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Galaxienwanderer - Eine Krise der Raumzeit

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 250 Seiten

Zusammenfassung

Eine Krise der Raumzeit
Galaxienwanderer 3

von Alfred Bekker

Bislang in der Serie "Galaxienwanderer" erschienene Romane:

Alfred Bekker: Raumschiff Caesar

Alfred Bekker: Mission Schwarzes Loch

Alfred Bekker: Eine Krise der Raumzeit

Der Umfang dieses Buchs entspricht 231 Taschenbuchseiten.

Die Raumzeit selbst scheint zu mutieren.

Die Fehltransition von Raumschiff CAESAR hat ungeahnte Effekte und es gibt einen Eindringling an Bord. Commander Bradford und die Androidin Josephine sind durch Raum und Zeit voneinander getrennt. Doch beide müssen aus demselben Grund um ihr Überleben kämpfen, während sich ein Krieg anbahnt...

Ein Raumschiff extraterrestrischer Technologie und eine zusammengewürfelte Crew auf einer kosmischen Odyssee durch die Unendlichkeit des Alls... Menschen, Androiden und Extraterrestrier müssen sich zusammenraufen, wenn sie den namenlosen Gefahren zwischen den Sternen standhalten und das Erbe einer uralten kosmischen Zivilisation antreten wollen.

ALFRED BEKKER ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Bislang in der Serie „Galaxienwanderer“ erschienene Romane:

Alfred Bekker: Raumschiff Caesar

Alfred Bekker: Mission Schwarzes Loch

Alfred Bekker: Eine Krise der Raumzeit

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DER UMFANG DIESES BUCHS entspricht 231 Taschenbuchseiten.

Die Raumzeit selbst scheint zu mutieren.

Die Fehltransition von Raumschiff CAESAR hat ungeahnte Effekte und es gibt einen Eindringling an Bord. Commander Bradford und die Androidin Josephine sind durch Raum und Zeit voneinander getrennt. Doch beide müssen aus demselben Grund um ihr Überleben kämpfen, während sich ein Krieg anbahnt...

Ein Raumschiff extraterrestrischer Technologie und eine zusammengewürfelte Crew auf einer kosmischen Odyssee durch die Unendlichkeit des Alls... Menschen, Androiden und Extraterrestrier müssen sich zusammenraufen, wenn sie den namenlosen Gefahren zwischen den Sternen standhalten und das Erbe einer uralten kosmischen Zivilisation antreten wollen. 

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ALFRED BEKKER IST EIN  bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author /Titelbild Michael Heywood 123rf mit Steve Mayer Pixabay

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Prolog

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In einer fernen Raumzeit - an Bord des Raumschiffs CAESAR ...

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DREI PERSONEN BEFANDEN sich auf der Brücke der CAESAR.

Drei humanoide Gestalten.

Und doch höchst unterschiedlich.

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COMMANDER JOHN BRADFORD blickte auf das große Projektionsfeld. Myriaden von Sternen waren dort zu sehen, während die Schiffs-KI ALGO-DATA momentan die Steuerung übernommen hatte. Routineflug im Unterlicht-Bereich zum nächsten Transitionspunkt.

“Ich frage mich, was wir vorfinden werden, wenn wir zurückkehren”, sagte Bradford.

“Möglicherweise gibt es die Erde nicht mehr”, sagte Marcus, dessen aus Myriaden kleinster, an winzige Insekten erinnernde Teilchen bestehender Nano-Körper die Form leicht veränderte, während er sich einen Schritt zur Seite bewegte. Er wäre auch dazu in der Lage gewesen, die Schiffswandung zu durchdringen und sich hinaus ins All zu begeben, wenn er gewollt hätte. Die winzigen Nano-Partikel konnten so gut wie jede Substanz durchdringen. Für sie bestand selbst eine ultra-dichte Außenhülle vor allem aus sehr viel freiem Raum zwischen den Atomen.

“Die Konsequenzen der Fehltransition, die wir hinter uns haben, sind in der Tat nicht absehbar”, sagte unterdessen die dritte Person im Raum: Fairoglan, blaugrauhäutiger, vollkommen haarloser Humanoide aus der Spezies der Yroa.

“Die temporalen Auswirkungen, ich weiß”, sagte Bradford.

“Meiner Theorie nach sind die Auswirkungen vielleicht tief gehender”, sagte Fairoglan.

“Er denkt, dass wir in eine andere Zeitlinie geraten sein könnten”, sagte Marcus.

“Die Existenz eines Multiversums aus unzähligen Möglichkeiten und Alternativen ist eine Tatsache”, sagte Fairoglan. “Darunter gibt es sicher auch Zeitlinien, in denen die Erde nie existierte ...”

“Kümmern wir uns erst mal um das Nächstliegende”, sagte Bradford.

“Du meinst diesen ungebetenen Besucher an Bord, der sich selbst ENTITÄT DER ERBAUER nennt?”, schloss Fairoglan.

Bradford nickte.

“Genau.”

“Könnte das plötzliche Auftauchen dieser Kreatur eine der temporalen Folgen unserer Fehltransition sein?”, fragte Marcus. Der Kopf seines Nano-Körpers bewegte sich. Er vermittelte den Eindruck, sich an den Yroa zu wenden. Aber bei Marcus war das immer schwer zu sagen, was einfach mit der amorphen Struktur seines Nano-Körpers zu tun hatte.

“Davon gehe ich aus”, erklärte Fairoglan.

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Kapitel 1: Temporale Krise

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Eine andere Zeit.

Eine andere Dimensionen.

Vielleicht ein paralleles Universum. Eines, aus jener Vielfalt an verborgenen, eingefalteten Dimensionen und Existenzebenen, die sich denselben Raum teilten - aber weder dieselbe Zeit noch dieselbe Kausalität.

“Alle Information, die das Universum enthält, ist von Anfang an da”, hatte Josephine mal jemanden sagen hören. “Alle Informationen über Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit und jeden nur denkbaren Verlauf der Zeit. Jede denkbare Alternative existiert und bildet ihr eigenes Universum in dieser Vielfalt. Und manchmal gerät man von einem temporalen Strang in einen anderen und in eine Zeit, die nicht zu einem gehört.”

So etwas fasste man wohl unter dem Begriff temporale Effekte zusammen.

Effekte, die zum Beispiel bei einer fehlerhaften Transition eines Raumschiffs vorkamen.

Oder durch bewusste Manipulation.

Es mochte Intelligenzen geben, die dazu geschaffen waren, zwischen Universen und temporalen Ebenen zu reisen.

Der Mensch gehörte wohl nicht dazu, fand Josephine.

Und eine Androidin wie ich wohl auch nicht, ging es ihr durch den Kopf. Aber man kann sich das nicht immer aussuchen, wie es scheint.

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“WIR SIND EURE GEFANGENEN”, stellte Josephine fest. Wir wurden entführt von einer Station im intergalaktischen Nichts, dachte die Androidin. Mag der Teufel wissen, was die Silizium-Wesen mit uns vorhaben. Mit mir ... Mit Oziroona. Irgendeine Absicht muss dahinterstecken, dass sie uns hierher, auf ihren Heimatplaneten gebracht haben.

“Gefangene?”, gab Calrop zurück. Seine aus kantigen kristallinen Formen bestehende Gestalt war entfernt humanoid. Zumindest, wenn man darunter alle Wesen mit zwei Armen, zwei Beinen und einem Kopf zusammenfasste.

“Ja”, sagte Josephine.

“Das könnte man aus eurer Sicht so formulieren”, gab Calrop zurück. Das Silizium-Wesen bildete an seiner Oberfläche jetzt eine scharfkantige kristalline Mikro-Struktur aus, in der sich das gedämpfte Licht auf eigenartige Weise brach. Ein eigenartiges Farbenspiel wurde dadurch ausgelöst. Josephine hatte dies inzwischen des Öfteren bemerkt.

“Wenn ihr uns schon entführt habt und uns am Leben erhalten wollt, dann solltet ihr dafür sorgen, dass unsere Körper keinen Schaden nehmen.”

“Organische Wesen sind empfindlich”, sagte Calrop. “Aber wir haben das berücksichtigt. Die Atmosphäre an diesem Ort enthält genug Sauerstoff und es gibt keine schädlichen Bestandteile.”

“Ich brauche Nahrung und Wasser.”

“Zu gegebener Zeit”, sagte Calrop.

“Ich hoffe, dass ist nicht erst, wenn ich bereits kollabiert bin!”

“Unsere Kenntnisse über den Metabolismus deiner Spezies ist nicht so begrenzt, dass wir das nicht bedenken würden.”

“Ach, ja?”

“Allerdings gibt es auch Dinge, über die ich mich nur wundern kann.”

“Und das wäre?”

“Du bist eine Androidin.”

“Richtig.”

“Ein künstlich geschaffener Mensch.”

“Das trifft zu.”

“Wäre es nicht der Sinn einer künstlichen Schöpfung, besser zu sein als sein Schöpfer? Bei dir sehe ich kaum Verbesserungen. Deine Physiologie ähnelt bis auf ein paar gentechnische Optimierungen dem eines natürlich entstandenen Menschen.”

“Vielleicht wird meine Spezies in der Zukunft in dieser Hinsicht noch Fortschritte machen.”

”Vielleicht ...”

“Es gibt abgesehen von Nahrung und Flüssigkeit noch ein paar andere physiologische Bedürfnisse, die die dringend erledigt werden müssten und nicht aufgeschoben werden können.”

“Und die wären?”

“Ich müsste mal scheißen”, sagte Josephine. Sie drehte sich kurz zu ihrer Begleiterin Oziroona um. Die Noroofin mit ihrem zylinderförmigen, augenlosen Kopf hatte die ganze Zeit über stumm dagestanden und nicht einmal ihre mentale Präsenz spüren lassen, wie es sonst bei ihr der Fall war. “Ich weiß nicht, ob das auf dich auch zutrifft, Oziroona, aber ich müsste mal!”

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TREVLEF BETRAT DIE Steuer-Acht der Torstation 1. In dem Kontrollzentrum der Station waren zahlreiche Rolefer mit Überwachungsaufgaben beschäftigt. Holo-Säulen erzeugten einen Panorama-Blick über das Gogran-System. Linien, Farben und Kolonnen sich verändernder Zeichen veranschaulichten eine Vielzahl von Parametern.

Raum.

Zeit.

Dimensionen.

All das wurde hier genauestens beobachtet, um die relative Sicherheit zu gewährleisten, in der sich die Heimat der Canyaj befand.

Aber der entartende, bizarre Mutationen hervorbringende Zeitfluss im Rest der Milchstraße war ein ständiger Quell der Sorge – sowohl die rolefischen Torwächter, als auch für die anorganischen Canyaj, deren Heimatwelt noch eine Insel der Stabilität im temporalen Chaos zu sein schien.

Trevlef bewegte sich in die Mitte des Raumes, dessen Grundfläche den achtförmigen Elementen ähnelte, aus denen sein Körper bestand, der ansonsten eine wurmähnliche Form besaß.

„Es ist gut, dass du da bist“, sagte ein anderer Rolefer, der intensiv an einer Konsole arbeitete. Boolvert hatte derzeit die Kontrollhoheit der Steuer-Acht inne.

„Was ist geschehen?“

„Das weiß ich noch nicht. Aber mehrere der anderen Stationen meldeten Daten mit minimaler Abweichung.“

„Eine temporale Erschütterung? Ich dachte, die könnte uns nichts anhaben. Nicht hier, innerhalb unseres Schutzbereichs.“

„In diesem Punkt scheinen unsere bisherigen Erkenntnisse nicht ganz zu stimmen.“

„Wir sollten unsere Noleek-Verbündeten um Rat fragen.“

„Sicher.“

Boolvert drehte sich zu Trevlef herum. Der wurmartige Körper war dabei gerade aufgerichtet. Er besaß keine erkennbaren Sinnesorgane, aber dennoch eine Wahrnehmung, die so umfassend war, dass sie die Fähigkeiten der meisten anderen Spezies bei Weitem in den Schatten stellte. Die anorganischen Canyaj eingeschlossen, in deren Dienst die Rolefer standen.

„Nimm bitte die Werte zur Kenntnis, Trevlef“, wandte sich Boolvert an den obersten Tormeister.

„Das tue ich. Sie sind in meinen Mentalspeicher, aber ich bin etwas verwirrt. Hast du die bereits interpretiert?“

Boolvert verneinte. „Eine Interpretation möchte ich nicht wagen. Noch nicht. Aber ich habe ein Reihenmodell entwickelt, das uns zeigt, ob es möglicherweise gefährliche Tendenzen gibt.

„Und? Gibt es sie?“

„Ja.“

Will Trevlef mich auf die Probe stellen oder ist er tatsächlich so ratlos wie jeder gewöhnliche Tormeister?, fragte sich Boolvert. Letzteres wäre eine endgültige Bestätigung dafür, dass wir es mit einem absolut außergewöhnlichen Ereignis zu tun haben. In der temporalen Schutzzone des Gogran-Systems dürfte so etwas eigentlich gar nicht geschehen ... Zu dumm, dass sich das Universum nicht an unsere Axiome hält!

„Dann werden wir das Phänomen weiter beobachten“, stellte Trevlef klar.

„Jawohl“, bestätigte Boolvert.

„Ich möchte eine Verbindung zu allen anderen Stationen!“, verlangte Trevlef und unterlegte diese Worte mit einer Reihe von Emissionen, die sich an verschiedene andere Sinne der anwesenden Rolefer richteten.

Was als Zeichen der Entschlossenheit dienen soll, entpuppt sich als Menetekel der Ratlosigkeit!, erkannte Boolvert. Ein Schwall von Gedanken hielt sein Bewusstsein in Aufruhr. Konnte es sein, dass die rolefischen Tormeister und ihre Helfer, die Noleek, irgendeinen temporal-physikalischen Faktor bei der Abschirmung des Gogran-Systems nicht beachtet hatten? Die Missachtung irgendeiner Kleinigkeit reichte bereits aus, um für eine Katastrophe zu sorgen. Niemandem hätte das bewusster sein sollen als Wesen wie den Rolefern oder den Noleek, die mit der Zeit und den Dimensionen jonglierten und die Realität durch Eingriffe in die Vergangenheit änderten. Aber vielleicht sind wir zu selbstsicher und überheblich geworden!, überlegte Boolvert. Wir haben die Kräfte des Raumes und der Zeit nach unserem Gutdünken manipuliert und vielleicht holen uns jetzt die Folgen unserer Hybris ein ...

Ein weiterer Rolefer meldete sich zu Wort und riss Boolvert aus seinen grüblerischen Gedanken. „Die Konferenzverbindung ist geschaltet, Trevlef.“

Einige Gestalten erschienen wie aus dem Nichts. Es handelte sich überwiegend um Rolefer. Ein paar Noleek und Canyaj waren allerdings auch darunter. Sie bildeten einen Halbkreis.

Trevlef war bewusst, dass es sich um Hologramme handelte, die mittels einer Transmission in Echtzeit übertragen wurden. Ein menschliches Auge hätte sie von der Realität nicht unterscheiden können.

„Es gibt minimale Abweichungen verschiedener Werte“, sagte Trevlef. „Eine solche Instabilität dürfte es eigentlich innerhalb unseres Schutzbereichs nicht geben. Das Universum da draußen mutiert. Der Zeitfluss entartet und das temporale Chaos erfasst alles. Dort sind die Abweichungen normal, aber nicht hier ...“

Unter den Hologrammen entstand ein aufgeregtes Gemurmel.

„Wir haben das natürlich auch registriert, aber sämtliche Wert lagen noch innerhalb der Toleranzgrenzen“, meldete sich einer der erschienenen Tormeister zu Wort.

„Sie müssten exakt mit den Vorgaben übereinstimmen“, gab Trevlef zu bedenken. „Ich möchte also alle bitten, diese Vorgänge zu beobachten. Es könnte sich um eine sich anbahnende, sehr ernste temporale Krise handeln.“

„Ist das dein Ernst, Trevlef?“, fragte ein Rolefer namens Gelenervert, der die Leitung auf Torstation 2 innehatte. Er war bekannt dafür, mit kritischen Kommentaren nicht zu sparen und keinen Respekt vor Autoritäten zu kennen. „Könnte es nicht sein, dass es sich einfach um periodisch auftretende dimensionale Effekte oder Interferenzen mit Pararealitäten handelt? Du weißt, dass derlei Effekte auch von uns noch wenig erforscht wurden. Ich habe dazu ein Modell entwickelt, das auf 12-dimensionaler Mathematik beruht und eigentlich aussagekräftig genug sein müsste!“

Gelenervert!, durchfuhr es Trevlef. Es ist doch immer dasselbe mit dir! Musst dich in den Vordergrund spielen. Aber dazu sollte man nicht unbedingt eine Krisensituation nutzen!

Trevlef blieb sachlich.

Keine seiner Sinnesemissionen ließ erkennen, wie tief die Verachtung war, die er für Gelenervert empfand, den er für einen anmaßenden Wichtigtuer hielt.

Diese ruhige Beherrschtheit erwartete man von Trevlef. Schließlich war es ja durchaus auch möglich, dass doch etwas an Gelenerverts Einwänden dran war. In diesem Fall wäre es seine Pflicht gewesen, darauf einzugehen. Wenn Trevlef jedoch ganz ehrlich war, dann wäre ihm nichts lieber gewesen, als dass sich all die Bedenken und Befürchtungen als völlig unbegründet herausstellten.

Am besten man sicherte sich nach allen Seiten ab.

Mit dieser Devise war Trevlef immer gut gefahren. Sein unbestrittener Spitzenstatus innerhalb der Rolefer war der greifbare Beweis für die Richtigkeit dieser Haltung.

Das Hologramm von Gelenervert ließ neben sich ein zweites holographisches Fenster erscheinen, in dem komplizierte vieldimensionale Diagramme erschienen, die die schwierigen Berechnungen veranschaulichen sollten.

„Die Gefahr einer ernsten Krise kann nicht übersehen werden. Sie liegt gegenwärtig bei 20 Prozent“, sagte Gelenervert. „Ich denke, dazu braucht man nicht viel mehr zu sagen.“

„Zwanzig Prozent? Das ist nicht viel“, behauptete einer der anderen anwesenden Rolefer.

„Wenn es dabei bleibt“, erwiderte Gelenervert mit unterschwelligen, sehr ernsten Sinnesemissionen, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Gelenervert machte eine wirkungsvolle Pause, ließ die Sinnesemissionen aber weiter auf seine rolefische Umgebung einwirken. Ein Teil dieser Sinnesemissionen wurde durch die Holo-Übertragung herausgefiltert. Aber das, was mit der Transmission an die Verantwortlichen der anderen Stationen gelangte, war bereits vollkommen genug. „Aber wir wissen alle, wie leicht sich diese Tendenz-Werte verändern können“, sagte Gelenervert. „Ich habe außerdem Detailmessungen der Raumzeitstruktur vorgenommen und den dimensionalen Stabilitätsfaktor errechnet. Er liegt knapp unterhalb der Grenze, die wir für stabil halten. Aber dieser Grenzwert ist letztlich willkürlich, das wissen alle hier. Die Situation könnte man durchaus auch als Vorspiel zu einer Katastrophe interpretieren.“

„Was schlägst du vor?“, fragte Trevlef.

Die Aufmerksamkeit aller war jetzt auf Gelenervert gerichtet. „Ich bin dafür, bereits prophylaktisch Gegenmaßnahmen zu unternehmen“, erklärte dieser. „Die dimensionale Stabilität sollte durch eine Erhöhung des primären Tempus-Faktors erhöht werden – und zwar bevor es zu spät ist und wir den Kollaps nicht mehr verhindern können.“

„Du bist ein Dunkelwahrnehmer, Gelenervert!“, schalt ihn Boolvert. Eigentlich wäre es Trevlefs Aufgabe, ihn zurechtzuweisen!, ging es Boolvert dabei durch die Gedanken. Warum tut er es nicht? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er bereits früher so konfliktscheu war. Oder steckt mehr dahinter? Boolvert kannte Trevlef gut genug, um sich über die jetzige Zurückhaltung des obersten Tormeisters zu wundern. Aber er hatte durchaus eine Idee, woran das liegen konnte. Was, wenn die Abweichungen temporal-kontinualer Konstanten damit zusammenhängen, dass sich innerhalb unserer Einflusszone etwas befindet, was dort nicht hingehört. Etwas oder jemand. Boolvert fielen in dieser Hinsicht die beiden Organischen ein, die zusammen mit Calrop aus dem intergalaktischen Zwischenraum hierher ins Gogran-System gekommen waren.

Josephine und Oziroona.

Eine geklonte Menschen-Frau von der Erde und eine alt gewordene Noroofin, die Jahrhunderte im Staseschlaf verbracht hatte.

Was für ein sonderbares Paar!, dachte Boolvert. Vielleicht sind sie die Auslöser der minimalen Raumzeitanomalien, die sich trotz aller Stabilisierungsmaßnahmen in unserem Einflussbereich nachweisen lassen!

Boolvert überlegte, ob er dies offen ansprechen sollte.

Und gleichzeitig tauchte die Frage in ihm auf, ob Calrop vielleicht angeordnet hatte, diese Symptome zu übergehen und unbequeme Fragen zu unterdrücken. Dass der Sprecher des Kgonarg sich in besonderer Weise um die beiden kümmerte, war unverkennbar. In erster Linie galt das natürlich für Josephine. Fragt sich nur, warum, dachte Boolvert. Es scheint tatsächlich so zu sein, als wüsste Trevlef mehr als wir. Aber warum dieses Versteckspiel? Oder bilde ich mir das alles nur ein? Am Ende bin ich selbst der Dunkelwahrnehmer und mache mich unter den Tormeistern lächerlich ...

Was Gelenervert anging, so unterstellte Boolvert diesem durchaus nicht nur ehrenhaften Motive. Der Leiter der Torstation 2 wollte sich selbst in den Vordergrund spielen und demonstrieren, dass die Rolefer sich eigentlich seiner fachlichen Autorität – und nicht der von Trevlef – zu beugen hatten. Der Kompetenteste soll den Weg bestimmen, so lautete das Gesetz der Rolefer. Und als den Kompetentesten empfand Gelenervert natürlich sich selbst.

Persönliche Animositäten aller Art dürfen eigentlich keine Rolle spielen!, überlegte Boolvert. Das ist etwas für Primitivspezies. Für Menschen. Für Wesen wie dieses augenlose, alt gewordene Monstrum mit seinem konischen Zylinderkopf, das sich Oziroona nennt und von sich behauptet, einmal eine sogenannte ‚Hohe’ der Noroofen gewesen zu sein.

Eine allgemeine, teilweise auch heftig geführte Diskussion setzte jetzt unter den Rolefern ein.

Was war zu tun?

Wie sollte man auf die Messergebnisse reagieren? Sollte vielleicht am besten das Kgonarg, die Elite der Canyaj, um Instruktionen gefragt werden?

Die Argumente des Für und Wieder wurden ausgetauscht, bis schließlich Trevlef dem Ganzen ein Ende setzte.

„Das führt zu nichts“, erklärte er. „Ich teile die Besorgnis, die hier zum Ausdruck gebracht wurde. Aber die richtige Handlungsweise erfordert zunächst eine zutreffende Analyse und dafür liegen einfach noch nicht genug Fakten vor.“

„Und wenn es zu spät ist, bis diese Fakten vorliegen, und wir tatsächlich begreifen, was sich abspielt?“, erwiderte Gelenervert. Er schien keinen Respekt mehr vor der tormeisterlichen Kompetenz Trevlefs zu empfinden. Normalerweise begegnete man unter Rolefern den Argumenten eines erfahreneren Meisters nicht mit einer geradezu herausfordernden Überheblichkeit, wie sie Gelenervert zu Eigen war.

Er überspannt den Bogen!, glaubte Boolvert. Es mag berechtigte Kritik an Trevlef geben, aber niemand goutiert es, wenn der oberste Tormeister so behandelt wird.

„Ich habe ein paar Dinge zu berichten, die vielleicht mit den dimensionalen Anomalien zu tun haben könnten“, meldete sich eines der anderen Hologramme zu Wort.

Es war das Hologramm von Shyylvert, dem Leiter der Torstation 5.

Es handelte sich dabei um die Äußerste aller Stationen. Sie war am nächsten dem weiten, kalten und temporal chaotischen Universum, vor dem sich die Canyaj mit Hilfe der Rolefer zu schützen gewusst hatten.

„Normalerweise lassen sich nur selten Canyaj auf den Stationen sehen“, stellte Shyylvert fest. „Aber in letzter Zeit habe ich eine Veränderung festgestellt. Es waren einige Tormeister auf unserer Station, die mich darauf aufmerksam machten, dass mehr Canyaj als sonst sich ihr Bewusstsein ordnen und mental von uns stabilisieren lassen.“

„Worauf willst du hinaus?“, fragte Trevlef.

Shyylverts Hologramm bewegte sich nach vorn. Er wartete einen Augenblick, ehe er antwortete. „Wir wissen, dass Spannungen in der Raumzeit sich mehr oder minder stark auch auf die mentale Ebene auswirken, ohne dass sich der Einzelne dessen bewusst sein muss. Er spürt nur, dass etwas nicht stimmt. Und uns ist auch bekannt, dass Canyaj-Bewusstseine hier besonders sensibel zu sein scheinen ...“

„Du meinst also, das vermehrte Auftreten von Canyaj, die ihr Bewusstsein von uns ordnen lassen, spricht für eine sich ankündigende Umwälzung im Temporalfluss?“, schloss Trevlef. „Ehrlich gesagt, habe ich daran auch schon gedacht, denn auch auf Station 1 gibt es mehr Canyaj als üblich. Aber im Moment werden wir nichts weiter tun können, als wachsam zu sein und gegebenenfalls schnell zu reagieren.“

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DIE HOLOGRAMME VERBLASSTEN, nachdem die Verbindung unterbrochen worden war. Trevlef wandte sich an Boolvert. „Ich werde mich nach Gogran begeben“, kündigte er an.

„Um die Angelegenheit dem Kgonarg vorzutragen?“, vermutete Boolvert.

„Ja. Unter normalen Umständen hätte dazu eine holographische Transmission gereicht, aber durch mein persönliches Erscheinen will ich meiner Sache vor dem Kgonarg besonderen Nachdruck verleihen.“

„Mentale Stärke sei dein Begleiter, Trevlef“, wünschte Boolvert.

„Danke“, gab Trevlef zurück. „Ich will mir nicht nachsagen lassen, Informationen nicht rechtzeitig an die Gesamtheit des Kgonarg weitergegeben zu haben. Vor allem möchte ich auch Calrop sprechen.“

„Ich nehme an, du wirst permanent mit der Station in Verbindung bleiben.“

„Natürlich.“

„Die Situation wird schwierig genug werden“, glaubte Boolvert. „Das Kgonarg könnte dir deine besondere Verbindung zu Calrop zum Vorwurf machen. Du weißt nicht, wie lange er Sprecher des Kgonarg bleibt.“

Trevlefs Erwiderung war ziemlich reserviert.

Die begleitenden Sinnesemissionen machten das mehr als deutlich.

„Ich bin durchaus in der Lage, mehrdimensional zu denken und habe deshalb all diese Faktoren in meine Berechnungen längst einbezogen.“

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BOOLVERT BRAUCHTE SICH nicht extra umzudrehen, um wahrzunehmen, wie Trevlef die Steuer-Acht verließ. Er ist gereizt, dachte er. Vielleicht nähert sich seine Zeit als oberster Tormeister einfach dem Ende. Kaum einer hat dem enormen mentalen Druck, der damit verbunden ist, so lange standgehalten wie er.

Boolvert verscheuchte diese Gedanken wieder, so gut es ging, und konzentrierte sich auf seine Aufgabe.

Sein Dienst erforderte höchste Aufmerksamkeit.

Und auch als er abgelöst wurde, um sich mental auszuruhen, ließen ihn die Gedanken an das, was vielleicht auf sie alle zukam, nicht los.

Noch war nicht abzusehen, was wirklich dahintersteckte. Und selbst aufwendigste Messungen und Berechnungen, die die Rolefer jetzt mit Hilfe sehr leistungsfähiger Rechner anstellten, gaben darüber noch keinen Aufschluss.

Die Schutzmaßnahmen, die man auf den Stationen ergriffen hatte, wurden wieder und wieder überprüft – ohne dass man irgendwelche Versäumnisse entdecken konnte.

Boolvert fühlte sich mental stark aufgeladen. Er konnte nicht sagen, woran das lag, schließlich hatte er innerhalb der letzten Standard-Zeiteinheit keinem Canyaj das Bewusstsein geordnet, was unter Umständen zur eigenen Überladung mit mentaler Energie führen konnte.

Dass es die Folgen der sich ankündigenden Veränderung waren, glaubte Boolvert hingegen nicht.

Warum auch?

Auf mentaler Ebene waren die Rolefer äußerst robust.

Unempfindlicher jedenfalls als die meisten anderen Spezies, die ihnen bekannt waren.

Für kurze Zeit sah Boolvert ein Bild vor sich.

Ein Bild des Geistes.

Im Bruchteil einer Sekunde war es wieder verschwunden und doch hatte es eine Eindringlichkeit, die dem Rolefer einen Schock versetzte.

Eine entropische, völlig zerstörte Landschaft hatte er gesehen. Er hatte sofort das Zentralgestirn erkannt. Es war jene Sonne, um die Gogran kreiste. Da war er sich absolut sicher. Ein Rolefer vermochte die genaue Zusammensetzung des Lichtes zu erkennen, das von einem Stern abgegeben wurde. Und diese Zusammensetzung war wie ein Fingerabdruck.

Aber der dazugehörige Planet – Gogran – war nicht wiederzuerkennen. Eine vollkommene Ödnis. Das Silizium-Leben, das dort bisher überall gewuchert hatte, war verschwunden. Nur noch totes Gestein war zurückgeblieben. Die Spuren des Einsatzes von schweren Waffen waren nicht zu übersehen.

Was soll das gewesen sein? Ein dummer Gedanke? Eine harmlose Vision, die zeigt, was man im Innersten fürchtet? Oder der flüchtige Blick des ungebundenen Bewusstseins in eine fremde Dimension? Eine parallele Zeitlinie vielleicht, die unter geringfügig anderen Umständen auch hätte Realität werden können ...

Boolvert war entschlossen, sich nicht noch weitere und tiefer gehende Gedanken darüber zu machen.

Das war Unsinn.

Niemand konnte Gogran angreifen.

Schließlich war er geschützt und zu diesem Schutz trugen unter anderem die Rolefer mit ihren Stationen bei.

Irgendwo im hintersten Winkel seines Bewusstseins meldete sich eine kritische Stimme, die ihn ermahnte, objektiv zu bleiben. Es war grundsätzlich immer besser, der Gefahr ins Auge zu sehen, anstatt ihr mental auszuweichen.

Zunächst zog sich Boolvert in seine Ich-Kapsel zurück.

In dieser zylindrischen Kapsel aus einer besonderen Legierung namens Thomban verbrachte er einige Zeit, um eine schlafähnliche Meditation zur Reinigung des Geistes durchzuführen.

Die besondere Strahlung, die von der Innenbeschichtung der Kapsel emittiert wurde, sorgte bei Rolefern für mentale Erholung.

Doch diesmal sorgte die Phase in der Ich-Kapsel überhaupt nicht für Entspannung.

Im Gegenteil.

Immer wieder wurde er durch wirre Visionen geplagt.

Bilder, die nicht der Realität entsprachen. Eindrücke von Trümmerlandschaften, zerstörten Stationen und einem Planeten Gogran, der nichts weiter war, als ein verbrannter Materiebrocken, der einsam um seine Sonne kreiste.

Heißt das, eine andere Pararealität gewinnt an Wirklichkeit?, fragte sich Boolvert nicht zum ersten Mal. Oder liegen die Ursachen in meinem Bewusstsein? Muss ich mich vielleicht einer grundlegenden Mentalsortierung unterziehen, wie sie bei den Canyaj so beliebt geworden ist?

Rolefer nahmen diese Möglichkeit nur sehr selten in Anspruch. Eigentlich herrschte bei den meisten von ihnen die Meinung vor, dass ein Tormeister so etwas nicht nötig hatte und genug eigene geistige Disziplin besaß, um auf diese mental stabilisierende Maßnahme verzichten zu können. Ehrenrührig ist es aber auch nicht!, rief sich Boolvert in Erinnerung, denn er hatte einfach das Gefühl, etwas tun zu müssen.

Nur was, das war ihm nicht klar.

Eine innere Unruhe dominierte ihn zunehmend.

Vielleicht wäre es gut, diesmal am Ritual des Austauschs teilzunehmen, dachte er. Boolvert hatte das schon längere Zeit nicht mehr getan. Das hatte mit vielen Dingen zu tun. Der wichtigste Aspekt war der, dass er sich in letzter Zeit nicht mental ausreichend aufgeladen gefühlt hatte, um einen Teil dieser Energie abzugeben.

Und genau das war beim Ritual des Austauschs unerlässlich.

Aber jetzt bist du mental so geladen wie selten – woran auch immer das liegen mag. Einen Augenblick zögerte er noch mit seinem Entschluss, diesmal tatsächlich das Ritual zu besuchen.

Du kannst dich nicht wirklich gedanklich von deiner Aufgabe lösen. Auch jetzt nicht, da du längst abgelöst bist und deinen Geist eigentlich regenerieren solltest. Aber wie soll das gelingen, wenn das Geheimnis dieser feinen Strukturveränderungen der Raumzeit wie ein Damoklesschwert über allem schwebt.

Aber war das nicht immer schon der Fall gewesen?

War Gogran nicht ohnehin ein äußerst bedrohter Ort, der nur scheinbar eine sichere Festung darstellte?

Eine Festung, die sich im Handumdrehen in einen letzten, verzweifelten Rückzugsort verwandeln konnte. Niemand wusste das besser als ein Rolefer.

*

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BOOLVERT ERREICHTE den Ritualraum.

Ungefähr ein Dutzend Rolefer hatten sich dort bereits eingefunden.

Zwölf – diese Zahl galt als Minimum, aber theoretisch war es auch möglich, das Ritual mit nur zwei Teilnehmern durchzuführen.

Die anwesenden Rolefer hatten sich in Form einer Ellipse positioniert.

„Es ist schön, dass auch du teilnehmen wirst“, sagte Hruusert, der bei den Rolefern von Station 1 als Zeremonienmeister fungierte. „Du bist herzlich willkommen.“

„Meine Lebensenergie wird der Zukunft dienen“, erwiderte Boolvert. Das war die rituelle Formel. Schließlich ging es ja um nicht weniger als die Zeugung des rolefischen Nachwuchses.

Ein Singsang begann.

Auf akustischer Ebene war ein Akkord von Brummlauten zu hören. Aber auf den anderen Sinnesebenen der Rolefer wurden gleichzeitig ebenfalls Informationen ausgetauscht. Ein regelrechter Wahrnehmungscluster ergab sich daraus für jeden Teilnehmer des Rituals. Manche dieser Sinne waren so speziell, dass sie nur Rolefern zugänglich waren.

Jeder der Teilnehmer löste aus dem Verbund seines aus achtförmigen Elementen bestehenden Körpers ein oder mehrere Elemente heraus. In dieses Element wurde die überflüssige mentale Energie umgeleitet, bevor es in die Mitte geworfen wurde.

Für die Rolefer war eine so geballte, unhomogene Ansammlung mentaler Energie durch mehrere ihrer Spezialsinne wahrnehmbar. Diese Wahrnehmungen wurden im Bewusstsein von Rolefern mit der Farbwahrnehmung verschaltet, sodass sie mentale Energie als Farbwolken sahen.

Die Anwesenden verfolgten aufmerksam, was mit den in die Mitte geworfenen achtförmigen Körperelementen geschah. Wie sie sich ordneten, formten, sich miteinander verbanden. Der Zeremonienmeister brachte dazu hin und wieder einen kleinen Beitrag, indem er lenkend und ordnend eingriff.

Die Rolefer vermochten die Bewusstseine anderer Spezies wie der Canyaj strukturell zu ordnen und waren natürlich bei ihrem eigenen Nachwuchs noch in viel höherem Maß daran interessiert, kein mentales Chaos zu produzieren, das sich letztlich nur störend auf die Allgemeinheit auswirken konnte.

Die achtförmigen Elemente, die in die Mitte des Kreises geworfen worden waren, bewegten sich zunächst aufeinander zu und begannen schließlich damit, sich ineinander zu verhaken.

Was da dann entstand war noch lange kein vollwertiger rolefischer Körper.

Aber ein Anfang.

„Ich gebe dir den Namen Ooroonert, so lange, bis du in der Lage bist, dir selbst einen Namen zu wählen, der deiner Person entspricht“, sagte der Zeremonienmeister.

„Ooroonert!“, wiederholten alle Anwesenden.

Der kleine, nur aus wenigen Achterelementen bestehende Proto-Rolefer bewegte sich und begann vorsichtig mit seinen erwachenden Sinnen, die Umgebung zu ertasten.

Für ein gewisses Grundwissen war durch mental strukturierenden Einfluss des Zeremonienmeisters gesorgt worden. Aber die Persönlichkeit, das neue Bewusstsein musste sich erst finden. Die Struktur, in der sich die geistigen Energien zu bewegen hatten, war durch den Zeremonienmeister vorgegeben. Aber innerhalb dieser Grenzen war noch alles möglich.

„Ooroonert!“, wiederholte der kleine Rolefer seinen eigenen Namen und akzeptierte ihn damit vorläufig. So zumindest interpretierte dies die rolefische Ritualordnung. „Ooroonert!“, sagte er noch einmal, diesmal lauter und dabei emittierte er eine Vielzahl von Eindrücken auf anderen Sinneskanälen, die nur für Rolefer wahrnehmbar waren.

Der Singsang der 12 Tormeister, die jeweils ein oder mehrere achtförmige Strukturelemente ihrer eigenen Körper für dieses neue Leben zur Verfügung gestellt hatten, schwoll an.

Ein Symbol für den Wunsch aller, dass dieser Jung-Rolefer wachsen und gedeihen möge.

Vom Kleinen zum Großen. Von einzelnen Elementen, die aus unterschiedlicher Quelle kamen, zu einem vollständig ausgebildeten Rolefer-Körper. Und vom untergeordneten Chaos mentaler Energie zu einer gefestigten Person, die wusste, dass ihre Persönlichkeit mehr ausmachte, als nur die Summe ihrer sortierten Einzelteile.

Aber das sind Feinheiten, Ooroonert!, dachte Boolvert wohlwollend.

Für einen kurzen Moment verblasste Ooroonerts Gestalt dann.

Sie wurde durchscheinend.

Ein Schwall überraschter Äußerungen auf allen möglichen Sinneskanälen ging jetzt von den Anwesenden aus.

Ooroonert äußerte mehr oder weniger nur Angst und Verwirrung.

Seine Existenz hatte gerade erst begonnen und schien bereits gefährdet zu sein.

Für einige Augenblicke verblasste sein kleiner Rolefer-Körper so stark, dass er kaum noch sichtbar war.

Alle Anwesenden verharrten für einen kurzen Moment in ihrer Erstarrung. Lähmendes Entsetzen hatte sich in ihnen ausgebreitet. Die Diagnose für diese Krankheit ist eigentlich klar!, ging es Boolvert durch die Windungen der zahllosen achtförmigen Elemente, aus denen sein Körper bestand. Eine Krankheit, die uns alle befallen kann.

Realitätsverfall.

Temporaler Exitus.

„Dimensionsalarm!“, sagte Boolvert. Er nahm Kontakt zur Steuer-Acht auf. Der diensthabende Tormeister meldete sich. „Schwere temporale Krise. Es findet wahrscheinlich eine Überlappung mit einer Pararealität mit entsprechenden Resonanzphänomenen statt!“

„Maßnahmen sind eingeleitet. Die Realitätsstörung wurde lokalisiert! Wir könnten sie eliminieren. Es kann noch kein Bezug zu einer existierenden und überlappungsfähigen Pararealität festgestellt werden.“

„Nein, nicht eliminieren!“, schritt Boolvert ein.

„Aber warum nicht?“, fragte der Diensthabende. „Es ist die gefahrloseste Alternative.“

Boolvert fühlte sich, als ob jemand seine Achten auseinandergerissen und ins All geschleudert hätte. „Das mag sein, aber ...“

Der Grund ist doch, dass er ein Teil von dir ist!, überlegte er.

Jetzt meldete sich Trevlef von Gogran aus über das Kommunikationsnetz der Rolefer zu Wort.

„Es muss eine paradimensionale Stabilisierung durchgeführt werden. Sofort. Eine sektorale Eliminierung könnte durchaus auch Folgen haben. Die Gefahr, dass unser Zeitstrom in einen Parastrom abgleitet, ist nicht zu unterschätzen ...“

Niemand widersetzte sich der Autorität Trevlefs.

Sein Wissen war so immens, dass selbst erfahrene Torwächter nur davon träumen konnten, auch nur annähernd so sichere Entscheidungen treffen zu können. Und im Fall einer Krise verließen sich die anderen gerne auf ihn.

„In Ordnung“, sagte der Diensthabende in der Steuer-Acht von Station 1.

„Koordiniertes Vorgehen mit allen Stationen!“, ordnete Trevlef an. „Wir erhöhen den Botan-Faktor um ein Drittel. Exakt in 12 Mikro-Zeiteinheiten. Ich erbitte eine Bestätigung von allen Torstationen.“

Die Bestätigungen trafen zeitgleich ein und wurden an Trevlef übertragen. Für den Tormeister war es kein Problem, all diese Signale gleichzeitig zu verarbeiten. Multifunktionales Denken war eine Stärke ihrer Spezies.

*

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WENIG SPÄTER WAR BOOLVERT auf dem Weg zur Steuer-Acht. In dem Moment, als er die Zentrale von Station 1 betrat, war ihm plötzlich sehr eigenartig. Es fiel ihm schwer, einen Gedanken zu fassen. Seine Sinne waren auf einmal so unscharf. Er vermochte seine Umgebung kaum noch wahrzunehmen.

Optisch verblasste sie – doch nicht nur auf diesem Sinneskanal machte seine Umgebung plötzlich einen sehr viel schwächeren Eindruck. So, als würde die Realität selbst aus allem entweichen, was mich umgibt!, erkannte er.

Aber in Wahrheit war es vielleicht auch genau umgekehrt, wie ihm wenig später drastisch demonstriert wurde. Mehrere Tormeister versuchten, Boolverts Körper mit ihren Sinnen zu erfassen. Signale der Verwunderung wurden emittiert. Verwirrung breitete sich aus.

„Was ist los mit Boolvert?“

„Sieht wie eine temporale Krisengestalt aus.“

„Meine Achter-Elemente wurden erst vor 12 Standardzeiteinheiten zusammengelegt und mental gleichgeschaltet!“

„Deine Unerfahrenheit entschuldigt sich.“

„Stabilisierungsprozedur durchführen.“

„Durchgeführt.“

„Erfolg?“

„Negativ!“

„Wiederholen!“

„Jawohl.“

Boolvert hörte diese Stimmen wie aus weiter Ferne. Er stellte nur fest, dass er nicht mehr in der Lage war, sich im Raum zu bewegen.

Lediglich die Dimension der Zeit schien ihm geblieben zu sein. Seine Sinne sorgten für eine verwirrende Selbstwahrnehmung, die ihn für Augenblicke daran zweifeln ließ, ob er überhaupt noch existierte. Ein schwacher Schatten des Seins selbst ... Mehr schien nicht mehr vorhanden zu sein.

Rein äußerlich wurde seine Gestalt durchscheinend.

Die mentale Integrität zerfiel.

Für einen Moment wusste er nicht mehr seinen Namen.

Versuche dich an den Beginn deiner Existenz zu erinnern!, hämmerte es in ihm. Da Rolefer während des Austausch-Rituals einige voll funktionsfähige achtförmige Körperelemente und genügend Bewusstseinsenergie der Ritualteilnehmer erbten, wurden sie mit einem Proto-Bewusstsein geboren, das bereits vom ersten Augenblick an Erinnerungen ermöglichte.

„Maßnahme erfolgreich!“, meldete jemand. „Systemweite Stabilisierungstendenz erkennbar. Aber es bauen sich Spannungen in der Raumzeit-Struktur auf. Wir werden es erneut mit Anomalien zu tun haben ...“

„Deprimierende Aussicht!“

„Tut mir leid, du kannst die Daten ja selbst überprüfen und schauen, ob du einen Grund findest, optimistischer in die Zukunft zu schauen.“

Im nächsten Moment hatte Boolverts Körper wieder Substanz gewonnen. Augenblicke später war der Tormeister nahezu fassungslos. Dieses Gefühl, dass die eigene Existenz sich buchstäblich auflöste, war mit nichts anderem zu vergleichen. Für einen Rolefer war keine Form der Furcht vorstellbar, die tiefer ging und verstörender war. Viele Erzählungen und so manches Drama rankten sich in der rolefischen Kultur gerade um diesen Punkt.

Wie begegnete man dem Faktum, dass man vielleicht innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne in das Stadium der Nicht-Existenz eintrat?

Es gab mathematisch-philosophische Schulen unter den Rolefern, die es bevorzugten, dieses Thema völlig aus jedem Diskurs herauszuhalten.

Warum über etwas reden, das – in dem Moment, in dem es eintrat – unabwendbar war?

Wozu auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden?

Gedanken, die bestenfalls lähmten, im schlimmsten Fall aber selbst eine mental zerstörende Wirkung ausübten?

Aber die Fragen, die damit zusammenhingen, sich der Tatsache zu stellen, dass die Existenz eines rolefischen Lebens keineswegs endlos andauerte, waren offenbar so drängend, dass sie sich nicht auf ewig in den Hintergrund schieben ließen.

Diese Vorgehensweise funktionierte nur an der Oberfläche. 

„Du bist wieder da, Boolvert“, stellte einer der diensthabenden Tormeister erleichtert fest. Es war allerdings nicht nur das Mitgefühl mit Boolvert, das in dieser Aussage mitschwang. Vielmehr fürchteten alle, dass Boolvert bald weitere Fälle folgen würden.

*

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GOGRAN.

Ein Name ohne Bezug.

Ein Planet der so seltsam war, dass man ihn beinahe nicht als „Welt“ bezeichnen mochte.

Da waren Formen, Farben. Dinge, die sich veränderten und vage Konturen bildeten. Konturen, die vielleicht Gebäude waren, vielleicht aber auch Lebewesen.

Wie lange bin ich jetzt schon auf Gogran?, dachte Josephine. Man kann hier jegliches Zeitgefühl verlieren ...

Die Stimmen des Kgonarg waren überall zu hören. Josephine wandte den Blick über die bizarren Formen. Jedwede nur denkbare geometrische Struktur war dabei. Die Elite der anorganischen Canyaj ... Irgendetwas scheint sie zu beunruhigen.

Das Raunen unter den zum Kgonarg gehörenden Canyaj wurde lauter, drängender.

Josephine vermochte die Stimmen nicht auseinanderzuhalten. Sie bildeten ein Cluster, dem sie jedoch sehr wohl die vorherrschende Emotion zu entnehmen vermochte.

Auch Trevlef schien beunruhigt. Der wurmartige, aus lauter Achten bestehende Körper des rolefischen Tormeisters wirkte unruhig und war ständig in Bewegung. Jedes einzelne Achter-Element schien davon auch für sich betroffen zu sein. Trevlef nahm Kontakt mit einer der Tormeister-Stationen auf, die das Gogran-System schützten.

Aber über das, was er erfuhr, machte er keine Mitteilung.

„Was ist los?“, fragte Josephine.

„Das kann ich dir nicht sagen“, erwiderte Trevlef.

„Weshalb nicht?“

„Noch ist die Lage unklar. Aber da ist etwas.“

„Wovon sprichst du?“

„Es findet eine Veränderung statt. Soweit ich Näheres darüber weiß, werde ich darüber sprechen.“

Diese orakelhafte Auskunft beruhigte Josephine nicht gerade.

*

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IN JOSEPHINES NÄHE befand sich Calrop, der Sprecher des Kgonarg. Die Gesamtheit der Canyaj-Elite begann sich immer deutlicher und drängender zu regen. Es sprach sich herum, dass da etwas vor sich ging, das sie vielleicht alle in Gefahr brachte. Ob die Angehörigen des Kgonarg nun Individuen waren oder eine Art Gestalt-Organismus, der sich für die Zeit der kollektiven Entscheidungsfindung zusammenschloss, wusste die Androidin nicht. Wahrscheinlich sind menschliche Konzepte für Individualität und Person ohnehin nicht wirklich auf eine Spezies wie die Canyaj übertragbar!, überlegte Josephine.

„Das Kgonarg ist beunruhigt“, stellte Calrop fest und bewegte seinen anorganischen Körper etwas auf Josephine zu.

“Beunruhigt?”, fragte Josephine.

“Ja.”

“Warum?”

Calrop antwortete nicht. Vielleicht wusste er es nicht. Vielleicht wollte er nicht antworten.

Die Androidin stand inmitten dieser bizarren Menagerie aus anorganischem, auf Silizium basierten Leben, wobei die Übergänge zwischen belebter und toter Materie und zwischen Lebewesen und Gegenständen fließend waren. Manche Raumschiffe, die auf den Landeplätzen standen, waren in Wahrheit Canyaj-Körper. Dasselbe galt für viele Gebäude. Man konnte nie sicher sein, ob man über einen Weg lief oder ob der feste Grund, auf dem man sich befand, nicht in Wahrheit Teil eines oder mehrerer Canyaj-Körper war.

Eine Fremde in einer fremden Welt bin ich, dachte sie. Die Frage, wo ich selbst auf dieser Skala zwischen unbelebtem Stein und komplexer Lebensform stehe, werde ich besser zu einem anderen Zeitpunkt beantworten.

*

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JOSEPHINE FIEL AUF, dass Trevlef sich etwas zurückgezogen hatte. Er wanderte hektisch zwischen den kristallinen Strukturen herum, die Gograns Oberfläche mehr oder weniger vollkommen beherrschten – manche lebendig, andere so tot wie Stein.

Irgendetwas geht da vor sich!, ging es ihr durch den Kopf. Calrop hatte Recht!

Sie warf einen kurzen Blick zu Oziroona, der ehemaligen Mächtigen, die jetzt nichts weiter als ein Schatten ihrer selbst war. Die Gedanken wanderten zurück in jene Zeit, als Oziroona zusammen mit ihrem Gefährten Ozobeq und den anderen Hirten der Noroofen die Macht an Bord des Raumschiffs CAESAR übernommen hatte, das von den Noroofen ALGO-DATA genannt wurde.

Josephine, John Bradford und die anderen Mitglieder der bunt zusammengewürfelten Mannschaft dieses gekaperten Schiffes, waren daraufhin von den Noroofen mit größter Verachtung behandelt und für eine Weile zu einem sklavenähnlichen Status herabgewürdigt worden.

Allein der Gedanke an die ungeheuer machtvolle Präsenz Ozobeqs ließ Josephine unwillkürlich schaudern. Und selbst du, Oziroona, bist vor ihm erstarrt, wenn du ganz ehrlich bist. Obwohl er dein Gefährte war und du ansonsten loyal an seiner Seite gestanden hast.

Ebenbürtig warst du ihm nie.

Aber auch Oziroona hatte eine für Menschen beängstigende geistige Macht besessen, mit der sie ihrer Umwelt früher mühelos ihren Willen hatte aufzwingen können – vorausgesetzt, es ging nicht gerade darum, den noch mächtigeren Ozobeq zu beeinflussen, was ihr Zeit ihres Lebens sehr schwergefallen war.

Eine Rüstung aus unzähligen Nano-Partikeln umflorte sie. Die Außenstruktur ähnelte einem Schwarm von winzigen Insekten, die sich dicht an sie herandrängten und ihren alt und gebrechlich gewordenen Körper umschmiegten. Milliarden und Abermilliarden Nano-Partikel mussten es sein. Ihre Zahl war unvorstellbar hoch. Sie wogte wie ein Schwarm durcheinander. Im Moment wurde der Kopf freigegeben, aber ansonsten war sehr oft der gesamte noroofische Körper von dieser Rüstung bedeckt.

Hast du eine Ahnung, was hier vor sich geht?, fragte Oziroona auf telepathischem Weg.

Alle Noroofen waren starke Telepathen. Oft waren die Gedankenimpulse so stark, dass sie Wesen mit schwächerer mentaler Präsenz durch einen Kontakt auch gleich den eigenen Willen aufzwangen. Die Botschaft wurde dann zum Befehl. Aber Oziroona war nicht mehr so stark, auch wenn Josephine bei ihr das Bedürfnis, andere zu kontrollieren, sehr wohl spürte.

Aber diese Zeiten waren endgültig vorbei.

Glücklicherweise, wie Josephine fand.

Dennoch – manchmal hatten Oziroonas Gedanken eine Schärfe, die Josephine körperliche Schmerzen verursachte.

„Ich habe keine Ahnung, was da geschieht“, sagte Josephine.

Meine Sinne nehmen etwas wahr, das mich verwirrt, gestand Oziroona. Ich kann es nicht näher erklären. Aber etwas stimmt hier nicht.

„Was sollte das sein?“

Vielleicht hat es mit dir zu tun.

„Ich verstehe nicht, was du meinst.“

Deine Präsenz wird schwächer. Und das in einem erschreckenden Ausmaß. Ich spüre das ganz deutlich!

Es fröstelte Josephine plötzlich.

Sie hob ihre Hand und merkte, dass sie durch sie hindurchsehen konnte. So als würde sie entmaterialisieren.

Ich löse mich auf!, durchfuhr es sie. Josephine begriff, dass das Gefühl innerer Kälte nicht mit einer körperlichen Reaktion auf die gemäßigte Außentemperatur zu tun hatte, die selbst in der Nacht auf Gogran herrschte.

Genau DAS meinte ich, äußerte sich Oziroona. Aber mir geht es nicht besser. Auch ich verliere an Präsenz ...

„Fragen wir Calrop, was das alles zu bedeuten hat!“, schlug Josephine vor.

Ich glaube nicht, dass Calrop etwas zur Lösung des Problems beizutragen vermag!

Calrop war unterdessen noch immer in eine rege Kommunikation mit dem Rolefer Trevlef verwickelt, von der Außenstehende kaum etwas mitbekamen. Aber die Unruhe, die ohnehin schon im Kgonarg herrschte, verstärkte sich noch.

Josephine bewegte sich auf Calrop zu. Sie stellte fest, dass ihr jede Bewegung schwerfiel. Und vor allem hatte sie das Gefühl, unendlich viel Kraft aufwenden zu müssen, um überhaupt noch vorwärtszukommen. Ich verliere den Kontakt zu den Dimensionen DIESER Raumzeit!, wurde es ihr klar. Mit anderen Worten, ich verschwinde langsam im Nichts. Werde ein Geist ohne Bezug zum Raum, zur Zeit, zu irgendwas.

Sie erreichte Calrop schließlich unter Aufbietung all ihrer Kräfte.

Der Prozess der Entstofflichung war inzwischen weiter fortgeschritten. Auch die Beine und ihr gesamter Körper waren nun betroffen.

Sie sprach Calrop an, aber dieser schien sie zunächst nicht zu verstehen.

Dasselbe galt für Trevlef.

Funktionierte ihr Translatorchip nicht mehr richtig oder war auch das dadurch zu erklären, dass eine zunehmende Distanz zwischen ihr und der Raumzeit dieses Universums aufgebaut wurde – durch Prozesse, die der Verstand nicht beeinflussen konnte?

„Wir verstehen dich kaum noch!“, drang schließlich Trevlefs Stimme in ihr Bewusstsein.

Wie aus weiter Ferne klangen diese Worte.

„Was soll ich tun?“

„Ich habe mit den Stationen Kontakt aufgenommen und alles Nötige eingeleitet“, erklärte Trevlef. Es folgten einige Sätze, von denen Josephine nichts verstand. Ob das an der mangelhaften Akustik lag oder an ihren eigenen Verständnismöglichkeiten, war Josephine nicht so recht klar. Diese Frage schien ihr im Moment auch nicht weiter wichtig zu sein. Sie stellte gleichzeitig fest, dass sie im Augenblick vor allem von namenloser Angst beherrscht wurde. Angst davor, sich vollkommen aufzulösen.

Auch das wird vorübergehen!, meldete sich eine Stimme in ihrem Bewusstsein, bei der sie sich im Augenblick nicht einmal sicher war, ob sie aus ihrem eigenen Bewusstsein sprach, ob vielleicht Oziroona es war, die mit ihr telepathischen Kontakt suchte und ihre Gedanken kommentierte, oder ob sie diese Worte vielleicht sogar in Wahrheit tatsächlich GEHÖRT hatte.

Aber wer hatte sie dann ausgesprochen?

Calrop?

Trevlef?

Irgendein Canyaj, der zum großen Ganzen des Kgonarg gehörte?

Eine weitere Frage stellte sich plötzlich.

Wer ist Calrop?

Es fiel Josephine schwer, überhaupt noch einen richtigen Gedanken zu fassen, abgesehen von der auf einmal beherrschenden Erkenntnis, dass sie sich an einem Ort befand, an dem sie eigentlich nichts zu suchen hatte.

Warum klammerst du dich dann an deine Anwesenheit hier, wenn diese doch keine feste Wurzel mehr in der Kausalität der Ereignisse besitzt?, ging es ihr durch den Kopf.

Einen Kopf, der kaum zu sehen war, so durchscheinend wirkte er auf einen äußeren Betrachter. Du musst loslassen ... Die Reste deines Bewusstseins werden sich zerstreuen, als hätte es dich nie gegeben. Aber was ist so schlimm daran? Es wird erholsamer sein, als ein langer Schlaf. Es wird sein wie vor deiner Geburt – wenn man den Beginn deiner Klon-Existenz der Einfachheit halber mal so bezeichnen will.

Ein Strom aus Bildern, Gedanken und Empfindungen wirbelte in Josephines Innerem durcheinander. Manche davon schienen mit ihr zu tun zu haben. Andere erschienen ihr sehr fremd und sie war sich nie sicher, ob es sich um Splitter ihres eigenen Lebens oder um fremde Bewusstseinsbruchstücke handelte, die aus irgendeiner Laune des Universums heraus in ihre Seele hineingespült worden waren und jetzt wie in einem Kaleidoskop durcheinandergewirbelt wurden.

Mentales Strandgut.

Sie sah sich selbst an Bord der der CAESAR, zusammen mit John Bradford und den anderen Mitgliedern der Crew.

Unter anderem Marcus und Bresnick – geklonte Gen-Androiden wie Josephine.

Moment mal ...

Auch Miij und ein Bhalakide befanden sich an Bord. Da sich die androgynen Bhalakiden äußerlich kaum voneinander unterschieden, vermochte Josephine nicht zu sagen, um welches Individuum es sich dabei handelte.

Aber eines wusste sie.

Bresnick gehört nicht dorthin. Er war damals schon lange tot. (Die Frage ist, was der Tod noch bedeutet, in einem Multiversum unendlich vieler dimensionaler Möglichkeiten und paralleler Raumzeiten und Kausalitäten.) Und was ist mit Marcus' Nanokörper?

Marcus’ Bewusstsein war in die Rüstung eines Noroofen transferiert worden. Er war seitdem – zumindest im physiologischen Sinn – kein Mensch mehr, sondern hatte diese aus Abertrillionen Nano-Partikeln bestehende, amorphe Noroofenrüstung als seinen neuen Körper angenommen.

Aber in dieser Vision, die Josephine jetzt hatte, war er ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Und das ganz offensichtlich nachdem Miij an Bord kam. Das ist nicht möglich. Was soll das? Ein alternativer Zeitstrom?

Was sehe ich da?

Schlaglichter paralleler Raumzeiten?

Josephines Verwirrung nahm zu, als sie feststellte, dass auch andere dieser Bilder und kleinen Szenen nicht mit Josephines Erinnerung in Übereinstimmung zu bringen waren.

Sie sah sich selbst an Bord eines Raubvogelschiffs, das sich hundert Jahre nach Josephines eigener Zeit auf dem Weg zur Erde befand.

Die Ortungsanzeigen, die auf der Holo-Säule in der Zentrale angezeigt wurden, ließen darüber keinen Zweifel bestehen. Josephine veränderte ein paar Einstellungen. Eine Woche noch, bis wir die Erde erreichen. Das Sol-System. Die Heimat der Menschen, die man in weiten Teilen der Galaxis als imperiale Eroberer kennt ... Sie teilte die Spannung, die alle an Bord empfanden. Was war aus der Erde in den vergangenen Jahrhunderten geworden? Was aus der Galaxis, die von den Menschen und ihrem IMPERIUM DER HUMANITÄT zu einem Gutteil förmlich überrannt worden war?

Die Szene wurde abgelöst von anderen, die sich vielleicht irgendwann einmal ereignen mochten oder hätten ereignen können.

Eine Menagerie der Möglichkeiten.

In immer schnellerer Folge lösten sie einander ab. Splitter aus Dutzenden von alternativen Zeitlinien.

Immer absurder erschienen sie ihr.

In einem dieser Szenarios sah sich Josephine auf dem Mars. Damals, als Teil der John-Bradford-Expedition zum Roten Planeten, während der sie auf jenes extraterrestrische Raumschiff gestoßen waren, dem Commander Bradford später den Namen CAESAR gegeben hatte.

Der Mars.

Einstmals das Ziel aller Ziele für mich.

Sie öffnete einfach das Visier ihres Helms. Die Atemluft entwich mit einem Knall.

Zwischen einem und acht Millibar schwankte der Luftdruck des Mars', was einem irdischen Vakuum sehr nahekam. Sie rang nach Luft und glaubte einige Momente lang, ihr würden durch den Unterdruck um sie herum die Lungen aus dem Leib gerissen. Die Kälte von Minus siebzig Grad dämpfte die Schmerzen.

Dein Blut wird in Kürze kochen, wusste Josephine. Der geringe Druck sorgte dafür, dass der Siedepunkt des Wassers sank. Von 100 Grad unter Erdbedingungen bis unter die 37 Grad, die ein menschlicher Körper aufwies. (Was auch für einen Gen-Android-Körper galt. Die Tatsache, dass er künstlich geschaffen war, änderte daran nichts.)

Josephines Gedanken verlangsamten sich auf eigentümliche Weise. Ich habe keinen Einfluss auf das, was geschieht. Ich bin nur eine Beobachterin meines eigenen Schicksals.

Oder meiner möglichen alternativen Schicksale.

Ihr gefiel diese Rolle einer passiven Beobachterin nicht.

Aber es schien, als ob sie im Moment keine andere Wahl hätte, als sie zu akzeptieren.

Zumindest fürs Erste.

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ALLES BEGANN SICH UM sie herum zu drehen wie in einem Strudel. Bald waren keinerlei Formen mehr erkennbar, sondern nur noch Farben. Alle Eindrücke und Sinne verschwammen zu einem Brei aus Farben und Tönen. Der Gesang der Ewigkeit, dachte sie. Der letzte klare Gedanke, zu dem Josephine fähig war.

Sie wehrte sich nicht gegen den Prozess der Selbstauflösung.

Warum auch?

Alles schien so leicht, so gleichgültig.

Eine Frage tauchte plötzlich auf.

Wer ist Josephine?

Dunkelheit legte sich dann über sie und hüllte sei ein wie ein schwarzes Tuch.

Dunkelheit und ...

... Kälte.

Die Kälte des Universums.

Der Eiswind der Zeit.

Das Nichts des Multiversum in seiner ganzen Vielfältigkeit an Raumzeitvarianten.

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Kapitel 2: Sein oder Nichtsein

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Oziroona hatte das deutliche Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Sie befand sich in einem düsteren Thronsaal – dem Machtzentrum eines gigantischen Reiches, das sie zusammen mit Ozobeq regierte. Es umfasste große Teile der Milchstraße und man schickte sich gerade an, die Große Magellansche Wolke, die alte Heimat der Noroofen zu erobern.

Ozobeq war vollkommen von seiner Rüstung bedeckt. Es war eine Nano-Rüstung völlig neuen Typs. Die Partikel, aus denen sie bestand, waren nicht schwarz sondern blutrot. Seine Präsenz wurde durch diese Rüstung noch verstärkt. Auf dem gesamten Zentralplaneten war es vollkommen unmöglich, sich seinem Willen zu widersetzen.

Allenfalls Oziroona konnte wenigstens ihre Meinung gegenüber der Nummer eins unter den Hohen Sieben äußern.

Die Entscheidungen traf zumeist Ozobeq allein, so fern er ihr nicht in einem bestimmten Bereich vollkommene Freiheit ließ. Und diese Bereiche waren im Laufe der Zeit immer größer geworden, was mit der Größe des Imperiums zusammenhing, dass sie errichtet hatten.

Es gab niemanden, der Ozobeq traute.

Niemanden außer Oziroona. Und so blieb sie die Einzige, an die er tatsächlich bereit war, Aufgaben zu delegieren.

Ein Gefühl von Macht, Stärke und mentaler Präsenz durchströmte Oziroona. Dieses Gefühl hatte sie lange nicht gekannt. Zuletzt vor Beginn ihres Staseschlafs an Bord der einsamen Station mitten im Leerraum zwischen Andromeda und der Milchstraße.

Oziroona stutzte.

Ihr war sofort klar, dass sich die Erinnerung an den Staseschlaf nicht mit der Szenerie im Thronsaal vereinbaren ließ.

Zwei Realitäten. Zwei unterschiedliche Zeitlinien. Wann haben sie sich getrennt? Welche Fehler habe ich gemacht? Kann das Alter jener Oziroona, die Ozobeq als Begleiterin und Mitherrscherin zur Seite steht, etwa nichts anhaben?

Der Anzug war in diesem Punkt des Rätsels Lösung.

Oziroona besaß ebenfalls einen der neueren roten Rüstungen und das war wohl der Hauptgrund dafür, dass sie sich so stark fühlte, schließlich waren die Auswirkungen des Alterns nicht einmal für Noroofen auf die Dauer zu vermeiden.

Aber dann wandelte sich die Szenerie.

Oziroona versuchte etwas zu sagen. Sie wollte eine mentale Botschaft an Ozobeq senden, doch das war nicht möglich. Wie eine Statue hatte Ozobeq auf seinem Thron Platz genommen.

Warum hörst du mich nicht?

Er blieb taub für ihre mentalen Fühler.

Taub und eigenartigerweise wirkte seine Präsenz auf einmal wie abgedämpft. So sehr Oziroona sich auch bemühte, ihre Sinne nach ihm tasten zu lassen – es wollte ihr einfach nicht mehr gelingen.

Ozobeq!

Ozobeq erhob sich. Er fuhr das Kopfteil seiner rot flimmernden Rüstung zurück, sodass sein augenloses Noroofen-Gesicht zum Vorschein kam.

Er scheint irritiert zu sein.

Aber Oziroona schalt sich schon im nächsten Moment eine Närrin. Sie hatte nicht den Hauch eines mentalen Kontaktes. Wie konnte sie also beurteilen, was in Ozobeqs Gedanken im Moment vor sich ging?

Gar nicht.

Du hast seine Erscheinung, die Bewegungen, sein Gesicht überinterpretiert. Es gibt keinen Anhaltspunkt für deine Annahmen ...

Diese Erkenntnis war für Oziroona absolut niederschmetternd.

Vernichtend.

Sie vermochte sich nicht mehr zu bewegen. Erst dachte sie darüber nach, ob es an ihrem Körper lag, der schließlich in der roten Rüstung ebenso gebrechlich geblieben war, wie sie es aus jener anderen Ebene kannte, deren Existenz sich mit dem, was sie gerade erlebte, so wenig vereinbaren ließ.

Aber dann begriff sie, dass es an etwas anderem lag. Ozobeq – dessen Gesicht genauso alt und verfallen wirkte wie das ihre, ging auf sie zu – und schließlich durch sie hindurch.

Sie war schlicht und ergreifend gar nicht vorhanden.

Existierte nicht in der gleichen Raumzeit wie dieser Thronsaal und die Raumzeitparallele, zu der er gehörte.

Im nächsten Moment befand sie sich wieder im Staseblock an Bord der Station im intergalaktischen Raum. Sie sah Josephine vor sich, war aber unfähig etwas zu sagen. Im Staseschlaf blieb man bei Bewusstsein. Man bekam alles mit, was in der Umgebung geschah.

Vorausgesetzt, es geschah überhaupt etwas.

Die meiste Zeit über hatte sich buchstäblich nichts ereignet und sie war nahe dran gewesen, den Verstand zu verlieren.

Welche Realität gilt jetzt?, fragte sich Oziroona. Oder ist es am Ende gar so, dass sie sich ALLE auflösen? Kann man selbst unter Umständen noch glauben zu existieren, während man schon in Wahrheit gar nicht mehr vorhanden ist? Bin ich vielleicht nur ein kleiner Informationsrest in einem morphogenetischen Feld? Ein paar verirrte Gedanken aus einer Schattenwelt, die keine Möglichkeit mehr hat, Realität zu werden und einen Zeitstrom zu dominieren?

Oziroona in ihrem Staseblock konnte beobachten, wie die vor ihr stehende Josephine langsam verblasste und schließlich verschwand.

Sie entmaterialisierte.

Nicht einmal ein Hauch ihrer ehemaligen Präsenz ließ sich noch wahrnehmen.

Nein!, durchfuhr es Oziroona, denn ihr begannen die Konsequenzen zu dämmern.

Ein Zeitstrom wurde aus der Vielfalt des Multiversums getilgt. Und mit diesem Zeitstrom schien unglücklicherweise ihre eigene Existenz verknüpft zu sein.

Die Konturen ihrer Umgebung veränderten sich. Auch die Präsenzen, die sie spürte. Aber diese Wahrnehmungen waren so furchtbar schwach.

Ein primitiver Organismus wie sie für Oziroonas Maßstäbe der geklonte Menschen-Körper von Josephine darstellte, hätte die Szenerie vielleicht wie den Blick durch eine zunehmend getrübte Linse wahrgenommen.

Nur hatte Oziroona keine Augen.

Aber ihre umfassenden, weitreichenden Sinne wurden auf ganz ähnliche Weise getrübt, bis fast nichts mehr erkennbar war.

Es wurde dunkel.

Die Wahrnehmung wurde zeitweilig wieder besser.

Sie hatte fast den Eindruck, als ob zumindest ein paar Lebensgeister sowohl in ihren Körper als auch in ihr Bewusstsein zurückgekehrt waren.

Die Gestirne leuchteten am Himmel.

Und Stimmen waren von überall her zu hören. Geistige Stimmen, die zu kristallinen Wesen mit hohem Silizium-Gehalt gehörten.

Gogran!, erkannte sie. Ich bin wieder unter den Canyaj.

Aber gehörte nicht auch Josephine hierher?

Sie wusste es nicht mehr genau. Ebenso wenig hätte Oziroona in diesem Augenblick sagen können, was sie eigentlich auf dieser bizarren Welt zu suchen hatte, von der lediglich der Name in ihrem Bewusstsein herumgeisterte.

Gogran.

Zwei Kräfte widerstritten in ihrem Bewusstsein. Da war einerseits die Agonie, die immer mehr von ihr Besitz zu ergreifen drohte. Gleichgültigkeit, die sich wie Mehltau über ihren Geist legte und diesen fast ebenso immobil und lethargisch zu machen drohte, wie es mit ihrem Körper schon geschehen war.

Die andere Regung, die sich immer deutlicher zu Wort meldete, war Auflehnung, Kampf um die eigene Existenz. Der verzweifelte, aber daher auch umso entschlossenere Wille, die eigene Existenz nicht aufzugeben und die Integrität des Bewusstseins zu bewahren.

Aber das war schwierig.

Alles drohte ihr aus dem Griff zu geraten.

Einfach zu entgleiten.

Ihre Kräfte schienen nicht auszureichen, um das, was ihre Persönlichkeit ausmachte, länger festzuhalten.

Es wird vergebens sein!, ging es ihr durch den Kopf. Du wirst dein Leben nicht bewahren können. Aus irgendeinem Grund ist deine Existenz in diesem Seitenzweig der Realität offenbar nicht vorgesehen.

Sie schien auf einen toten Ast in der Entwicklung des Kosmos geraten zu sein. Einen toten Ast der Zeit, der entweder aus der Laune eines missgünstigen Schöpfers oder aus purem Zufall heraus nicht mehr fortgesetzt werden würde.

Die Gründe waren eigentlich gleichgültig.

Entscheidend war nur das Faktum an sich.

Vielleicht ist es das Beste, sich damit abzufinden!, dachte Oziroona. Was ist so schlimm am Zustand der Nicht-Existenz? Bedeutet er nicht auch eine Befreiung von Schmerz und Sorge? Eine Befreiung von all dem, was einen niederdrückt? Ist das Nichts nicht letztlich die höchste Form des Glücks, auch wenn jede Existenzform sich zunächst beharrlich weigert, dies anzuerkennen?

Frieden begann Oziroonas Bewusstsein mehr und mehr zu erfassen. Vielleicht zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Existenz.

Es war der Frieden des Todes.

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TREVLEF HATTE SEHR schnell begriffen, was vor sich ging. Eine starke temporale Krise war im Gang. Und außerdem brauste ein Parasturm ungekannten Ausmaßes über das gesamte System herein. Dass beides in irgendeiner Form miteinander in Zusammenhang stand, lag für den Tormeister im Erfassungsbereich seiner Sinne.

Aber worin die Ursache beider Phänomene nun eigentlich lag, war bisher nur Gegenstand von Spekulationen.

Über ein Kristallmodul war der Rolefer ständig über alles informiert, was auf den Stationen geschah. Sämtliche Daten, die dort eingingen, kamen auch ihm zu. Und da er in permanenter Verbindung mit den jeweils diensthabenden Tormeistern stand, konnte er jederzeit in das Geschehen eingreifen.

Erste Maßnahmen hatte Trevlef bereits angeordnet.

Niemand würde diesen Anordnungen widersprechen, was weniger in der Autorität irgendeines Amtes begründet lag, sondern vielmehr in dem Umstand, dass man ihm am ehesten zutraute, eine Lösung für die auftretenden Probleme parat zu haben.

Eigentlich müsste ich die Ursache längst erkannt haben, aber die tritt nicht klar zu Tage!, überlegte der Rolefer verzweifelt. Wenn Informationen fehlen, die eigentlich unerlässlich sind, um vernünftige Entscheidungen treffen zu können, bleibt nichts anderes übrig, als der Intuition zu folgen!

Genau das tat Trevlef.

In kritischen, nicht durchschaubaren Situationen hatte er das oft getan.

Und meistens hatte er dabei richtig gelegen.

Aber diesmal war es besonders schwierig. Die temporalen Stabilitätsparameter waren in einen permanenten Sinkflug begriffen.

„Wir haben eine deutliche Parallele, die unsere Existenz gefährdet!“, meldete Boolvert von Station 1.

„Wodurch wird sie verursacht?“, wollte Trevlef wissen.

„Das haben wir bislang nicht herausfinden können. Aber die temporale Entropie erreicht einen Maximalwert, den wir seit der Abschirmung des Gogran-Systems noch nicht gemessen haben!“

„Es muss aber eine temporal klar umgrenzte Kausalitätszone geben“, erklärte Trevlef.

„Die Kausalitätszone liegt etwa 132 Standard-Chronopotenziale in der Vergangenheit ...“

„Also 95 Sonnenumläufe von Gogran“, echote Trevlef. Das war immerhin ein Anfang. Ein Punkt, an dem man ansetzen konnte.

„Trevlef, ich glaube allerdings, dass sich die Parallele schon früher gebildet hat“, meinte Boolvert. „Sie besaß nur bisher einen zu geringen temporalen Relevanzfaktor, um unserer eigenen Existenz gefährlich werden zu können.“

„Trotzdem werden wir ein Abwehrfeld mit einer temporalen Tiefenwirkung von genau 132 Standard-Chronopotenzialen einsetzen“, verlangte Trevlef.

„Aber die Parallele existierte bereits früher!“

„Wie weit früher?“

„Das lässt sich nicht ermessen!“

„Das kann nicht sein!“

„An unseren Messwerten gibt es keinen Zweifel.“

„Aber wenn es zutrifft, was du gesagt hast, existierte die temporale Störung bereits zu Beginn des Universums!“

„Eine absurde Schlussfolgerung. Und doch scheint es die einzige Erklärung zu sein!“

Trevlef zögerte. Die Vehemenz mit der Boolvert seinen Standpunkt vertrat, irritierte ihn. Eigentlich war das nicht üblich unter den Rolefern. Trevlef war schließlich ihr oberster Tormeister.

Der Fähigste sollte in Zeiten der Krise die Herrschaft ausüben. Niemals war daran unter Rolefern gezweifelt worden. Alle anderen Kriterien mussten im Krisenfall in den Hintergrund treten.

Was bezweckt er damit?, fragte sich Trevlef. Glaubt er, er kann sich damit hervortun und für höhere Aufgaben empfehlen? Wohl kaum.

„Führt die Maßnahme durch, die ich angeordnet habe!“, beharrt Trevlef jedoch.

„Wir werden keine vollständige Restabilisierung erreichen“, gab Boolvert zu Bedenken.

„Das mag sein“, erwiderte Trevlef. „Aber wir erreichen überhaupt eine Stabilisierung. Für mehr reicht die Energie ohnehin nicht. Möglicherweise werde ich in einem zweiten Schritt die volle Stabilität wiederherstellen.“

Einige Augenblicke vergingen.

„Befehl ist ausgeführt“, meldete Boolvert.

„Auf allen Stationen?“

„Ja, Trevlef.“

„Wie sind die gemessenen Werte für Paraenergie?“

„Sie steigen.“

„Das kann nicht sein!“

„Das tun sie aber.“

„Eigentlich müssten die Werte sofort nach Einleitung der Maßnahmen zurückgehen.“

„Station 3 meldet bereits mehrere Fälle von Bewusstseinsstörungen. Ein Teil unserer Tormeister wird über kurz oder lang nicht mehr einsatzfähig sein.“

In Trevlefs Gedanken – ein Hirn im klassischen Sinn besaß er nicht – wirbelte jetzt alles durcheinander.

„Da fegt ein Parasturm über uns hinweg, der sich von allen anderen unterscheidet, die wir je erlebt haben“, äußerte sich Boolvert. „Es ist gut möglich, dass wir alle wahnsinnig werden, wenn wir das hier überleben.“

„Das Risiko müssen wir wohl in Kauf nehmen.“

„Was unsere Gegenmaßnamen angeht, so habe ich Kontakt mit unseren Noleek-Freunden aufgenommen. Sie sind derselben Ansicht wie ich. Wir müssen die Sache auf einer breiteren temporalen Basis angehen, sonst schaffen wir es nicht!“

Trevlef spürte Ärger in sich aufkommen. Und das, obwohl Emotionen eigentlich in Situationen wie dieser tunlichst zu vermeiden waren, wie es eigentlich dem Kodex der Tormeister entsprach.

„Wenn die Noleek eine Lösung vorschlagen, bin ich gerne bereit darauf einzugehen. Aber ich glaube, dass sie sich direkt an mich gewendet hätten, wenn es so wäre. Aber da sie das nicht getan haben, zeigt, dass sie genauso ratlos sind wie wir!“

*

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EIGENTLICH MÜSSTE ICH zur Station 1 zurückkehren und selbst nach dem Rechten zu schauen!, dachte Trevlef. Sein Vertrauen in die Fähigkeiten der anderen Tormeister war nicht sonderlich ausgeprägt.

Aber eine Rückkehr per Shuttle war unter den gegebenen Bedingungen nicht gerade ungefährlich.

Calrop befand sich ganz in der Nähe. Er hatte Oziroona und Josephine zeitweilig verblassen und sogar verschwinden sehen. Aber Ähnliches stellte er auch bei sich selbst fest. Zeitweilig war er kaum in der Lage, sich zu bewegen. Er sah eine völlig zerstörte Planetenoberfläche vor sich, als ob ein Fegefeuer der schlimmsten Art über die Canyaj hinweggefegt wäre.

Dann tauchten all die anorganischen Lebensformen wieder auf. Auch das Kgonarg, dessen Gesamtheit gleichzeitig Elite und Herrschaftsorgan dieser Spezies war.

„Calrop, hilf uns!“, hörte er sie rufen.

„Du bist der Einzige, der einen Weg weiß!“

Schön wär’s, dachte Calrop. Aber die Ratlosigkeit des Torwächters Trevlef war ihm nicht verborgen geblieben. Trevlef hatte ihn hier auf der Oberfläche aufgesucht, um die Problematik zu besprechen, die höchstwahrscheinlich durch die pure Existenz von Oziroona und Josephine hier auf Gogran ausgelöst worden war.

Aber noch bevor Calrop alles erfahren hatte, war das paranormale Inferno hereingebrochen.

Calrop spürte die gewaltigen, mental sehr wirksamen Energien, die jetzt, während der temporalen Krise, in den geschützten Bereich vorzudringen vermochten.

So lange konnten wir uns vor der Entartung der Zeit schützen, aber das scheint jetzt vorbei zu sein!, dachte Calrop.

„Unsere Existenz!“

„Es verschwinden so viele!“

„Unternimm etwas, Calrop!“

„Wie soll er etwas unternehmen? Niemand von uns kann das!“

Sie haben recht!, dachte Calrop. Ich kann nichts tun, außer abzuwarten und darauf zu vertrauen, dass die Torwächter in Zusammenarbeit mit den Noleek das Richtige tun.

Gerade in diesen Augenblick verschwanden Josephine und Oziroona völlig.

Es blieb nichts von ihnen.

Sie verblassten einfach und wurden zu unsichtbaren Gespenstern.

Calrop ertappte sich dabei, dass bereits im nächsten Augenblick der Gedanke in seinem Bewusstsein auftauchte, ob es die beiden überhaupt je nach Gogran verschlagen hatte.

Die Temporalkonstante sorgte dafür, dass Erinnerungen, die sich aus einer anderen Zeitebene eingeschmuggelt hatten, innerhalb kürzester Zeit kaum noch abrufbar waren.

Das galt sogar für Rolefer, obwohl diese ein Mentaltraining entwickelt hatten, das diesen Prozess zumindest stark verlangsamte.

Aber der starke Parasturm sorgte dafür, dass im Moment wohl kein Rolefer seine geistigen Kräfte so zu konzentrieren vermochte, dass vorhandenes Potential wirklich ausgeschöpft wurde.

*

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EINER DER HERZFÖRMIGEN Noleek, die sich derzeit im Gogran-System befanden, hatte sich zur Steuer-Acht von Station 1 begeben.

Boolvert nahm ihn deutlich wahr und schien im Gegensatz zu einigen Rolefern nichts von seiner Agilität verloren zu haben. Für Boolvert unterschieden sich die Noleek kaum voneinander – selbst dann, wenn man alle Wahrnehmungskanäle zur Identifizierung heranzog.

So kam Boolvert nicht auf den Namen seines Helfers.

Aber es war ihm auch zu peinlich, danach zu fragen.

Boolvert schirmte fast reflexartig seine Sinne etwas ab. Die fleischige Erscheinung des Noleek wirkte auf das verfeinerte ästhetische Empfinden des Rolefers eher abstoßend, sodass die Tormeister sie sich nur in möglichst abgeschwächter Form zumuteten. Sie schirmten einfach einen Teil ihrer Sinne ab, um nicht in unerträglich geballter Form mit den körperlichen Eindrücken eines Noleek konfrontiert zu werden. Mit der Wertschätzung, die die Rolefer andererseits für die Fähigkeiten dieser Noleek empfanden, hatte das nichts zu tun.

„Wir haben die Frage, wie wir dem aufgetretenen Problem begegnen könnten, noch einmal diskutiert“, erklärte der Noleek.

„Heißt das, ihr teilt meine Ansicht, dass wir temporal einen breiteren Wirkungsgrad anstreben sollten?“

„Nein“, widersprach der Noleek. „Wir sollten genau das Gegenteil tun.“

„Das kann nicht euer Ernst sein!“, entgegnete Boolvert fassungslos. Hatte er sich so irren können? Die Fähigkeiten der Noleek zu Temporalmanipulationen war denen der Tormeister mindestens ebenbürtig, wahrscheinlich aber überlegen. Es war also vielleicht ein Gebot der Klugheit, auf sie zu hören.

„Wir schlagen die Konzentration auf den Ursprungsbereich der unsere Realität überlagernde temporalen Alternative vor. Unsere Berechnungen haben ergeben, dass dann ein maximaler Effekt zu verzeichnen ist.“

Boolvert war unschlüssig.

Der Noleek übergab ihm einen Datenkristall. Boolvert aktivierte ihn. Eine Holo-Säule bildete sich und die Berechnungen der Noleek wurden mit komplizierten Diagrammen veranschaulicht. Die verwendeten Zeichen waren dabei bereits in den Code der Rolefer übertragen worden.

Boolvert ging die Berechnungen der Noleek im Einzelnen durch.

Wie man die Sache drehte und wendete – der Weg, den sie vorschlugen, hatte einen höheren zu erwartenden Erfolgsfaktor als das, was Trevlef angeordnet hatte.

*

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BOOLVERT VERSUCHTE, mit Trevlef Kontakt aufzunehmen. Aber das war aus irgendeinem Grund nicht möglich.

„Gibt es eine Störung im Kommunikationssystem?“, fragte Boolvert einen der anderen diensthabenden Tormeister.

Doch dieser verneinte.

„Alles funktionierte einwandfrei. Die temporalen Störungen und der heranziehende Parasturm wirken sich auf die Kommunikation nur unwesentlich aus.“

Wenig später gelang es, doch noch Kontakt zu Trevlef herzustellen. Aber er war ganz offensichtlich nicht mehr bei Sinnen und sandte nur wirre Äußerungen an die Station.

Jetzt liegt es an mir!, erkannte Boolvert.

„Die Noleek haben Recht“, entschied er. „Wir werden es auf diese Weise versuchen. Und falls das nicht klappt, werden wir alle vielleicht nichts weiter als Seelenschatten sein, deren letzte Gedanken sich in der Unendlichkeit verlieren.“

*

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WER?

Ich.

Niemand.

Erwachen.

Licht.

Ein großes, rundes Licht, das über den Horizont kroch.

Sie glaubte, es schon einmal gesehen zu haben. Sicher war sie sich nicht. Die vermeintliche Erinnerung vermischte sich mit so vielen anderen Eindrücken, dass es ihr unmöglich war, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren.

Ein Name fiel ihr ein.

Josephine.

Und dann war es plötzlich ganz leicht. Die wirren Gedankensplitter begannen sich zu ordnen. Bilder, Szenen, Erinnerungen rekonstruierten sich.

Jetzt erst hatte Josephine tatsächlich das Gefühl zu erwachen, obwohl sie ahnte, dass sie schon eine ganze Weile zwischen all den seltsamen kristallinen Formen stand und in Richtung des Horizonts blickte.

Dorthin, wo sich große Licht als orangerote Kugel zeigte.

Die Sonne Gograns!, erkannte sie.

Fast ein wenig ungläubig betastete sie ihren Körper, so als ob es ihr schwerfiel, die eigene Existenz als gegeben hinzunehmen. Du existierst noch! Was immer auch geschehen sein mag – mehr kannst du unter diesen Bedingungen wohl nicht erwarten!

Nach und nach kehrte all das in ihr Bewusstsein zurück, was letztlich ihre Person ausmachte. Auf einmal war ihr wieder bewusst, was sie auf Gogran wollte und wie sie hierhergelangt war.

„Calrop!“, sagte sie laut. Der Sprecher des Kgonarg stand ein paar Schritte von ihr entfernt, sah auf und schien ebenso ungläubig darüber zu sein, dass dieser Höllensturm der Parakräfte über ihn hinweggebrandet war, wie es auch Josephines Empfindung entsprach.

Trevlef befand sich in seiner Nähe und redete vor sich hin. Offenbar hatte er den Zustand der Verwirrung noch nicht überwunden.

Im Hintergrund war ein Chor von aufgeregten Stimmern zu hören.

Das Kgonarg.

Der allgemeine Tenor ging jedoch davon aus, dass die Hauptgefahr jetzt vorbei war.

Zu sagen, dass anorganische Silizium-Kristallwesen aufatmen können, wäre wohl irgendwie etwas unpassend!, kam es Josephine in den Sinn.

Plötzlich drangen fremde Gedanken in ihren Geist.

Hast du eine Erklärung für das, was geschehen ist?

Josephine drehte sich halb herum und bemerkte Oziroona. Sie war vollkommen von einem schwarzen, gigantischen, dicht zusammengedrängten Schwarm einer winzigen Insektenart ähnelnden Rüstung bedeckt. Auch von dem augenlosen Gesicht war nichts zu sehen.

„Zumindest existieren wir noch“, erwiderte Josephine. Sie wandte sich an Trevlef, der sich inzwischen beruhigt hatte.

Der Rolefer nahm Kontakt mit der Station auf. Wenig später hatte er sich über die Lage informiert. „Die temporale Krise scheint vorbei zu sein. Die gemessenen Werte sind normal. Offenbar bestand zeitweilig die Gefahr, dass unsere Existenz durch die Dominanz einer Parallelzeit ausgelöscht würde.“

„Heißt das nicht, dass es in der Vergangenheit zu einem Zeitparadoxon gekommen sein muss?“, mischte sich Calrop ein.

„Davon gehen wir aus“, bestätigte Trevlef, der erneut Kontakt mit den Stationen aufnahm und für einige Augenblicke nicht ansprechbar war.

Was er anschließend zu berichten hatte, verblüffte alle.

„Bei den Torstationen gehen erstaunliche Messwerte ein. Danach haben sich die temporalen Verhältnisse in der Galaxis wieder vollkommen normalisiert. Es besteht keine erhöhte Geschwindigkeit des Zeitflusses mehr. Gogran ist nicht mehr vom Rest der Galaxis abgeschottet.“

„Das Zeitrafferfeld ...“, sagte Calrop.

„... existiert nicht mehr“, vollendete Trevlef. „Das Gogran-System und der Rest der Galaxis befinden sich wieder auf demselben temporalen Niveau.“

Die Quelle des die Galaxis einhüllenden Feldes hatte nie ermittelt werden können. So sehr sich die Canyaj und ihre Verbündeten auch darum bemüht hatten.

„Die Noleek sind der Meinung, dass es nicht mehr existiert“, stellte Trevlef fest. „Ob diese optimistische Einschätzung sich tatsächlich bestätigt, überprüfen gerade die Stationsbesatzungen.“

*

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SHYYLVERT, DER ROLEFISCHE Leiter der am äußersten Rand des Gogran-Systems gelegenen Torstation 5 registrierte wie gebannt die eingehenden Ortungsdaten. Auf der gesamten Steuer-Acht herrschte hektische Betriebsamkeit. 

„Es ist kaum zu fassen, aber die Vergleichswerte, die wir von den Noleek erhalten haben, bestätigen sich bei unseren Messungen“, sagte Laanvert. Er war Shyylverts Stellvertreter und übernahm dessen Pflichten immer dann, wenn dieser am Austauschritual teilnehmen wollte oder einfach auch nur eine Pause brauchte.

Shyylvert konnte es kaum fassen.

So lange war das Gogran-System notgedrungen eine Art temporaler Festung gewesen. Ein Fels in der Brandung der entartenden Zeit. Und jetzt herrschten wieder normale Verhältnisse, so weit die Sensoren der Torstationen reichten.

„Es konnte eine vollständige temporale Stabilisierung erreicht werden“, meldete Laanvert.

„So positiv das auch ist, ich glaube kaum, dass unsere Maßnahmen dafür verantwortlich sind“, stellte Shyylvert klar.

„Das nicht“, gestand Laanvert zu. „Aber immerhin konnten diese Maßnahmen unser aller Existenz erhalten. Und das ist ja auch etwas.“

„Trotzdem würde ich zu gerne wissen, wo die Quelle des Zeitrafferfeldes gewesen ist, die das alles ausgelöst hat.“

„Diese Frage zu beantworten dürfte jetzt noch schwieriger sein als bisher, Shyylvert. Schließlich gibt es nichts mehr, an dem wir die Suche ansetzen könnten.“

„Möglicherweise ist diese Quelle auch in eine parallele Zeitebene abgedrängt worden.“

„Dann werden wir in Kürze Schwierigkeiten bekommen, uns an ihre Existenz zu erinnern.“

Plötzlich ertönte ein Alarmsignal. Eine Holo-Säule baute sich automatisch auf. Die Ortungssysteme der Torstation 5 hatten etwas aufgezeichnet, das vom Rechnersystem als bedeutend genug eingestuft worden war, um Alarm auszulösen.

Die Holo-Säule vermittelte nicht optische Eindrücke, sondern emittierte darüber hinaus eine Reihe weiterer Sinneswahrnehmungen, von denen viele nur den Rolefern zugänglich waren.

„Es wurde ein Objekt geortet, dessen Größe die Toleranzgrenze bei Weitem überschreitet“, meldete die Kunststimme des Rechnersystems.

„Heranzoomen!“, befahl Shyylvert. „Sinnesemission auf maximale Intensität.“

Eine gewaltige goldene Kugel wurde auf der Holo-Säule sichtbar, die mit immenser Geschwindigkeit auf Gogran zustrebte.

Ein Geschoss von wahrhaft kosmischen Ausmaßen.

„Ich möchte eine vorläufige Analyse haben“, verlangte Shyylvert, während in einem abgeteilten Fenster der Holo-Säule plötzlich Kolonnen von Zeichen erschienen.

Aber er ahnte bereits, was da zu sehen war.

*

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TREVLEF BEFAND SICH an Bord eines Canyaj-Shuttles und war auf dem Weg zur Torstation 1.

Das Shuttle bestand vollständig aus dem kristallinen Körper eines Canyaj, in dessen Inneren der Tormeister nun durch den Orbitalbereich von Gogran flog.

Es gab eine Sauerstoffversorgung, aber keine künstliche Schwerkraft an Bord des Canyaj-Shuttles. Beides war nur notwendig, wenn empfindlichere organische Organismen an Bord waren. Die Atemluft innerhalb des Canyaj-Shuttles wurde nicht erneuert und der Sauerstoffanteil wäre für Menschen viel zu niedrig gewesen. Die Atemluft diente streng genommen auch nicht in erster Linie der Atmung, sondern der verbalen Verständigung, die im Vakuum nicht möglich gewesen wäre.

Der Luftdruck war sehr niedrig und reichte gerade aus, um die akustische Ein- und Ausgabe benutzen zu können.

Nur sehr wenige rein organische Wesen hätten im Inneren des Shuttle überleben können.

Die meisten wären jedoch schlicht und ergreifend zu empfindlich gewesen.

Ein Mensch etwa wie der weibliche Klon, der mit dem Bhalakiden-Schiff an der Station im intergalaktischen Leerraum angedockt und anschließend die Reise ins Gogran-System mitgemacht hatte.

Josephine ...

Dass Josephine ein Klon war, hatte Trevlef schon nach dem ersten Routine-Scan gewusst. Und im Übrigen war ein Klon auch nur bei den Spezies etwas besonderes, die sich traditionellerweise auf andere Weise fortpflanzten.

Hätten wir die Krise verhindern können, wenn Josephine und Oziroona nicht hierhergeholt worden wären?, überlegte er.

Die Frage ließ sich nicht so leicht beantworten. Einerseits gab es schon eine gerade temporale Linie von einem Krisenpunkt in der Vergangenheit aus bis zu dem Zeitpunkt, da beide im Gogran-System erschienen waren. Andererseits gab es immer noch andere Faktoren, die auch eine Rolle spielten und deren Zusammenwirken nicht kalkuliert werden konnte. Andernfalls wären wir in der Lage, die Zukunft exakt vorherzusagen. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt immer nur Möglichkeiten. Optionen. Possibilitäten und Tendenzen. Nicht mehr ...

Die Frage, ob seine Autorität etwas gelitten hatte, weil schließlich eine von Noleek vorgeschlagene Maßnahme zur Abwehr der Gefahr beigetragen hatte, interessierte ihn weniger.

Er hatte schließlich alles erreicht, was ein Tormeister erreichen konnte. Irgendwann kam immer der erste Irrtum. Mitunter zeigte sich dadurch, dass es Zeit war, den Platz in der ersten Reihe zu räumen und Jüngeren den nötigen Spielraum zu lassen. Aber im Moment hielt sich Trevlef noch für unverzichtbar.

Der Innenraum des Canyaj-Shuttles glich einer schmucklosen Kristallhöhle. Trevlef schwebte im schwerelosen Vakuum. Ein Rolefer konnte notfalls eine ganze Weile auf die Zufuhr von Sauerstoff verzichten. Eine Atmung im klassischen Sinn fand in den achtförmigen Elementen, aus denen sein wurmartiger Körper geformt war, ohnehin nicht statt.

Der Tormeister hatte um etwas Licht gebeten und der Canyaj, der das Shuttle war, hatte ihm diesen Wunsch gerne füllt und mit seinem Körper ein paar Leuchtzonen geschaffen, die wie fluoreszierende Bereiche im Kristall wirkten.

Der Name des Canyaj war Tamrac. Er war gleichzeitig Pilot und Schiff. Die enorme Anpassungsfähigkeit der anorganischen Bewohner Gograns faszinierte Trevlef immer wieder. Es schien keinen Bereich des Universums zu geben, den sie nicht potentiell zu erobern vermochten. Einzigartig waren sie keineswegs. Es gab eine Vielzahl anorganischer Lebensformen, von denen allerdings nur wenige die Komplexität erreicht hatten, die für die Canyaj kennzeichnend war. Von diesen wenigen Spezies wiederum hatte nur ein verschwindend geringer Anteil letztendlich Intelligenz entwickelt und gelernt, die Raumfahrt zu beherrschen.

Aber einzig und allein die Canyaj waren offenbar in der Lage, ihre Fähigkeiten so zu nutzen, dass sich daraus auch ein immenses Militärpotenzial ergab.

Ein Potenzial, das von den Gegnern häufig überschätzt wurde. So stark, wie es von außen schien, waren die Canyaj von Gogran nämlich keinesfalls.

„Wir sind euch Rolefern und den Noleek zu Dank verpflichtet“, sagte Tamrac. Die nonverbalen, über teils sehr spezielle Sinne verbreiteten Signale, die der Canyaj dazu aussandte, passten zu dem, was er gesagt hatte. Da gab es – zumindest nach Trevlefs Auffassung – keinerlei Bruch oder doppelte Botschaft in dem, was der Canyaj an vielfältigen Äußerungen emittierte.

Ein ähnliches Echo war ihm bereits auf Gogran förmlich entgegengeschlagen.

Die Canyaj empfanden echte Dankbarkeit oder doch zumindest etwas, das dieser Emotion sehr nahekam. Sie wussten, dass sie ihre Existenz nur der Hilfe durch die Rolefer und die Noleek verdankten.

„Jeder auf Gogran denkt jetzt darüber nach, ob dieser sichere Zustand für länger anhält oder ob die Entartung der Zeit irgendwann wieder einsetzt“, sagte Tamrac.

„Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dies so sein könnte“, hielt Trevlef dem entgegen.

„Der Effekt war künstlichen Ursprungs, aber es ist nie gelungen, die Quelle dieses Zeitrafferfeldes zu finden – oder diejenigen, die es errichtet haben.“

„Das ist richtig.“

„Daher ist es jederzeit möglich, dass der Prozess wieder in Gang gesetzt wird.“

„Wir können es zumindest nicht ausschließen.“

Der Rolefer schwebte einmal quer durch den Innenraum, als der Canyaj ihm die Sicht nach außen ermöglichte. Ein Teil der kristallinen Außenwand wurde transparent. Die Station wurde in all ihrer Schönheit und technischen Vollkommenheit sichtbar. All die achtförmigen Strukturelemente, die ineinander verwoben waren, erzeugten in ihrer Gesamtheit einen riesigen Komplex.

Überall im System der Canyaj flogen jetzt wieder Raumschiffe, von denen die meisten aus Canyaj-Körpern bestanden. Während der temporalen Krise war das nicht möglich gewesen. Zu riskant. Die Auswirkungen waren nicht vorhersehbar, weder für das betreffende Schiff noch für die temporale Stabilität des Systems.

„Eine Meldung der Station 1 trifft ein“, sagte die Stimme von Tamrac. „Dringend.“

Eine Holo-Säule erschien.

Boolvert erschien dort in Lebensgröße.

„Ein riesiges Objekt wurde geortet. Es schießt auf Gogran zu und bremst jetzt langsam ab.“

Auf der Holo-Säule erschien eine herangezoomte Ansicht des Objekts. Dazu wurden die Daten in einem Nebenfeld angezeigt.

„Das ist unglaublich!“, entfuhr es Trevlef. „Was sagen die Noleek dazu?“

„Sie sind fassungslos. So wie wir.“

„In welcher Absicht ist das Objekt hier?“

„Das versuchen wir gerade herauszufinden. Und natürlich fragen wir uns alle auch, ob sein Auftauchen mit dem Verschwinden des Zeitrafferfeldes zu tun hat.“

„Vielleicht begegnen wir nun denen, die das Zeitrafferfeld geschaffen haben!“

*

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EIN CANYAJ, DESSEN Körper die Form einer Pyramide besaß und der über mindestens dreißig Extremitäten verschiedener Länge verfügte, von denen ein Drittel zur Fortbewegung und die anderen zwei Drittel mit verschiedenartigen Greiforganen ausgestattet waren, trat auf Josephine und Oziroona zu, die sich noch immer in der Nähe des Kgonarg im Freien aufhielten. Das Klima auf Gogran war mild und gemäßigt. Kein Wind, kein Niederschlag, keine Schwankungen. Selbst der Unterschied zwischen Tag und Nacht war kaum zu spüren. Josephine hatte keine Erklärung dafür. Entweder die Canyaj verfügten über eine so hoch entwickelte Technik zur Klimasteuerung, dass sie tatsächlich in der Lage waren, diese, mathematisch gesehen, eigentlich chaotischen Prozesse zu steuern oder das Kgonarg befand sich in einer günstigen Zone.

Was will dieser hässliche Pyramidenzwerg?, waren Oziroonas Gedanken sehr deutlich in Josephines Kopf zu hören. Josephine hoffte nur, dass Oziroona diesen telepathischen Strom ausschließlich an sie geschickt hatte, sodass ihn der Canyaj nicht mitbekommen konnte.

Der Canyaj hielt mit vier seiner Greifarme jeweils einen zylindrischen Behälter.

„Nehmt davon“, sagte der Canyaj. „Jeder von euch bekommt einen roten und einen gelben Behälter.“

Geschenken aller Art sollte man misstrauen, fand Oziroona. Ich frage mich, mit welcher Absicht sie gegeben werden.

„Mit der Absicht, euch zu helfen“, sagte der Canyaj ungerührt.

„Was ist in den Behältern?“, fragte Josephine.

„Nährstoffe und H2O. Ihr seid organische Wesen und habt einen regelmäßigen Bedarf daran. Dass wir nicht daran gewöhnt sind, Organische zu beherbergen, mag sein. Wir haben die Noleek um Rat gefragt und die Zusammensetzung der Nährkonzentrate dürfte für euer beider Spezies verträglich sein. Was das H20 angeht, so haben wir ein paar Mineralien zugesetzt.“

Josephine nahm die beiden Behälter, die für sie bestimmt waren.

Das Wasser trank sie zuerst. Sie hatte schrecklichen Durst, aber in letzter Zeit kaum daran gedacht, etwas zu essen oder zu trinken.

In dem zweiten Behälter befand sich eine breiige Masse. Sie schmeckte ziemlich fade, aber Josephine war froh, überhaupt etwas zu bekommen.

„Dies ist eine Wohltat des Kgonarg und des großen Ganzen“, sagte der Canyaj. „Ich hoffe, ihr wisst sie auch zu schätzen. Die Herstellung von Nahrungsmitteln für Organische ist äußerst aufwändig und verschlingt eigentlich unverhältnismäßig viele Ressourcen.“

„Wir danken dem Kgonarg und dem großen Ganzen“, sagte Josephine.

Oziroona zögerte, ehe sich alte Noroofin diesem Dank etwas weniger enthusiastisch anschloss.

Das ist scheußlich, äußerte sie in einem Gedankenstrom, der offenbar nur an Josephine gerichtet war. Zumindest gab es von Seiten des Canyaj keinerlei Reaktion darauf.

Sie flößte sich mit Schmatz- und Sauggeräuschen den Inhalt der beiden Behälter ein. Jünger macht mich das auch nicht, es gleicht nur einen momentanen Mangel aus, meinte die Noroofin.

Ein Lächeln glitt über Josephines Lippen.

Ein Lächeln, das niemand auf dieser Welt als solches zu erkennen vermochte.

„Mehr zu verlangen, wäre auch wohl ein bisschen übertrieben“, meinte sie an Oziroonas Adresse gerichtet.

„Findest du?“, fragte Oziroona, die sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder akustisch äußerte.

Der vielarmige Canyaj meldete sich wieder zu Wort.

„Wenn ihr noch einen Wunsch habt, dann sprecht ihn bitte aus. So weit es in meiner Macht steht, wird man ihn erfüllen.“

„Danke“, sagte Josephine.

Der Canyaj lief auf seinen ungelenk wirkenden Extremitäten davon und verschwand zwischen all den bizarren Silizium-Wesen.

Dieses Gebräu wird mir den Rest geben, glaubte Oziroona. Womit habe ich das verdient? Gestrandet zwischen den Galaxien und einer temporalen Krise entronnen sterbe ich nun an schlechtem Essen ...

„Vielleicht übertreibst du ein bisschen.“

Einen Moment lang spürte Josephine die Präsenz der Noroofin etwas stärker. Offenbar ein kleiner emotionaler Ausbruch. Wut und Selbstmitleid mischten sich da. Aber sie hatte einfach nicht die mentale Kraft, die sie früher ausgezeichnet hatte.  Oziroona war ein Schatten ihrer selbst und Josephine war froh darüber.

Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen.

Jedenfalls nicht die individuelle Lebenszeit Oziroonas.

Josephine beruhigte das.

Andernfalls hätte sie ständig fürchten müssen, von ihr übernommen zu werden.

Du schirmst deine Gedanken vor mir ab.

„Ist das nicht mein gutes Recht?“

Recht? Was soll das sein? Es gibt ein einziges Gesetz im Universum. Und das ist das Recht des Stärkeren.

„Und der bin im Moment ich“, stellte Josephine kaltschnäuzig fest.

Oziroona schwieg eine Weile.

Dann stimmte sie Josephine sogar zu. Du hast Recht. Aber ein verworrenes Schicksal hat uns nun einmal zusammen auf diese Welt geführt. Wir können diesen Umstand beide verfluchen oder uns fragen, ob es nicht für uns beide klüger gewesen wäre, in der Vergangenheit andere Entscheidungen zu treffen.

„Das wäre es wahrscheinlich!“, nickte Josephine. Ich hätte auf der CAESAR bei Bradford bleiben sollen. Aber was geschehen ist, ist nun einmal geschehen. Es gibt nur einen Weg, der vorwärts führt. Also hör auf mit dem Gejammer. In puncto Selbstmitleid kommst du ja schon fast an Oziroona heran ...

Oziroona äußerte nun ein paar Gedanken, die Josephine nicht verstand.

Wirres Zeug. Bilder und semantische Bedeutungseinheiten, die Josephine wie Splitter des eigentlichen Gedankens erschienen. Waren das die Erscheinungen des Alters bei Oziroona?

Eine Art noroofischer Demenz?

Aber was die Noroofin mitzuteilen hatte, interessierte Josephine im nächsten Moment ohnehin nicht mehr sonderlich.

Es war die Aufregung innerhalb des Kgonarg, die Josephine darauf aufmerksam machte, dass etwas Besonderes im Gange war.

Im nächsten Moment sah sie es selbst. Ein Objekt erschien am Taghimmel von Gogran.

Es hob sich zunächst dunkel gegen das Sonnenlicht ab, wurde dann größer und größer. Schließlich schimmerte es metallisch.

Eine gewaltige goldene Kugel, so groß wie ein Mond, hing über dem Horizont, sank immer tiefer und gewann dabei noch weiter an Größe.

„Ein Schiff der Bhalakiden!“, stieß Josephine hervor. „Das Ding misst mindestens tausend Meter im Durchmesser!“

Was wollen die hier?, fragte Oziroona.

Aber diese Frage konnte im Moment nicht einmal das Kgonarg beantworten, in dem es ununterbrochen raunte. Die kristallinen Strukturen veränderten sich. Sie wuchsen zusammen, teilten sich auf und kommunizierten dabei unentwegt.

Josephine konnte davon so gut wie nichts mitbekommen.

Sie hatte auf dem Boden gekauert und ihre Mahlzeit beendet.

Jetzt schickte sie sich an zu gehen.

„Wohin willst du?“, fragte Oziroona. Ihre Stimme drang kaum durch das Geraune des Kgonarg, wurde aber durch einen sehr starken, sehr präsenten Gedankenstrom unterstützt, sodass Josephine regelrecht zusammenzuckte.

„Ich will Calrop suchen ...“

Oziroona schickte sich an, ebenfalls zu gehen.

Es ist noch nicht lange her, da war er hier in der Nähe ... Warte auf mich!

Oziroona folgte Josephine, aber die Gen-Android Frau kümmerte sich nicht weiter um die Noroofin. Sie ließ den Blick schweifen und versuchte, inmitten dieses unübersichtlichen Durcheinanders der bizarrsten Formen den Sprecher des Kgonarg zu entdecken.

Manche der Stimmen, die sie dabei vernahm, verstand sie jetzt.

„Wir müssen Gegenmaßnahmen ergreifen!“

„Die Fremden müssen wissen, wer Herr dieses Systems ist!“

„Auf unsere Kontaktversuche haben sie nicht reagiert!“

„Alarm für sämtliche Streitkräfte. Kampfraumschiffe sollen sofort starten. Gefechtsbereitschaft wird in Kürze hergestellt sein.“

Dann fand sie Calrop.

Er hatte eine Holo-Säule aktiviert. Kolonnen von Zeichen erschienen dort. In einigen Bildfenstern waren sowohl Noleek als auch Rolefer zu sehen. Allerdings schien nun ein Teil der Kommunikation auf nonverbaler Ebene abzulaufen. Allen Beteiligten schienen noch weitaus schnellere Übermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stehen.

Überall am Himmel konnte man jetzt Canyaj-Schiffe unterschiedlichster Größe sehen, die gestartet waren, um sich dem vermeintlichen Aggressor entgegenzustellen.

Das gesamte Firmament war nach kurzer Zeit von dieser Armada erfüllt. Und alle Einheiten, die sich gegenwärtig bereits an anderen Orten im Gogran-System aufhielten, wurden umgehend zurückgerufen, damit sie ebenfalls der Verteidigung des Canyaj-Planeten zur Verfügung standen.

Die Kontaktversuche zu dem goldenen Schiff scheinen allesamt zu scheitern!, kommentierte Oziroona, was sich vor ihren Augen abspielte.

Jetzt bemerkte Calrop Josephine und Oziroona.

„Was sind die Absichten des goldenen Schiffs?“, fragte Josephine.

Calrop verharrte einige Augenblicke lang regungslos. Er antwortete auch nicht sofort. Eine eigenartige Starre hatte ihn befallen. Vielleicht handelte sich einfach um die Canyaj-Entsprechung eines fassungslosen Innehaltens. Er machte auf Josephine einen ziemlich ratlosen Eindruck.

Dann durchlief eine ruckartige Bewegung seinen kristallinen Körper.

„Es ist kein Schiff“, sagte er.

„Kein Schiff?“

„Das Objekt hat einen Durchmesser von hundert Kilometern!“, erklärte Calrop und Josephines Übersetzungschip übertrug dabei die Maßangabe gleich in eine Einheit, unter der sie sich etwas vorzustellen vermochte.

„Dann ist es eine ganze Xaradim-Station!“, stieß Josephine hervor.

Die Erkenntnis traf Josephine wie ein Schlag vor den Kopf. Es musste also möglich sein, diese gigantischen, normalerweise jenseits des Ereignishorizonts der zentralgalaktischen schwarzen Löcher fixierten riesigen Stationen, deren Verbund ein unermesslich großes Transportsystem auf Transmitterbasis darstellte, aus ihrer Verankerung zu lösen und frei zu manövrieren wie ein Raumschiff.

Du hast gedacht, dass die Gefahr vorüber ist – und jetzt stehen wir vor Kampfhandlungen ungeahnten Ausmaßes, du ängstliche Menschen-Frau!, lautete Oziroonas zynischer Kommentar.

Calrop wandte sich an Josephine.

„Du weißt, was das für ein Objekt ist?“

„Ja.“

„Dann sprich. Welches Volk baut derartige Dinge?“

„Das wiederum weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Objekte dieser Art von dem halbenergetischen Volk der Bhalakiden im Auftrag der eigentlichen ERBAUER verwaltet werden.“

„Du sprichst in Rätseln.“

„Ich werde es dir erklären, Calrop. Ich bin sogar schon einmal an Bord eines derartigen Objekts, wie du es nennst, gewesen und eigentlich ist sein Platz hinter dem Ereignishorizont eines zentralgalaktischen Schwarzen Lochs ...“

Josephine begann zu erzählen und trotz der Hektik, die im Kgonarg nun auszubrechen drohte, hörte Calrop ihr zu. Nur für die wichtigsten Fakten war jetzt Zeit.

„Glaubst du, es lohnt die Mühe, Kontakt mit der Besatzung aufzunehmen?“, fragte Calrop.

„Natürlich. Wer immer dieses Ding zu fliegen versteht, verfügt über ein technisches Wissen, das dem euren weit voraus ist.“

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Kapitel 3: Die Verschwundenen

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Vergangenheit - Hundert Erdenjahre vor Josephines Zeitebene

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JOHN BRADFORD WAR EINS mit dem Schiff, dem er den Namen CAESAR gegeben hatte. ALGO-DATA war die Bezeichnung gewesen, die dem Raubvogelschiff einst von seinen noroofischen Besitzern gegeben worden war. Aber die Tage, da Ozobeq, Oziroona und die anderen Hirten das Schiff verlassen hatten, waren lange vorbei.

Jetzt wurde der Name ALGO-DATA nur noch zur Bezeichnung des Bordrechners benutzt.

Vergangenheit, dachte John Bradford. Aber welche Rolle spielte der Begriff noch in Anbetracht der dramatischen temporalen Odyssee, die das Schiff hinter sich hatte.

Relativzeit, dachte Bradford. Vielleicht ist das der Begriff, der es am ehesten trifft.

Bradford lag in einem der Steuersarkophage in der Zentrale der CAESAR. Mit ALGO-DATAs Hilfe steuerte er das Schiff direkt. Er war eins mit den Sensoren ebenso wie mit der Steuerung und den anderen Schiffssystemen. Für die Dauer seines Aufenthalts im Sarkophag war die CAESAR zu seinem Körper geworden. Einem Körper, den er absolut beherrschte, seit ALGO-DATA ihn als Kommandanten anerkannt hatte.

Eine Woche noch und sie würden das Sol-System erreichen.

Über die Situation, die Bradford und seine Getreuen vorfinden würden, konnten sie nur spekulieren.

ALGO-DATA!, wandte sich Bradford an die Gedankensteuerung des Bordrechners.

Die KI gab sich dienstbar. Was kann ich für dich tun, John Bradford?

Ich möchte, dass du noch einmal alle Systeme überprüfst!, forderte Bradford.

Unter welchem Aspekt? Geht es dir um Rograk?

Natürlich ging es um Rograk, die rätselhafte Entität der ERBAUER – jener Spezies, die die Xaradim-Stationen geschaffen und später den Bhalakiden zur Verwaltung übergeben hatte, ehe sie vom Antlitz des Universums verschwunden war.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738919646
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
galaxienwanderer eine krise raumzeit

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Galaxienwanderer - Eine Krise der Raumzeit