Wand. Diese Geräte ähneln jenen, die an der Außenwand der Station angebracht worden waren. Nur waren diese wesentlich kleiner. Auf eine Weise, die bislang noch kein Bhalakide letztlich zu verstehen vermochte, veränderte etwas, das von diesen Modulen ausging die Struktur des Wandmaterials auf subatomarer Ebene, sodass sie durchlässig wurde. Zumindest für die Roboter.

Die Präzision, mit der diese Maschinenwesen vorgingen, war beängstigend.

Sie folgten einem Plan, dessen volle Tragweite im Moment noch niemand erfassen konnte.

„Ich werde jetzt einen weiteren Kontaktversuch unternehmen“, kündigte der Stationsweiseste an. „Sollte er fehlschlagen, so ist die Außenwand unter maximale Energie zu setzen!“

„Die entsprechende Schaltung dazu ist blockiert“, berichtete Dambiayn.

„Dann überbrückt sie!“

Gantorayn begann seine körperliche Form aufzulösen. Er verwandelte sich in eine Lichterscheinung, die sich verdichtete, hell aufleuchtete und schließlich in einen der Roboter hinein fuhr.

Gantorayn hatte sich die Maschine, die er zu übernehmen gedachte, ganz genau ausgesucht.

Es handelte sich um einen jener Roboter, die bereits ihre mitgeführten kastenförmigen Blöcke platziert hatten und nun wieder auf dem Rückweg zur Eintrittstelle waren, um an Bord ihres Phantomschiffes zurückzukehren – vermutlich um weitere Blockmodule in die Xaradim-Station zu tragen.

Gantorayns Ziel war es, mit Hilfe des Roboters, den er übernahm, an Bord des Phantoms zu gelangen, um dort endlich erfolgreich Kontakt aufnehmen zu können.

Als blitzartige Lichterscheinung fuhr Gantorayn in das Innere eines Roboters, der gerade im Begriff war, in das Phantomschiff zurückzukehren. Der Stationsweiseste suchte nach einer Möglichkeit, in das interne System der Maschine zu gelangen. Normalerweise war das für ein Bhalakiden ein Leichtes.

Selbst dann, wenn es sich um die Technologie einer völlig fremden Spezies handelte.

Als reines Energiewesen konnte sich der Bhalakide stets perfekt anpassen.

Aber schon im nächsten Minimalzeitquantum spürte er sehr deutlich, dass das in diesem Fall nicht möglich sein würde.

Etwas stieß ihn ab. Eine Kraft, ein Feld ... Gantorayn vermochte es nicht zu erklären. Er fühlte nur, wie es ihn zurückschleuderte. Um ein Haar wäre die Integrität seiner energetischen Gestalt aufgelöst worden. Er rematerialisierte zu einem androgynen Humanoiden und taumelte zu Boden.

Er fühlte Schwäche.

Der Kommunikationsversuch hatte ihn sehr viel Kraft gekostet.

„Ist alles in Ordnung, Stationsweisester?“, hörte er seinen Stellvertreter über den Kommunikationskanal.

„Führe meine Anweisung aus und setz die Außenhülle unter maximale Energie!“, gab Gantorayn zurück.

Es erfolgte keine Bestätigung.

„Dambiayn?“

Erneut keinerlei Reaktion. Der Kommunikationskanal, der ihn bis dahin mit der Zentrale verbunden hatte, musste unterbrochen worden sein.

*

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IMMER ZAHLREICHER WURDEN die Roboter auf den Gängen.

Gantorayn wanderte zwischen ihnen umher, wich ihnen so gut es ging aus, wenn sie in rasendem Tempo über die langen Korridore schnellten.

Er sah, wie sie ihre Tellermodule an ausgewählte Stellen in den Wänden anbrachten, die daraufhin für sie durchlässig wurden.

Ein großer, systematischer Plan steckte zweifellos dahinter, dessen Sinn nur die Eroberung der Xaradim-Station sein konnte.

Wer hatte diese Maschinen geschickt?

Gantorayn konnte sich kaum vorstellen, dass sie aus eigenem Antrieb handelten.

Aber ausgeschlossen war auch diese Möglichkeit nicht.

Sie machten auf den Stationsweisesten den Eindruck, als ob sie sich hervorragend im Inneren der Xaradim-Station auskannten. Kein Wunder, überlegte der Bhalakide. Wahrscheinlich haben sie längst Zugang zu den Rechnersystemen, ohne dass wir davon etwas bemerkten ...

Langsam begann ihm zu dämmern, wie fortgeschritten die Technologie dieser Invasoren sein musste.

Die Angreifer konnten nicht von einem jener primitiven Barbarenvölker geschickt worden sein, die Gantorayn auf seinen früheren Reisen in dieser Galaxis oder anderen Milchstraßensystemen kennen gelernt hatte.

Oder kannst du nur den Gedanken nicht ertragen, dass es vielleicht doch diese Emporkömmlinge waren, deren Erfindungsgabe und Entschlossenheit sie schließlich in die Lage versetzt haben, eine Xaradim-Station zu entern?, überlegte er.

Er erreichte ein in die Wand eingelassenes Terminal, über das man das Kommunikationsnetz der Station nutzen konnte, falls die direkte, über codierte elektromagnetische Impulse Verständigung aus irgendeinem Grund nicht mehr klappte, was im Moment ja der Fall war.

Aber auch das Terminal war deaktiviert.

Die Roboter schienen genau zu wissen, wo sie ansetzen mussten. Vor allem zerstörten sie nur so viel, wie sie für ihre ungehinderte Ausbreitung unbedingt benötigten.

Die Verzweiflung wuchs in Gantorayn.

Das Schlimmste war, das es im Moment kaum etwas gab, was er tun konnte. Er war sogar zu schwach, um zu entmaterialisieren und als gebündelter Energieimpuls zurück in die Zentrale zu schnellen. Er versuchte mehrfach, seine körperliche Gestalt wieder aufzulösen.

Aber es gelang Gantorayn nicht.

Der Grund dafür lag auf der Hand. Sein Versuch, in das System eines der Roboter einzudringen, war gründlich gescheitert.

Er sah schließlich ein, dass es sinnlos war, dies immer wieder zu versuchen.

Damit schwächte er sich nur zusätzlich.

Was genau mit ihm geschehen war, als die Lichterscheinung, in die er seinen Körper umgewandelt hatte, in den zylindrischen Körpertorso des Roboters eingedrungen war, wusste er nicht.

Es stand lediglich fest, dass dem Bhalakiden eine extreme Energieentladung stattgefunden hatte.

Gantorayn wurde jetzt auf der von den Robotern abgelegten Blocks aufmerksam.

Er öffnete sich. Im Inneren leuchtete etwas.

Plötzlich spürte Gantorayn, wie sich seine körperliche Integrität ohne sein Zutun aufzulösen begann. Das, was er selbst mit eigenen Kräften nicht mehr zu Stande bringen konnte, geschah nun ganz von selbst.

Allerdings auch ohne, dass Gantorayn darüber irgendeine Form der Kontrolle gehabt hätte.

Er fühlte einen unsagbar starken Sog, der auf sein Bewusstsein wie ein Strudel wirkte.

Ein Strudel, der ihn einfach mitriss.

Gantorayn wurde zu einer Lichtkugel, die von dem goldenen Kasten regelrecht angezogen wurde.

Es ist eine Falle!, erkannte der Bhalakide im letzten Moment.

Aber da war es längst zu spät, denn sein Körper hatte sich bereits in Energie aufgelöst, die ins Innere des Kastens gesogen wurde.

Der Kasten schloss sich.

*

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AKUSTISCHE ÜBERTRAGUNG ausgefallen, Kommunikationskanäle zu Sektion 23 ausnahmslos blockiert“, meldete Naryavo und las anschließend ein paar Messwerte von den Anzeigen seiner Konsole ab. Displays und Sensorfelder blinkten auf.

Für einige Minimalzeitquanten schwebte noch das Holobild des Stationsweisesten hoch im Raum, während jeder der Diensthabenden gebannt verfolgte, was mit ihm geschah.

Gantorayn wurde regelrecht in eines der kastenförmigen Objekte hineingesogen und verschwand. Während des nächsten Minimalzeitquantums brach auch die optische Übertragung ab.

Naryavo kämpfte innerlich um ein einigermaßen vertretbares Maß an innerer Stabilität, aber es war nicht zu leugnen, dass das Geschehene einen Schock in ihm ausgelöst hatte.

Alle in der Zentrale kämpften mehrere Minimalzeitquanten lang gegen das lähmende Gefühl aufkommender Panik an.

Dambiayn war der Erste, der die Fassung wiedererlangte.

Er trat an seine Konsole heran, rekonfigurierte die Anzeigen der Displays. Seine Finger glitten mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit über die Sensorfelder. Die Anzeige des großen Holofeldes, das über den Köpfen der Diensthabenden schwebte, veränderte sich mit einer so hohen Frequenz, das kaum noch etwas zu erkennen war.

Die Daten sprachen jedoch eine sehr eindeutige Sprache.

Überall verschwanden die individuellen Energiesignaturen einzelner Bhalakiden. Sie wurden ebenso wie der Stationsweiseste ins Innere der kastenförmigen Blöcke gesogen.

Dambiayn öffnete sämtliche, noch in Funktion befindliche Kommunikationskanäle, um sich als Nachfolger des Stationsweisesten an die Besatzung der Xaradim-Station zu wenden.

Angesichts der aussichtslosen Lage gab es jetzt nur noch eine Alternative.

Flucht mit den in den Hangars der Station befindlichen goldenen Schiffen.

*

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MANTAYAN HATTE GERADE die Energieaufnahme abgeschlossen und wollte den Gemeinschaftsraum verlassen, als mehrere der zylinderförmigen Roboter durch die Wände drangen. Gleichzeitig wurde ein Kom-Kanal geöffnet. Die Botschaft war verstümmelt und brach schließlich ab. Aber es war genug zu verstehen, um mitzubekommen, dass der Stationsweiseste von maschinenhaften Invasoren getötet oder gefangen genommen worden war und Stellvertreter Dambiayn jetzt die Flucht mit Hilfe der Schiffe anordnete.

Verwirrung entstand unter den im Gemeinschaftsraum anwesenden Bhalakiden.

Die roboterhaften Invasoren beachteten die Mitglieder der Stationsbesatzung jedoch scheinbar überhaupt nicht, sondern schienen ihre ganz eigenen Programme zu folgen, die sie mit größter Akkuratesse ausführten.

Kastenförmige Blöcke wurden im Raum verteilt.

Mehrere Dutzend Roboter waren dabei im Einsatz. Sie waren sehr schnell, schafften vier bis fünf dieser mysteriösen Blöcke heran und verteilten sie auf dem Boden. Welchen Gesichtspunkten sie bei der Verteilung folgten, war für einen Betrachter auf den ersten Blick nicht zu erfassen. Aber es musste zweifellos ein verborgenes System dahinterstecken, genauso wie die einzelnen Roboter sich untereinander in dauernder Kommunikation befinden mussten. Schließlich wirkte ihr Vorgehen außerordentlich gut koordiniert.

„Zu den Schiffen!“, rief einer der Bhalakiden. Er löste als Erster die körperliche Form auf, zerfloss zu einem wabernden, schwebenden Lichtfleck. Die Tatsache, dass dieser Lichtfleck waberte und laufend die Form veränderte, anstatt eine Kugel zu bilden, zeigte an, dass dieser Bhalakide mit der Energieaufnahme wohl gerade erst begonnen hatte und damit sein Sättigungsniveau noch sehr gering war.

Er schwebte in Richtung der kuppelartig gewölbten, golden schimmernde Decke und durchdrang sie. Doch schon im nächsten Minimalzeitquantum kehrte er zurück, schnellte wieder aus der Decke hervor, so als würde er von einer unwiderstehlich starken Kraft gezogen. Einer der kastenförmigen Blöcke hatte sich leicht geöffnet. Der schwebende, sich in seiner energetischen Form bewegende Bhalakide wurde angezogen und in den Kasten hineingesaugt. Ein zischendes Geräusch entstand dabei.

Dann war er verschwunden.

Auch andere Blöcke begannen sich zu öffnen.

Einige Bhalakiden lösten ohne ihr Zutun die körperliche Form auf, verwandelten sich in Energie und wurden ebenfalls eingesogen. Hier und da – wenn zuvor eine sehr starke energetische Aufladung stattgefunden hatte – geschah dies unter äußerst grellen Lichterscheinungen, die eine optische Wahrnehmung manchmal für mehrere Minimalzeitquanten selbst für die ausgesprochen anpassungsfähigen Sinne der Bhalakiden unmöglich machte.

Energetische Signale der Panik und des Entsetzens schwangen im Gemeinschaftsraum.

Sie trafen Mantayan auf eine Weise, die nur mit einem wichtigen, wenn auch auf mentaler Ebene geführten Schlag zu vergleichen war. Die seelische Stabilität von Dutzenden Bhalakiden geriet völlig aus dem Gleichgewicht.

Ein Chor völlig unartikulierter Kommunikationsimpulse schwirrte durch den Raum und sorgte für die Verwirrung und Desorientierung weiterer Bhalakiden.

Was hier geschah, war einfach unfassbar.

Keine Überlieferung, kein gespeichertes Wissen, kein warnender Gedanke eines skeptischen Mahners hatte sie darauf vorbereitet, Opfer einer mit kalter Effizienz durchgeführten Invasion von unbekannten Robotmechanismen zu werden.

Einige suchten ihr Heil in der Flucht. Sie verwandelten sich in Energie, schwebten durch die Decke davon und hoffen, dass sie nicht doch in den Einflussbereich von einem der Blöcke gerieten, die sie dann in sich aufsogen.

Auch Mantayan geriet in dieses Chaos.

Nachdem er sich aus der inneren Erstarrung, die ihn zuvor für ein ganzes Minimalzeitquantum befallen hatte, lösen konnte, schwebte er empor und legte seine gesamte Kraft in die Geschwindigkeit. Ein Lichtpunkt unter wirbelnden Lichtpunkten, die sich im Bann unerbittlicher Kräfte befanden.

Für einen kurzen Moment glaubte er, den Sog eines der Blöcke zu spüren. Aber er war sich nicht sicher. Auf Grund der mehr oder minder chaotischen Bewegungen der anderen, zu Energiewesen verwandelten Bhalakiden, waren da durchaus Wechselwirkungen denkbar.

Es war Mantayan in diesem Augenblick klar, dass es nur wenige zu den goldenen Schiffen schaffen würden.

Und selbst für diese wenigen waren die Aussichten dann alles andere als rosig, denn wenn die Invasoren bereits in der Lage waren, zumindest teilweise die Kommunikation lahmzulegen, dann war es auch denkbar, dass sie Mittel und Wege fanden, um den Start der Schiffe zu verhindern oder sie nach dem Start zu zerstören.

Der Sog wurde stärker. 

Alles, was Mantayan an Energie aufbieten konnte, setzte der Bhalakide ein, um diesem Einfluss zu entgehen. Er spürte bereits seine eigenen Kräfte schwinden, fürchtete schon, dass sich seine energetische Form destabilisierte und vielleicht sogar einfach auflöste. Verwirbelt im Chaos der unterschiedlichen Kraftfelder und Impulsfolgen, die das Innere der Xaradim-Station im Augenblick beherrschten.

Aber er schaffte es. Die unsichtbare Klammer, die ihn ergriffen und wie in einem Schraubstock festgehalten hatte, löste sich.

Er spürte, wie er außerhalb des Einflusses jener Kraft gelangte, die ihn soeben noch in ihrem Bann gehalten und von der er sich einzureden versucht hatte, dass sie irgendwelchen Wechselwirkungen mit den Energien anderer Bhalakiden entsprungen wäre.

Die vorherrschende Empfindung war Schwäche.

Er geriet auf ein Deck im Zentralbereich der Station, materialisierte und war im ersten Augenblick etwas desorientiert.

Seine Sinne funktionierten nicht wie gewohnt. Es dauerte etwas, bis sich das normalisierte.

Ohne Zweifel waren das Folgen der Erschöpfung.

Alle Kraft hatte er in den Widerstand gegen den schier übermächtigen Sog gelegt.

Die Tatsache, dass er dieser alles verschlingenden Macht entkommen war, hatte seinen Preis.

Mantayan war sich nicht einmal sicher, ob er eine weitere Entmaterialisierung schaffen würde, um zu den Schiffen zu gelangen. Es war unmöglich, die zwischen seinem gegenwärtigen Standort und den Hangars gelegenen Areale der Station auf herkömmliche Weise zu durchschreiten, da an mehreren Stellen Barrieren existierten, für deren Überwindung es notwendig war, in die Form eines Energiewesens zu wechseln.

Zudem befand sich Mantayan in einem Sektor der Station, den er nicht kannte.

Er war noch nie zuvor hier gewesen, da war er sich völlig sicher.

Es war im Übrigen auch nicht weiter ungewöhnlich, dass es für jeden Bhalakiden Bereiche seiner eigenen Heimat-Station gab, die er während seiner gesamten Existenz niemals betrat und sie allenfalls als Energiewesen rasch durcheilte, ohne jedoch dabei allzu viele Eindrücke aufnehmen zu können.

Es lag eine gewisse Ironie darin, dass er mit Hilfe des kosmischen Transportnetzes die fernsten Galaxien, aber nicht jeden Winkel seiner eigenen Xaradim-Heimat bereist hatte.

Doch darin war er kein Einzelfall unter den Bhalakiden.

So gut es ging, versuchte sich Mantayan zu orientieren. Seine Sinne, die sonst mit den Kommunikationssystemen der Station in Kontakt standen, waren ihm jetzt, da diese Systeme zu einem immer größer werdenden Teil ausgefallen waren, nur bedingt eine Hilfe.

Er lief einen Korridor entlang, in der Annahme, sich auf die Hangarsektion zuzubewegen.

Tausend Meter durchmessende golden schimmernde Raumschiffe befanden sich dort.

Äonenlang hatten die Bhalakiden angenommen, dass es sich bei ihnen um die einzigen Raumschiffe im Universum handelte, die in der Lage waren, jenseits des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs zu operieren.

Offenbar war dies ein Irrtum, wie man nun schmerzlich feststellen musste.

Mantayan begegnete zahllosen weiteren Bhalakiden, die sich in heilloser Flucht befanden. Diejenigen, deren Energieniveau noch ausreichte, um sich entmaterialisieren zu können, taten dies und wurden teilweise von den auch hier überall herumliegenden Blöcken absorbiert.

Andere wankten in ihrer körperlichen Gestalt dahin, kraftlos und dem Zustand der Desintegration nahe. Bei einigen hatte Mantayan den Eindruck, dass ihr energetisches Level bereits auf Werte abgesunken war, die die Aufrechterhaltung normaler Denkfunktionen schon nicht mehr möglich machte. Die realitätsverzehrenden Einflüsse, die der jenseits des Ereignishorizonts gelegene Raum auf jedes Individuum ausübte, mussten unterdrückt werden, was immense geistige Fähigkeiten beanspruchte.

Nur wenn die mentalen Konstrukte von Raum und Zeit, die das Bewusstsein abbildete, der Realität des umgebenden Raums entsprachen, war es möglich, hier zu überleben, ohne von dauernden geistigen Fehlfunktionen beeinträchtigt zu werden.

Fehlfunktionen, die in Alpträumen und Wahnvorstellungen sowie der Vermischung von Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Zukünften geprägt waren.

Vereinzelt hatte es Bhalakiden gegeben, die sich aus lauter Langweile selbst in einen derart energiearmen Zustand versetzt hatten, dass diese Effekte aufgetreten waren.

Es gab einen Punkt, an dem waren die auftretenden geistigen Schäden irreversibel.

Wenn das Energieniveau ein bestimmtes Mindestlevel unterschritt, war die vollständige Desintegration des Individuums die Folge.

Manche jener Gestalten, die Mantayan über die Korridore wanken sah, waren diesem Stadium bereits sehr nahe, wie ihm schien. Offenbar waren auch sie dem Zugriff der Blockfallen gerade noch unter Aufbietung der letzten Kräfte entwischt.

Es schien fast so, als würden die Fallen diese Unglücklichen bewusst ignorieren, um erst einmal die energiereicheren Bhalakiden einzufangen.

Denn eins stand fest: Die dahinwankenden, dem Tode nahen Humanoiden, die in ihrer körperlichen Gestalt gefangen waren, würden ohnehin keine Möglichkeit mehr haben, die Schiffe zu erreichen.

Mantayans Zustand war nicht ganz so schlimm.

Und dennoch war ihm klar, dass es möglicherweise auch für ihn bereits zu spät war.

Er bemerkte ein zunehmendes Chaos in seinen Gedanken. Ein Warnzeichen, wie er sehr wohl wusste. Immer schwerer fiel es ihm, seine gesamten körperlichen und geistigen Energien auf das zu konzentrieren, was jetzt für ihn das Wichtigste sein musste.

Das pure Überleben.

Um nichts anderes konnte es jetzt für ihn geben.

Aber seine Gedanken schweiften ab. Er begann mit seinem Schicksal zu hadern, glaubte sich plötzlich wieder an einem Punkt seiner nahen Vergangenheit, in der er noch die Wahl gehabt hätte, die Xaradim-Station dieses Milchstraßensystems zu verlassen.

Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Galaxis 33456667 tauchten auf und Mantayan war sich für einige Augenblicke nicht sicher, ob er sich nicht in Wahrheit in einer der dortigen Xaradim-Stationen befand und noch immer verzweifelt versuchte, in seine Heimat zurückzukehren, und sich gleichzeitig ausmalte, was dort wohl geschehen sein könnte ...

Vergangenheit.

Gegenwart.

Die Möglichkeiten der Zukunft.

Alles nichts als Schöpfungen des Geistes, die verfielen, sobald der Geist verfiel, der diese im Grunde fiktive Ordnung geschaffen hatte.

Einer der Roboter rempelte Mantayan an.

Der Bhalakide hatte ihn nicht früh genug bemerkt.

Der Roboter nahm nicht weiter Notiz von ihm. Drei seiner vier Greifarme hielten Blockfallen, die wohl noch zu verteilen waren. Der zylinderförmige Torso reichte Mantayan bis zur Schulter.

Der Bhalakide wich zur Seite, während der Roboter unbeirrt seinen Weg fortsetzte.

Mantayan registrierte, wie mehrere Bhalakiden durch die Blockfallen eingefangen wurden.

Wenn es jetzt eine dieser Fallen auf ihn abgesehen gehabt hätte - es wäre ihm nicht mehr möglich gewesen, dieser Kraft irgendetwas entgegenzusetzen.

Mantayan versuchte, sich innerlich zu disziplinieren und ein Mindestmaß an mentaler Stabilität wiederzugewinnen.

Vielleicht reichte seine Kraft gerade noch für eine letzte Verwandlung in ein flüchtiges Energiewesen.

Aber er war sich nicht sicher.

Gleichzeitig blieb ihm jedoch nicht verborgen, dass die als Energiewesen umherschwirrenden Bhalakiden reihenweise von den Fallen absorbiert wurden. Es schien so, als wäre jede dieser Fallen lediglich in der Lage, jeweils einen Bhalakiden gefangen zu nehmen.

Allerdings war zu diesem Zeitpunkt noch niemandem klar, ob es sich wirklich nur um eine Gefangenschaft oder vielleicht doch um eine Vernichtung handelte.

Angesichts des kompromisslosen Vorgehens der Roboter-Invasoren erschien die zweite Möglichkeit mindestens genauso wahrscheinlich.

Mantayan lief weiter, bog in einen anderen Korridor ein, wich mehreren Robotern aus, die plötzlich aus einer der Wände hervorkamen und erreichte schließlich ein Gebiet, in dem es noch keine Fallen gab.

Mantayan atmete auf.

Er traf auf weitere Bhalakiden. Keiner von ihnen war ihm bekannt. Sie wirkten verängstigt. Ihre energetischen Impulse spiegelten das mentale Chaos wider. Bei den meisten von ihnen zeigte sich die Ratlosigkeit sogar in Gesichtsregungen, was den Grad an Verstörtheit unterstrich, von dem sie betroffen waren.

Ausnahmslos schien Mantayan ihr Energieniveau hoch genug zu sein, um ohne Risiko eine Verwandlung wagen und zu den Schiffen eilen zu können.

Mantayan sprach sie darauf an.

„Das Risiko ist zu hoch!“, glaubte einer von ihnen. „Ich habe es bereits versucht, bin mehrere Decks weit gekommen und dann abgedreht, um nicht von diesen Blöcken absorbiert zu werden.“

„Sie lauern überall!“, bestätigte ein anderer Sprecher.

Die innere Stabilität dieser Bhalakiden war dermaßen erschüttert, dass sie unfähig waren, auch nur irgendetwas zu tun.

Mantayan riet ihnen, alles auf eine Karte zu setzen. „Ich selbst habe nicht die Kraft dazu. Aber ihr habt sie. Also nutzt eure Chance, der Gefahr zu entgehen. Es kann nur noch Kurzzeitquanten lang dauern, bis die Schiffe die Xaradim-Heimat verlassen.“

„Oder vernichtet werden!“, äußerte einer aus der Mantayan gegenüberstehenden und ziemlich verwirrten Gruppe.

Mantayan konnte dies natürlich nicht leugnen.

„Ja, das mag sein. Die Gefahr ist groß, aber ist es nicht besser, selbst die kleinste Möglichkeit einer Rettung zu nutzen, anstatt sich einfach dem sicheren Untergang zu ergeben?“

„Es gibt Gerüchte!“, sagte einer der Bhalakiden.

Von ihm gingen besonders viele ungeordnete Kommunikationsimpulse aus.

Aber seine Verwirrung hat nichts mit mangelnder Energie zu tun!, erkannte Mantayan sofort an der Färbung der Haut und am wachen Leuchten der Augen. Offenbar ist das Gefühl der Angst ebenso wirksam in der Lage, die Ausführung von Denkprozessen zu beeinträchtigen!

„Was für Gerüchte?“, fragte Mantayan, obwohl eine innere Stimme ihn davor warnte, die Frage überhaupt zu stellen, bestand doch die Gefahr, das seine sehr mühsam aufrechterhaltene innere Stabilität wieder ins Wanken geriet. Dazu war, wie ihm durchaus klar war, nur ein vergleichsweise geringfügiger Anstoß notwendig.

„Es heißt, die Roboter seien nicht irgendwelche fremden Invasoren, sondern die zurückgekehrten Stationenschöpfer.“

„Wie bitte?“

„Die Erbauer der Ewigen Kette kehren aus jenen geheimnisvollen vergessenen Gefilden zurück, in die sie einst entschwunden sind. Sie nehmen ihr Eigentum wieder in Besitz ...“

„Und die Fallen?“, gab Mantayan zu bedenken.

„Wer sagt, dass es wirklich Fallen sind? Vielleicht kehren wir nur einfach zu jenen zurück, die uns einst unseren erhabenen Auftrag gaben. Wir haben nichts zu befürchten.“

„Ich würde das gerne glauben“, widersprach Mantayan.

„Du hast die schändliche Seele eines Skeptikers. Aber siehe, wohin uns das Skeptikertum gebracht hat! Die Erbauer sind vielleicht deswegen zurückgekehrt, weil sie den Verfall ihres Werkes aufhalten wollen!“

„Es gibt keinerlei Beweise für diese Hypothese.“

„Es ist mehr als eine Hypothese.“

„So?“

„Wer außer den Erbauern wäre überhaupt in der Lage gewesen, die Grenze des Ereignishorizontes zu überschreiten? Wessen geistige Fähigkeiten hätten dazu ausgereicht, während eines Aufenthaltes dieser Zone nicht den Verstand zu verlieren? Wer sonst, als die Stationenschöpfer, könnte über eine so überlegene Technik verfügen, wie es bei den sogenannten Invasoren der Fall sein muss.“

Mantayan kam zu dem Schluss, dass es wenig Sinn hatte, sich mit diesen von einem irrationalen Glauben beherrschten Bhalakiden weiter auseinanderzusetzen. Er dachte nicht im Traum daran, sich den Invasoren einfach auf Gedeih und Verderb auszuliefern und das Risiko einzugehen, dass es sich bei der Absorption durch die Blöcke vielleicht doch um eine endgültige Desintegration seiner Form handelte.

Etwas, das die primitiveren Völker als den Tod bezeichneten.

Die blanke Furcht war es, die sie zu völlig hergeholten Schlussfolgerungen kommen ließ. Zumindest sah Mantayan das so.

Er setzte seinen Weg fort, begegnete dabei einer Gruppe von Robotern, die so schnell den Korridor entlangschnellten, dass er ihnen nur im letzten Moment noch ausweichen konnte. An irgendeiner Stelle stoppten diese Roboter ziemlich abrupt. An den Laufextremitäten bildeten sich Saugfüße, mit denen sie die Wand emporliefen. Sie befestigten Tellermodule an der Decke, die daraufhin durchlässig wurde. Dann verschwanden sie einer nach dem anderen durch die Decke.

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DAMBIAYN SPRANG ZUR Seite. Sein Blick glitt hinab auf den Boden, aus dem plötzlich die obere Hälfte eines zylindrischen Roboter-Torsos herausragte. Die Greifarme hielten die blockförmigen Fallen. Der dritte half mit den Roboter emporzuziehen.

Ein zweiter Roboter folgte, dann ein dritter. Schon wurden die ersten Blockfallen verteilt.

Schon seit einigen Minimalzeitquanten funktionierten in der Zentrale der Station Xaradim so gut wie keine Instrumente und Anzeigen mehr.

Jetzt ist er also gekommen – der Augenblick, in dem die Invasoren das Herzstück der Station unter ihre Kontrolle bringen!, ging es Naryavo schaudernd durch den Kopf.

Schon kurz nach Beginn der eigentlichen Invasion hätte niemand ernsthaft annehmen können, dass es einen Weg geben würde, um die Roboter an ihrem Vorhaben zu hindern. Und doch versetzte ihr Auftauchen Naryavo jetzt einen Stich. Er löste – so wie beinahe alle anderen Bhalakiden, die in der Zentrale ihren Dienst taten – seine Körperform auf und wurde zu einem gleißenden Lichtball.

Auch Dambiayn hatte sich verwandelt.

Das Einzige, was jetzt vielleicht noch einige von ihnen zumindest vorerst retten konnte, war Geschwindigkeit und die Tatsache, dass sie alle beinahe gleichzeitig handeln.

Um sämtliche Diensthabenden in den Blockfallen auf einmal gefangen zu nehmen, dazu waren einfach nicht genug Fallen da.

An einer anderen Stelle drangen jetzt Roboter durch die Wand.

Offenbar hatten die Invasoren sehr wohl erkannt, welch entscheidende Bedeutung die Zentrale für jeden hatte, der die Kontrolle über die Station auszuüben beabsichtigte.

Dementsprechend massiert war daher der Angriff.

Schon wurden die ersten Bhalakiden in die ausgelegte Kästen hineingezogen, ohne dass es ihnen möglich war, etwas dagegen zu tun. Die Panik brach sich nun vollends Bahn. Die in flüchtige Energiewesen Verwandelten stoben auseinander.

Das galt auch für Mantayan. Er registrierte fast beiläufig, wie einige andere Bhalakiden in seiner Nähe von den Blockfallen eingegangen wurden.

Ein Deck nach dem anderen durchschossen die Energiewesen geradezu und ihre Zahl wurde dabei fast um die Hälfte dezimiert.

Es war reine Glücksache, nicht von ihnen erwischt zu werden. Mantayan schob es auf den Umstand, dass wohl einfach noch nicht genug Fallen auf dem Weg aufgestellt waren, der direkt zu den Hangars führte.

Naryavo materialisierte in der Zentrale eines der gut tausend Meter durchmessenden, goldenen Kugelraumer, die ihrerseits wie kleinere Ausgaben der gewaltigen Xaradim-Station wirkten.

KLEINE STATION lautete daher auch folgerichtig der Name jenes Schiffes, in dem Naryavo seine Körperlichkeit wiedererlangte.

Er zögerte nicht lange, trat an eine der Konsolen und fand die Startsysteme bereits aktiviert. Das war per Fernschaltung von der Stationszentrale aus geschehen, aber eigentlich hatte Naryavo nicht mehr damit gerechnet, dass diese Schaltung überhaupt noch das Schiff erreicht hatte.

Wenig später materialisierten weitere Bhalakiden, darunter Dambiayn.

Der stellvertretende Stationsweiseste nahm sofort den Sitz des Kommandanten ein. Weitere Bhalakiden besetzten die einzelnen Konsolen. Jeder, der in der Lage war, Dienst in der Zentrale der Xaradim-Station zu tun, konnte auch diese Aufgabe ebenso gut versehen wie seinen gewöhnlichen Dienst in der Zentrale.

„Startsequenz einleiten!“, befahl Dambiayn.

„Startsequenz ist eingeleitet“, bestätigte Naryavo, auf dessen Konsole die Pilotenfunktionen geschaltet worden waren.

Die Hangars der Station Xaradim verfügten über nichts, was mit einem konventionellen Außenschott vergleichbar war. Die Goldenen Schiffe der Bhalakiden hüllten sich bei der Ausschleusung kurzfristig in ein Feld, das sie die feste Materie der Außenhülle durchdringen ließ. Die Technologie ähnelte jener, die von den Invasoren angewandt worden war, um ins Innere der Station zu gelangen.

Sobald dieses Feld aktiviert war, konnte niemand mehr an Bord kommen, wollte er dabei nicht das Risiko eingehen, desintegriert zu werden. Für Wesen, die rein körperlich existierten war die Gefahr diesbezüglich nicht so groß, aber für Energiewesen wie die Bhalakiden, war es dann unmöglich, die Außenhülle der KLEINEN STATION zu durchdringen.

Noch wartete Dambiayn offenbar auf Nachzügler, die es vielleicht gegen alle Wahrscheinlichkeit zur KLEINEN STATION oder den anderen Schiffen schafften.

Es bestand Kontakt zu 8 der insgesamt 12 goldenen Schiffe, die sich an Bord der Xaradim-Station in den dafür vorgesehenen Hangars befanden.

Auf all den Schiffen, zu denen gegenwärtig Kontakt bestand, nahm die Zahl der Ankömmlinge stark ab. Es materialisierten nur noch vereinzelte Bhalakiden im Inneren der goldenen Schiffe.

Die anderen hatten es wohl einfach nicht mehr geschafft oder keine Kraft mehr, um sich in Energiewesen zu verwandeln.

Wenn man die Zahlen zusammenrechnete war das Ergebnis mehr als deprimierend.

Über neunzig Prozent der Bhalakiden dieser Xaradim-Station war den Invasoren zum Opfer gefallen und von ihnen in den Blockfallen entweder gefangen oder vernichtet worden.

Genaueres hatten die Analysen darüber noch immer nicht ergeben, und seitdem fast sämtliche Rechnersysteme der Station ausgefallen waren, hatte auch gar nicht mehr die Möglichkeit bestanden, darüber mehr herauszufinden.

Die Systeme der Schiffe arbeiteten jedoch noch alle, was Naryavo bisher hatte herausfinden können, vollkommen einwandfrei. Offenbar hatten die Invasoren bisher keine Möglichkeit gefunden, in die Kommunikationskanäle einzudringen und bestimmte Funktionen außer Kraft zu setzen, wie es ihnen bei der Station auf geheimnisvolle Weise gelungen war.

Die Außensensoren eines anderen Schiffs, des GOLDENEN TROPFENS, meldete das Auftauchen von Robotern im dazugehörigen Hangar.

Die optischen Systeme erfassten die Invasoren und übertrugen die Bilder an alle anderen Schiffe.

Auch auf der Brücke der KLEINEN STATION konnte die Szenerie auf der großen Holoprojektion mitverfolgt werden. Wie üblich hatten die Roboter die Trennwand durchdrungen, die Hangar drei vom Rest des Schiffs abgrenzte. In Hangar drei befanden sich außer dem GOLDENEN TROPFEN noch drei weitere Schiffe, von denen bei zweien die Startsequenz bereits aktiviert war.

Der Bhalakide mit dem höchsten Stabilitätsfaktor hatte traditionsgemäß an Bord des GOLDENEN TROPFENS das Kommando übernommen. 

Er befahl einen Schnellstart, doch ließ die Durchführung auf sich warten. Das Nachbarschiff, die HORIZONTREITER, musste den Hangar vor dem GOLDENEN TROPFEN verlassen, da ansonsten eine akute Kollisionsgefahr bestand. Zwar machten die das Schiff umgebenden Felder ein Durchdringen fester Materie möglich, und die Außenhüllen der Raumschiffe entsprachen chemisch beinahe exakt der Zusammensetzung, die auch für die Hülle der Xaradim-Station als Ganzes kennzeichnend war, aber wenn die Umhüllungsfelder zweier Raumschiffe sich berührten oder auch nur zu nahe kamen, konnte es zu gefährlichen Entladungen kommen.

Entladungen, die das Ende bedeuten konnten, noch ehe die Flucht von der Xaradim-Station überhaupt begonnen hatte.

Der HORIZONTREITER startete. Deutlich sichtbar war das grünlich schimmernde höherdimensionale Feld, das die Durchdringung der Stationen-Außenhülle ermöglichen würde.

Das goldene Schiff hob vom Boden ab. Es bewegte sich seitwärts, tauchte in die Außenwand ein, als ob es sich um die Oberfläche einer Flüssigkeit handelte.

Die Hälfte des Schiffes ragte bereits ins All hinein, während die andere sich noch im Hangar befand.

Nur den winzigen Bruchteil eines Minimalzeitquantums währte dieser Zustand. Im nächsten Moment wäre der HORIZONTREITER zumindest fürs Erste dem Zugriff der Invasoren entzogen gewesen. Aber es kam anders.

Mehrere Roboter, von denen keiner eine Blockfalle bei sich trug, postierten sich am Rand des Hangars, nachdem sie durch die Wand gedrungen waren. Dieser Robotertyp unterschied sich von den meisten anderen Exemplaren lediglich durch die Größe. Diese Maschinen waren etwa ein Drittel größer als ihre ansonsten typgleichen Helfer.

An der Oberseite des zylindrischen Torsos öffnete sich eine Klappe. Teleskopähnliche Verlängerungen ragten im nächsten Moment daraus hervor. Schwenkbare, rohrähnliche Stücke wurden hervorgeklappt, deren Enden an die Mündungen primitiver Strahlwaffen erinnerten.

Aus diesen Öffnungen schossen grellweiße Blitze hervor, die die noch in den Hangar hineinreichende Hälfte des HORIZONTREITERS voll erfassten.

Das goldene Schiff platzte regelrecht auseinander. Das höherdimensionale Kraftfeld, das die Durchdringung der Außenhülle gewährleisten sollte, sorgte in diesem Fall dafür, dass die Strahlenschüsse mühelos ins Innere des Schiffes gelangen konnten.

Trümmerteile platzten in den Weltraum hinein. Auf der anderen Seite brachen Teile der Außenhülle des HORIZONTREITERS in den Hangar hinein.

Nur die Außenwandung der Xaradim-Station blieb nahezu unbeschädigt. In dem Moment, in dem der Beschuss durch die Roboter für den Ausfall des höherdimensionalen Feldes gesorgt hatte, war die Außenwand der Xaradim-Station für den HORIZONTREITER wie ein scharfes Messer gewesen, das den Raumer einfach durchtrennt hatte.

Die ins Innere der Station hineinexplodierenden Teile des HORIZONTREITERS wirkten sich katastrophal auf die restlichen in diesem Hangar liegenden Schiffe aus.

Die Schäden waren immens. Keines von ihnen würde noch in der Lage sein zu starten. Für die an Bord dieser Schiffe geflüchteten Bhalakiden bestand keine Hoffnung mehr. Es bestand keine Aussicht für sie, an Bord der anderen Raumer zu flüchten, weitere Roboter hatten inzwischen Blockfallen ausgelegt. Bhalakiden, die versuchten, als Energiewesen dem Inferno zu entgehen, wurden von diesen Fallen eingesogen.

Nur zwei von ihnen kamen auf der KLEINEN STATION an. Andere strandeten irgendwo auf dem Weg, wurden von den Blockfallen angezogen und schließlich absorbiert.

Von der KLEINEN STATION aus gab es nichts, was hätte getan werden können, um dem HORIZONTREITER und dem GOLDENEN TROPFEN zu helfen.

„An alle Einheiten!“, wandte sich der stellvertretende Stationsweiseste Dambiayn von der KLEINEN STATION aus über einen offenen Kom-Kanal an jeden, der noch in der Lage war, ihn zu empfangen. „Sofortiger Blitzstart!“

Jedes Risiko musste jetzt eingegangen werden.

Die Überlebenschancen lagen ohnehin nahe null.

Naryavos Hände glitten derweil über die Sensorfelder seiner Konsole. Er zoomte auf dem großen Holofeld etwas heran.

Eine leichte Anomalie in den Strukturparametern der Innenwände des Hangars hatte ihn darauf aufmerksam gemacht.

„Sie dringen jetzt auch in unseren Hangar ein“, stellte Naryavo fest - fast ein ganzes Minimalzeitquantum bevor schließlich der erste Roboter die Wand durchdrang.

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MANTAYAN WAR ES GELUNGEN, sich mit seinen schwindenden Kräften in eine Sektion der Xaradim-Station zu flüchten, in der die Invasoren noch nicht gewütet hatten.

Die Station war von geradezu gigantischen Ausmaßen. Selbst wenn man den Invasoren ein Höchstmaß an Effizienz unterstellte, würden sie einige Zeit brauchen, um tatsächlich jeden Winkel unter ihre Kontrolle gebracht und jeden Bhalakiden mit Hilfe einer Blockfalle ausgeschaltet zu haben.

Aber sie brauchten keine Eile an den Tag zu legen.

In der Sektion, die Mantayan jetzt erreichte, traf er kaum noch auf Bhalakiden. Hin und wieder lag oder kauerte jemand am Boden, dem Wahnsinn und dem Zustand vollkommener mentaler und physischer Entkräftung nahe. Mantayan konnte nichts für diese Unglücklichen tun. Sein eigener Zustand war einfach zu schlecht.

Schließlich erreichte er Sektionen, wo sich niemand mehr befand. Die Bhalakiden hatten diese Areale fluchtartig verlassen. Für die Invasoren gab es fürs Erste kaum einen Anlass hierherzukommen, sofern sie über Ortungssysteme verfügten, die einzelne Bhalakiden zu orten vermochten. Angesichts der Tatsache, dass die Invasoren über eine sehr hochstehende Technologie verfügten, wie sie zweifellos bewiesen hatten, war davon auszugehen, dass sie genau wussten, wo sich noch Bhalakiden befanden.

Mantayan erreichte einen der Gemeinschaftsräume, in denen man Energie aufnehmen konnte.

Er schloss sich an eine der dafür vorgesehenen Vorrichtung an. Sie funktionierte sogar noch. Mantayan genoss den Energiefluss, der ihn durchflutete. Schon nach wenigen Augenblicken fühlte er sich gekräftigt.

Aber er ahnte, dass ihm für seine Regenration wohl nur wenige Minimalzeitquanten bleiben würden.

Wenn irgendwo durch einen Bhalakiden eine Energieaufnahme stattfand, so war das mit Sicherheit leicht zu orten. Die Invasoren würde alles tun, um das zu unterbinden.

Und genau das taten sie auch.

Der Energiefluss versiegte.

Jemand hatte sich in das System eingeschaltet.

Jetzt musst du es wagen!, ging es ihm durch den Kopf. Es ist die letzte Chance – wenn es nicht ohnehin schon zu spät und das letzte Schiff längst ausgeschleust ist ...

Mantayan löste seine Körperform auf und verwandelte sich in ein Energiewesen.

Gleichzeitig drang der erste Roboter durch die Wand und legte eine der vier Blockfallen auf den Boden, die er bei sich führte. Die Falle öffnete sich.

Der Roboter legte die anderen ebenfalls aus.

Mantayan schoss davon. Er legte alle Kraft in die Geschwindigkeit, um dem Einfluss der Falle zu entgehen. Noch mal würde er es nicht schaffen, sich erfolgreich dagegen zu wehren. Dazu hatte die energetische Regeneration bei weitem nicht ausgereicht.

Aber er hatte Glück.

Mantayan spürte nur ganz kurz die leichte Ahnung jenes unwiderstehlichen Sogs, dem er schon einmal nur unter Aufbietung seiner letzten Kräfte hatte widerstehen können. Diesmal jedoch war er früh genug dem Einflussbereich dieser Kraft entronnen.

In einem Bogen bewegte er sich durch die Station.

Einer plötzlichen, fast instinktiven Regung folgend bewegte er sich nicht direkt auf die Hangarsektion zu und wich damit dem gegenwärtigen Hauptoperationsgebiet der Invasoren aus.

Schließlich erreichte er einen der Hangars. Sämtliche Schiffe hatten bereits die mehrdimensionalen Kraftfelder aktiviert, wie er deutlich wahrzunehmen vermochte.

Zu spät!, durchzuckte es ihn.

Es war nicht mehr möglich, an Bord zu gehen.

Er schwebte in den nächsten Hangar und verließ ihn gleich wieder. Eine gewaltige Explosion hatte dort alles vernichtet, keines der Schiffe war noch einsatzbereit.

Im dritten Hangar flackerten gerade die mehrdimensionalen Schirme auf. Das erste Schiff trat in den Weltraum hinaus. Das Nächste folgte.

Roboter gingen in Stellung.

Energieschüsse zuckten und trafen.

Kurz bevor der mehrdimensionale Schirm des letzten Schiffes aufflackerte, erreichte Mantayan es. Er materialisierte in der Zentrale.

Ein Rumoren ging durch das Schiff, als es einen Blitzstart hinlegte und im Schutz seines mehrdimensionalen Schirms die Außenwand durchdrang.

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6. Kapitel: KLEINE STATION

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Der Schirm, mit dessen Hilfe das Raumschiff ausgeschleust worden war, wurde sofort danach abgeschaltet. Die KLEINE STATION war das letzte Bhalakiden-Schiff, das es hinaus in den Raum schaffte.

Insgesamt zehn Bhalakiden-Schiffe schwebten in der dunklen Todeszone jenseits des Ereignishorizontes. Aber sofern die Instrumente einwandfrei funktionierten, war das kein Problem. Die goldenen Raumer waren dafür konstruiert, auch in diesem Gebiet operieren zu können.

Einer der Diensthabenden auf der Brücke gab einen Schadensbericht durch, der sich aus den Meldungen von den anderen Raumern zusammensetzte. Danach hatten einige der Schiffe Treffer durch kleinere Strahlgeschütze der robotischen Invasoren abgekommen. Aber die Schäden beeinträchtigten nicht die Manövrierfähigkeit.

Mantayan wurde mit erstaunten Blicken bedacht, nachdem er so plötzlich materialisiert war.

„Maximale Beschleunigung“, befahl Dambiayn von einem Kommandantensessel aus, ehe er sich auch dem Neuankömmling zuwandte.

Naryavo sagte: „Das war Rettung im letzten Minimalzeitquantum!“

Mantayan sandte ein Signal der Bestätigung.

„Willkommen an Bord der KLEINEN STATION“, meinte der stellvertretende Stationsweiseste.

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MANTAYAN LIEß DEN BLICK schweifen und entdeckte Naryavo, der kurz von seiner Konsole aufblickte. In den Gesichtern beider Bhalakiden zeigte sich eine Regung, die für Angehörige der meisten anderen Humanoiden und in ihren Sozialbeziehungen auf den Gesichtsausdruck fixierten Spezies kaum als solche erkennbar gewesen wäre.

„Es erfüllt mich mit Freude, dass auch du es unter die Geretteten geschafft hast“, bekannte Naryavo an den Freund gewandt.

„Ich freue mich genauso, dass auch du den Invasoren entgangen bist“, erwiderte Mantayan, dem die Szenerie an Bord des Raumers vollkommen irreal erschien. „Aber meine Gedanken sind bei denjenigen, die es nicht geschafft haben“, fügte Mantayan noch hinzu.

„Bist du schon an Bord von Raumschiffen durch das All gereist?“, erkundigte sich der stellvertretende Stationsweiseste.

„Gewiss“, bestätigte Mantayan. „Ich habe zahlreiche Forschungen in verschiedenen Galaxien betrieben. Zumeist allerdings auf mich gestellt und auf deutlich kleineren Schiffen.“

„Dann verstehe ich nicht, wieso man dich nie beim Dienst in der Zentrale gesehen hat. Für einen Bhalakiden mit dieser Erfahrung ist das doch sehr ungewöhnlich.“

„Mein seelischer Stabilitätsindex war nicht hoch genug“, erklärte Mantayan. Aber welche Bedeutung hatten diese Dinge jetzt noch, nachdem die Invasoren ihre Xaradim-Heimat in Besitz genommen hatten.

Vielleicht hatte schon sehr bald gar nichts mehr die gewohnte Bedeutung, sinnierte Mantayan weiter. Schließlich war nicht auszuschließen, dass es die geheimnisvollen Invasoren nicht bei der Eroberung einer einzigen Xaradim-Station belassen würden.

„Übernehme eine der freien Konsolen“, wies Dambiayn Mantayan an. „Wir brauchen jeden der über Raumerfahrung verfügt - mögen seine Werte in puncto seelischer Stabilität bis dahin auch eine Verwendung als Diensthabender in der Zentrale einer Xaradim-Station verwehrt haben.“

Mantayan folgte dieser Aufforderung.

Unterdessen trafen die Schadensberichte der anderen Raumschiffe ein, die teilweise schwerer beschädigt waren, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Ein Schiff, das die Bezeichnung RUHM DER ERBAUER trug, war durch mehrere Treffer nicht mehr manövrierfähig.

Es musste von der KLEINEN STATION ins Schlepp genommen werden, was durch einen Traktorstrahl geschah. Für Dambiayns Schiff bedeutete das natürlich, dass auch bei der KLEINEN STATION die Manövrierfähigkeit stark herabgesetzt war. Aber die Alternative wäre nur gewesen, die RUHM DER ERBAUER zurückzulassen. 

Sie stand gegenwärtig unter dem Kommando eines Bhalakiden namens Werroayn, der ansonsten eine hohe Position in der Hierarchie der Mannschaft innehatte, die an Bord der Xaradim-Station für den Betrieb der Zentrale zuständig gewesen war. Zum Zeitpunkt der Invasion hatte er allerdings gerade ein Regenerationszeitquantum durchlebt und sich in seinem Privatbereich befunden.

Werroayns Gesicht wurde von dem Holofeld auf der Brücke der KLEINEN STATION abgebildet.

„Vielleicht sollten wir andocken und die gegenwärtige Besatzung auf die KLEINE STATION überwechseln lassen“, schlug er vor.

„Das kostet wertvolle Zeit“, widersprach Dambiayn. „Wir können das allenfalls nachholen, wenn wir die Zone hinter dem Ereignishorizont verlassen haben und uns wieder im normalen Raum befinden!“

„Du wirst doch wohl nicht annehmen, dass die Invasoren uns verfolgen, ehrenwerter Stellvertreter des Stationsweisesten!“, widersprach Werroayn.

„Wer will das ausschließen?“, fragte Dambiayn zurück.

„Unsere Ortungssysteme zeigen weit und breit keine weiteren jener Phantomschiffe an, wie jenes, das an unsere Xaradim-Heimat angedockt hat.“

„Vergiss nicht die außergewöhnliche Tarnungsfähigkeit, die wir bei diesem Schiff beobachten konnten!“

„Du bestehst auf deiner Entscheidungskompetenz?“

„Ja!“, bestätigte der Stellvertreter des Stationsweisesten entschieden. Die begleitenden energetischen Signale wurden nur zu einem Bruchteil übertragen, sodass nicht viel mehr als ein gedämpftes Rauschen davon auf der RUHM DER ERBAUER ankam. Dambiayn überlegte daher einen Moment lang, ob es vielleicht sinnvoll war, seinen Standpunkt durch eine Gesichtsregung zu unterstreichen, entschied sich schließlich aber dagegen. Gesichtsregungen sollten geübt sein, wenn man sie anwendet, überlegte er. Schon des Öfteren hatte er miterlebt, wie sie sonst mitunter sogar eine unbeabsichtigte und der eigentlichen Intention völlig entgegengesetzte Wirkung haben konnten. Dambiayn war durchaus bewusst, dass die meisten Gattungen, denen die Bhalakiden zumindest rein äußerlich ähnlich sahen, ihre Gesichtsmuskulatur beinahe vollkommen intuitiv benutzten und sich wenig Gedanken über die Wirkung machten, die sie damit auslösten. Die Bhalakiden wiederum schienen durch ihre Fähigkeit zur Verwandlung in Energiewesen sich auch zu den Funktionen ihrer Körper mehr und mehr distanziert zu haben.

Irgendwann, so lauteten zumindest einige sehr rätselhafte Texte der bhalakidischen Überlieferung, stand vielleicht auch für dieses Volk der Übertritt in ein Stadium vollkommen körperloser Existenz bevor.

Ist es das, was mit den Erbauern geschehen ist?, fragte sich Naryavo. Waren sie am Ende gar nicht verschwunden, sondern nur langsam vergeistigt? Hatten sie lediglich ihre stofflich fassbare Form aufgegeben, die andererseits aber notwendig war, um die Ewige Kette der Xaradim-Stationen weiter betreiben zu können?

Nichts als Spekulationen.

Es gab keine greifbaren Informationen, nur die düsteren Andeutungen einer alten Überlieferung, deren Herkunft und Wahrheitsgehalt auch nicht wirklich geklärt war.

Mysteriös wie das Auftauchen dieser unbekannten Invasoren, überlegte Naryavo.

Der Stellvertreter des Stationsweisesten wandte sich indessen an Naryavo. „Maximale Beschleunigung!“, ordnete er an.

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DIE FLOTTE AUS ZEHN golden schimmernden Kugelraumern setzte sich in Bewegung, nachdem ein von der KLEINEN STATION ausgehender Traktorstrahl die RUHM DER ERBAUER erfasste und dafür sorgte, dass das baugleiche Schiff jede Flugbewegung des Raumers, in dessen Schlepp sie sich befand, mitmachte.

Die Triebwerke der KLEINEN STATION rumorten und der Boden der Brücke vibrierte leicht in der Beschleunigungsphase. Dies war jedoch nur innerhalb der Todeszone jenseits des Ereignishorizonts der Fall, wo sich der Antrieb gegen die gewaltigen Gravitationskräfte stemmen musste, die nach den goldenen Schiffen ihre unsichtbaren Hände ausstreckte, um sie in den dunklen Orkus hineinzuziehen.

Naryavo bediente das Steuersystem der KLEINEN STATION von seiner Konsole aus. Innerhalb der Todeszone bestand die Hauptaufgabe der Triebwerke darin, die g-Kräfte des Schwarzen Lochs zu neutralisieren.

Aber für die Technologie der Bhalakiden war das ein beherrschbares Problem.

Naryavo schenkte der Holoprojektion, die in identischer Form auch auf seinen Hirnlappen projiziert wurde, für ein paar Augenblicke erhöhte Aufmerksamkeit.

Es war deutlich zu sehen, wie sich die goldenen Schiffe von der Station Xaradim entfernten.

Nie zuvor hat es einen bhalakidischen Exodus von einer Xaradim-Station gegeben!, ging es Naryavo durch den Kopf. Zumindest hatte er davon noch nie etwas gehört und soweit er die Überlieferung kannte, war dort auch nichts über ein derartiges Ereignis verzeichnet. Ein Gefühl beherrschte ihn, dass sich kaum beschreiben ließ. Es war eine Mischung aus tiefster Niedergeschlagenheit und dem Gefühl, versagt zu haben.

Wir haben den Auftrag der Erbauer aufgeben müssen, überlegte Naryavo. Allein der Gedanke an dieses Faktum, vertiefte das Gefühl der Depression nur noch. Seltsam, dachte er, es ist schon so viele Langzeitquanten her, dass die Erbauer verschwanden, und kein heute existierender Bhalakide hat jemals einen von ihnen zu Gesicht bekommen. Sie gingen vor unserer Zeit und doch beherrschen sie bis heute unser Leben, unser Denken.

Das galt nicht nur für die bhalakidische Kultur als Ganzes, sondern genauso für jedes einzelne Individuum, das dieser Gattung jemals entsprungen war.

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DIE KLEINE STATION blieb immer deutlicher hinter den anderen Schiffen zurück. Auf Grund der Tatsache, dass sie die RUHM DER ERBAUER im Schlepp mit sich zu ziehen hatte, konnte sie einfach nicht die gleichen Beschleunigungswerte erreichen.

Außerdem gab es noch ein anderes Problem.

Einer der Bhalakiden an Bord bemerkte als Erster die auffällige Veränderung in der Energiesignatur des Phantomschiffs. Der Bhalakide hieß Sharenayn und galt von jeher als enger Vertrauter des vorherigen Stationsweisesten. Mit dessen Stellvertreter hatte er jedoch wiederholt Differenzen auszutragen gehabt, die nur nach langwierigem Palaver mit einem Großen Konsens beizulegen gewesen waren. Einem Konsens, der zumindest in Dambiayns Sicht der Dinge das Attribut „groß“ zumeist kaum verdient hatte.

„Das Phantomschiff startet“, war Sharenayn überzeugt.

Er sollte Recht behalten.

Schon wenige Minimalzeitquanten später hatte es sich von der Außenhülle der Station Xaradim gelöst und seine Position geändert.

Der Kurs, den es nahm, war sehr schnell klar.

„Es folgt uns“, stellte Dambiayn fest, wobei ihm für einen winzigen Augenblick die Kontrolle seiner Gesichtsmuskulatur entglitt.

„Dass sie uns jetzt noch folgen und sich nicht mit der Eroberung der Station zufriedengeben, lässt Übles für das Schicksal derer ahnen, die von ihren Blockfallen eingesogen wurden“, meinte Naryavo.

„Du glaubst, dass sie desintegriert wurden?“, fragte Dambiayn.

„Sie hatten keine Skrupel, unsere Schiffe zu beschießen und haben eines davon sogar mit Besatzung explodieren lassen, ohne dass noch irgendjemand die Chance bekommen hätte, sich vorher zu entmaterialisieren. Zumindest war davon auf unseren Displays nichts zu erkennen ...“

Dambiayn sandte einige elektromagnetische Impulse, die einer Bestätigung gleichkamen und fügte dann hinzu: „Wir müssen mit dieser Möglichkeit rechnen. Aber niemand von uns sollte sich gestatten, dass die Furcht ihn regiert und er zum Schaden aller seine innere Stabilität verliert!“

Fromme Worte, dachte Naryavo bei sich. Wir werden sehen, wie weit uns dieser Zweckoptimismus trägt ...

Auf der großen Projektion war deutlich erkennbar, wie rasch das Phantomschiff aufholte. Wieder war es nur als Markierung zu sehen. Seine eigentliche Gestalt blieb selbst im Infrarotlicht unsichtbar.

Die Abschirmung schien nahezu perfekt zu sein. Das Einzige, was bisher einen ungefähren Eindruck der räumlichen Ausdehnung gegeben hatte, war die Anordnung der tellerartigen Module an der Außenhaut der Station Xaradim.

Aber dieses Zeichen schien trügerisch zu sein und zu falschen Schlüssen zu verlocken. Wer konnte schon ausschließen, dass das Phantomschiff nicht vielleicht lediglich einen zum Entern von Xaradim-Stationen geeigneten Fortsatz mit der Außenhülle in Berührung gebracht hatte und das eigentliche Schiff weitaus größere Ausmaße aufwies. Nach der großen Zahl von Robotern zu urteilen, die bei dieser Invasion zum Einsatz gekommen waren, konnte man diesen Schluss beinahe als naheliegend bezeichnen.

„Die Beschleunigungswerte des Phantoms übersteigen die unseren um ein Vielfaches!“, stellte Sharenayn fest. „Sie werden uns in Kürze einholen.“

Dambiayn stellte eine Konferenz-Verbindung zu allen Schiffen her.

„Hier spricht der Stellvertreter des Stationsweisesten. An alle Schiffe! Das Phantom folgt uns, und wenn es seinem Kurs weiter folgt, wird es uns den Weg abschneiden. Jede Schiffsbesatzung muss jetzt um ihr eigenes Überleben kämpfen, auf das wenigstens einer der goldenen Kugeln die Flucht gelinge, damit ihre Besatzung von dem berichten kann, was hier geschah! Schon deswegen müsst ihr alles daransetzen zu überleben. Ihr dürft nicht nach hinten schauen. Seht nicht auf das, was mit den anderen geschieht, sondern versucht einfach nur, eure Existenz zu bewahren. Schon ein einziger Zeuge dieses Geschehens, der die Xaradim-Station einer anderen Galaxis erreicht, kann vielleicht das Netz vor einer Katastrophe bewahren. Also lasst euch nicht in die Agonie des Vergessens sinken, gebt nicht auf, in der Annahme, es sei ohnehin alles vergebens. Und glaubt nicht, dass die zeitliche Permanenz unserer Xaradim-Station uns davor bewahrt, darum kämpfen zu müssen.“

Eine Pause entstand.

Auf der großen Projektion hatten sich viele Bildfelder manifestiert. Neun an der Zahl. Jedes von ihnen zeigte das Gesicht eines Schiffskommandanten.

Werroayn, der Kommandant der RUHM DER ERBAUER ergriff das Wort. Er wandte sich an Dambiayn.

„Löst den Traktorstrahl!“, forderte er. „Lasst uns zurück, dann vergrößert ihr eure Fluchtchance!“

„Nein!“, widersprach der Stellvertreter des Stationsweisesten. „Das kommt nicht in Frage! Wir werden die RUHM DER ERBAUER nicht opfern!“

„Die Worte, die du uns gerade übersandt hast, waren weise und vernünftig. Sie waren dem Rang eines Stationsweisesten und seinem sprichwörtlichen Grad an persönlicher Stabilität würdig – und sie legen genau die Handlungsweise nahe!“

„Nein!“, beharrte Dambiayn.

Alles in ihm sträubte sich dagegen, eine Entscheidung zu treffen, die das unweigerliche Ende aller Bhalakiden bedeutete, die sich auf dieses Schiff hatten retten können.

Es gab keine Möglichkeit, sie jetzt schnell genug an Bord zu nehmen – weder durch ein direktes Andocken, noch durch die Ausschleusung der Beiboote. Beide Manöver waren im Übrigen auch nicht ohne Risiko, solange sie sich im Einflussbereich des gewaltigen Schwarzen Lochs im Milchstraßenzentrum befanden.

Werroayn brachte nun sein stärkstes Argument vor.

Er sagte: „Wir haben an Bord der RUHM DER ERBAUER einen Großen Konsens in dieser Frage gefunden. Willst du tatsächlich derjenige sein, der diesen Konsens mit dem Recht der Entscheidung überstimmt, die einem amtierenden Stationsweisesten nun einmal eigen ist?“

Schweigen folgte.

Dambiayn war froh, von den nonverbalen elektromagnetischen Begleitsignalen, die von Werroayn und den anderen Diensthabenden in der Zentrale des im Schlepp befindlichen Schiffes, nur einen Bruchteil über die Schiff-zu-Schiff-Kommunikation geliefert zu bekommen. Aber dieses wenige, dieses schwache Emotionsrauschen genügte schon, um ihm deutlich zu machen, wie entschlossen die Besatzung der RUHM DER ERBAUER war.

Sie waren bereit, sich zu opfern.

Die Frage ist nur, ob ihr Opfer den anderen Schiffen tatsächlich etwas nützen würde!, ging es Naryavo derweil durch den Kopf.

Er verfolgte genauestens über seine Anzeigen die Flugbahn des Phantomschiffs, die nur anhand seiner typischen Energiesignatur zu verfolgen war.

Manchmal wurde diese Signatur kurzzeitig durch andere Impulse überdeckt, die mit der Materie verschlingenden Gier des Schwarzen Lochs zu tun hatte, das ständig weitere Materie in sich hineinsaugte.

Derzeit war bei dem Black Hole im Zentrum der Milchstraße nicht genug an Brennstoff, um einen regelrechten Jet-Stream zu bilden, der als kosmische Fackel über Milliarden von Lichtjahren sichtbar war.

Das Schiff, aus dem die Roboter gekommen waren, hatte erstaunlicherweise einen Bogen geflogen und war dabei noch tiefer in die Todeszone eingetaucht, ohne dass es ein Opfer der mörderischen g-Kräfte, jenes Monstrums aus unvorstellbar verdichteter Materie war, um die die gesamte Galaxis kreiste. Jetzt schnitt es dem schnellsten der goldenen Schiffe den Weg ab. Es war die GOLDENE INSEL.

Das Phantomschiff eröffnete sofort das Feuer.

Blassrosa Geschosse zuckten aus dem Nichts heraus. Sie blitzten plötzlich auf, sobald sie die unsichtbaren Geschützmündungen des Phantomschiffs verließen und schnellten auf die Außenhaut der GOLDENEN INSEL zu.

Deren Besatzung versuchte ein Ausweichmanöver.

Unter diesen Bedingungen ein riskantes Unterfangen.

Das Schiff geriet ins Trudeln.

Die blassrosa, wie fluoreszierend leuchtenden Geschosse verfolgten die GOLDENE INSEL und drangen wenig später durch deren Außenhaut, als gäbe es dort keinen Widerstand.

Augenblicke später kam es zu gewaltigen Explosionen an Bord des tausend Meter Raumers. Ganze Stücke platzten aus den Außenwandungen heraus, wurden als glühende Trümmer durch den Raum geschleudert, ehe sie plötzlich die Bahn abbremsten und zurückstürzten – fast so, als würde ein primitiver Drei-D-Film rückwärts laufen gelassen.

Oder die Zeit in der falschen Richtung verlaufen. Aber das waren nicht die unkalkulierbaren Relativitätseffekte dieser Todeszone, durch die jene Erscheinungen verursacht wurden, sondern schlicht und ergreifend die enorme Anziehungskraft des Schwarzen Lochs, die auch die Trümmer unaufhaltsam in sich hineinsaugte.

Weitere Teilsektionen brachen aus dem Schiff heraus.

Verstümmelte Notrufe erreichten die anderen Schiffe, die kaum etwas tun konnten, um den Bhalakiden an Bord noch helfen zu können.

Ein anderes Schiff, die NACHTSTERN, eröffnete ihrerseits das Feuer, deckte das nach wie vor gut getarnte Phantomschiff mit einem Bombardement aus Energiefeuer und grellweißen Photonentorpedos aus.

Aber das Schiff der Invasoren war außerordentlich wendig.

Zunächst einmal wurde die schwache Energiesignatur völlig durch die Explosionen und die damit einhergehenden elektromagnetischen Effekte überdeckt.

Für eine ganze Reihe von Minimalzeitquanten war das Phantom vollkommen unsichtbar.

Weitere Schiffe der Bhalakiden beteiligten sich an dem Gefecht.

Die Wut schien mit dem einen oder anderen Schiffskommandanten – trotz der durchgehend guten Werte, was die persönliche Stabilität anging – durchzugehen.

Wut über das Massaker, das mit dem Ende des Schiffs einhergegangen war.

Dieses Maß an Rücksichtslosigkeit und Brutalität war den Bhalakiden unbekannt. In all den Äonen, in denen sie nun schon den Auftrag der Erbauer nach bestem Vermögen ausführten, hatten sie so etwas nicht erlebt.

Sonst hätte es zweifellos Eingang in die ansonsten sehr umfang- und detailreichen Überlieferungen der Bhalakiden gefunden.

Aber das war nicht der Fall.

Das Feuerwerk war wenig später vorbei.

Dambiayn gab den Befehl, alle Kampfhandlungen zunächst wieder einzustellen. Es hatte keinen Sinn, auf etwas zu schießen, von dem man nicht wusste, wo es war.

Erneut wiederholte er dann seinen Befehl, dass jedes Schiff sein Heil in möglichst rascher Flucht zu suchen hatte.

Dann wurden die typischen Signaturen des Phantoms erneut geortet. Es war dem Beschuss durch die Bhalakiden-Schiffe zweifellos entgangen und holte zu einem Schlag gegen die nächste goldene Kugel aus, die beinahe schon den Ereignishorizont erreicht hatte. Ob das eine Grenze war, die in diesem bizarren Kampf eine Rolle spielte und vielleicht sogar so etwas wie vorläufige Rettung bedeutete, war durchaus nicht klar. Niemand wusste schließlich, welche Möglichkeiten den Invasoren im Normalraum zur Verfügung standen.

Das Phantomschiff feuerte erneut seine blassrosa Torpedos ab, während sich der Bhalakiden-Raumer mit Energiefeuer wehrte. Das Feuer des Bhalakiden-Schiffs vermochte das Phantomschiff jedoch nicht nur zu einem Bruchteil zu treffen. Hier und da glaubte Naryavo anhand von energetischen Wechselwirkungen erkennen zu können, dass das unsichtbare Raumschiff der Invasoren einen Treffer hatte hinnehmen müssen. Letztlich lag das alles jedoch im Bereich der Spekulation.

Man konnte nur sagen, dass dort etwas war. Aber nicht genau, was – von der räumlichen Ausdehnung ganz abgesehen. Die unsichtbaren Geschütze des Phantoms feuerten jedoch eine weitere Salve an Torpedos ab, die zielsicher ihren Weg fanden. Beinahe gleichzeitig wurden zwei Bhalakiden-Schiffe getroffen.

Sie zerbarsten regelrecht und schufen für einen winzigen Augenblick mitten in der finsteren Dunkelzone im Nahbereich um das Schwarze Loch ein kleines Fusionsfeuer.

Die goldenen Schiffe änderten jetzt ihre Taktik. Die Flugbewegungen wurden zum Teil chaotisch – und das mit Absicht. Ähnliche Überlebensstrategien verfolgen zahllose insektenartige Flieger auf tausenden von Planeten, die ihren viel größeren und stärkeren Feinden dadurch entgingen, dass sie mitten im Flug scheinbar abstruse Kurswechsel und Flugbewegungen durchführten.

Sie können sich nicht auf alle goldenen Schiffe zugleich konzentrieren!, durchfuhr es Naryavo. Vielleicht eröffnete dieser Umstand wenigstens einigen wenigen Schiffen die Möglichkeit der Flucht.

Aber je weiter die Zeit fortschritt, desto mehr schmolz diese Hoffnung auf ein Minimum zusammen.

Zwei explodierende Bhalakiden-Schiffe sorgten für ein grelles Aufleuchten zweier Glutbälle.

Dann war da nichts mehr.

Nichts als Trümmer, die dem schwarzen Schlund entgegentrieben.

„Kurs vom Zufallsgenerator eingeben lassen!“, befahl Dambiayn. „Lediglich Flugbahnen von einem Vernichtungsrisiko mit mehr als siebzig Prozent ausschließen lassen!“

Naryavo führte diesen Befehl als zuständiger Pilot aus.

Der Kurs der KLEINEN STATION war jetzt sprunghaft und im wahrsten Sinn des Wortes unberechenbar. Vielleicht die einzige Waffe, die die Bhalakiden im Augenblick gegen die Invasoren einsetzen konnten.

Die Torpedos der Fremden hatten ihre Mühe, den Weg zu ihrer Beute zu finden.

Im ersten Augenblick schien der eingeschlagene Weg recht erfolgreich gewesen zu sein.

Die RUHM DER ERBAUER blieb die ganze Zeit über im Schlepptau der KLEINEN STATION.

Auf eine erneute Anfrage Werroayns hin, ob es nicht besser sei, die RUHM DER ERBAUER vom Traktorstrahl zu lösen, reagierte Dambiayn ziemlich allergisch.

Er wollte so viele Bhalakiden mit ihrem Wissen und ihren Werkzeugen wie möglich retten.

Die Aufgabe eines Schiffes kam unter normalen Umständen für ihn nicht in Frage.

Aber hatte dasselbe nicht in noch viel weitreichendem Maß für die Eroberung einer ganzen Xaradim-Station gegolten?

Auch das waren Dinge, um die sich niemand mehr zu kümmern schien.

Erneut verwandelte sich ein bhalakidisches Schiff jetzt für wenige Minimalzeitquanten in eine Miniatursonne. Das Schiff fiel in einer Implosion regelrecht in sich zusammen, nachdem es einem bisher noch nicht bekannten, bläulich schimmernden Torpedo der Angreifer ausgesetzt war. Im Gegensatz zu den blassrosa Geschossen, bewegten sich die blauen auf teilweise chaotisch wirkenden Bahnen. Aber sie waren gegen die golden schimmernden Außenwandungen der Bhalakiden-Schiffe noch viel wirksamer.

Meistens reichte ein einziger Treffer, um das betreffende Schiff zu vernichten.

Einer der Raumer, dessen Name LICHT DER FINSTERNIS lautete, bekam nur einen leichten Treffer in der unteren Polregion der golden schimmernden Kugel.

Das Raumschiff wurde daraufhin manövrierunfähig. Die Triebwerke fielen aus und vermochten es nicht mehr, die LICHT DER FINSTERNIS auf einer einigermaßen stabilen Flugbahn in der Nähe des Ereignishorizonts zu halten. Das Raumschiff stürzte ins Nichts – und das im wahrsten Sinn des Wortes. Hilflos taumelte es auf den dunklen Schlund zu, der alles verschlang, was man ihm in den Rachen warf.

Das Phantomschiff wiederum war so wendig und schnell, dass es den Bhalakiden einfach nicht gelingen wollte, es punktgenau unter Beschuss zu nehmen und womöglich zu vernichten. Der Umstand, dass die gute Tarnung dieses unbekannten Raumers ein Übriges dazu tat, die Verteidigung der Goldenen Schiffe schwer zu machen.

„Wir werden gleich den Ereignishorizont passieren“, meldete Sharenayn.

„Wenigstens haben wir dann freien Blick auf die Sterne“, sagte Dambiayn.

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EINE ERSCHÜTTERUNG durchlief die KLEINE STATION. Die in der Zentrale Diensthabenden mussten sich an ihren Konsolen festhalten.

Derart heftige Turbulenzen im Flugbetrieb der Goldenen Schiffe waren eigentlich gar nicht vorgesehen.

Unter normalen Umständen kam so etwas auch gar nicht vor. Es gab kaum Waffen, die den bhalakidischen Schiffen gefährlich werden konnten und was die Gewalten des Kosmos anging, so war ein Schiff, das den Kräften eines zentralgalaktischen Schwarzen Lochs zu trotzen vermochte, wohl auch für die meisten anderen Gefahren gut gerüstet.

Die Waffen der Invasoren jedoch hatten sich bislang als äußerst effektiv erwiesen. Einfach, aber wirksam.

„Schwere Treffer auf der RUHM DER ERBAUER!“, meldete Sharenayn. „Bei uns gibt es Treffer in der Sektion des Traktorstrahlprojektors.“

Die Waffensysteme der KLEINEN STATION waren unter direkter Kontrolle Dambiayns, der sofort für breit gefächertes Gegenfeuer sorgte.

Aber die geschickten Ausweichmanöver des unsichtbaren Gegners sorgten dafür, dass davon das meiste völlig wirkungslos verpuffte.

Ob diese Resistenz gegen die bhalakidischen Waffensysteme vielleicht auch etwas mit irgendeiner besonders widerstandsfähigen Panzerung zu tun hatte, konnte bislang nicht bestimmt werden. Fest stand nur, dass keinerlei Energiesignaturen gemessen worden waren, die auf einen Schutzschirm hingewiesen hätten.

„Der Traktorstrahl hat nur noch eine Leistungsstärke von achtzig Prozent und steht kurz davor zu reißen“, meldete Sharenayn.

„Wir haben nur die Alternative, Energie von den Waffensystemen abzuziehen oder die RUHM DER ERBAUER ihrem Schicksal zu überlassen.“

Eine Entscheidung, um die Dambiayn niemand an Bord beneidete.

Eine weitere schwere Erschütterung durchlief jetzt die KLEINE STATION.

Es gab weitere Treffer. Die Außenhülle war an einer Stelle durchschlagen worden. Eine Sektion musste mit Hilfe von Eindämmungsfeldern abgeschottet werden, außerdem riss die Schleppverbindung zur RUHM DER ERBAUER, die jetzt ins Nichts hineintrudelte.

Der unbekannte Feind hatte Dambiayn die Entscheidung, die RUHM DER ERBAUER zurückzulassen, abgenommen.

Für die Bhalakiden an Bord der RUHM DER ERBAUER konnten sie jetzt nichts mehr tun.

„Maximale Beschleunigung und sämtliche Energieressourcen auf den Antrieb!“, lautete der Befehl des stellvertretenden Stationsweisesten.

Ein Befehl, der Dambiayn das Äußerste an seelischer Stabilität abverlangte.

Die KLEINE STATION schoss aus der Dunkelzone um das Black Hole heraus.

Unzählige Sterne leuchteten auf der großen Holoprojektion in der Zentrale des Schiffes, die im Wesentlichen das wiedergab, was die optischen Sensoren des Schiffs aufzeichneten.

Alle Diensthabenden wandten in diesen Momenten ihre Aufmerksamkeit der Frage zu, ob ihnen jemand gefolgt war.

Noch erfüllte sie die Hoffnung, dass es vielleicht doch noch eines der anderen goldenen Schiffe geschafft hatte, die Todeszone zu verlassen.

Ein dunkler Ozean aus purer Finsternis verdeckte einen Großteil der Sterne.

Umringt war er von einem Meer aus gleißendem Licht, denn im galaktischen Zentrum war die Sternendichte extrem groß.

Aber nichts gelangte aus der Dunklen Zone heraus. Nicht einmal das Licht.

Die bhalakidischen Raumschiffe gehörten ja zu den wenigen Objekten, von denen überhaupt eine Rückkehr aus dieser Zone denkbar war.

Aber offenbar hatte das Phantomschiff der Invasoren unbarmherzig zugeschlagen.

„Wir müssen damit rechnen, dass sie alle vernichtet sind“, stellte Mantayan fest. „Auch wenn es schwerfällt, die Hoffnung aufzugeben.“

„Wir können froh sein, uns selbst gerettet zu haben“, erwiderte Dambiayn. Sein Gesicht, das ansonsten eher durch weiche, gleichmütig und androgyn wirkende Züge gekennzeichnet war, zeigte jetzt ein paar für einen Bhalakiden sehr harte Linien.

„In uns alle wird sich das Geschehene unlöschbar einbrennen“, fuhr er schließlich nach einer etwas längeren Pause des Schweigens fort. „Wenn wir uns später daran erinnern, wird es für jeden von uns ein davor und ein danach geben. Es ist unfassbar, was geschehen ist. Und wer weiß, vielleicht ist es nur der Auftakt zu Dingen, die uns an unsere schlimmsten Albträume erinnern ...“

„Es wundert mich, wie ruhig es hier manche hinnehmen, dass wir nichts für unsere Bruderschwestern tun können“, bekannte Mantayan. „Aber es würde mich nicht wundern, wenn diejenigen, die ihren hohen Stabilitätsfaktor wie einen Orden vor sich hertragen, in Wahrheit schon erfolgreich damit begonnen haben, die Gefahr aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen, die sich da manifestiert hat.“

„Deine Worte befremden mich“, stellte Dambiayn fest.

„Mich befremdet schon seit Langem so manches, was uns Bhalakiden und unser Leben als Lichtgestalten in goldenen Kugeln am Rand des Abgrunds angeht. Mich befremdet, wie der großzeitquantenlange Verfall hingenommen wird, ohne dass irgendjemand sich daran stört. Es befremdet mich, dass einfach hingenommen wird, dass die namenlosen Erbauer uns eine Aufgabe diktiert haben und wir nicht in der Lage sind, den Sinn dieser Aufgabe überhaupt zu erkennen, geschweige denn, ihn in Frage zu stellen. Was unterscheidet uns denn von abgerichteten Haustieren, die auf mancher Primitivwelt für den Ackerbau oder zum Tragen schwerer Lasten benutzt werden? Nichts. Vielleicht der Stabilitätsfaktor ...“

„... der bei dir tatsächlich nicht sehr stark ausgeprägt zu sein scheint, wie dein unbeherrschtes Auftreten beweist“, schnitt Dambiayn ihm das Wort ab. Das begleitende Signalrauschen machte überdeutlich, welche Emotionen gerade auch in dem amtierenden Stationsweisesten aufkochten. Selbst sein hoher Stabilitätsfaktor konnte dies nicht verhindern.

Zeige Stärke und Stabilität!, versuchte er sich selbst zu disziplinieren. Die Panik ist ein Flächenbrand. So lautete ein Satz der Überlieferung, den er sich in kritischen Situationen immer wieder vergegenwärtigt hatte.

Was denn für kritische Situationen?, meldete sich eine fast sarkastische Stimme in ihm. Dies ist doch die erste wirkliche Krise, die du erlebst. Und dasselbe gilt ja wohl auch für alle anderen Bhalakiden, die diesen Weg mit dir gegangen sind, weil sie von ihrer Xaradim-Heimat verjagt wurden.

*

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DIE KLEINE STATION erreicht ein namenloses Sonnensystem, in dem drei Gasriesen von zwanzigfacher Jupitergröße auf gegeneinander geneigten und ziemlich exzentrischen Bahnen eine blaue Riesensonne umkreisten. Einer dieser Gasriesen umkreiste die Sonne in einer vertikalen Umlaufbahn.

Seine Masse war knapp unterhalb jener kritischen Größe, bei der ein eigenständiger Fusionsprozess wie im Inneren einer Sonne begann.

Weitere Planeten hatten sich in diesem System nicht bilden können. Die drei exzentrischen Riesen schienen den Großteil der freien Materie, der die blaue Sonne vor Milliarden von Großzeitquanten umschwirrt hatte, zu sich herangezogen zu haben.

Monde besaß keiner dieser Gasriesen. Ihre Eigenrotation war mörderisch hoch. Ihre Umlaufgeschwindigkeiten um ihr Zentralgestirn machten aus ihnen gewaltige Geschosse, die mit ihrer Gravitationskraft den Raum um sie herum leer fegten. Ihre planetare Existenz würde noch kürzer sein als das überhitzte, schnelle Leben ihrer Sonne, das noch nicht einmal ein Zehntel der Existenzspanne eines gelben Sterns vom Sol-Typ betrug.

Ihre Planeten wurden nur dank der ungeheuer hohen Umlaufgeschwindigkeit davor bewahrt, in ihre Sonne zu stürzen. Aber diese Geschwindigkeit verlangsamte sich im Lauf der Zeit. Doch bevor eine kritische Grenze erreicht wurde, würde sich der blaue Stern in eine Supernova und dann in ein Schwarzes Loch verwandeln.

Die KLEINE STATION steuerte dieses nur etwa 1,5 Lichtjahre vom Ereignishorizont des galaktischen Black Holes entfernte System an.

Messungen ergaben, dass es sich mit wachsender Geschwindigkeit auf das große, dunkle Monstrum im Zentrum der Milchstraße zubewegte.

Unaufhaltsam.

Die blaue Sonne stand zwar bereits ganz am Ende der für Sterne ihres Typs und ihrer Masse durchschnittlichen Lebenserwartung, und eigentlich hätte man jederzeit mit einer Novaexplosion rechnen können. Aber noch wahrscheinlicher war, dass sie vorher, und zwar noch im Verlauf des laufenden Großzeitquantums, über die Grenze ins Reich der ewigen Nacht gezogen und vom Schwarzen Loch verschlungen werden würde.

Dambiayn hatte den Befehl gegeben, hierher zu fliegen, weil er hoffte, hier Tarnung zu finden. Denn noch immer konnte man nicht ausschließen, dass der Invasor ihnen doch noch folgte.

Die Ortungssysteme an Bord der KLEINEN STATION wurden zu einem Großteil ihrer Kapazität ständig auf die Austrittsregion des Ereignishorizontes gerichtet. Bislang war die schwache, aber nichtsdestotrotz sehr typische und daher eindeutig identifizierbare Energiesignatur des Phantomschiffs nicht geortet worden. Aber für Dambiayn war dies kein Grund zur Beruhigung.

Naryavo steuerte die KLEINE STATION auf den größten der drei Gasriesen zu. Es war eine Methanwelt, auf der schier unvorstellbare Druckverhältnisse herrschten. Die hohe Umdrehungsgeschwindigkeit sorgte für atmosphärische Turbulenzen, die Stürme mit Extremgeschwindigkeiten verursachten.

Naryavo machte den Vorschlag, diesen Sturmriesen als Zuflucht und Ortungsschutz zu nutzen.

Erstens befand er sich gerade auf der dem zentralgalaktischen Schwarzen Loch abgewandten Seite des blauen Sterns und zweitens erwog Naryavo als zusätzliche Maßnahme, mit der KLEINEN STATION in die zehntausende von Kilometern durchmessende Atmosphäre des Methanriesen zu fliegen. Der Bordrechner stellte eine günstige Prognose und schätzte den dadurch gewonnenen Ortungsschutz als sehr hoch ein.

Dambiayn zweifelte noch.

„Ich frage mich, ob nicht eine rasche Flucht die bessere Alternative wäre!“, gestand er.

„Warum kleidest du deine Bedenken in die Form einer Frage?“, ließ sich Mantayan vernehmen. Signale, die eine deutlich angespannte Seelenverfassung spüren ließen, gingen von ihm aus.

Dambiayn hatte schon kurzzeitig erwogen, ihn um eine größere psychische Stabilität der Gruppe willen von der Brücke der KLEINEN STATION zu verbannen und seinen Posten durch jemand anderen ersetzen zu lassen.

Andererseits konnten gerade die Erfahrungen eines so weit gereisten Bhalakiden, wie Mantayan es zweifellos war, noch von Bedeutung sein.

Mantayan fuhr indessen fort: „Du denkst doch nicht wirklich daran, in dieser Frage tatsächlich einen großen Konsens anzustreben. Also triff deine Entscheidung und wir alle können dann hoffen, dass wir die Folgen überleben.“

Dambiayn beachtete diesen Ausfall Mantayans nicht weiter.

Er wandte sich an Naryavo. „Trage deine Argumentation vor“, forderte er ihn auf.

„Wir müssen damit rechnen, dass uns das Phantom folgt“, glaubte Naryavo. „Gegenwärtig ist es vielleicht noch damit beschäftigt, unsere letzten überlebenden Bruderschwestern zu vernichten, aber ihre Technik ist derart hoch entwickelt, dass es wahrscheinlich keine schnelle Flucht vor ihnen gibt. Sie werden uns früher oder später überallhin folgen und unsere Spuren aufnehmen.“

„Und was brächte dann eine Flucht in diese Methanhölle?“

„Wir müssen für eine Weile einfach verschwinden. Uns tot stellen, bis der Feind die Suche aufgegeben hat, falls er dann überhaupt noch einen Anhaltspunkt findet, um sie aufzunehmen.“

Sharenayn, der Vertraute des vormaligen und inzwischen sicherlich im Zustand der Nicht-Existenz befindlichen Stationsweisesten, meldete sich jetzt zu Wort.

„Wir wissen nur, dass das Phantomschiff innerhalb der dunklen Zone um das Schwarze Loch herum offenbar manövrieren kann. Aber über welche Fähigkeiten es außerhalb dieser Zone verfügt, ist reine Spekulation. Meiner Ansicht nach sollten wir maximal beschleunigen und zusehen, dass wir so viele Lichtjahre wie nur irgend möglich zwischen uns und dem Feind legen.“

Dambiayn sandte Signale, die vermuten ließen, dass er durchaus einiges für die Argumentationslinie Sharenayns übrig hatte. Aber noch hatte er sich nicht entschieden.

„Auf jeden Fall dürfte es unmöglich sein, einen großen Konsens herzustellen“, erklärte Naryavo. „Die verschiedenen Standpunkte haben dies überdeutlich gemacht – und davon abgesehen, dürfte es an Bord der KLEINEN STATION noch weitaus mehr Meinungen zur Sache geben, sodass der Entscheidungsprozess letztlich viel zu lange dauern würde.“

„Dann forderst du mich zur Entscheidung auf?“, vergewisserte sich Dambiayn.

Naryavo sandte zustimmende Signale.

„Zumindest in diesem Punkt bin ich mir mit Mantayan einig“, erklärte er, wandte den Kopf in Mantayans Richtung und fügte anschließend noch in gedämpftem Tonfall, aber regungslosem Gesicht hinzu: „Auch wenn uns ansonsten argumentativ einiges trennt – aber dies war schon bei unseren letzten Begegnungen der Fall, und ich möchte das eigentlich nicht vertiefen.“

Mantayan antwortete nicht.

Sein Gesicht wirkte maskenhaft.

Eine demonstrativ zur Schau gestellte innere Stabilität, die nur dem Zweck diente zu verdecken, was wirklich in ihm vorging. Zumindest war dies Naryavos zielsichere Einschätzung. Er kannte Mantayan schließlich lange genug, um dies mit hoher Trefferquote beurteilen zu können.

Dambiayn traf seine Entscheidung, nachdem erneut die Umgebung noch einmal gründlich abgetastet worden war.

„Wir fliegen in die Methanhölle!“, erklärte er unmissverständlich.

*

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DER BLAUE STERN BILDETE den gesamten Hintergrund der großen Holoprojektion in der Zentrale der KLEINEN STATION.

Das Blau changierte manchmal leicht, wirkte an manchen Stellen beinahe weiß.

Selbst auf diese große Entfernung waren bereits die gigantischen Eruptionen zu sehen, die riesige Mengen an heißen Gasen emporschleuderten.

Welch ein gigantischer Glutofen!, dachte Naryavo. Aber gegen die Gewalten des Schwarzen Lochs, um dessen Gravitationszentrum sich die gesamte Galaxis drehte, war er ein Nichts.

Der Methanriese tauchte auf.

Gegenüber seinem Zentralgestirn wirkte er jedoch nur wie ein Zwerg.

Die gigantischen Stürme, die die selbst in den obersten Schichten noch sehr dichte Atmosphäre durcheinander wirbelten, waren aus dem All bereits deutlich zu sehen.

Dazwischen gab es ruhige Zonen im Zentrum dieser Stürme. Manche von ihnen hätten mühelos mehrere kleinere Planeten schlucken können.

Die atmosphärischen Turbulenzen sorgten für gewaltige elektrische Entladungen.

Blitze von unvorstellbarer Gewalt zuckten durch die Wolken aus Ammoniak sowie verschiedenen Schwefelverbindungen, die sich zu gigantischen Gebirgen auftürmten.

Die Ortungsergebnisse wurden mit der sich verringernden Distanz zwischen der KLEINEN STATION und ihrem Zielplaneten genauer.

Es gelang Sharenayn mit Hilfe der Sensoren, immer tiefer in die dichte Atmosphäre der Methanhölle vorzudringen. Die Temperaturen waren durchweg sehr hoch.

Ein fester Kern aus schweren Elementen befand sich im Planeteninneren. Er bestand etwa zur Hälfte aus Eisen und Eisenverbindungen und zur anderen Hälfte aus Elementen wie Wolfram, Blei, Uran und Kobalt.

Dieser magnetisch sehr aktive, stark radioaktive Kern wurde ummantelt von einem Ozean, der zu einem hohen Anteil Ammoniak sowie Wasser und darin gelösten Schwefelverbindungen bestand. Die Temperaturen waren viel zu hoch, um flüssige Form zu erhalten. Dafür sorgte der ungeheure Druck, mit dem die Gasmassen auf diesen bizarren Ozean drückten.

Selbst in den obersten Atmosphärenschichten war er weitaus höher, als sie in den tiefsten Ozeanspalten eines erdähnlichen Planeten gewesen wäre.

Die KLEINE STATION tauchte in einem flachen Winkel in die Stratosphäre der Methanhölle ein.

Der Bremseffekt war ungeheuer stark. Aber die Andruckneutralisatoren des Bhalakiden-Schiffs sorgten dafür, dass die Besatzung davon kaum etwas merkte – abgesehen von einem leichten Ruckeln und hin und wieder dem Gefühl eines eigenartigen Sogs, das aber abebbte, sobald sich die Schiffssysteme auf die Verhältnisse eingestellt hatten.

Naryavo veränderte den Eintrittswinkel nach und nach. Die KLEINE STATION sank tiefer in die Methanatmosphäre hinein. In den obersten Schichten der Stratosphäre gab es hohe Anteile von Ozon und Kohlendioxid.

Hier gab es kaum elektrische Entladungen, doch zehntausend Kilometer tiefer brodelte es in dichten Wolkengebirgen aus Ammoniak, Wasser und Schwefelwasserstoff. Blitze zuckten. Dicke Regentropfen aus Schwefelsäure quälten sich durch die dichten Gase und kondensierten schon bald wieder, ohne je irgendeinen Boden oder die Oberfläche eines Ozeans zu erreichen.

Das mehrpolige Magnetfeld des Planeten sowie die heftigen elektromagnetischen Entladungen in der Atmosphäre wirkten sich fatal auf die Ortung aus. Die Sensoren arbeiteten nicht wie gewohnt. Insbesondere die Fernortung wurde in Mitleidenschaft gezogen.

„Das müssen wir in Kauf nehmen“, erklärte Dambiayn.

„Es wäre gut, wenn wir so viele Systeme wie irgend möglich abschalten könnten“, sagte Naryavo. „Alles, was irgendwie verzichtbar ist. Falls der Feind uns doch gefolgt sein sollte, wäre es gut, wenn er uns wenigstens nicht an irgendeiner charakteristischen Energiesignatur wiedererkennt.“

„Ich bekomme hier ein paar eigenartige Anzeigen herein“, erklärte Sharenayn irgendwann, nach dem die KLEINE STATION bereits die erste Schicht von Ammoniakwolken durchflogen hatte.

Naryavo hatte nicht die Möglichkeit, seinerseits die Orter-Daten zu verfolgen, da er sich voll und ganz auf die Pilotenfunktion zu konzentrieren hatte. So gut es ging wich er mit der KLEINEN STATION den mörderischen Gewitterstürmen aus. Es war zwar nicht anzunehmen, dass die Entladungen eine unmittelbare Gefahr für das Schiff bedeuteten, aber der Schaden war schon groß genug, wenn nur irgendeine kleine Systemkomponente in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Und das wollte niemand an Bord riskieren.

„Versuche die Werte zu interpretieren“, forderte Dambiayn von Sharenayn.

„Der Bordrechner gibt meiner Interpretation nur eine Wahrscheinlichkeit von 24 Prozent“, gab Sharenayn zu. „Ich weiß nicht, ob uns meine Vermutung da wirklich weiterhilft.“

„Schaden kann es jedenfalls auch nicht“, sagte Dambiayn.

„Also gut“, erklärte Sharenayn. „Das Objekt, das ich da geortet habe, müsste in etwa kugelförmig sein und den Durchmesser eines kleinen Mondes besitzen. Es besteht überwiegend aus erzhaltigem Gestein. Und dreht sich um die eigene Achse. Fünfzehn Mal innerhalb eines Planetentages auf dieser Methanhölle. Ich würde auf einen Mond tippen.“

„Innerhalb der Atmosphäre?“, wunderte sich Naryavo.

„Warum nicht?“, entgegnete Sharenayn. „Es spricht physikalisch nichts dagegen, dass ein oder mehrere Trabanten ihre Bahnen innerhalb der Atmosphäre des Methanriesen ziehen. Dazu würde auch passen, dass sich die Bahn dieses Objekts geostationär mit der planetaren Umdrehung harmonisiert hat.“

„Gibt es weitere derartige Objekte?“, fragte Dambiayn nachdenklich.

Sharenayn sandte einige Signale der Verneinung, überprüfte sicherheitshalber die Ortungssysteme noch einmal. „Es scheint nichts Vergleichbares vorhanden zu sein.“

„Ist eine Landung auf diesem ... Mond möglich?“, erkundigte sich nun Naryavo. 

„Möglich, aber sehr schwierig“, sagte Sharenayn. „Die atmosphärischen Winde, die auf dem Methanriesen toben, werden wahrscheinlich alles von der Oberfläche dieses Mondes hinwegreißen.

„Wenn wir auf der Oberfläche dieses Mondes landen und die KLEINE STATION dort fixieren könnten, würde uns dies erlauben, sämtliche Antriebssysteme zu deaktivieren“, präzisierte Naryavo seinen Vorschlag. „Das würde die Wahrscheinlichkeit einer Ortung durch unseren Feind minimieren.“

„Wäre es nicht auch möglich, wenn wir uns einfach in der Atmosphäre treiben lassen?“, fragte Dambiayn.

„Die Risiken wären ungleich höher“, entgegnete Naryavo. „Wir müssten die Systeme immer auf einem Level aktiviert halten, das uns im Notfall erlaubt, sehr schnell zu reagieren. Die Wetterverhältnisse sind auf dieser Methanwelt ja ziemlich unberechenbar ...“

„Dann versuch eine Landung“, stimmte Dambiayn schließlich zu.

Die große Projektion in der Zentrale der KLEINEN STATION zeigte jetzt eine fiktive Großansicht des mondgroßen Objekts. Noch war es auf Grund der ungeheuer dichten Atmosphäre nicht wirklich zu sehen. Für die optischen Außensensoren des Raumschiffs glich der Blick nach außen der Sicht durch dickes Glas. Eine optische Erkennung auf längere Distanzen war allenfalls im Infrarotspektrum möglich.

Dicke Schwaden aus bräunlichen bis gelblichen Gasen umwaberten die KLEINE STATION.

Gegenwärtig herrschte relativ ruhiges Wetter in der Region um den vermuteten Mond.

Auf den meisten von höheren Lebensformen bewohnten Welten hätte man dieses ruhige Wetter immer noch als mittleren Orkan bezeichnet, aber für die aufgewühlte Atmosphäre des Methanriesen galt dies bereits als geradezu beschaulich.

Die KLEINE STATION näherte sich dem Objekt, das sich tatsächlich als ein in der Atmosphäre verborgener Mond entpuppte.

Der Metallanteil war sehr hoch. Außen hatte sich eine dicke Schicht aus Oxiden gebildet. Vielleicht hatte der Methanriese diesen Brocken vor langer Zeit quasi eingefangen und auf diese Bahn innerhalb seiner eigenen Gashülle gezwungen. Im Lauf der Äonen hatten die unerbittlichen Winde des Methanriesen die Oberfläche des Mondes glatt poliert. Es gab dort keine Erhebung, die die Körperlänge eines Bhalakiden überschritt. Dafür aber einen etwa fünf Kilometer tiefen Graben auf der dem Planeten zugewandten Mondseite.

Möglicherweise stammte er aus der Kollision mit einem weiteren Materiebrocken. Da sich der Graben auf der ständig dem Planeten zugewandten Seite befand, musste der Mond entweder durch die Kollision mit einem Objekt aus dem All gedreht worden sein oder er war durch einen anderen, den Methanriesen auf einer exzentrischen Bahn umkreisenden Begleiter getroffen worden. Für unwahrscheinlich hielt Naryavo die Hypothese, dass es auf der Oberfläche einst zu einer Explosion gekommen war, die Bruchstücke bis in diese Höhen geschleudert hatte.

Dambiayn gab die Anweisung, in die Schlucht hineinzufliegen und im Inneren des verborgenen Mondes einen Landeplatz zu suchen.

„Falls uns der Feind allerdings dann doch auf die Spur kommen sollte, wird es sehr schwierig, schnell zu reagieren“, wandte Naryavo ein. „Je tiefer wir in die Schlucht eindringen, desto geringer werden unsere Möglichkeiten zum Manövrieren. An einen Schnellstart oder ein Ausweichmanöver ist dann nicht zu denken.“

„Ein berechtigter Einwand“, gestand Dambiayn zu.

Das sagt er nur, um ihn höflich aber bestimmt in die Kategorie ‚braucht nicht berücksichtigt werden’ zu stecken!, erkannte Naryavo sofort.

Er sollte Recht behalten.

Dambiayn fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Die Schlucht ist ein gutes Versteck. Wir werden so tief wie möglich in sie hineinfliegen.“

Sharenayn sorgte dafür, dass neben der großen Projektion in der Zentrale der KLEINEN STATION eine schematische Darstellung der Schlucht und ihrer höhlenartigen Fortsätze zu sehen war, die sich offenbar über ein relativ große Gebiet erstreckten und sehr tief in das Innere des verborgenen Mondes hineinragten. „Wir werden auf Abbrüche achten müssen“, erklärte Sharenayn. „Die Gravitationskräfte des Mondes widerstreiten hier mit der Anziehungskraft des Methanriesen. Dadurch kommt es in dem eigentlich geologisch gesehen sehr ruhigen Himmelskörper zu enormen mechanischen Spannungen, die durchaus dazu führen könnten, dass unser Schiff im Endeffekt unter Massen aus Schutt und Gestein begraben liegt.“

„Dann möchte ich, dass ein besonderes Augenmerk auf seismische Messungen gerichtet wird“, bestimmte Dambiayn.

Die KLEINE STATION flog in die tiefe Schlucht, die sich wie eine mehr oder minder gerade Narbe in der ansonsten fast makellos glatt wirkenden Mondoberfläche zog.

Sie reichte vom Nordpol weit über den Äquator dieses Himmelskörpers, machte dann einen Bogen und erreichte schließlich das südliche Polargebiet des verborgenen Mondes.

Wie ein angeschnittener Apfel sah das aus und vielleicht würde dieser Mond in irgendeiner fernen Zukunft förmlich zerrissen werden.

Die KLEINE STATION flog einige Kurzlängenquanten nördlich des Äquators.

Die KLEINE STATION drosselte die Geschwindigkeit und flog schließlich an einer besonders breiten Stelle in die Schlucht hinein. In den felsigen Wänden hatten sich Unebenheiten und gezackte hervorspringende Strukturen und Formen halten können, wie sonst nirgends auf diesem Himmelskörper. Hierher konnten die unbarmherzigen Winde des Methanriesen nur bedingt folgen. Allenfalls schwache Ausläufer der großen, die gesamte planetare Atmosphäre ins Chaos stürzenden Wirbelstürme konnten ihre Zerstörungs- und Formungskraft hier unten in diesen Tiefen entfalten.

Auf der schematischen Darstellung des Schluchten- und Höhlensystems, das für den verborgenen Mond genauso charakteristisch war wie seine glatte Oberfläche und der erstaunlich hohe Anteil an schweren Elementen und Metallen, konnte man den Weg der KLEINEN STATION mitverfolgen.

Dambiayn hatte nach längerer Zeit wieder auf dem Sitz des Kommandanten Platz genommen, auf den ihn zuletzt vor lauter unleugbarer Erregung nichts mehr hatte halten können.

Aber jetzt, so glaubte er, war das Überleben der an Bord dieses Schiffes befindlichen Bhalakiden fürs Erste gesichert. Er konnte sich beruhigt ein paar Augenblicke der Meditation gönnen. Vor seinem inneren Auge sah er die Projektion, die gleichzeitig auch auf seinen vorderen Hirnlappen projiziert wurde. Die Lichtverhältnisse innerhalb der Schlucht wurden immer schlechter. Schließlich ließ sich Dambiayn nur noch den Infrarotmodus anzeigen. Die Systeme der KLEINEN STATION reagierten mit einer Feinheit von mehreren tausendstel Grad. Die dabei entstehenden Infrarotbilder waren selbst bei völliger Dunkelheit so gestochen scharf, dass einen dabei allenfalls die geänderte Farbgebung, nicht aber die Bildschärfe irritieren konnte.

Naryavo drosselte weiter die Geschwindigkeit. Die hoch entwickelte Steuertechnik in Verbindung mit dem ausgesprochen leistungsfähigen Bordrechner erlaubten es der KLEINEN STATION mittels hoher Geschwindigkeit in die immer enger werdende Schlucht hineinzurasen, den zahllosen Vorsprüngen auszuweichen und schließlich den tiefsten Punkt erreicht zu haben.

Hier stoppte Naryavo das Schiff.

„Jetzt werden wir abwarten müssen!“, sagte Dambiayn.

*

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DIE ZEIT VERLIEF ZUNÄCHST quälend langsam. Es wurde die höchste Alarmbereitschaft beibehalten, aber schließlich glaubte Dambiayn, der inzwischen einigermaßen eingespielten Stammbesatzung der Brücke Regenerationszeitquanten zur freien Verfügung oder zur Energieaufnahme geben zu können.

Naryavo zog sich in eine der freien Kabinen an Bord des goldenen Schiffes zurück.

Er hatte bis dahin gar nicht registriert, wie viel Platz es an Bord gab. Mit kaum zweihundert Bhalakiden war die KLEINE STATION gestartet. Mehr hatten sich nicht bis hinter die makellos wirkende Hülle des Raumschiffs flüchten können.

Es war erschreckend.

Alle anderen waren den Invasoren in die Hände – oder besser gesagt: zum Opfer – gefallen.

Naryavo nahm zunächst aus einem Energiespender ein gutes Quantum zu sich. Allein allerdings. Er hatte keinerlei Lust auf Gesellschaft, auch wenn es gemeinhin als antisozial galt, wenn man seine Energiezufuhr allein verrichtete.

Aber Naryavo hatte jetzt einfach keine Lust auf das Gerede der anderen, auf ihre Ängste und Hoffnungen. Allen voran wollte er Mantayan aus dem Weg gehen, der ihm gewiss unter die Nase halten würde, dass es besser gewesen wäre, er hätte Galaxis 33456667 nie verlassen sollen ...

Es dauerte eine ganze Weile, bis es Naryavo endlich gelang, sich innerlich von dem Geschehen zu distanzieren und einigermaßen Ruhe zu finden.

Ruhe und Stabilität.

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7. Kapitel: Flucht in die Tiefe

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Ein Alarmsignal holte Naryavo aus seiner Regenerationszeit heraus.

Es musste irgendetwas geschehen sein, das seine Anwesenheit in der Zentrale der KLEINEN STATION verlangte.

Innerhalb eines Minimalzeitquantums hatte er sich in die Zentrale begeben und materialisierte dort direkt vor seiner Konsole.

Dambiayn, vormals stellvertretender und jetzt amtierender Stationsweisester, hatte sich bereits auf seinen Platz begeben. Sharenayn war intensiv mit der Konfiguration des Ortungssystems beschäftigt.

Mantayan tauchte etwas später auf.

Dambiayn hatte für ihn überhaupt keine Konsole vorgesehen, sondern einen Bhalakiden namens Herryan mit seiner Aufgabe betraut. Allerdings hatte auch Mantayan wie alle anderen das allgemeine Alarmsignal empfangen und war deswegen auf der Brücke aufgetaucht.

Dambiayn tolerierte seine Anwesenheit, trotz der mentalen Spannungen, die dies mit sich brachte.

Ich kann ihn immer noch wegschicken, dachte er.

Es war an Sharenayn, einen kurzen Lagebericht zu geben.

„Die Sensoren haben für ein sehr kurzes Zeitquantum eine schwache Signatur registriert. Sie war verstümmelt, aber es könnte sich um das Phantomschiff gehandelt haben. Immerhin nimmt der Bordrechner hierfür eine Wahrscheinlichkeit von über achtzig Prozent an.“

„Dann ist es das Phantom“, war Mantayan überzeugt. „Wir müssen hier schleunigst weg, sonst werden uns die Invasoren genauso unbarmherzig vernichten, wie sie es mit unseren Bruderschwestern getan haben.“

Sharenayn blieb vollkommen ruhig.

Oder mental stabil, wie es in der Terminologie der Bhalakiden hieß. Er fuhr fort: „Das Signal wurde in einer Entfernung von nur wenigen Lichtminuten geortet. Wenn wir jetzt irgendeine Reaktion – und sei sie auch noch so geringfügig! – zeigen, so wird das Phantom zweifellos auf uns aufmerksam werden.“

„Dann bleibt uns also nichts anderes übrig, als hier auf unseren Tod zu warten?“, frage Mantayan.

„Vielleicht ist es besser, du verlässt die Zentrale“, erklärte Dambiayn.

„Weil ich die mentale Stabilität störe? Ist es das? Ihr werdet mental stabil in das Stadium der Nichtexistenz gehen. Genau das wird geschehen – und dann wird es nicht einmal mehr jemanden geben, der die Bhalakiden in anderen Galaxien vor den Invasoren warnen könnte!“

Mantayan schickte sich an, seine körperliche Form aufzulösen.

„Die Signatur ist wieder aufgetaucht“, meldete jetzt Sharenayn. „Diesmal ist die Distanz geringer. Sie ist außerdem zu etwa 95 Prozent erhalten.“

Die dichte, von Turbulenzen erfülle Atmosphäre des Methanriesen würde wohl immer dafür sorgen, dass ein mehr oder minder großer Anteil der Sensordaten verloren ging.

Dambiayn entschied sich dafür, dass die KLEINE STATION sich weiterhin tot stellte. Alle nicht mittelbar notwendigen Systeme waren bereits abgeschaltet, um so wenige Energiesignaturen wie möglich nach außen zu emittieren. Der amtierende Stationsweiseste gab die Anweisung, noch zusätzliche technische Bereiche abzuschalten.

Er setzt alles auf eine einzige Option, dachte Naryavo. Das war eine Vorgehensweise, die ihm schon aus Prinzip nicht gefiel. Aber möglicherweise gab in dieser konkreten Situation keine Alternative.

Dambiayn wandte sich an Mantayan und fragte ihn ausdrücklich: „Hast du einen Vorschlag, der eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit für die gegenwärtige Besatzung der KLEINEN STATION beinhaltet?“

Mantayans Antwort war Schweigen.

Einige unterdrückte Signale gingen von ihm aus, die deutlich machten, wie es in seinem Inneren brodelte. Aber diesmal hütete er sich, etwas davon nach außen dringen zu lassen.

Dann hieß es abwarten.

Selbst die Waffensysteme waren jetzt nicht mehr im Status der Bereitschaft. Aber angesichts der bisherigen Überlegenheit des Gegners, war dieses Risiko vertretbar. Keinem der goldenen Schiffe war es schließlich gelungen, sich erfolgreich gegen das Phantomschiff zur Wehr zu setzen.

Plötzlich ging eine Erschütterung durch das gesamte Schiff.

Die Ortungsanzeigen ließen keinerlei Zweifel über das, was geschehen war.

„Das Phantomschiff beschießt den verborgenen Mond!“, stellte Sharenayn fest.

Auf der großen Projektion, die über den Köpfen der Bhalakiden schwebte, war in einer virtuellen Darstellung die Position, an der sich vermutlich das Phantomschiff befand, markiert.

Es feuerte Fusionstorpedos ab, die ausgesprochen heftige Explosionen verursachten. Teile der Schlucht gerieten in Bewegung. Massen von Gestein wurden gelockert, die ohnehin schon vorhandenen Spannungen verstärkt. Der ständige Widerstreit der Anziehungskräfte des Methanriesen und des verborgenen Mondes hatten über Äonen hinweg dafür gesorgt, dass der Mond in weiten Bereichen inzwischen porös geworden war.

„Die haben uns entdeckt!“, sagte Mantayan. „Daran kann doch wohl niemand mehr zweifeln.“

Dambiayn musste ihm widerstrebend Recht geben.

Der Plan, sich durch Totstellen vor dem Feind zu verbergen, war offenbar gründlich schiefgegangen. Wieder einmal hatten die Bhalakiden ihren Gegner unterschätzt. Diesmal galt das insbesondere für dessen Ortungstechnik, die offenbar weit höher entwickelt war, als man es erhofft hatte.

„Systeme reaktivieren!“, befahl Dambiayn. „Flieg uns hier raus, Naryavo!“

„Das ist leichter gesagt als getan!“, bekannte Naryavo.

Die Systeme begannen langsam wieder zu laufen. Ein rumorendes Geräusch dröhnte im Inneren der KLEINEN STATION. Die Triebwerke brauchten einige Kurzzeitquanten, um wieder in den Status der Bereitschaft zurückzukehren. Dasselbe galt auch für die Waffensysteme und andere in der Zwischenzeit abgeschaltete Komponenten.

Erneut erfassten Erschütterungen den gesamten Himmelskörper. Die seismischen Messgeräte der KLEINEN STATION zeigten ausgesprochen heftige Beben an, die durch die Detonationen verursacht wurden.

„Das Phantom scheint ernsthaft die Absicht zu haben, den gesamten Mond nach und nach auseinanderzusprengen, um uns dann stellen zu können – sollten wir diese Aktion überhaupt überleben!“, stellte Sharenayn fest.

„Sprich von dem Schiff des Gegners nicht wie von einer Person!“, riet Dambiayn.

„Wieso nicht? Irgendein kluger Geist muss doch hinter diesem groß angelegten und äußerst gut vorbereiteten Angriff auf unsere Heimat-Station stecken! Ich glaube nicht, dass die für die Invasion verwendeten Roboter selbst dazu die nötige Intelligenz hätten.“

„Vielleicht unterschätzen wir diese Roboter einfach nur schon wieder maßlos“, erklärte Naryavo gedankenverloren. Er hatte den Gesprächen der anderen nur mit halbem Ohr und unter Missachtung sämtlicher nicht verbaler Begleitsignale gelauscht.

Er hatte voll und ganz damit zu tun, das Raumschiff aus der Schlucht herauszumanövrieren. Immer wieder kam es zu heftigsten Erschütterungen.

Manchmal brachen Felsstücke auf breiter Front hinab. Ihre Fallrichtung war auf Grund der starken Anziehungskraft des Methanriesen stark abgelenkt, sodass sich groteske Flugbahnen ergaben.

So gut es ging, wich Naryavo diesen erdrutschartigen Ereignissen aus.

Aber nicht immer war das möglich.

Als die KLEINE STATION bereits beinahe den Ausgang der Schlucht erreicht hatte, wurde sie tonnenweise von Geröll getroffen und zunächst aus ihrem Kurs geworfen. Sie prallte gegen eine der felsigen Wände, die daraufhin auf breiter Front plötzlich von mäandernden, sich immer weiter verzweigenden Rissen gezeichnet wurde.

„Wenigstens kann man nicht sagen, dass unsere Vernichtung ihnen nichts wert ist!“, gab Dambiayn einen Kommentar von sich, in dem sich die ganze Verzweiflung widerspiegelte, die er empfand.

Die Fremden wollen einfach keinen von uns davonkommen lassen!, dachte Naryavo. Allenfalls nehmen sie vielleicht eine genetische Probe oder dergleichen. Aber im Prinzip sind wir ihnen schlicht und ergreifend im Weg. Andererseits halten sie uns wohl nicht für so begabt, dass sie auf unsere Dienste angewiesen wären ...

Naryavo stellte eine energetische Direktverbindung zu den Systemen des Schiffes her, um sie effektiver steuern zu können. Seine körperliche Gestalt löste er dabei auf. Unter Aufbietung all seines Könnens schaffte er es, das goldene Schiff davor zu bewahren, unter einem gewaltigen Schutt- und Geröllberg einfach begraben zu werden, in dem er einen Blitzstart hinlegte.

Es gab eine Kollision mit einem Gesteinsbrocken, die aber keine nachhaltigen Auswirkungen hatte. Wie ein Geschoss schnellte die KLEINE STATION aus der Schlucht des verborgenen Mondes hinaus.

Er bremste sofort wieder ab.

Es war nicht Sinn der Sache, aus der Atmosphäre des Methanriesen gleich wieder auszutreten, denn im freien Weltraum war es für den Feind noch leichter, die KLEINE STATION auszumachen und zu zerstören.

Also ließ Naryavo die KLEINE STATION eine ausgedehnte Kurve fliegen.

Ein Objekt folgte ihnen wenig später. Es war unsichtbar. Kein den Bhalakiden bekanntes optisches Ortungssystem vermochte es zu bestimmen.

Dafür waren die Geschosse der Fremden nicht zu übersehen.

Laserblitze zuckten durch die dichte Atmosphäre hindurch. Gleichzeitig wurden weitere Torpedos mit einer Sprengladung an Bord auf den Weg geschickt.

Einer von ihnen kam durch, die anderen wurden durch die Abwehrmaßnahmen der KLEINEN STATION vernichtet.

Es gab einen furchtbaren Treffer in der unteren Region des Schiffs. Ein Hüllenbruch entstand, eine Sektion musste abgeschottet werden und ein Aufenthaltsraum lag in Schutt und Asche.

Die Anwesenden, die dort gerade versucht hatten, ein klein wenig Erholung zu finden, hatten eine Reihe von Todesopfern zu beklagen.

Immer weitere Geschosse lösten sich von dem Verfolgerraumer.

Dambiayn versuchte vergeblich, Kontakt zur Besatzung zu bekommen. Auf allen nur möglichen Frequenzen wurde dasselbe gesendet.

Aber das Phantomschiff zeigte sich davon völlig unbeeindruckt.

Es gab keine Antwort, gleichgültig, auf welcher Frequenz oder in welcher Codierung auch gesendet wurde.

„Diese Maschinenwesen sind offensichtlich einfach nicht gewillt, mit uns in Kontakt zu treten", meinte Naryavo. „Ich glaube nicht, dass unsere Versuche in dieser Richtung weiterhin sinnvoll sind.“

Genauso erfolglos blieben die Gegenangriffe der KLEINEN STATION. Sowohl das Verfolgerschiff selbst als auch die von ihm ausgesandten Torpedos waren außerordentlich wendig. Es war schwer, sie zu treffen.

Glühende Spuren zogen sowohl die Strahlschüsse als auch die Torpedos des Angreifers durch die Atmosphäre des Methanriesen hinter sich her.

Das erleichterte zumindest die Ortung des Feindes, da bei der schwachen Energiesignatur des Phantomschiffs auf Grund der atmosphärischen Turbulenzen immer wieder die Gefahr bestand, dass man es phasenweise verlor.

Dambiayn gab die Anweisung, tiefer in die Gashülle des Methanriesen einzutauchen.

Naryavo befolgte diesen Befehl, ließ die KLEINE STATION immer tiefer absinken. Der Antrieb der KLEINEN STATION wurde auf maximale Beschleunigung eingestellt. Das Schiff schoss geradezu durch die immer dichter werdende Gashülle hindurch, ließ schmutzig braune Wolkenberge, aus denen gigantische Blitze herauszucken, hinter sich und trieb auf Grund der atmosphärischen Dichte eine gigantische Druckwelle vor sich her. Die unter extrem hohen Druck zusammengepressten Gasmassen des Methanriesen verhielten sich in mancher Hinsicht ähnlich wie eine Flüssigkeit. Der Reibungswiderstand war sehr hoch. Die Außentemperatur stieg stark an, aber die golden schimmernde Hülle des Bhalakiden-Schiffs war in dieser Hinsicht sehr widerstandsfähig.

Auch das Verfolgerschiff trieb eine sich immer mehr aufstauende Druckwelle vor sich her, was wiederum die Ortung deutlich erleichterte. 

Selbst in Phasen, in denen die schwache Signatur durch elektrische Entladungen völlig überlagert wurde, blieb es jetzt eindeutig zu orten.

Die enorme Gravitationskraft des Methanriesen beschleunigte das goldene Schiff zusätzlich.

Die Andruckneutralisatoren der KLEINEN STATION hielten diesen Gewalten jedoch mühelos stand.

Etwas anders sah das mit den Temperaturwerten an der Außenhülle aus. Unter normalen Umständen wären die auch noch lange nicht im problematischen Bereich gewesen, aber es gab durch verschiedene Treffer, die das goldene Schiff erlitten hatte, mehrere Schwachstellen.

Das Eindämmungsfeld, das den Hüllenbruch neutralisieren sollte, drohte zusammenzubrechen.

In der betroffenen und inzwischen vollkommen abgeschotteten Sektion brach ein Schwelbrand aus, der wenig später durch das eingetretene Methan zu mehreren heftigen Explosionen führte.

Es blieb keine andere Möglichkeit, als stark abzubremsen.

Das Verfolgerschiff holte spürbar auf.

Anhand des verdrängten Gases konnten die Ortungssensoren der KLEINEN STATION die ungefähre Ausdehnung des Phantomschiffs ermessen. Die Form schien einem Tropfen zu ähneln. Jene Sektion, die an die Außenwand der Xaradim-Station angedockt hatte, bildete tatsächlich nur eine Art Fortsatz.

Im freien Raum spielte die Form eines Flugkörpers für die Geschwindigkeit keine Rolle. Aber innerhalb einer so dichten Atmosphäre, wie sie für den Methanriesen kennzeichnend war, war das natürlich anders. Die Tropfenform des Verfolgers durchdrang diese dichte Melange aus verschiedenen Gasen viel leichter, als die kugelförmige KLEINE STATION.

Die Distanz wurde immer geringer.

Der Verfolger feuerte Strahlschüsse und Torpedos ab.

Naryavo versuchte, in einem Zickzackkurs dem Feuer des Phantoms auszuweichen. Ein paar kleinere Treffer gab es dennoch. Immer wieder durchliefen Erschütterungen die KLEINE STATION.

Einer der Konverter zur Energieerzeugung fiel aus. Es musste auf ein Notsystem umgeschaltet werden.

Die schießen uns langsam aber sicher zusammen!, ging es Naryavo durch den Kopf. Den entscheidenden Schlag hatte das Phantomschiff bisher nicht führen können, aber allen an Bord war im Grunde klar, dass dies nur noch eine Frage der Zeit war.

Es glich beinahe einem Wunder, dass dies bisher noch nicht geschehen war.

Das Gegenfeuer des Bhalakiden-Schiffs hielt den Verfolger noch einigermaßen auf Abstand. Inwiefern der Verfolger über Schutzschirme verfügte, die die Wirkung von Treffern einschränkte, war den Bhalakiden bisher nicht bekannt. Es gab aber Anzeichen dafür, die zwingend nahelegten, dass mehrere Strahlenschüsse der KLEINEN STATION eigentlich die – wenn auch unsichtbaren – zentralen Sektoren des Feindraumers hätten treffen müssen, aber auf irgendeine Weise absorbiert worden waren.

Was die Wendigkeit anging, so war das Verfolgerschiff der KLEINEN STATION ohnehin weit überlegen. Es vermochte einfach sehr viel schneller den Kurs zu wechseln und mit Ausweichmanövern auf das Feuer der anderen Seite zu reagieren.

„Kurs auf den Kern!“, verlangte Dambiayn an Naryavo gewandt.

„Es wäre nett, wenn du mich in deine Absichten einweihen würdest, Stationsweisester!“, erwiderte Naryavo.

Aber Dambiayn regierte auf diesen Einwurf zunächst nicht.

Er wandte sich an Sharenayn. „Wie groß ist die Chance, durch gezielten Beschuss des Kerns eine Explosion herbeizuführen, die unseren Verfolger auf Distanz hält?“

„Schlecht“, erklärte Sharenayn. Eine auf aktuellen Orter-Daten basierende Projektion des Planetenkerns erschien über den Köpfen der Brückenbesatzung. „Der Kern ist sehr massiv, er wird darüber hinaus durch extremen Druck zusammengepresst. Der Ammoniak-Ozean erschwert außerdem noch den Beschuss.“

„Was ist mit der Ingangsetzung einer Fusionskettenreaktion?“

„Dazu fehlt uns die nötige Energie“, wandte Naryavo ein. „Wir hätten anschließend kaum noch die Möglichkeit, uns rasch genug zu entfernen.“

„Dann tauchen wir in den Ozean ein“, kündigte Dambiayn an. „Die Druckverhältnisse sind mörderisch, die Gravitation ebenfalls. Unser Raumschiff wird das aushalten ...“

„Das Schiff unseres Gegners zweifellos auch!“, gab Naryavo zu bedenken. „Schließlich operierten auch sie jenseits des Ereignishorizonts eines Schwarzen Lochs.“

„Mag sein“, gestand Dambiayn zu. „Aber es geht mir um etwas anders. Innerhalb dieses enorm dichten Ozeans dürften ihre Waffen sehr viel weniger wirksam sein.“

Erneut erfasste ein Treffer die KLEINE STATION.

Der Schadensbericht wurde immer länger.

Naryavo folgte Dambiayns Anweisung und steuerte direkt auf den gewaltigen, sehr massiven Planetenkern mit seinem bizarren Ozean vor.

Ein weiterer Hüllenbruch entstand.

Sharenayn äußerte Zweifel, ob unter diesen Umständen das goldene Schiff ein Eintauchen in den zähflüssigen Ozean überstehen würde. Andererseits brauchte die KLEINE STATION und ihre Besatzung dringend so etwas wie Deckung vor dem permanenten Beschuss durch den Feind. Dambiayn ging von der Annahme aus, dass sich die Reichweite der Strahlwaffen drastisch verringerte und Torpedos durch das unter hohem Druck stehende Medium, in dem sie sich dann bewegen mussten, sich so extrem verlangsamten, dass ihr Einsatz kaum noch sinnvoll sein würde.

Dies ist vielleicht die letzte Etappe dieses Gefechts, dachte Naryavo. So oder so.

*

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DIE KLEINE STATION tauchte in den Ozean ein. Die Fahrt verlangsamte sich dadurch erneut. Eines der Eindämmungsfelder brach zusammen. Ammoniak strömte mit enormer Gewalt und unter unvorstellbarem Druck ein. Ein Teil der Energieversorgung fiel aus, weil wichtige Aggregate in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Auch die Andruckabsorber und die Antischwerkraft-Generatoren, die die bhalakidische Besatzung davor bewahrten, nahe am Gravitationszentrum eines Riesenplaneten durch die Schwerkraft zerdrückt zu werden, fielen aus.

Für einige Minimalzeitquanten hatte Naryavo das Gefühl, von einem gewaltigen, unsichtbaren Fuß zertreten zu werden. Der Druck war so groß, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, sich in Energie zu verwandeln, sodass ihn die mörderische Schwerkraft nicht mehr zerquetschen konnte.

Beinahe alle an Bord befindlichen Bhalakiden hatten auf diese Weise – quasi reflexartig – reagiert.

Es war nur zu wenigen Todesfällen gekommen. Das goldene Schiff setzte seinen Weg fort, strebte weiter dem Planetenkern entgegen.

Die Ortung zeigte gewaltige, asteroidengroße, unregelmäßig geformte Gesteinsbrocken aus sehr schweren Elementen an, die offenbar durch die ozeanischen Turbulenzen von der Oberfläche des Kerns gelöst und aufgewirbelt worden waren. Es dauerte vermutlich mehrere Mittelzeitquanten, bis sie sich wieder am Boden absetzten.

Naryavo wich einigen dieser Brocken aus, aber die KLEINE STATION war nur noch eingeschränkt manövrierfähig, wie er feststellen musste.

Immerhin gab es jetzt nicht mehr so häufig Treffer durch den Verfolger, der den Bhalakiden in die Tiefe des Ozeans gefolgt war.

Aus nächster Nähe feuerte die KLEINE STATION auf einen dieser vagabundierenden Gesteinsbrocken und sprengte ihn in hunderte von Bestandteilen. Ein Trümmerfeld, in das das Phantomschiff direkt hineinschnellte, während die KLEINE STATION bereits auf und davon war.

Es kam unweigerlich zu Kollisionen.

Sharenayn registrierte eine geringfügige Änderung an der charakteristischen energetischen Signatur des unsichtbaren Verfolgers.

Inwiefern dies ein Zeichen für ernsthafte Schwierigkeiten auf der anderen Seite war, ließ sich im Augenblick mit den ortungstechnischen Gegebenheiten an Bord nicht feststellen.

Dann verschwand die Signatur des Verfolgers plötzlich. Sharenayn überprüfte dieses Ergebnis mehrfach. Es gab unter den auseinandergesprengten Brocken einige Kollisionen, die das Material weiterzersplitterten, aber auf Grund des hohen Drucks blieben sie relativ nahe beieinander und bildeten einen Schwarm aus Gesteinsbrocken, deren Flugbahnen für das Verfolgerschiff kaum zu berechnen waren.

„Wenn wir Glück haben, dann haben diese Brocken für unseren Gegner die gleiche Wirkung wie primitive Wuchtgeschosse!“, nahm Naryavo an und sandte diese Worte in Form hochfrequenter Impulse an die anderen Bhalakiden.

Es war eine Hoffnung, der wohl auch Dambiayn bei seiner Entscheidung nachgehangen hatte, einen der asteroidengroßen Brocken zu zertrümmern. Auf Grund der hohen Geschwindigkeit, mit der das Phantomschiff ihnen folgte, war die relative Geschwindigkeit, mit der die Brocken auf das Verfolgerschiff auftrafen enorm hoch. Die chemische Zusammensetzung aus sehr schweren Elementen mit hoher Dichte gab insbesondere kleinen Brocken eine enorme Durchschlagskraft. Ein abgesprengtes Gesteinsstück von Handgröße konnte die Außenhaut des Verfolgers glatt durchschlagen. Die beim Eintritt erzeugte Reibungshitze konnte zu Explosionen im Inneren des Schiffs führen. Möglicherweise wurden wichtige Bereiche getroffen.

Die hoch entwickelte Technologie der Bhalakiden verwendete nicht derartige kleine Wuchtgeschosse, sondern verließ sich auf Energie basierte Verteidigungsmittel.

Aber darauf waren die Verteidigungssysteme des Gegners offenbar hervorragend eingerichtet, wie sich im Verlauf des mehr oder weniger aussichtslosen Abwehrkampfes der Bhalakiden in und um die Xaradim-Station gezeigt hatte.

In diesem Fall jedoch waren die auf das Phantom einprasselnden „Geschosse“ derart breit gestreut, dass sich auch trotz geschickter Ausweichmanöver eine gewisse Zahl von Treffern einfach nicht vermeiden ließ.

Sharenayn glaubte, Anzeichen solcher Treffer mit den Ortungssensoren der KLEINEN STATION erkennen zu können.

Aber es war allen auf der Brücke bewusst, dass da immer ein gewisser Interpretationsspielraum blieb, denn schließlich blieb das Verfolgerschiff selbst nach wie vor unsichtbar.

Eindeutig waren die Erkenntnisse nicht.

Die KLEINE STATION beschleunigte noch etwas, soweit ihre angeschlagenen Systeme dies zuließen.

Noch immer war die Besatzung gezwungen, als gravitationsresistente Energiewesen zu existieren, um nicht zerdrückt zu werden.

Das Schiff schoss nahe an dem gewaltigen Planetenkern vorbei, der allein schon um ein Vielfaches größer und massereicher war als Welten, auf denen auch nur die Chance bestand, dass sich Leben entwickelte.

Die Reichweite der Abtaster war innerhalb des kernumspannenden Ozeans drastisch reduziert.

Die Signatur des Verfolgerschiffs verschwand von den Anzeigen.

Vielleicht hatte Dambiayn ja die ultimative Waffe gegen das Phantom gefunden und es trudelte nun als leckgeschossenes Wrack in den Tiefen eines bizarren Ozeans herum.

Hoffnung erfüllte die Bhalakiden an Bord der KLEINEN STATION.

Hoffnung, die schon beinahe vollkommen geschwunden war, nachdem das Verfolgerschiff sie aufgespürt, gestellt und sofort angegriffen hatte.

Auf der entgegengesetzten, der blauen Sonne zugewandten Seite des Methanriesen trat das goldene Schiff aus dem Ozean wieder aus. Die Fahrt hatte sich verlangsamt, seit sie den Planeten umrundet hatten, denn nun musste die KLEINE STATION mit ihren Antriebssystemen gegen die Anziehungskräfte des Methanriesen ankämpfen. Die Antigravaggregate waren nach wie vor weitergehend ausgefallen, was natürlich auch auf die Manövrierfähigkeit in dieser Umgebung seine Auswirkungen hatte.

Dambiayn wies einige Bhalakiden, die über einigermaßen ausgebildete Fachkenntnisse verfügten, dazu an, die Aggregate in Stand zu setzen. Ein ausgewiesener Spezialist auf diesem Gebiet war nicht an Bord. Aber die gesammelten Kenntnisse der an Bord befindlichen Flüchtlinge würden vermutlich ausreichen, falls die Schäden nicht zu groß waren.

Die KLEINE STATION passierte die unteren, sehr dichten und dementsprechend zusammengepressten Schichten der Gashülle. Jegliche optische Ortung wurde erheblich erschwert und war nun in ihrer Reichweite auf ein Minimum reduziert.

Naryavo musste die Geschwindigkeit plötzlich drosseln, als einige Sonardaten den Schluss nahelegten, dass der Planet vielleicht nicht nur über einen einzigen verborgenen Trabanten verfügte.

Gerade noch rechtzeitig gelang es Naryavo, einem weiteren, noch weitaus größeren Mond auszuweichen, der der Größe einer mittleren Sauerstoffwelt glich und das Gravitationszentrum des Planetenkerns offenbar in einer eng oberhalb des Ozeans geführten Umlaufbahn umkreiste.

Der Aufstieg in die höheren Schichten dauerte länger als geplant.

Naryavo wäre dazu bereit gewesen, mit einer höheren Geschwindigkeit auch ein höheres Kollisionsrisiko einzugehen, aber Dambiayn meinte, dass es besser sei, auf Nummer sicher zu gehen. Er nahm an, dass vom Phantomschiff jetzt keine Gefahr mehr ausging.

„Der letzte Beweis dafür fehlt“, gab Naryavo zu bedenken.

„Aber diese Unsicherheit rechtfertigt es nicht, eine Kollision mit einem möglicherweise bisher verborgen gebliebenen weiteren Trabanten einzugehen!“, war Dambiayns Erwiderung.

Er bestand auf sein Recht der Entscheidung und so wurde die Geschwindigkeit weiter gedrosselt.

Simulationen wurden mit Hilfe des Bordrechners durchgeführt, die die Bahnen der bisher gefundenen verborgenen Monde des Methanriesen berechneten. Der Bordrechner gab eine Wahrscheinlichkeit von über siebzig Prozent dafür an, dass es weitere, von den Ortungsabtastern der KLEINE STATION bisher unentdeckte Trabanten gab.

Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Phantomschiff tatsächlich vernichtet war, wurde hingegen mit weit über neunzig Prozent angegeben.

Naryavo wandte ein, dass diese Berechnungen vielleicht auf falschen Parametern beruhten. Insbesondere galt dies für Annahmen über die Struktur der Außenhülle des fremden Schiffes und deren Widerstandskraft.

„Tatsache ist doch, dass uns darüber eigentlich nichts bekannt ist, außer dass sich dieses Schiff bisher als äußerst resistent gegen unsere Energiewaffen erwies, wofür wir bislang aber noch keine plausible Erklärung besitzen.“

Aber seine Einwände bekamen wenig Gehör.

Inzwischen gelang es den Reparaturteam der Antigravaggregate, diese zumindest teilweise wiederherzustellen. Auf eine Verwendung im Innenbereich wurde zunächst verzichtet. Es war wichtiger, Energie zu sparen und die Antigravkapazität für einen erleichterten Aufstieg innerhalb der Atmosphäre des Methanriesen zu nutzen.

*

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DER GEWALTIGE BLAU-weiße Glutofen des Zentralgestirns überstrahlte alle anderen Sterne. Endlich tauchte die KLEINE STATION aus der Atmosphäre des Methanriesen heraus und befand sich wieder im freien Weltraum.

Die Wiederherstellung der Antigravsysteme hatte indessen große Fortschritte gemacht. Zumindest für einen Teil der Innenräume des goldenen Schiffs konnte wieder normale Schwerkraft hergestellt werden, was ein Annehmen der körperlichen Form für die an Bord befindlichen Bhalakiden wieder ermöglichte.

„Jetzt kann es für uns nur eine einzige Aufgabe geben“, erklärte Dambiayn, begleitet von einem Signalsrauschen tief empfundener Überzeugung. Er hatte seine körperliche Form wieder angenommen und sich auf den Sitz des Kommandanten gesetzt. „Wir müssen die nächstgelegene Xaradim-Station erreichen, um die dortigen Bhalakiden zu warnen. Außerdem werden wir wirksame Waffen gegen die Invasoren finden und die verlorene Station zurückerobern müssen.“

„Ich für meinen Teil werde mich an derartigen Unternehmungen nicht beteiligen“, unterbrach Mantayan auf ziemlich respektlose Weise die Ausführungen des amtierenden Stationsweisesten.

„Es ist dir gleichgültig, ob diese Invasoren eine unserer Stationen in ihrer Gewalt halten, deren Instandhaltung und Bewachung die ureigenste Bestimmung unseres Volks ist?“, fragte Dambiayn.

„Wer sagt uns denn, dass es so ist? Ein paar alte Legenden. Was wissen wir über die legendären Erbauer? Nichts. Könnte es nicht sogar sein, dass sie niemals existiert haben? Dass wir selbst es waren, die die Stationen erbauten, bevor wir der Degeneration anheimfielen und das Wissen darüber verloren? Wem nützt die Aufrechterhaltung der Ewigen Kette? Uns? Ich habe auf all diese Fragen keine Antworten. Aber sie lassen mich doch zutiefst daran zweifeln, ob das, woran wir Bhalakiden seit jeher geglaubt haben, tatsächlich den Tatsachen entspricht – oder ob es sich um nichts anderes als die Projektion unserer Wünsche und Sehnsüchte nach einer Existenz voll mystischer Bedeutung entspringt.“

Dambiayn schwieg zunächst, bevor er antwortete: „Du hast dich weit vom großen Konsens aller Bhalakiden entfernt, der in Bezug auf diese Fragen besteht.“

Es war eine schlichte Feststellung.

Das Begleitrauschen war erstaunlich ruhig.

Offenbar konnte Dambiayn angesichts der jüngsten Erlebnisse, die die Besatzung der KLEINEN STATION hinter sich hatte, sich nur noch in sehr begrenztem Maß darüber aufregen, dass es an Bord dieses Schiffes jemanden mit derart ketzerischen Gedanken gab.

„Ich weiß, aber dieser Konsens bedeutet mir nichts mehr“, sagte Mantayan. „Es geht mir nur um eins: Die Rettung meiner individuellen Existenz.“

„Eine moralisch fragwürdige Sichtweise“, erwiderte Dambiayn.

„Nur, wenn man sie vor dem Hintergrund des Großen Konsenses als Messparameter betrachtet. Das tue ich aber nicht.“

„Leider fehlt mir die Zeit für philosophische Debatten“, erklärte der amtierende Stationsweiseste. „Ich bin überzeugt davon, dass es genug Bhalakiden gibt, die bereit sind, den heiligen Auftrag der Erbauer unter allen Umständen zu erfüllen und den Verfall oder die Eroberung des kosmischen Netzes zu verhindern.“

„Ich wünsche dir, dass dein Optimismus nicht enttäuscht wird. Ich weiß nur, dass ich nicht der Einzige bin, der so denkt.“

„Mag sein. Aber solange du an Bord dieses Schiffes bist, wirst du dich meinen Entscheidungen unterordnen müssen – auch im Interesse der Rettung deiner individuellen Existenz.“

Mantayan zögerte mit seiner Erwiderung.

Naryavo dachte: Dambiayn scheint erheblich an innerer Stabilität gewonnen zu haben. Vielleicht deshalb, weil sich seine Entscheidungen in den Tiefenregionen des Methanriesen wohl letztlich als richtig erwiesen haben. Das Individuum wächst offenbar mit seinen Anforderungen.

„Ich will offen sein“, erklärte Mantayan schließlich. „Meine Loyalität gilt nur so lange, wie eine gewisse Zielkongruenz zwischen uns gegeben ist, Dambiayn!“

*

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DAMBIAYN ORDNETE DIE Durchführung der nötigsten Reparaturen an.

Außerdem wurde neue Energie aufgenommen. Das nahe Zentralgestirn dieses Gasriesen-Systems war dazu geradezu prädestiniert. Die Energiespeicher der KLEINEN STATION füllten sich rasch. Die Reparaturen kamen voran. Allerdings war die Abdichtung der entstandenen Hüllenbrüche in der Kürze der Zeit nicht möglich, wie sich schnell herausstellte.

Für einen kurzen Überlichtflug war das nicht weiter schlimm, aber es wusste niemand, wie das bei einer längeren Reise war. Eine Modellrechnung des Bordrechners ging davon aus, dass dann akute Gefahr für die Integrität der gesamten Außenhülle bestand. Selbst unter der Annahme, dass neunzig Prozent der zur Verfügung stehenden Energieressource zur Aufrechterhaltung der Abschirmungs- und Eindämmungsfelder verwendet wurde.

Eine Alarmmeldung machte den Bhalakiden an Bord der KLEINEN STATION einen Strich durch die Rechnung.

Sharenayn hatte erneut das Signal des Verfolgers geortet.

Er war in die oberen Schichten der Atmosphäre des Gasriesen aufgestiegen.

Das Signal war undeutlich und nur phasenweise zu verzeichnen.

Aber an seiner Identität konnte nicht der Hauch eines Zweifels bestehen.

„Das unsichtbare Schiff muss zweifellos stark in Mitleidenschaft gezogen worden sein“, glaubte Sharenayn. „Aber es ist ganz offensichtlich nicht wie angenommen zerstört worden.“

Die Erkenntnis traf die Bhalakiden wie ein Hochenergieschock, der ausreichte, um die energetische Verwirbelung der Identität zu bewirken.

Sie waren bis auf wenige Ausnahmen vollkommen konsterniert.

Dambiayn gehörte zu den wenigen, deren mentaler Stabilitätsfaktor auf einem akzeptablen Level blieb. Er wandte sich an Naryavo. „Was schlägst du vor?“, fragte er.

Er ist ratlos, erkannte Naryavo. Und er zeigt dies auch noch offen! Normalerweise hätte ein amtierender Stationsweisester alles getan, um gerade in einer Situation, die dabei war, sich zur Krise zuzuspitzen, diesen Eindruck um jeden Preis zu vermeiden ...

Aber darauf kommt es jetzt nicht mehr an.

Es geht nur noch um die Aufrechterhaltung der Existenz.

Das ist alles, was wir erwarten können.

Und vielleicht ist auch das schon zu viel ...

Naryavos Gedanken rasten nur so. Er ließ sich die Ortungsanzeigen auf die eigene Konsole legen, zapfte sie an, projizierte sie auf den großen Lappen seines bhalakidischen Gehirns.

Bewahre die Stabilität.

Und die Klarheit.

Sie hatten schon geglaubt, der unfassbaren Gefahr entronnen zu sein. Aber das war ein Irrtum gewesen – genauso, wie die Entscheidung, zunächst für die Konsolidierung des Energie-Status und die Reparatur des Schiffs zu sorgen. Wir hätten die letzten Reserven für eine schnelle Flucht nutzen und dabei jedes Risiko eingehen sollen!, durchzuckte es Naryavos Gedanken. Aber diese Gedanken führten zu nichts. Naryavo mahnte sich selbst zu größerer mentaler Disziplin. Ein Kunststück, wenn keine Möglichkeit eines Regenerationszeitquantums und zur Meditation besteht!, überlegte er ärgerlich. Und dabei fühlte er langsam, aber sicher etwas vom Grund seines Bewusstseins emporkriechen, was er wie nichts anderes fürchtete.

Furcht.

Furcht, die sich zur Panik auswachsen und zur vollkommenen mentalen Desintegration führen konnte, wie er sehr wohl wusste.

„Erfordert dein gegenwärtiger mentaler Stabilitätsstatus eine Ablösung?“, hörte er Dambiayn sagen. „Ich würde das sehr bedauern, deine Fähigkeiten als Pilot sind bemerkenswert und sicher besser als bei den meisten anderen an Bord.“

„Es wird gehen“, behauptete Naryavo, obwohl er sich in diesem Punkt selbst nicht so recht sicher war. Er hoffte, dass sein emotionales Begleitrauschen dies nicht allzu deutlich verriet. Konzentrier dich auf die Sache! Auf sonst nichts!

„Es gibt hier ein Asteroidenfeld, fünf Kurzraumquanten entfernt.“

„Du schlägst vor, dieselbe Strategie zu verfolgen wie in den Tiefenregionen des Gasriesen?“, wunderte sich Dambiayn. „Ich darf dich daran erinnern, dass wir keinen Erfolg hatten.“

„Wir hatten mehr Erfolg, als in allen Gefechten, die wir zuvor mit den Unbekannten ausgetragen haben!“, widersprach Naryavo.

„Auch wieder wahr.“

„Ich schlage maximale Beschleunigung vor. Sobald wir innerhalb des Asteroidenfeldes sind, warten wir und sprengen mehrere der Gesteinsbrocken auseinander. Wir werden dafür neunzig Prozent unserer Energiereserven einsetzen müssen und es besteht außerdem die Gefahr, dass wir selbst in Mitleidenschaft gezogen werden.“

„Immerhin haben wir dort etwas Schutz“, meinte Dambiayn. „Ich dachte eigentlich eher an einen Überlichtsprung.“

„Wir würden dafür ebenfalls den Großteil unserer Energie brauchen und angesichts des Reparaturstatus gingen wir ein unkalkulierbares Risiko ein“, widersprach Naryavo. „Besser, wir suchen hier die Entscheidung.“

„Ich stimme Naryavo zu“, erklärte indessen Sharenayn. „Wenn wir nach einem Raumsprung den Großteil unserer Energiereserven verbraucht haben und das Phantom hat die Raumverzerrungen angemessen und ist uns gefolgt, stehen wir dem Gegner völlig wehrlos gegenüber. So haben wir zumindest die Möglichkeit, unsere Ressourcen voll und ganz in Abwehrmaßnahmen zu leiten.“

„Also gut“, sagte Dambiayn. „Dann folgen wir Naryavos Vorschlag.“

„Die Geschwindigkeit des Feindschiffs scheint sich gegenüber seinem Status vor dem Kampf im Ammoniak-Ozean verringert zu haben. Es holt zwar auf, aber entweder sind die Energiekapazitäten etwas erschöpft oder es gibt genau wie uns erhebliche Schäden an Bord!“

„Warten wir ab, wer mit diesen Schäden besser zurechtkommt“, meinte Dambiayn. „Maximale Beschleunigung!“

*

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AUF HALBEN WEG ZUM Asteroidenfeld zeichneten Abtaster plötzlich einen Energieblitz von ungewöhnlicher Stärke. Sein Ausgangspunkt war dort, wo die Systeme der KLEINEN STATION zuletzt die Energiesignatur des Phantomschiffs angemessen hatte.

Der Blitz erfasste das Bhalakiden-Schiff mit voller Wucht. Systeme fielen aus, die Antischwerkraftgeneratoren gaben als Erste ihre Funktion auf. Der Bordrechner wurde durch einen mit dem Blitz einhergehenden elektromagnetischen Schock mehr oder minder lahmgelegt. Naryavo verwandelte sich augenblicklich in ein Energiewesen.

Diesmal zögerte er nicht ein einziges Minimalzeitquantum.

Die Erinnerung an den letzten Systemausfall in der Tiefe des Gasriesen war einfach noch zu frisch, die Erfahrung des beinahe Zerdrücktwerdens zu traumatisch.

Naryavo verlor sowohl den Kontakt zu den Bordsystemen als auch zu den anderen Bhalakiden auf der Brücke der KLEINEN STATION. Einen Schwall von panischen Signalen nahm er wahr, der für seine empfindlichen Sinne einem Chor des puren Grauens glich.

In diesem Moment begriff Naryavo die Strategie des Gegners.

Er hatte die Absicht der Bhalakiden an Bord der KLEINEN STATION offenbar durchschaut und wollte verhindern, dass sie innerhalb des Asteroidenfeldes Schutz suchten und dort womöglich ihre inzwischen wieder gut gefüllten Energiereservoire dazu nutzten, ein großes Feuerwerk zu veranstalten.

Also hatte man sich auf dem Phantomschiff dazu entschlossen, nahezu die gesamten noch verfügbaren Energiereserven in einen einzigen Energieimpuls zu lenken, der die KLEINE STATION vernichten sollte.

Möglicherweise hatte bei dieser Entscheidung auch der Umstand eine Rolle gespielt, dass die Antriebssysteme des Phantoms nicht mehr in demselben Zustand waren wie vor dem Kampf in der Tiefe.

An Bord der KLEINEN STATION herrschte jetzt vollkommene Verwirrung.

Der Energieimpuls durchdrang sämtliche Abschirmungen, zerstörte die internen Systeme und ließ Augenblicke später alle Eindämmungsfelder zusammenbrechen. Eine Fontäne von Atemluft und Kühlgasen strömte in den freien Raum, wo sie augenblicklich gefror. Teile der Außenwandungen begannen abzuplatzen, ein Brand entstand. Als der Energieimpuls die Antriebskonverter erreichte, wurde eine Fusion ausgelöst. Ein nicht mehr zu stoppender Brand fraß sich langsam aber sicher innerhalb des goldenen Schiffes fort und würde es innerhalb kürzester Zeit in eine Mini-Sonne verwandeln.

Naryavo handelte instinktiv. Es war eine Fluchtreaktion, die ihn in energetischer Form quer durch das Schiff rasen ließ. Im freien Weltraum vermochte ein Bhalakide in Form eines Energiewesens durchaus zu überleben. Aber für wie lange? Er konnte nicht annehmen, dass sich im Umkreis mehrerer Lichtjahre eine Welt fand, auf der er nicht nur landen, sondern die auch intelligente Bewohner beherbergte, deren technologische Ressourcen groß genug waren, um ihm bei der Weiterreise zu helfen.

Aber Naryavo verspürte nicht die geringste Lust dazu, ein Dasein als Gestrandeter, vom Rest des Universums abgeschnittener Bhalakide zu führen.

Seine einzige Chance war eines der Beiboote, die sich an Bord der KLEINEN STATION befanden.

Ein Teil der Hangarsektion war bereits eine Beute des Fusionsbrandes geworden.

Naryavo fuhr in eines der verbleibenden Boote, löste einen Blitzstart aus und hoffte, dass die Systeme auf diese Schaltung überhaupt noch reagierten.

Sie taten es.

Die Beiboote verfügten über autonome Systeme, die mit den Systemen der KLEINEN STATION in keinerlei Verbindung standen, um ein Übergreifen von Schäden und Funktionsstörungen zu verhindern.

Naryavo hatte Glück.

Das Schiff startete.

Die Temperaturmesser zeigten astronomisch hohe Werte an. Nur den Bruchteil eines Minimalzeitquantums, nachdem das Beiboot gestartet war, fraß sich die Kettenreaktion auch in jenen Bereich hinein, in dem sich der Hangar befand, und verwandelte die gesamte Sektion in einen atomaren Glutofen.

Die Hölle brach los. 

Das goldene Schiff verwandelte sich in einen Feuerball. Das Beiboot wurde förmlich aus der Mini-Sonne, in die sich die KLEINE STATION zu verwandeln begann, herausgeschleudert, zusammen mit anderen, zumeist hell aufglühenden Trümmerstücken, die wenig später wie Sternschnuppen verloschen.

Die KLEINE STATION wurde zu einem brodelnden Glutball, aus dem immer wieder Stücke herausgeschleudert wurden, die dann in chaotischen Flugbahnen durch das All vagabundierten, bevor sie irgendwo im Nichts verschwanden.

Das ganze Schauspiel dauerte nicht lange, dann blieb von der KLEINEN STATION buchstäblich nichts übrig. Der konzentrierte Angriff des Phantomschiffs hatte das Bhalakiden-Schiff abgefangen und atomisiert.

Hin und wieder leuchteten noch ein paar Trümmerteile auf.

Sie waren nicht mehr als Funken in der ewigen Nacht des Weltraums.

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NARYAVO HATTE SÄMTLICHE Systeme eines Bootes umgehend abgeschaltet. Es gab keine Energieversorgung mehr, keine Regeneration der Atemluft und keinen Bereitschaftsstatus der Antriebsaggregate. Selbst den Bordrechner hatte Naryavo vollkommen deaktiviert - wohl wissend, welches Risiko er damit einging. An eine schnelle Wiederherstellung der Manövrierfähigkeit war nämlich unter diesen Bedingungen nicht zu denken.

Aber dem einzig überlebenden Bhalakiden aus der Besatzung der KLEINEN STATION war durchaus klar, dass seine einzige Chance darin bestand, dass ihn der Gegner schlichtweg nicht bemerkte.

Das Beiboot war klein. Sofern es keine Aktivität aufwies, emittierte es auch keine charakteristischen Energiesignaturen, die es für die Gegenseite sofort erkennbar machten.

Das Beiboot flog - getrieben durch die kinetische Energie, mit der es aus dem verglühenden Bhalakiden-Schiff geschleudert worden war - dem Asteroidenfeld entgegen. Wie alles in dem System des blau-weißen Sterns, hatte es geradezu gigantische Ausmaße. Ein Feld aus unregelmäßig geformten Brocken, unter denen es ständig irgendwelche kleineren Kollisionen gab.

Naryavo saß ohne Verbindung zu den Sensorsystemen, denn auch die hatte er deaktiviert, in seinem Beiboot und harrte der Dinge, die da kamen.

Es gab nichts, was er im Moment noch tun konnte, um sein Schicksal zu beeinflussen.

Genau das war es, was ihn - abgesehen von der Trauer um seine toten bhalakidischen Gefährten - am meisten störte.

Naryavo war zum Nichtstun verurteilt. Wenn sich das fremde Schiff dazu entschloss, den umgebenden Raum noch einmal gründlich abzusuchen und ihn anschließend mitsamt seinem Beiboot zu vernichten, so konnte er nichts dagegen tun.

Eine Erschütterung erfasste das Beiboot, dem man die Bezeichnung RETTUNG gegeben hatte.

Ein Name, der angesichts der Situation, in der sich Naryavo im Augenblick befand, fast wie ein sarkastischer Kommentar klang.

Erneut wurde das Schiff einer Erschütterung ausgesetzt. Naryavo konnte nur vermuten, dass die RETTUNG mit irgendeiner der unzähligen Materiebrocken kollidiert war, die in diesem Sektor durch das All trieben.

Es war nur zu hoffen, dass sich die Schäden, die dadurch verursacht wurden, in Grenzen hielten.

Der Flug der RETTUNG wurde abgebremst, der Kurs zweifellos geändert, bis weitere Kollisionen sie auf einen noch ganz anderen Weg schickten.

Ein Materiebrocken unter vielen - das war Naryavos Beiboot nun. Vielleicht sahen die Herren des Phantomschiffs in der RETTUNG nichts weiter als eines der Trümmerstücke, die von der KLEINEN STATION geblieben waren.

Etwas, das der weiteren Aufmerksamkeit nicht lohnte.

Nun hieß es abwarten.

Die Zeit verstreichen lassen.

Naryavo verbrachte diese Zeit als Energiewesen in der Konverterkammer des Haupttriebwerks, dem am meisten abgeschirmten Bereich des Beiboots. Schließlich wollte der Bhalakide vermeiden, dass seine energetische Existenz vom Phantomschiff aus angemessen wurde - was zumindest theoretisch denkbar war.

*

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NARYAVO WAR ENTSCHLOSSEN, den zeitlichen Spielraum bis zum Äußersten auszureizen und sich so lange tot zu stellen, wie es möglich war.

Die zeitliche Grenze ergab sich durch die Notwendigkeit für den Bhalakiden, Energie aufzunehmen. In dem Zustand als körperloses Energiewesen war sein Verbrauch zwar etwas geringer, als wenn er einen Körper mit funktionierendem Stoffwechsel formte, aber irgendwann würde auch dann sein energetischer Status unter einen gewissen kritischen Wert sinken. Die Integrität seiner Person war dann nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Daher musste Naryavo dafür sorgen, dass er rechtzeitig vorher die Schiffssysteme wieder startete, sie gegebenenfalls durch die Kraft des nahen Zentralgestirns wieder auflud und seinen eigenen Energiehunger stillte.

Die Zeit war relativ - aber für das hoch entwickelte und an die Bedingungen jenseits des Ereignishorizonts gewöhnte Bewusstsein eines Bhalakiden galt das nur mit Einschränkung.

Das bhalakidische Bewusstsein besaß eine stark ausgeprägte innere Uhr, die diese Wesen vor den realitätsverzehrenden Raumzeiteffekten bewahrte, die normalerweise im Umkreis jeder Xaradim-Station auftraten.

Naryavo war also auf keinerlei technische Hilfsmittel angewiesen, um die verstreichende Zeit messen zu können. Und das mit einer Präzision, die es mit den meisten technischen Apparaturen, die intelligente Wesen im Verlauf der letzten Äonen dazu erfunden hatten, durchaus aufnehmen konnte.

Er wusste genau, wo für ihn ganz persönlich das Existenz bedrohende Limit lag, das er nicht überschreiten durfte.

Nutze die Zeit, um dich in die Tiefen deiner eigenen Seele zu versenken!, dachte der Bhalakide.

Für das, was vor ihm lag, würde er einen hohen mentalen Stabilitätsfaktor noch dringend brauchen.

Endlich gestattete er es sich, seine Gedanken zu jenen zurückkehren zu lassen, mit denen er zusammen an Bord der KLEINEN STATION seine Xaradim-Heimat verlassen hatte.

Keiner von ihnen hatte überlebt, davon musste er ausgehen.

Weder Dambiayn noch Mantayan, dessen oberste Maxime, die eigene Existenz zu retten, nicht aufgegangen war. Ein blindes Schicksal hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht und ihn mit den anderen im Fusionsfeuer der kollabierenden KLEINEN STATION vergehen lassen.

Ich bin der Einzige, dachte er. Der einzige Überlebende meiner Xaradim-Heimat, denn ich muss davon ausgehen, dass auch die in den Blockfallen gefangenen Bhalakiden sich nicht mehre im Status der Existenz befinden!

Er hatte es aus Gründen der Aufrechterhaltung seiner mentalen Stabilität lange vermieden, überhaupt auch nur einen einzigen Gedanken an diese Fakten zu verschwenden, aus Angst davor, dass er dadurch an Stabilität verlor, vielleicht sogar in Lethargie verfiel.

Aber andererseits wusste er, dass er sich diesen Wahrheiten auf Dauer stellen musste. Er konnte den Tatsachen nicht ausweichen und sie einfach für immer aus seinem Bewusstsein blenden.

Ihm war außerdem klar, dass er innere Kräfte sammeln musste für das, was ihm noch bevorstand.

Und das ging nur, wenn er sich mit dem Geschehenen auseinandersetzte.

Die letzten Augenblicke, bevor die KLEINE STATION sich in eine Mini-Sonne verwandelt hatte, waren für ihn am furchtbarsten gewesen. Und der Schwall aus Signalen der puren Verzweiflung ...

Nur mit Schaudern vermochte sich der Bhalakide diesen Erinnerungen zu stellen.

Aber es war notwendig.

Schon die Überlieferung der Bhalakiden sagte dies klipp und klar. Stell dich den Dämonen deiner Seele. Sie überfallen dich sonst, wenn du es am wenigsten erwartest - so lautete ein Axiom, das irgendwo in seinem energetisch-basierten Gedächtnis gespeichert war. Jetzt tauchte es aus der Tiefe seiner Erinnerungen auf und gewann plötzlich eine völlig neue Bedeutung.

Ja, die legendären Verfasser dieser Überlieferungen hatten gewusst, wovon sie berichteten.

Offenbar war bereits ihr Leben nicht so friedlich und ereignisarm verlaufen, wie es sich die Bhalakiden von heute angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten, die sie mit der Erhaltung des Netzes hatten, häufig wünschten.

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8. Kapitel: In der Anomalie

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Naryavo reizte den zeitlichen Rahmen, der ihm blieb, bis zum letzten Minimalzeitquantum aus. Dann erst reaktivierte er die Systeme. Allerdings ging er auch dabei vorsichtig zu Werke. Zunächst wurde lediglich das Rechnersystem und die Ortung wieder in Gang gesetzt sowie anschließend ein ausführlicher Scan der Umgebung durchgeführt.

Gesucht wurde nach der schwachen Energiesignatur des Phantomschiffs.

Aber die Abtaster der RETTUNG wurden nicht fündig. Stattdessen registrierten sie eine geringfügige Raumzeitverzerrung, die eigentlich dafür sprach, dass hier ein Schiff die Lichtmauer durchbrochen hatte. 

Es konnte nach Lage der Dinge eigentlich nur das Phantomschiff sein. Offenbar war die Besatzung zu dem Schluss gelangt, dass die KLEINE STATION vollständig zerstört war.

Naryavos Plan schien aufgegangen zu sein.

Das weckte neue Lebensgeister in ihm und ließ seine arg strapazierte psychische Stabilität wieder auf ein etwas akzeptableres Level klettern.

Als Nächstes aktivierte er die Energieerzeugung und die Lebenserhaltungssysteme sowie die künstliche Schwerkraft und die Antigravaggregate.

Er formte einen Bhalakiden-Körper und sog sich mit Energie voll. Regelrecht ausgehungert war er danach. Nicht mehr viel hätte gefehlt und seine Persönlichkeit hätte sich durch ein zu starkes Absinken des energetischen Levels aufgelöst.

Eine Art des Übertritts in den Status der Nicht-Existenz, wie ihn sich Naryavo schrecklicher nicht vorzustellen vermochte. Bewusstseinssplitter, die vielleicht noch durch den Raum geisterten, würden vielleicht nach einem mehrere Langzeitquanten langen Prozess endgültig verschwinden ...

Wenn es so etwas wie das ultimative Entsetzen gab, so musste es dieser allmähliche, aber nichtsdestotrotz von einem bestimmten Stadium an unumkehrbare Prozess der Auflösung sein.

Dann schon lieber im Fusionsfeuer eines kollabierenden Schiffs innerhalb des Bruchteil eines Minimalzeitquantums verglühen!, ging es Naryavo durch den Kopf.

Eine ganze Weile noch fürchtete Naryavo, plötzlich erkennen zu müssen, dass das, was er im Moment für sein Bewusstsein hielt, in Wahrheit nichts weiter als einer dieser sich auflösenden Persönlichkeitsreste war.

Aber glücklicherweise trat das nicht ein.

Ich werde einiges dafür tun müssen, damit sich kein Trauma oder eine ernsthafte Stabilitätsstörung meiner Psyche daraus entwickelt, war dem Bhalakiden klar.

Meditation war dazu ein probates Mittel und sofern sich in nächster Zeit nicht doch noch ein Phantomschiff an seine Fersen heftete, würde er dazu mehr als genug Zeit haben.

Sein erstes Ziel war es zunächst einmal, einige Lichtjahre zwischen sich und den Ort des tödlichen Kampfes um die KLEINE STATION zu legen.

Naryavo beschleunigte das Beiboot, wartete jedoch eine ganze Weile damit, die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten, weil er nicht durch Subraumerschütterungen auf sich aufmerksam machen wollte. Schließlich wusste er ja nicht, ob das Phantomschiff inzwischen zur Xaradim-Station hinter den Ereignishorizont des zentralgalaktischen Schwarzen Lochs zurückgekehrt war oder noch in der näheren Umgebung irgendwo lauerte und nach irgendwelchen verdächtigen Zeichen absuchte.

Naryavo wusste, dass er gar nicht vorsichtig genug sein konnte, denn im Fall einer Entdeckung durch die geheimnisvollen Herren des Phantomschiffs waren seine Überlebenschancen gleich null.

*

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DIE NÄCHSTEN MITTELZEITQUANTEN verliefen für Naryavo erfreulich ereignisarm. Die Reichweite des Beibootes war begrenzt und auch was die Beschleunigung anging war es nicht mit der KLEINEN STATION vergleichbar.

Aber für eine Reise bis ins Zentrum der nächstgelegenen Galaxie war es allemal besser geeignet, als die primitiven Raumfahrzeuge der Spezies, die er bisher in der Milchstraße kennengelernt hatte.

Und außerdem ließ sich die RETTUNG ja vielleicht auch noch auf die eine oder andere Weise technisch optimieren.

Einige Lichtjahre hatte Naryavo bereits hinter sich gebracht, als ihm in den Ortungsanzeigen etwas sehr Merkwürdiges auffiel.

Eine gut achtzehn Lichtjahre durchmessende Zone, die optisch vollkommen leer erschien.

Die Sternendichte im galaktischen Zentrum war so enorm, dass dies eigentlich nicht sein konnte.

Wie kommt es, dass diese Anomalie uns Bhalakiden früher nie aufgefallen ist?, überlegte er. Aber allein im galaktischen Zentrum war die Zahl der Systeme dermaßen groß, dass es selbst in Äonen nicht möglich war, sie alle zu erforschen.

Vielleicht haben sich die meisten von uns auch einfach nur viel zu wenig für all das interessiert, was jenseits des Ereignishorizontes war!, überlegte Naryavo und musste an Mantayans Worte denken. Auch wenn er seinerzeit wenig Verständnis für die gedanklichen Positionen des erklärten Skeptikers gehabt hatte, so erschien ihm manches von dem, was er geäußert hatte, plötzlich in einem neuen Licht. Wir glaubten, das Universum zu kennen, dabei war unser Wissen darüber sehr begrenzt. Schon wenige Lichtjahre jenseits des Ereignishorizontes endete der Bereich, der uns wirklich interessiert hat. Schande über uns ...

Dieses Desinteresse hatte sich nun vielleicht sogar sehr grausam gerächt.

Ansonsten wüssten wir vielleicht auch, woher das Phantomschiff gekommen ist und was die weitergehenden Ziele seiner bislang mysteriösen Herren sind ...

Aber für diese Selbsterkenntnis war es nun wohl zu spät.

Was geschehen war, war geschehen.

Die Vergangenheit ließ sich nicht revidieren, so gerne Naryavo dies auch getan hätte.

Er programmierte die Steuerung seines Schiffs so, dass es auf diese ziemlich ausgedehnte Anomalie zusteuerte.

Auch wenn im optischen Bereich hier eine vollkommen unnatürliche Finsternis herrschte, so ließen sich mit anderen, sehr viel feineren Messverfahren im Bereich dieser Anomalie durchaus zahlreiche Sonnensysteme finden, von denen die meisten auch über Planeten verfügten.

Was ist es, das diese Welten unsichtbar macht?, fragte sich Naryavo sofort. Eigentlich hielt er es für so gut wie ausgeschlossen, dass diese Anomalie natürlichen Ursprungs war.

Erinnerte sie ich nicht irgendwie an die Tarnung des Phantomschiffs?

Naryavo spürte, wie ihn eine beinahe fiebrige Erregung erfasste. Er musste diesem Phänomen auf den Grund gehen, denn es war nicht völlig auszuschließen, dass es mit den Geschehnissen um die Xaradim-Station in engem Zusammenhang stand.

Er bremste die Geschwindigkeit der RETTUNG etwas ab und nahm noch weitere, genauere Scans vor. Energiesignaturen, die denen des Phantomschiffs ähnelten, konnte er nirgends finden.

Dennoch – es war für ihn ohne jede Frage, dass er sich diese Anomalie genauer ansehen musste. So steuerte er eines der verborgenen Systeme an.

Erst als er sich bereits inmitten dieses Systems befand, löste sich die Tarnung, deren Funktionsweise selbst der hoch entwickelte technisch-naturwissenschaftliche Sachverstand des Bhalakiden bislang nicht zu entschlüsseln wusste.

Das Planetensystem wurde nun auch optisch sichtbar.

Bei einer der Welten handelte es sich um einen Sauerstoffplaneten von jener Sorte, wie er eigentlich typisch für die Entwicklung organischen Lebens war. Aus dem All waren vor allem Spuren einer wuchernden Flora zu sehen, die korallenähnliche Strukturen hinterließ, die selbst aus dem Weltraum sichtbar waren.

Spuren von Besiedlung waren ebenfalls erkennbar. Aber es gab keinerlei Funkverkehr, den er zu empfangen vermochte. Entweder die Planetarier verständigten sich auf einem für Bhalakiden völlig ungewöhnlichen Frequenzband oder das Leben auf dieser Welt war einfach noch nicht weit genug, um derartige Kommunikationsmittel erfunden zu haben.

Dafür sprach auch, dass im Orbit keinerlei Flugkörper zu orten waren. Weder Satelliten noch Raumschiffe oder dergleichen mehr.

Eine technisch rückständige Spezies kann niemals für die Erschaffung dieser Anomalie verantwortlich sein!, war dem Bhalakiden natürlich sofort klar. Es sei denn, sie wäre degeneriert und könnte sich irgendwann nicht mehr an ihre ruhmreiche Vergangenheit erinnern, die dann allenfalls noch in verzerrten Legenden und Mythen fortlebt ...

Naryavo zögerte.

Konnte die Erforschung einer Welt, die offenbar von allem anderen als einer sehr verheißungsvollen Spezies besiedelt wurde, ihn überhaupt weiterbringen oder war das Ganze womöglich nichts weiter als pure Zeitverschwendung?

Einige Augenblicke lang rangen beide Positionen in Naryavo miteinander, aber dann hatte er sich entschieden.

Er wollte einfach mehr erfahren – und selbst wenn die primitiven Eingeborenen dieses Planeten nichts mit der Erschaffung der Anomalie zu tun hatten, so musste es doch einen Grund geben, weshalb auch dieses System zum getarnten Bereich gehörte.

Wie ein verborgenes Imperium wirkt das Ganze, wenn man es aus der Ferne betrachtet, ging es dem Bhalakiden durch den Kopf. Fragt sich nur wessen Reich das ist ...

Möglich, dass diese Welt nichts weiter als eine abgelegene Kolonie der eigentlichen Schöpfer der Tarnzone darstellte, die durchaus mit den Invasoren der Xaradim-Station identisch sein konnten.

Vielleicht werde ich also auf dieser Welt wertvolle Hinweise erhalten!, lautete der Gedanke, der Naryavo schließlich dazu bewog, in ein stabiles Orbit einzuschwenken.

Er nahm weitere Messungen vor und begann damit, die Planetenoberfläche nach und nach zu scannen. Schließlich wollte er einen Landeplatz sorgfältig auswählen. Noch immer fand er keinerlei Hinweise auf die Hinterlassenschaften einer technisch entwickelten Zivilisation.

Aber konnte das verwundern?

Hatten sie nicht durch die Erschaffung der Anomalie bewiesen, welche Meister der Tarnung sie waren?

Naryavo ging in ein tieferes Orbit.

Er konnte jetzt optisch einige Siedlungen erfassen. Sie stammten von katzenartigen, primitiven Intelligenzen, die in kleinen Dorfgemeinschaften zu leben schienen.

In der Nähe eines dieser Dörfer entdeckte er allerdings eine seltsame Flugmaschine, die sich dem Dorf näherte und es mit Strahlschüssen angriff. Die eigentlich dazugehörigen typischen Energiesignaturen vermochten seine Abtaster allerdings nicht aufzuzeichnen. Möglicherweise hatten die Erfinder dieser Flugmaschine eine Möglichkeit zur Verfügung, diese Signale abzudämpfen.

Das Gemetzel war kurz und grausig.

Von dem Dorf blieb buchstäblich so gut wie nichts übrig.

Der Hintergrund dieses Konflikts ließ sich für Naryavo nicht einmal erahnen.

Besser ich verschwinde wieder!, überlegte er.

Doch es war zu spät.

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EIN ALARMSIGNAL SCHRILLTE. Es zeigte an, dass die RETTUNG von einem Peilstrahl erfasst worden war.

Das Beiboot der KLEINEN STATION geriet ins Trudeln. Systeme fielen aus. Ortung und Steuerung funktionierten für einige Augenblicke nicht mehr, während die RETTUNG in die Stratosphäre des Planeten eintauchte.

Ein zweiter Strahl traf den Raumer und brannte ein Loch in die Außenhülle.

Verzweifelt versuchte Naryavo, die Kontrolle über die RETTUNG zurückzuerlangen. Aber die Systeme schienen mehr in Mitleidenschaft geraten zu sein, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Der Antrieb und das Antigravaggregat waren komplett ausgefallen. Das Beiboot konnte sich nicht mehr in einem Orbit halten. Es fiel wie ein Stein vom Himmel dieser scheinbar nur von einer barbarischen Kultur besiedelten Welt.

Aber offenbar gab es irgendwo auf dem Planeten jemanden, der Waffen besaß, die auch der bhalakidischen Technik gefährlich werden konnten.

Dass der Angriff von der Oberfläche ausgegangen war, stand fest. Der genaue Herkunftsort des Strahls, mit dem die RETTUNG attackiert worden war, konnte Naryavo jedoch nicht feststellen, da es ihm lediglich gelang, die Grundfunktionen des Ortungssystems in der Eile neu zu kalibrieren, sodass er immerhin nicht im Blindflug auf den Planeten zuraste.

Naryavo wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wenn er verhindern wollte, dass sein Raumschiff – das einzige für weitere Distanzen taugliche Vehikel, das ihm zur Verfügung stand – auf der Oberfläche dieser Barbarenwelt zerschellte. Er selbst konnte sich natürlich jederzeit retten, indem er sich in ein flüchtiges Energiewesen verwandelte.

Aber dann wäre ich genau das, was ich nicht sein wollte!, ging es ihm durch den Kopf.

Ein Gestrandeter.

Gefangen und ohne die Möglichkeit, mich auf Langstrecken im All zu bewegen.

Schon das Erreichen des nächsten Systems hätte eine langzeitquantenlange Reise bedeutet – wenn er überhaupt je dort angekommen wäre und zwischenzeitlich nicht sein Energiereservoir versagt hätte.

Denn das war eine andere Gefahr, die ihm drohte.

Der energetische Hungertod.

In der RETTUNG befand sich eine entsprechende Wandlungsvorrichtung, mit deren Hilfe ein Bhalakide sich ernähren konnte. Prinzipiell wäre es für Naryavo auch möglich gewesen, sich aus anderen Energiequellen zu stärken, aber auf einem nicht technisierten Planeten war es schlechterdings sehr schwierig, eine geeignete Quelle dafür zu finden.

Die Einzigen, die über eine höher entwickelte Technik verfügten – hoch genug immerhin, um Raumschiffe aus dem Orbit zu schießen – waren ihm ganz offensichtlich nicht wohl gesonnen.

Anders war es nicht erklärlich, dass man ihn sogleich angegriffen hatte, ohne zuvor zumindest den Versuch einer Kommunikation zu unternehmen.

Verzweifelt versuchte Naryavo, die Bordsysteme neu zu konfigurieren, aber der elektromagnetische Schock, mit dem die RETTUNG angegriffen worden war, hatte zu einem dermaßen gründlichen Rechnerkollaps geführt, dass dies nicht auf die Schnelle möglich war.

Die Distanz wurde immer kürzer.

Immerhin hatte Naryavo die Ortung wieder einigermaßen hinbekommen, sodass zumindest diese Angaben verlässlich waren.

Und besorgniserregend.

Die RETTUNG raste geradewegs auf eine felsige Region zu. Schroffe Massive ragten in den Himmel. Die Schäden an der RETTUNG wären bei einem Aufprall massiv gewesen.

Für ein Minimalzeitquantum gelang es Naryavo schließlich wieder, an das Antriebssystem heranzukommen. Er betätigte eine Schubdüse und außerdem schaffte er es, zumindest eines der Antigravaggregate für einige Augenblicke wieder zu aktivieren.

Der Sturzflug wurde dadurch nicht nur erheblich abgebremst und die relative Geschwindigkeit, mit der sich das Beiboot der Oberfläche näherte, vermindert, sondern es trat auch eine geringfügige Richtungsänderung ein, bevor die Systeme schließlich wieder versagten und Naryavo letztlich die Kontrolle verlor. Eine Bruchlandung wurde unvermeidlich.

Naryavo verwandelte sich in ein Energiewesen und verließ die RETTUNG, die jetzt die letzten Längenquanten in Richtung Oberfläche niederstürzte.

Allerdings machte sich die Richtungsänderung, die der Bhalakide durch die Aktivierung einer Schubdüse verursacht hatte, deutlich bemerkbar. Der Absturzort lag jetzt nicht in dem felsigen Gebiet, das noch kurz zuvor das Absturzgebiet gewesen wäre, sondern in einer stark von Vegetation überwucherten Gegend. Dort gab es jene dichten Wälder, deren organisches Material feste, korallenartige Strukturen bildeten, sobald sie abstarben.

Das Beiboot krachte durch diese korallenähnlichen Strukturen hindurch. Der Aufprall wurde dadurch etwas abgebremst. Anschließend bohrte sich der Raumer in den weichen Waldboden. Eine Hälfte des kugelförmigen Schiffsrumpfs ragte noch aus der Erde heraus. Der Hüllenbruch, den der zweite Strahlenangriff verursacht hatte, war deutlich zu sehen.

Naryavo schwebte als Lichtwesen herab und materialisierte auf dem weichen Waldboden.

Ein Schwall von akustischen Eindrücken prasselte auf ihn ein. Er war es gewohnt, eine Vielzahl von Signalen aller Art gleichzeitig aufzunehmen, aber das geballte Chaos an akustischen Informationen, die seine Sinne erreichten, verwirrte ihn im ersten Moment. Selbst in einer großen Gruppe von Bhalakiden herrschte ein Zustand, der einer Stille sehr viel näher war als das Gewimmel und der vielgestaltige Klangteppich dieses dichten und in seiner Form sehr bizarren Dschungels, der so offensichtlich voller Leben war.

Der Bhalakide sah etwas über den Boden kriechen und in einem Erdloch verschwinden. Es war ein wurmähnliches Geschöpf, das etwa dieselbe Körperlänge wie ein Bhalakide aufwies.

Jetzt bist du also doch ein Gestrandeter!, ging es Naryavo durch den Kopf.

Die Aussicht, sich in dieser unbekannten, aber ganz sicher sehr belebten Umwelt behaupten zu müssen, stimmte ihn alles andere als froh.

Naryavo stieg durch den Hüllenbruch ins Innere der RETTUNG. Er wollte sehen, welche Systeme noch intakt waren beziehungsweise sich vielleicht reparieren ließen. Für den Antrieb sah es schlecht aus. Aber die aufgeladenen Energiezellen funktionierten noch. Da sie nicht mehr die Aufgabe hatten, ein Raumschiff über die Lichtgrenze zu bringen, und der Körper eines Bhalakiden einen ungleich geringeren Energiebedarf hatte als das Triebwerk eines Raumschiffs, würde dieser Vorrat immerhin reichen, um Naryavo für mindestens drei Langzeitquanten auf einem energetisch einwandfreien Level zu halten.

Einige Teilsysteme des Bordrechners ließen sich ebenfalls reaktivieren. Blieb noch das Problem des Hüllenbruchs. Durch diese Öffnung in der Außenwand der RETTUNG konnten Tiere eindringen und der Gedanke an ungebetene Besucher verursachte bei Naryavo sofort ein Absinken des psychischen Stabilitätslevels um mehrere Grade. Aber glücklicherweise waren an Bord der RETTUNG einige nützliche Werkzeuge, die für Notfallreparaturen vorgesehen waren.

Mit einem Laserbrenner und mehreren Platten, die aus demselben metallischen Material waren, aus dem auch die Außenhaut der bhalakidischen Raumschiffe beschaffen waren, fertigte er ein Schott. Es wäre nicht raumtauglich gewesen, aber Naryavo nahm auch nicht im Ernst an, dass das Beiboot diesen Status jemals wieder erreichen würde. Für die Dauer seines Aufenthaltes konnte ihm die RETTTNG mehr oder weniger als behagliche Behausung dienen – aber mehr konnte er von ihr nicht mehr erwarten.

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DIE ERSTEN NÄCHTE ALS Gestrandeter auf dieser neuen Welt waren furchtbar. Er hörte den für ihn geheimnisvollen und nicht zu identifizierenden Stimmen der Tiere zu, die draußen den Kampf um die eigene Existenz führten und entweder fraßen oder gefressen wurden.

Naryavo schloss zunächst das neu geschaffene Außenschott, um nicht von diesen Lauten belästigt zu werden. Aber schließlich schaltete er die Außenmikrofone ein, um sie trotzdem und ohne die Angst, dass ein Tier ihn heimsuchen konnte, wahrzunehmen.

Mit der Zeit lernte er die Stimmen zu unterscheiden und unterschiedlichen Spezies zuzuordnen. Er rekonfigurierte die Infrarotortung, sodass er sowohl tags als auch nachts mitbekommen konnte, was in der Umgebung der RETTUNG alles so kreuchte und fleuchte.

Zunächst war es Naryavos größte Sorge, dass die geheimnisvollen Angreifer nach ihm suchen würden, um sicherzugehen, dass sie ihn auch wirklich getroffen und vernichtet hatten, was ja ganz offensichtlich ihre Absicht gewesen war.

Aber kein Sucher tauchte in der Umgebung des abgestürzten Raumers auf. Zumindest nicht in dem Umkreis, den die Ortungssysteme zu erfassen vermochten.

Über die Gründe dafür, weshalb ihm niemand gefolgt war, konnte er nur spekulieren. Die wahrscheinlichste Variante war, dass man ihn bislang einfach nicht gefunden hatte. Die Absturzstelle lag in einem sehr unwegsamen Gebiet, das auf Grund der korallenartigen Baumstrukturen nur schwer einsehbar war. Zumindest aus der Luft. Falls der Unbekannte, der Naryavo ganz buchstäblich vom Himmel dieser fremden Welt geholt hatte, also Aufklärungsdrohnen oder Ähnliches über das Absturzareal schickte, konnte es gut sein, dass diese ihn einfach übersahen.

Ich hoffe, dass es so bleibt!, überlegte Naryavo.

*

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EIN PAAR PLANETARE Tage waren vergangen ehe Naryavo es wagte, sein havariertes Beiboot, das nun zu seiner Behausung geworden war, zu verlassen und die weitere, nicht von den Abtastern der RETTUNG erfassbare Umgebung zu erkunden. Er musste einfach mehr über diese Welt und ihre Bewohner erfahren, wollte er jemals eine Chance bekommen, diesen Planeten wieder zu verlassen und seinem ursprünglichen Ziel zu folgen.

Die Tatsache, dass er auf diesem Hinterwäldlerplaneten festsaß und niemand, der die Tragödie seiner Xaradim-Heimat bezeugen konnte, in der Zwischenzeit Gelegenheit hatte, die Bhalakiden auf anderen Xaradim-Stationen zu warnen, betrübte ihn und kratzte sehr an seiner psychischen Stabilität.

Naryavo bekam dieses Problem aber durch verstärkte Meditation in den Griff.

Er verwandelte sich in ein Energiewesen und streifte in der Umgebung herum. Dabei achtete er zunächst peinlich genau darauf, dass er niemals aus dem Schutz des Korallenwaldes auftauchte. Er wusste schließlich nicht, wie hoch die Qualität der Luftaufklärung jener Wesen war, die sein Beiboot abgeschossen hatten.

Er beobachtete zehnbeinige spinnenartige Wesen, deren Körpergröße etwa der der Bhalakiden entsprach und die auf der Jagd nach kleineren Tierwesen waren, von denen es unzählige von Spezies in den dichten Verästelungen und höhlenartigen Gängen des Korallenwaldes gab.

Eine Welt, wie geschaffen für organische Organismen, die einen vollkommen konventionellen Stoffwechsel besaßen.

Fast schmerzlich wurde sich Naryavo in diesem Moment über die Andersartigkeit der Bhalakiden bewusst.

Für uns hat der Körper nicht dieselbe Bedeutung wie für diese Wesen, denen er als einzige Existenzgrundlage dient!, erkannte Naryavo. Was hat uns so werden lassen, dass wir irgendwann den Weg der puren Körperlichkeit aufgaben und zeitweilig in Form reiner Energie zu existieren begannen?, fragte er sich.

Die alten Überlieferungen gaben darauf keine Antwort.

Entweder die damaligen Vorfahren der Bhalakiden hatten die Verwandlung in Energiewesen noch nicht gekannt, oder sie war ihnen derart selbstverständlich, dass sie nichts darüber berichteten.

Irgendetwas muss den langsamen Prozess der Vergeistigung, der hier doch wohl kennzeichnend gewesen sein muss, unterbrechen!, ging es Naryavo irgendwann durch den Kopf, während er gleichzeitig mühelos als Energieblitz durch die verschnörkelten und am schwersten zugänglichen Bereiche des Korallenwaldes schwebte.

Von den primitiven, aber vermutlich intelligenten katzenhaften Bewohnern dieses Planeten, die die Dörfer errichtet hatten, sah Naryavo zunächst kaum etwas. Das Gebiet, in dem die RETTUNG ziemlich hart gelandet und wie ein Geschoss in den Waldboden eingeschlagen war, schien tatsächlich weit von den nächsten Siedlungen entfernt zu sein. Gut so, dachte Naryavo. So konnte er das havarierte Schiff nach und nach zu einem gesicherten Rückzugsort ausbauen.

Über einen Punkt solltest du dir keine Illusionen machen, meldete sich eine Stimme in ihm, du wirst dich darauf einstellen müssen, sehr viel länger in dieser Welt zu verbringen, als es dir lieb ist. Besser, du findest dich möglichst schnell mit den Gegebenheiten ab.

Ein Axiom der bhalakidischen Überlieferung fiel ihm ein.

Es hat keinen Sinn, dem Schicksal oder dem Universum zu zürnen. Beide sind kalt, teilnahmslos – und taub. Du wirst nicht einmal eine Erwiderung bekommen, also spare deine Kräfte und erhalte deine Stabilität.

Naryavo gelangte schließlich an den Rand der bewaldeten Zone. Hin und wieder sah er jetzt Gruppen von katzenhaften, aufrecht gehenden und mit Schwertern und Speeren bewaffneten Jägern. Auffällig waren die ausgefahrenen Rückenstacheln an ihnen.

Naryavo folgte einer dieser Gruppen eine Weile. Er hörte ihren Gesprächen zu, nahm ihr Vokabular nach und nach in seinen energetischen Bewusstseinsspeicher auf und lernte ihre Sprache, um mehr über sie und die Welt, auf der sie lebten, zu erfahren.

Sie erlegten schließlich ein paar Tiere und machten sich auf den Rückweg. Die größte Beute, die sie hatten töten können, war eines jener spinnenartigen Zehnbeiner, die Naryavo bereits in der Umgebung der RETTUNG aufgefallen waren.

Ein Aspekt in den Gesprächen dieser ausgesprochen martialisch wirkenden Wesen waren die Flugmaschinen, die ab und zu auftauchten, und Tod und Vernichtung brachten.

Die Katzenartigen waren alles andere als ängstlich, das war Naryavo bereits während der Jagd aufgefallen, wo sie sich durch großen Mut, Klugheit und Schnelligkeit auszeichneten.

Aber was diese Flugmaschinen anging, so beherrschte Furcht ihre Äußerungen.

Naryavo folgte den Katzoidenkriegern bis in ihr Dorf, das gut geschützt inmitten des Korallenwaldes lag, von dessen Erzeugnissen sie zu leben schienen.

Allerdings war Naryavo aufgefallen, dass es in diesem Gebiet Schneisen der Verwüstung gab, so als hätte jemand Teile des Korallenwaldes einer brutalen Brandrodung unterzogen.

Strahlenfeuer, das die Herren der Flugmaschinen abgefeuert hatten?

Naryavo nahm sich vor, dieser Frage noch weiter nachzugehen und mehr über diese mysteriösen Unterdrücker der Katzenartigen herauszufinden.

Zunächst aber folgte er diesen und sah sich dabei vor, dass sie ihn nicht bemerkten.

Es war schließlich keineswegs seine Absicht, Verwirrung unter ihnen zu stiften.

Die Krieger wurden von den anderen Bewohnern des Dorfes freudig begrüßt.

Naryavo hielt sich in den korallenartigen, aus abgestorbenem organischen Material bestehenden und von Pflanzen überwucherten Strukturen verborgen, während seine empfindlichen Sinne aufmerksam jede Einzelheit registrierten.

Bei Einbruch der Dunkelheit kehrte Naryavo zurück. Die Lichterscheinung, die mit seiner energetischen Gestalt einherging, war dann einfach wesentlich auffälliger.

Aber sobald es wieder hell wurde, kehrte Naryavo zurück, und fuhr mit seinen Beobachtungen fort. Dabei dehnte er seine Streifzüge weiter aus und fand auch noch weitere Dörfer in der Umgebung.

Das Leben in den verschiedenen Gemeinschaften der Katzenartigen unterschied sich nicht großartig voneinander und mit der Zeit begannen sie ihn zu langweilen. Sein eigentliches Ziel war es ja, mehr über jene Wesen zu erfahren, die es geschafft hatten, ihn und sein Raumschiff aus dem Orbit zu schießen.

Diese auf einer relativ primitiven Kulturstufe stehenden Krieger waren es wohl auf jeden Fall nicht.

Eher schon kamen die Erfinder der Flugmaschinen dafür in Frage, von denen die Dörfler immer wieder gesprochen hatten. Zum Schutz vor diesen offenbar mit äußerster Kompromisslosigkeit vorgehenden Kreaturen hatten die Katzenartigen sogar unterirdische Schutzräume angelegt, die gleichzeitig als Vorratskammern dienten.

Naryavo begann, die Brandschneisen zu untersuchen, die die Erbauer der Flugmaschinen in den Korallenwald hineingebrannt hatten. Er versuchte, irgendein System darin zu erkennen. Welchem Zweck dienten die Angriffe? Raubzüge schienen es nicht zu sein. Lag der Sinn vielleicht einfach darin, Furcht und Schrecken zu verbreiten, um sich der Katzenartigen als zahme Untertanen zu versichern?

Naryavo kam zu dem Schluss, dass er mit seinen bisherigen Mitteln der Erkenntnisgewinnung nicht weiterkam. Er unternahm noch weitergehende Streifzüge auf der Suche nach irgendwelchen Hinterlassenschaften, Siedlungen und dergleichen, die vielleicht von den Erbauern der Flugmaschinen stammen konnten.

Aber er blieb erfolglos dabei.

Außer weiteren mehr oder minder weit verstreut liegenden Dörfern der Katzenartigen fand er nichts, was nach einer Besiedlung durch intelligente Wesen aussah.

Ich muss mehr erfahren!, ging es ihm durch den Kopf.

Er konfigurierte seine im Laufe der Zeit immer mehr optimierte Ortungsanlage so, dass sie ihn sofort alarmieren würde, sollte sich irgendwo in erreichbarer Nähe eine dieser Maschinen am Himmel zeigen. Aber derzeit schienen die Angreifer keinerlei Aktivität zu zeigen. Naryavo nahm sich vor, ihnen bei ihrem nächsten Vernichtungszug einfach zu folgen.

Aber bis dahin untätig herumzusitzen oder sich nur in Meditationen zur Erhaltung der mentalen Stabilität zu ergehen, ging ihm ebenfalls gegen den Strich.

So flog er schließlich als Energieblitz eines der Dörfer an, die er mittlerweile erkundet hatte, griff sich einen der Katzenartigen, der in der Nähe des Dorfes allein auf der Suche nach Früchten war und nahm ihn mit in sein Versteck.

Zunächst betäubte er ihn.

Mehr als einen Schatten und vielleicht ein leichtes Aufblitzen hatte der Katzenartige gewiss von diesem Angriff nicht bemerken können.

Sein Geist erwies sich als leicht beeinflussbar. Ein paar kleinere technische Tricks reichten aus, um ihn nachhaltig zu beeindrucken und ihm eine Scheinwelt vorzugaukeln. Der Bhalakide war überrascht darüber, wie einfach das war.

Naryavo gestaltete in dem havarierten Beiboot einen Raum etwas um, ließ den Fremden glauben, dass er ein Gefangener der Flugmaschinenerbauer war und nahm selbst ebenfalls die Gestalt eines Katzenartigen an.

Naryavo hatte zunächst einige Schwierigkeiten damit, seiner Energie diese spezielle und sehr ungewohnte Form zu geben, die sich doch in einigen wesentlichen Details vom androgynen, goldäugigen Körper eines Bhalakiden unterschied. Insbesondere die Rückenstacheln machten ihm ein paar Probleme.

Er gab gegenüber seinem Gefangenen vor, schon seit längerer Zeit ebenfalls Gefangener der Flugmaschinenerbauer zu sein und hoffte, dass der Katzenartige ihm vertraute.

In erster Linie schien der Gefangene Naryavo jedoch schlicht und ergreifend zu bedauern. Da der Bhalakide nämlich die Rückenstacheln nur unzureichend nachzubilden vermochte, nahm der Katzenartige an, dass sein Mitgefangener grausam verstümmelt worden war.

Die Informationsausbeute war gering.

Es stellte sich heraus, dass die Katzenartigen so gut wie nichts über die Erbauer der Flugmaschinen wussten. Sie stellten für die Bewohner der Dörfer lediglich eine ständige Quelle der Gefahr und der Furcht dar, gegen die es kein wirklich wirksames Mittel zu geben schien.

Immerhin erfuhr Naryavo einiges über Sitten und Gebräuche der Katzenartigen. Der Gefangene wunderte sich darüber, dass Naryavo darüber offensichtlich so schlecht Bescheid wusste. Er erklärte sich das damit, dass sein Mitgefangener wohl erstens aus einer weit entfernten Gegend stammte und zweitens die brutale Folter der Flugmaschinenerbauer ihn wohl halb wahnsinnig hatte werden lassen.

Naryavo brachte den Katzenartigen schließlich in sein Dorf zurück.

Von ihm konnte er nichts mehr erfahren, was von Bedeutung war.

Aus gebührender Distanz beobachtete der Bhalakide noch das weitere Geschehen im Dorf und nahm wahr, wie der Katzenartige den anderen Dörflern von seinen Erlebnissen berichtete.

Er konnte keine Erklärung dafür geben, wieso er sich plötzlich wieder in seinem Heimatdorf befand und gab an, er sei einfach in der Nähe der Hütten erwacht.

„Wir wissen, dass unsere Feinde über mächtige magische Mittel verfügen“, meinte einer der Dörfler. „Dass sie jedoch in der Lage sind, unbemerkt unsere Dörfer zu betreten, dass ist mir neu! Davon habe ich noch nie etwas gehört – und ich muss sagen, ich bin stark beunruhigt.“

Die Dörfler beschlossen daraufhin, die Wachen zu verstärken und auch tagsüber ständig einige Krieger zum Patrouillendienst rund um das Dorf abzustellen, damit sich ein derartiger Vorfall nicht wiederholte.

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NARYAVO BEGANN NACH und nach seine Wahrnehmung der Zeit an den astronomischen Gegebenheiten jener Welt zu orientieren, auf der er gestrandet war. Insbesondere natürlich am Wechsel des Tag-Nacht-Rhythmus.

Die Tage gingen mehr oder minder ereignisarm dahin.

Naryavo hatte einerseits viel Zeit, um sich durch ausgiebige Meditationen im Stabilitätslevel ständig nach oben zu arbeiten, andererseits unternahm er weiterhin ausgedehnte Streifzüge, um doch noch mehr über die Flugmaschinenerbauer zu erfahren.

Einmal meldeten seine Sensoren ein primitives Raumschiff, das im Orbit auftauchte und offenbar zur Landung ansetzte. Klimatische Turbulenzen ließen ihn das Schiff jedoch wieder verlieren. Er brach schleunigst auf, um ihm zu folgen, aber es war zu spät. Der Landepunkt war nicht festzustellen.

Immerhin hatten die geheimnisvollen Herren dieses Planeten endlich einmal wieder so etwas wie Aktivität gezeigt, was Naryavo optimistisch stimmte, in nächster Zeit doch noch ihre Spur aufnehmen zu können.

Monate vergingen, ohne dass etwas geschah.

Dann schrillte plötzlich ein Alarmsignal durch die RETTUNG.

Die Sensoren hatten eine jener Flugmaschinen geortet, die Tod und Vernichtung über die katzenartigen Dorfbewohner gebracht hatten.

Naryavo zögerte nicht ein einziges Kurzzeitquantum.

Er verwandelte seinen völlig haarlosen, goldäugigen Körper in einen Energieblitz und begab sich so schnell es sein energetisches Level zuließ an jenen Ort, an dem sich das fliegende Monstrum zuletzt befunden hatte.

Es dauerte nicht lange, bis Naryavo es entdeckte.

Er folgte der Flugmaschine, deren Technologie er als verhältnismäßig primitiv einstufte.

Aber er hütete sich davor, die Erbauer dieser Maschine zu unterschätzen. Schließlich hatten sie es auf der anderen Seite geschafft, sein eigentlich ziemlich robustes Bhalakiden-Schiff aus dem Orbit zu schießen.

Das legt den Verdacht nahe, dass diese Wesen vielleicht nicht nur Technologie aus ihrer eigenen Produktion verwenden, sondern aus irgendeinem Grund in den Besitz von Fremdtechnik gelangt sind, die von einem Volk mit weitaus größeren technischen Fähigkeiten entwickelt wurde!, überlegte der Bhalakide.

Eine unübersehbare Spur der Verwüstung hatte die Flugmaschine gezogen. Im Korallenwald waren verbrannte Lichtungen entstanden. Dörfer waren zerstört worden, die Bewohner vermutlich in ihre Schutzräume verschwunden.

Welchen Sinn dieses Manöver hatte, war dem Bhalakiden noch immer nicht klar, aber er hielt es inzwischen für immer wahrscheinlicher, dass ihr Auftauchen der reinen Einschüchterung diente. Die katzenartigen Dorfbewohner sollten in Angst gehalten werden.

Die grausame, rücksichtslose Art und Weise, in der dies durchgeführt wurde, empfand Naryavo als zutiefst verachtenswert.

Er folgte der Flugmaschine, wurde noch Zeuge weiterer Massaker unter den Katzenartigen. Eigentlich drängte es ihn, einzugreifen und die Angreifer in die Schranken zu weisen. Es konnte schließlich nicht schwer sein, in energetischer Gestalt in die Flugmaschine einzudringen und schlicht ihre Steuerfunktionen zu übernehmen.

Aber es gab einen gewichtigen Grund, der dagegen sprach.

Sein wichtigstes Ziel war es, mehr über die Angreifer zu erfahren und das bedeutete, er musste herausfinden, von woher sie kamen.

Naryavo begleitete die Flugmaschine bis in die unwegsamen Bergregionen, die vollkommen unzugänglich waren und vor allem von den Katzenartigen nicht besiedelt wurden.

Die Flugmaschine erreichte ein Hochplateau.

Die Flugbahn wurde abgesenkt. Die Maschine setzte zweifellos zur Landung an.

Eine Station wurde sichtbar. Die Gebäude waren nahezu perfekt an die Umgebung angepasst. Auf den ersten Blick konnte man sie auch für Felsformationen halten. Auf Landefeldern parkten nicht nur Flugmaschinen, sondern auch einige wenige Objekte, die Naryavos erster Analyse nach raumtauglich waren.

Die Flugmaschine, der er gefolgt war, landete auf einem dieser markierten Landefelder.

Ein Schott öffnete sich.

Käferähnliche Wesen entstiegen der Maschine und strebten auf eines der Gebäude zu.

Naryavo drehte inzwischen eine Runde über dem Stützpunkt. Einer der Käferähnlichen blickte empor. Vielleicht hatte er ein Aufblitzen oder Flimmern wahrgenommen – aber er musste es für einen Effekt des in diesen Höhen recht grellen Sonnenlichts halten.

Naryavo nahm ein schwaches Energiefeld wahr, dass die gesamte Station wie eine unsichtbare Kuppel umgab. Für einen wirklichen Schutzschirm war dieses Feld zu schwach. Hatte es etwas mit der Tarnung zu tun? Oder handelte es sich einfach nur um eine Warnvorrichtung, die verhinderte, dass Unbefugte das Stationsgelände betraten oder dort landeten, ohne dass dies von der Besatzung bemerkt wurde. Naryavo war sich nicht ganz sicher.

Einerseits hielt er das Feld für schwach genug, um es einfach durchdringen zu können.

Mehr als eine geringfügige Unregelmäßigkeit im energetischen Feldlevel werden diese Käferartigen gar nicht wahrnehmen!, glaubte er.

Andererseits bedeuten die Raumschiffe auf den Landefeldern möglicherweise auf viele planetare Jahre hinaus die einzige Chance für ihn, diese Welt wieder verlassen zu können.

Und diese Chance durfte er sich nicht durch unvorsichtiges und übereiltes Handeln vermasseln.

Also war es besser, erst einmal noch abzuwarten und zu beobachten, auch wenn er voller Ungeduld war.

Naryavo registrierte auch die Verteidigungsanlagen, über die die Station verfügte. Aus einigen der Gebäude ragten Strahlgeschütze heraus, die jenen ähnelten, die auch an Bord der Flugmaschinen verwendet wurden, um Feuerschneisen durch den Korallenwald zu treiben und die Dörfer der Katzenartigen regelmäßig niederzubrennen.

Der Bhalakide vermutete, dass mit einer dieser Waffen auch sein Beiboot aus dem Orbit geholt worden war. Vom Hochplateau aus hatte man mit Sicherheit eine sehr gute Sicht und es reichte vielleicht sogar schon ein primitives Observatorium aus, um Objekte im Orbit zu orten und anschließend anzuvisieren, wie es mit der RETTUNG geschehen war.

Naryavo wartete ab.

Er verbarg sich in der Nähe, materialisierte zwischenzeitlich sogar und beobachtete, was sich bei den Käferartigen so tat.

Eine der Flugmaschinen startete.

Der Bhalakide konzentrierte sich dabei auf das schwache Kräftefeld und stellte fest, dass es nicht deaktiviert wurde, wenn eine der Flugmaschinen startete.

Bedeutete das nicht, dass es völlig harmlos sein musste, es zu durchfliegen?

Schließlich entschloss sich Naryavo zum entscheidenden Schlag. Er wollte eines der Raumschiffe übernehmen und damit den Planeten verlassen. Mochten diese Schiffe vielleicht auch nicht dem Standard bhalakidischer Technik entsprechen, so würde er mit ihnen auf jeden Fall bis zu den nächsten bewohnten Welten gelangen können. Vielleicht ließen sie sich ja auch technisch für eine sehr viel weitere Reise modifizieren.

In Form eines Energieblitzes schnellte Naryavo durch die Luft, geradewegs auf eines der tellerförmigen Raumschiffe zu.

Dann stoppte er abrupt. Er hatte ein Gefühl, als ob ein unangenehmer Energieschauer ihn durchraste. Langsam nur begriff er, dass es das schwache Kraftfeld war, das ihn wie ein Spinnennetz eingefangen hatte. Da war irgendeine Komponente in diesem Feld, die ihn förmlich fesselte.

Er spürte, wie er seine körperliche Form annahm, ohne dass er es bewusst herbeigeführt hätte.

Hoch über der Station schwebte ein haarloser, goldäugiger Humanoide. Er wurde gehalten durch pure Energie, wurde umflort von zuckenden Lichterscheinungen. Ein Alarm wurde ausgelöst. Dutzende von Käferartigen strömten aus den Gebäuden heraus. Einige führten rohrartige Gegenstände bei sich, von denen anzunehmen war, dass es sich um Waffen handelte.

Das war es also!, durchzuckte es Naryavos Gedanken. Ein Feld, das speziell für Bhalakiden gemacht zu sein schien!

Auf den ersten Blick war das ein abstruser Gedanke – aber alles sprach dafür. Eine spezielle energetische Komponente sorgte dafür, dass seine Individualität verwirbelt wurde.

Alles in Naryavos Bewusstsein stemmte sich dagegen, kämpfte mit letzter Kraft dagegen an, einfach in Bewusstseinssplitter aufgelöst zu werden, zu zerfallen ...

... zu sterben.

Ein Begriff, den viele der primitiveren, auf ihre körperliche Existenz festgelegten Wesen verwendeten, darunter auch die katzenartigen Intelligenzen in den Korallenwäldern.

Ein Bhalakide pflegte in der Regel nur vom Übertritt in den Staus der Nicht-Existenz zu sprechen.

Aber das einfache, zupackende Vokabular der Barbaren erfasste diesen Vorgang viel treffender, so empfand es Naryavo nicht erst in diesem Augenblick.

Aber er wollte nicht sterben. Die letzten Energiereserven nahm er zusammen, konzentrierte sie in einen einzigen Impuls, während sich sein Körper wieder aufzulösen begann.

Ein greller Blitz war für die Käferartigen zu sehen. Er blendete sie, sodass sie ihre Sehorgane abwandten und zu schützen versuchten.

Naryavo wurde in die Höhe geschleudert.

Ein Lichtpunkt.

Wie eine verlöschende Sonne!, kam es ihm in den Sinn. Alles schien sich zu drehen. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er sämtliche Komponenten seines Bewusstseins hatte retten und zusammenhalten können. Lethargie bemächtigte sich seiner Gedanken. Gleichgültigkeit erfasste ihn.

War das der Beginn der Selbstauflösung?

Der Anfang vom Ende?

Er sank tiefer, in eine Schlucht zwischen schroff aufragenden Bergen hinein. Seine Energie leuchtete flackernd im Schatten dieser schroffen Massive. Er spürte, wie sich sein Energielevel drastisch veränderte und er an Kraft verlor.

Schließlich materialisierte er auf einer Felsenkanzel. Sein humanoider, so empfindlicher Körper taumelte bis nahe an die Kante heran, hinter der ein finsterer Abgrund von mehreren hundert Kurzlängenquanten gähnte.

Gerade noch rechtzeitig wurde ihm dies bewusst. Er setzte sich nieder, betastete seine eigenen Arme, sein Gesicht ...

Immerhin war es ihm gelungen, seine Körperform wieder zu bilden, was dafür sprach, dass sein Bewusstsein vollständig erhalten geblieben war.

Wenn es doch irgendwelche Bestandteile gab, die jetzt als sich langsam aufgelöste Gedankenfetzen, als Gespenster im wahrsten Sinn des Wortes durch die Höhenluft dieser Berge geisterten, so würde er den Verlust vielleicht erst nach längerer Zeit bemerken.

Oder auch gar nicht, je nachdem wie wesentlich jene verlorenen Komponenten seiner selbst gewesen waren.

*

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LANGE KAUERTE NARYAVO auf jener Felsenkanzel. Er verbarg sich zwischen Büschen, als Flugmaschinen der Käferartigen nach ihm zu suchen begannen. Zumindest nahm er an, dass sie das Gebiet, in dem er ‚gelandet’ war, seinetwegen überflogen.

Zur Auflösung des Körpers fehlte ihm die Kraft.

Erst am nächsten Tag schaffte er dies.

Aber es war ihm unmöglich, die Distanz bis zu seinem abgestürzten Beiboot in einem Zug zurückzulegen. Immer wieder musste er den Flug als Energieblitz unterbrechen, landen und es glich in seinen Augen einem Wunder, dass er das Wrack der RETTUNG überhaupt noch in einem energetischen Zustand erreichte, der einen Verbleib im Status der Existenz ermöglichte.

In den nächsten planetaren Tagen nahm er immer wieder intensiv Energie auf. In Zukunft musste er damit haushalten, das war ihm sehr wohl bewusst.

Im Laufe der Zeit entdeckte er mehrere Stationen der Käferartigen auf jener Welt, auf der er nun gestrandet war und die er fürs Erste wohl auch nicht verlassen konnte.

Auch die anderen Stationen, auf die er traf, waren ähnlich gesichert wie jene in den Bergen.

Die Kraftfelder mit denen sie abgeschottet waren, schienen seltsamerweise eigens geschaffen worden zu sein, um auf Bhalakiden zu reagieren.

Warum?, fragte er sich.

Vorerst eine Frage, die unbeantwortet bleiben musste, wie so viele andere auch.

Die Zeit verging.

Wirklich abgefunden hatte sich Naryavo mit seinem Schicksal als Gestrandeter noch immer nicht, aber er sah auch keine Möglichkeit, seine Fluchtpläne im Verlauf der nächsten Mittelzeitquanten zu verwirklichen.

Die Neugier ist mir zum Verhängnis geworden!, überlegte er und schalt sich einen Narren dafür, dass er nicht einfach mit der RETTUNG auf- und davongeflogen war.

Aber um darüber zu lamentieren, war es eindeutig zu spät.

*

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VIEL ZEIT WAR VERGANGEN. Naryavo stellte fest, dass sein diesbezüglicher Sinn nicht mehr dieselbe Schärfe besaß wie früher. Wurde das durch den Umstand verursacht, dass er ein völlig ereignisloses Leben führte? Oder wurde es dadurch bedingt, dass das Leben hinter dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs einfach erhöhte Anforderungen an die Zeitwahrnehmung stellte, damit verhindert wurde, dass man beispielsweise Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander in seiner Wahrnehmung zu einem einzigen Chaos vermischte.

Naryavo wusste es nicht.

Eines Tages zeigten seine Ortungssysteme das Auftauchen einer Kapsel an.

Naryavo war sich sofort sicher, dass es sich nur um die Landekapsel eines sehr viel größeren Schiffs handeln konnte, das irgendwo in der Nähe im Weltraum wartete. Bauweise und Material unterschieden sich so deutlich von der Technik der Käferartigen, dass er nahezu ausschließen konnte, dass es sich um eines ihrer Raumschiffe handelte.

Der Landepunkt der Kapsel lag gar nicht so weit vom Absturzort der RETTUNG entfernt.

Naryavo begab sich sofort dorthin. Und stellte fest, dass die Fremden – mehrere Humanoide sowie ein geflügeltes Wesen in schimmernder Rüstung – offenbar eine Kontaktaufnahme mit den katzenartigen Kriegern anstrebten.

Naryavo beobachtete die Aktivitäten dieser Fremden sorgfältig. Er fing ihren Funkverkehr auf und stellte fest, dass die Besucher tatsächlich mit einem Schiff gekommen waren, das weitaus größer als die Kapsel und offenbar auch in der Lage war, längere Distanzen hinter sich zu bringen.

Während es sich bei einem der humanoiden Wesen um einen relativ gewöhnlichen Kohlenstofforganismus zu handeln schien, war an dem zweiten Wesen mit dieser Gestalt nur der Umriss ähnlich. Die Oberflächenstruktur bestand aus Milliarden kleinster, scheinbar chaotisch durcheinander wirbelnder Teilchen.

Mit einem Lebewesen im herkömmlichen Sinn des Wortes hatte dieses Ding nichts zu tun, entschied Naryavo. Es konnte seine Körperform verändern, wie der Bhalakide beobachten konnte, aber das hatte nichts mit einer Umwandlung in Energie zu tun, wie es bei Bhalakiden der Fall war.

Einen der drei beabsichtigte er gefangen zu nehmen und ihm auf ähnliche Weise Informationen zu entlocken, wie er dies bereits bei einem der Katzenartigen getan hatte.

Naryavo überlegte lange, wen unter den Besuchern er dazu ausersehen sollte.

Er entschied sich schließlich für den Geflügelten.

Bei dem Amorphen war ihm nicht klar, ob es ihm möglich sein würde, mit den bescheidenen, ihm derzeit zur Verfügung stehenden technischen Mitteln, für ihn die Illusion erzeugen zu können, dass er ein Gefangener war. Und die Normal-Humanoiden erschienen ihm schlicht und ergreifend zu uninteressant.

Also nutzte er die Gelegenheit und nahm den Geflügelten gefangen, als dieser durch die Lüfte schwebte.

Es war die richtige Entscheidung.

Ein einfacher Geist, leicht zu beeindrucken ...

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9. Kapitel: Auf der CAESAR

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Der Rest der Geschichte ist euch bekannt“, erklärte Naryavo. Er wandte den Kopf in Arat-Nofs Richtung. „Jedenfalls bin ich froh mit diesem Bhalakiden aus eurer Nachbargalaxis zusammengetroffen zu sein, der ihr den Namen Andromeda gegeben habt.“

„Mich freut dieses Zusammentreffen ebenfalls, auch wenn das, was ich durch dich erfahren musste, mir Anlass zu äußerster Besorgnis gibt“, gab Arat-Nof zurück und wieder fiel John Bradford auf, mit welchem Respekt und welcher Hochachtung sich die beiden Bhalakiden begegneten.

„Wohl wahr!“, bestätigte Naryavo.

„Aber es mag dich beruhigen, dass die in Blockfallen gefangenen Bhalakiden keineswegs im Zustand der Nicht-Existenz sind – sondern lediglich Gefangene, ohne die Aussicht sich selbst zu befreien“, erklärte Arat-Nof. „Ich selbst bin ein Beweis dafür, schließlich geriet auch ich in eine derartige Falle.“ Er streckte die Hand aus und deutete auf Marcus. „Dieses Wesen dort – dem Prinzip des festen, unflexiblen Körpers ebenso wenig verbunden wie wir Bhalakiden, wie mir scheint! – hat offenbar wirksame Mittel gefunden, um Blockfallen der von dir angegebenen Art zu öffnen!“

„So wart ihr in der Xaradim-Station dieser Galaxis!“, schloss Naryavo.

„So ist es“, gestand Arat-Nof zu.

„Wie sieht es dort jetzt aus? Was tun die Invasoren dort?“

„Es ist ein Ort vollkommener Trostlosigkeit. Verlassen und nutzlos.“

„Dann ging es den Invasoren nur darum, die Station aus der Ewigen Kette herauszubrechen?“, fragte Naryavo verständnislos. „Ging es ihnen gar nicht darum, das kosmische Netz in eigener Regie zu übernehmen?“

„Wir wissen so gut wie nichts über die Beweggründe jener Wesen, die das Phantomschiff geschickt haben müssen und für die Entvölkerung der Xaradim-Station dieser Galaxis verantwortlich sind!“, gestand Arat-Nof zu.

„Genauso wenig wissen wir über die käferartigen Unterdrücker der Katzenartigen!“, mischte sich nun Josephine ein.

Sie erinnerte sich an das Versprechen, dass sie den Katzoiden einst gegeben hatten. Ein Versprechen, dass darauf hinauslief, zurückzukehren und ihnen gegen ihre Unterdrücker zu helfen.

„Ich biete euch an, mein gesammeltes Wissen auf die KI eures Schiffes zu übertragen. Zumindest sehe ich da keinerlei Hindernisse, was die Speicherkompatibilität angeht.“

Bradford und Josephine wechselten einen kurzen Blick. Die Tattoos, die Josephine anstatt von herkömmlichen Augenbrauen besaß, hoben sich etwas.

„Das wäre vermutlich eine große Hilfe für uns“, stimmte Bradford zu.

Er wandte sich an ALGO-DATA, um sie zu fragen, ob ein derartiger Transfer aus ihrer Sicht als machbar angesehen wurde.

ALGO-DATA bestätigte dies und sah auch keinerlei Sicherheitsbedenken.

Warum auch?, überlegte Bradford. Wenn diese Bhalakiden es wollten, könnten sie ohnehin jederzeit das Kommando über die CAESAR an sich reißen, wie zumindest Arat-Nof bereits bewiesen hat.

Naryavo löste seine Körperform auf.

Seine Gestalt zerfloss einfach, wurde zu einem Fleck aus Licht, der sich in einen intensiv leuchtenden Punkt verdichtete. Dieser fuhr in eine der Konsolen hinein, die es auf der Brücke der CAESAR gab.

Wenig später kam dieser Lichtpunkt wieder hervor und materialisierte erneut zu einer humanoiden Gestalt mit golden schimmernder Haut.

„Die Datenübertragung ist abgeschlossen“, erklärte er.

ALGO-DATA bestätigte dies einen Augenblick später. „Sämtliche Daten stehen zur Verfügung“, erklärte die Schiffs-KI der CAESAR.

„Über die käferartigen Herren meiner Exilwelt habe ich leider nur wenig in Erfahrung bringen können“, gestand Naryavo zu. „Aber alles, was ich weiß, ist in dem Datensatz enthalten.“

„Könnten sie deiner Einschätzung nach mit den Wesen identisch sein, die das Phantomschiff aussandten?“, fragte Bradford.

„In Anbetracht der technischen Fähigkeiten, die bei den Käferartigen vorzufinden waren, glaube ich das eher nicht. Andererseits scheinen die Kraftfelder, mit denen ihre Stützpunkte gesichert sind, tatsächlich genau so konfiguriert zu sein, dass sie speziell dazu geeignet sind, Bhalakiden abzuwehren. Auch darauf vermag ich mir bislang keinen Reim zu machen. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass es in der Vergangenheit Kontakte zwischen den Käferartigen und einigen reisenden Bhalakiden gab, aber weshalb glauben diese Käfer, sich gegen uns verteidigen zu müssen?“

Impulse der Ratlosigkeit begleiteten seine Worte.

Für ein Minimalzeitquantum hatte Naryavo vergessen, dass nur Arat-Nof und vielleicht auch das amorphe Besatzungsmitglied namens Marcus sie zu empfangen vermochten. Nur konnte Letzterer sie nicht richtig interpretieren.

Als das Landeteam der CAESAR mit einer Kapsel auf seiner Exilwelt gelandet war, hatte er insbesondere Marcus intensiv beobachtet. Bei Gelegenheit werde ich mich mit ihm näher unterhalten, überlegte der Bhalakide. Aber dazu dürfte noch Zeit genug sein ...

Naryavo wandte sich nun an den geflügelten Miij. „Ich denke, ich muss mich bei dir entschuldigen. Aber vielleicht kannst du dich in meine Lage versetzen.“

Miij äußerte sich dazu nicht.

Die Erinnerungen an seine Gefangenschaft waren offenbar noch zu frisch, um sie einfach so wegwischen zu können.

John Bradford unterbrach die Stille mit einer Frage, die ihm unter den Nägeln brannte. „Es war für dich offenbar keine Schwierigkeit, die Tarnung von Katzana – wie wir deinen Exilplaneten nennen – aufzuheben.“

„Das entspricht den Tatsachen.“

„Wie hast das geschafft? Das gesamte System scheint unsichtbar zu sein.“

„Es befindet sich auf einem energetisch leicht erhöhten Level“, erklärte Naryavo. „Eine Tarnung, die sofort in sich zusammenfällt, wenn man erkannt hat, was da vorliegt ... Ich jedenfalls kann das System meines Exilplaneten inzwischen mühelos wahrnehmen.“

„Für mich gilt dasselbe“, ergänzte Arat-Nof. „Im Übrigen kann ich Naryavos Aussagen nur bestätigen.“

„Kannst du es uns auch sehen lassen, Arat-Nof?“, fragte jetzt Josephine.

„Ja“, bestätigte der Bhalakide.

„Und uns zeigen, wie man das Verborgene sichtbar macht?“

„Auch das.“

„Dann tu es bitte!“

„Kein Problem!“

Arat-Nof wechselte einen kurzen Blick mit Naryavo. Lediglich Marcus konnte den Schwall nonverbaler Signale auffangen, der zwischen beiden ausgetauscht wurde.

Im nächsten Augenblick verwandelte sich Arat-Nof in Energie und fuhr in eine der Konsolen der Zentrale hinein. Für kurze Zeit übernahm er die Kontrolle über die Schiffssysteme – insbesondere die optische Ortung.

Eine Holosäule entstand, die den umliegenden Raumsektor zeigte – die berühmte achtzehn Lichtjahre durchmessende Leerzone, in der buchstäblich nichts zu sein schien, obwohl feststand, dass dies nicht der Wahrheit entsprach.

Plötzlich veränderte sich die Anzeige der Holosäule, nacheinander blinkten Lichter auf.

Sterne.

Sonnensysteme, überlegte Bradford.

„Das müssen hunderte sein!“, stieß Fairoglan unwillkürlich hervor. Der Yroa trat etwas näher an die Holosäule heran und blickte fasziniert auf das, was sich dort tat. Das ‚Vakuum’ im Ozean der Sterne, das noch vor wenigen Augenblicken eine dunkle Zone mitten im hellsten und am dichtesten besetzten Bereich der Milchstraße hatte gähnen lassen, füllte sich.

„Ein heimliches Imperium!“, meinte John Bradford.

Wer steckte hinter dieser gigantischen Camouflage von geradezu kosmischen Ausmaßen?

„Darstellung der bisher verborgenen Sonnensysteme ist abgeschlossen“, erklärte ALGO-DATA. „Optische Erfassung war ohne Probleme möglich. Neunzig Prozent der auf der Projektion dargestellten Sonnen wird von Planeten umkreist. Soll irgendein System näher herangezoomt werden?“

„Vielleicht später“, gab Bradford zur Antwort.

Dann schrillte plötzlich ein Alarmsignal durch die Zentrale der CAESAR.

Eine weitere Holosäule baute sich auf und zoomte einen ganz bestimmten Raumsektor heran.

Abgesehen von einer Positionsmarkierung war darauf aber nichts Ungewöhnliches zu sehen.

„Ein Raumschiff nähert sich der CAESAR, dessen Tarnung keinerlei optische Ortung zulässt!“, meldete ALGO-DATA. „Die Positionsbestimmung erfolgt ausschließlich anhand angemessener Energiesignaturen, die aber teilweise verstümmelt sind und offenbar unterdrückt werden. Das Objekt nähert sich mit hoher Geschwindigkeit und wird in Kürze mit uns zusammentreffen.“

Die Augen aller waren wie gebannt auf die zweite Holosäule gerichtet, auf der zu sehen war, wie sich der aufblinkende Positionsmarker verschob.

Was mag das sein?, fragte sich John Bradford. Jenes Phantom, das die Xaradim-Station überfiel?

“Eine Nachricht erreicht uns”, meldete ALGO-DATA. “Die Übersetzung ist komplex. Aber die Analyse läuft und scheint erfolgreich abgeschlossen werden zu können.”

“Dann will ich hören, was die andere Seite zu sagen hat”, erklärte Bradford. Er wandte sich an die beiden Bhalakiden. “Oder wisst ihr es schon?”

Bradford bekam keine Antwort.

Stattdessen bildete sich eine weitere Holosäule mitten in der Zentrale der CAESAR.

Sie stellte eine nur schemenhaft sichtbare Gestalt dar. Der Körper schien humanoid. Am Kopf schien es einen schnabelähnlichen Umriss zu geben.

“Hier spricht der Botschafter des Sternenreiches Tebrastor. Lange haben wir uns verborgen. Jetzt haben wie die Ewige Kette gesprengt. Keinem ihrer Wächter werden wir erlauben, in dieser Raumregion zu bleiben. Zieht euch zurück, oder ihr werdet vernichtet.”

Die Projektion fiel in sich zusammen.

“Hier scheint jemand etwas gegen Bhalakiden zu haben”, stellte Bradford fest.

“Sie haben die Xaradim-Station überfallen”, stellte Arat-Nof fest.

“Es war ein Fehler, sich zu wenig um die Belange diesseits des Ereignishorizonts zu kümmern”, ergänzte Naryavo. “Sonst hätten die Aggressoren diesen Schlag niemals gegen uns vorbereiten können!”

“Aber er ist nun mal geschehen”, stellte Arat-Nof fest. “Und deinen Informationen nach sind sie uns so überlegen, dass uns keine andere Wahl bleibt, als uns zu entfernen.”

“Das Schiff des Sternenreiches Tebrastor verändert seinen Energiestatus”, stellte ALGO-DATA fest. “Meiner Analyse nach handelt es sich um die Vorbereitung eines Angriffs.”

“Wir drehen ab”, sagte Bradford. „Mit Höchstgeschwindigkeit!“

“Nein!”, rief Naryavo.

“Der Kampf ist vorbei. Und verloren”, sagte Arat-Nof. Blitze zuckten nun zwischen den beiden Energiewesen hin und her. Sie schienen sich auf ihre eigene Art zu verständigen.

“Manövrierbefehl sofort ausführen!”, befahl Bradford an ALGO-DATA gerichtet.

Du befürchtest, dass die beiden Bhalakiden wieder die Herrschaft über das Schiff an sich reißen und es angreifen lassen könnten?, vernahm der Commander dann die Gedankenbotschaft von ALGO-DATA. Die Gefahr ist real. Und mutmaßlich könnte ich mich nicht dagegen wehren.

Inzwischen war das energetische Zwiegespräch der beiden Bhalakiden beendet.

“Der Kampf ist vorbei”, bestätigte Naryavo. “Und verloren”, setzte er noch hinzu. “Die Ewige Kette wurde gesprengt und ist zerrissen ...”

Währenddessen beschleunigte die CAESAR. Es dauerte nicht lange, bis sie die nötige Geschwindigkeit erreicht hatte, in den Hyperraum einzutreten und in den Überlichtflug zu gehen.

ENDE

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Mission Schwarzes Loch

Galaxienwanderer

von Alfred Bekker

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Der Umfang dieses Buchs entspricht 228 Taschenbuchseiten.  

––––––––

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DIE INTERGALAKTISCHE Reise des Raumschiffs CAESAR endet in einer temporalen Katastrophe. Eine Androidin will heimkehren – und strandet auf einer Station, die von einer uralten Zivilisation erbaut wurde. Wer sind die Wesen, die dieses Artefakt über den Abgrund der Zeiten hinweg in Betrieb hielten?

––––––––

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ALFRED BEKKER IST EIN bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738919929
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juli)
Schlagworte
galaxienwanderer zyklus sammelband romane

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Galaxienwanderer Zyklus Sammelband 4 Romane