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Ein Ermittler namens Jesse Tevellian: Fünf Kriminalromane auf 1000 Seiten

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 1000 Seiten

Zusammenfassung

Ein Ermittler namens Jesse Trevellian: Fünf Kriminalromane auf 1000 Seiten
Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Und immer anders, als man zuerst denkt.

Gesamtumfang: 1000 Taschenbuchseiten.

Dieses Buch enthält die Krimis:

Alfred Bekker: Die toten Frauen

Alfred Bekker: Killer ohne Namen

Alfred Bekker: Killer ohne Reue

Alfred Bekker: Killer ohne Gnade

Alfred Bekker: Killer ohne Skrupel

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Ein Ermittler namens Jesse Trevellian: Fünf Kriminalromane auf 1000 Seiten

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KRIMIS DER SONDERKLASSE - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Und immer anders, als man zuerst denkt.

Gesamtumfang: 1000 Taschenbuchseiten.

Dieses Buch enthält die Krimis:

Alfred Bekker: Die toten Frauen

Alfred Bekker: Killer ohne Namen

Alfred Bekker: Killer ohne Reue

Alfred Bekker: Killer ohne Gnade

Alfred Bekker: Killer ohne Skrupel

––––––––

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ALFRED BEKKER IST EIN bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Copyright

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EIN CASSIOPEIAPRESS Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Die toten Frauen

von Alfred Bekker

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DER UMFANG DIESES BUCHS entspricht 120 Taschenbuchseiten.

Ein Frachter mit grauenerregender Ladung erreicht den Hafen. Und die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Von den Opfern dieser unheimlichen Mordserie ist nicht viel geblieben – und das wenige muss ausreichen, um die Täter zu überführen!

Packender Kriminalroman von Alfred Bekker.

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Copyright

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EIN CASSIOPEIAPRESS Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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1

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DER FRACHTER JAMAICA BAY hatte den Hafen von Manhattan gerade verlassen. Unsere Aktion war sorgfältig und bis ins letzte Detail geplant, aber aus irgendeinem Grund hatte das Schiff eine Viertelstunde früher abgelegt und befand sich jetzt auf halbem Weg nach Coney Island.

Megafonstimmen ertönten und vermischten sich mit den Motorengeräuschen von Schnellbooten. Ich konnte kaum verstehen, was sie sagten, was daran lag, dass ich mich zusammen mit einigen anderen G-men an Bord eines Helikopters befand, der sich im Anflug auf die JAMAICA BAY befand. Agent Brad Thomas, einer der Helikopter-Piloten des FBI Field Office New York, ließ die Maschine auf dem Ladedeck nieder gehen.

Die Besatzung an Deck wirkte wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Eine MPi knatterte. Das Mündungsfeuer leckte blutrot aus dem kurzen Lauf einer Uzi heraus. Ein paar Projektile schlugen dicht über mir in die Außenpanzerung des Helis ein. Ein weiterer Schuss blieb im Spezialglas der Scheibe stecken.

Der Heli setzte auf.

Ich stürzte durch die offene Außentür hinaus. Die Dienstwaffe hielt ich mit beiden Händen. Ich riss die SIG Sauer P226 hoch und feuerte kurz hintereinander fünf Schuss aus dem Magazin.

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ICH DUCKTE MICH, FEUERTE erneut. Dicht hinter mir befanden sich meine Kollegen Milo Tucker und Fred LaRocca. Alle an diesem Einsatz beteiligten FBI-Agenten trugen Kevlar-Westen und waren über Headset miteinander verbunden.

Der Kerl, der mit der Uzi auf uns geschossen hatte, ballerte jetzt nahezu ungezielt in der Gegend herum. Er schwenkte die Waffe seitwärts, während er vorwärts stolperte. Seine Komplizen schwenkten ebenfalls die Waffen. Automatische Pistolen, Pump Guns und MPis unterschiedlicher Fabrikate waren darunter.

Tonnenweise Sondermüll befand sich an Bord der JAMAICA BAY, einem Frachter, der seine beste Zeit sicherlich hinter sich hatte. Im Verlauf von monatelangen Recherchen war das FBI Field Office New York einer Organisation auf die Spur gekommen, die Giftmüll illegal entsorgte. Dieser Zweig des organisierten Verbrechens, auch Müll-Mafia genannt, hatte längst mit den traditionellen Betätigungsfeldern des organisierten Verbrechens wie dem Drogen- und Waffenhandel gleichgezogen. Die Gewinnspannen waren enorm, wenn giftige Industrieabfälle, die eigentlich teuer hätten entsorgt werden müssen, einfach auf einem von Strohmännern angekauften Industriegelände abgestellt oder in ein Entwicklungsland ausgeschifft wurden, wo die Vorschriften weniger streng waren. Durch eine Abhöraktion hatten wir von der illegalen Fracht der JAMAICA BAY erfahren. Zeitgleich mit unserem Einsatz liefen an einem halben Dutzend anderer Orte Durchsuchungs- und Verhaftungsaktionen.

Schüsse peitschen an uns vorbei.

Mehrere Schnellboote der Küstenwache und der Hafenpolizei hatten inzwischen längsseits der JAMAICA BAY angelegt. Sowohl FBI-Agenten als auch Beamte von Hafenpolizei und Küstenwache stiegen an Bord.

Spätestens jetzt war für die Bewaffneten an Deck der JAMAICA BAY klar, dass sie keine Chance hatten.

Der Kerl, der mit der MPi auf uns geschossen hatte, ergab sich. Ein Mann mit einer Pump Gun gab einen letzten, schlecht gezielten Schuss in unsere Richtung ab, bevor er in einer Ladeluke verschwand.

Die anderen waren vernünftiger und hoben die Hände.

Clive Caravaggio, der zweite Mann unseres Field Office und Einsatzleiter bei dieser Aktion, stieg zusammen mit seinem Partner Orry Medina und anderen G-men über die Reling der JAMAICA BAY.

Bald darauf klickten die ersten Handschellen und den Verhafteten wurden die Rechte vorgelesen.

Milo und ich stürmten die Treppe hinauf zur Brücke. Fred LaRocca war uns dicht auf den Fersen. Milo riss die Tür auf, ich stürzte mit der SIG in beiden Händen hinein.

Kapitän, Steuermann und ein Bewaffneter befanden sich auf der Brücke der JAMAICA BAY. Der Bewaffnete war ein breitschultriger Kerl mit roten Haaren, über dessen linker Schulter eine Uzi hing. Er griff zur Waffe, riss die äußerst zierliche Maschinenpistole herum und drückte ab.

Ich feuerte einen Sekundenbruchteil früher als er. Die erste Kugel aus meiner SIG erwischte ihn an der Schulter und riss ihn zur Seite. Er taumelte. Sein eigener Schuss wurde verrissen. Anstatt mich zu perforieren, stanzten die relativ kleinkalibrigen Uzi-Projektile eine Spur von kleinen Löchern in die Wand und ließen schließlich auch noch eine Scheibe zerspringen.

Der Rothaarige taumelte zwei Schritte zurück, prallte gegen eine Wand und riss seine Waffe noch einmal hoch, während er zu Boden rutschte.

Ich ließ es nicht dazu kommen, dass seine MPi noch einmal losknatterte. Mein zweiter Schuss traf ihn mitten im Oberkörper.

Regungslos sackte der Rothaarige vollends zu Boden. Seine Augen waren starr, der Mund halb geöffnet.

Ich trat näher und stellte fest, dass er nicht mehr lebte.

„Er hat dir keine andere Wahl gelassen“, stellte Milo fest.

Kapitän und Steuermann standen wie angewurzelt da. Fred LaRocca tastete sie kurz ab und stellte beim Steuermann eine  Waffe vom Kaliber neun Millimeter sicher. Der Kapitän war unbewaffnet.

„Sie sind verhaftet“, erklärte mein Kollege Milo Tucker ihnen. „Alles, was Sie von nun an sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden, falls Sie nicht von Ihrem Recht zu schweigen Gebrauch machen...“

„Wir werden uns nicht äußern, bevor wir nicht mit einem Anwalt gesprochen haben“, erklärte der Kapitän.

„Das ist Ihr gutes Recht“, sagte Milo. „Aber Sie sollten auch bedenken, dass es juristisch sehr viel günstiger für Sie ausgehen kann, wenn Sie sich zu einer frühen Aussage entschließen. Denn irgendjemand unter den schätzungsweise fünfzig oder sechzig Verhaftungen, die im Moment gerade durchgeführt werden, wird reden.“

„Fragt sich nur, wer sich zuerst dazu entschließt“, ergänzte ich.

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ALLE MASCHINEN WURDEN auf Stopp geschaltet. Aber bis ein Schiff wie die JAMAICA BAY ihre Fahrt spürbar verlangsamte, dauerte es eine Weile. Glücklicherweise hatten wir Unterstützung durch die Hafenpolizei. In deren Reihen gab es Mitarbeiter, die ein Schiff von dieser Größe führen konnten.

Da sich sowohl der Kapitän als auch der Steuermann weigerten, uns in irgendeiner Form zu unterstützen, blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten, bis zwei dieser Beamten auf der Brücke eintrafen und die Führung des Schiffes übernahmen.

Wir führten die Gefangenen ab. Auf dem Hauptdeck wurden sie von Kollegen in Empfang genommen, die sie auf Boote der Hafenpolizei verfrachteten.

Unser Kollege Clive Caravaggio kam uns entgegen.

„Das dürfte einer der größten Schläge gegen die Müllmafia seit mindestens einem Jahr sein“, meinte er.

„Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben“, erwiderte ich. „Erst wenn sich die vermuteten Giftfässer tatsächlich an Bord der JAMAICA BAY befinden, haben wir eine juristische Handhabe – und dann fragt sich immer noch, ob uns nur ein paar kleine Fische ins Netz gegangen sind, oder wir endlich auch an die Hintermänner herankommen, die diese miesen Geschäfte aufziehen!“

„Das werden wir schon“, versprach der flachsblonde Italoamerikaner. Er machte plötzlich ein angestrengtes Gesicht. Offenbar bekam er eine Meldung über sein Headset.

„Was ist los, Clive?“, hakte Milo nach.

„Mindestens einer der Kerle verschanzt sich noch unter Deck“, berichtete Clive.

Ich hob die Augenbrauen.

„Der Kerl, der versucht hat, unseren Helikopter mit seiner Uzi aus der Luft zu holen?“, hakte ich nach.

Clive nickte.

„Ganz genau.“

Dumpfe Laute dröhnten jetzt aus dem Inneren der JAMAICA BAY. Schussgeräusche.

„Ein paar Kollegen sind ihm bereits unter Deck gefolgt...“, erklärte Clive.

„Hört sich an, als bräuchten die ein bisschen Unterstützung!“, mischte sich Milo ein.

Im nächsten Augenblick meldete sich einer der Kollegen über Headset. Er hieß Whit Pacey, war seit zwei Monaten vom FBI Field Office Florida zu uns versetzt worden. Aber Agent Pacey kam gar nicht mehr dazu, seinen Bericht abzugeben.

Noch ehe er den ersten Satz vollendet hatte, hörten wir  alle den Knall über die Headsets. Dann war Stille. 

Ich sah, wie Clive unwillkürlich die Hand zur Faust ballte.

„Verdammt“, murmelte er.

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ICH STIEG DIE TREPPE hinunter, die Dienstwaffe in der rechten. Meine Kollegen Milo Tucker und Fred LaRocca folgten mir. Etwas später folgten noch die Agenten Jay Kronburg  und Leslie Morell.

Mit den Dienstwaffen im Anschlag arbeiteten wir uns in den engen Gängen des Zwischendecks vor. An insgesamt fünf Positionen waren Kollegen von uns ins Innere der JAMAICA BAY eingedrungen, um den Uzi-Schützen aufzuspüren.

„Ich frage mich, warum dieser Kerl hier so ein Theater veranstaltet", raunte Milo mir zu. „Sich jetzt noch da unten einzuigeln, grenzt doch schon fast an eine Art Amoklauf!“

Milo hatte Recht und genau dieser Punkt hatte auch mich stutzig gemacht.

Natürlich hatten wir es auch immer wieder mit psychopathischen Tätern zu tun, denen es wichtiger war, ihren eigenen Tod wirkungsvoll zu inszenieren, als zu überleben. Gestörte Persönlichkeiten, für die Polizisten oder G-men letztlich nur die Rollen von Statisten in einer selbstmörderischen Inszenierung einnahmen.

Aber im Bereich der organisierten Kriminalität kam dieser Tätertyp nur in Ausnahmefällen vor. Normalerweise ergaben sich Täter, wenn sie gestellt wurden und tatsächlich  keinerlei Chance mehr bestand, aus der Situation herauszukommen. Ein großartiges Blutbad anzurichten machte auch im Hinblick auf die juristische Behandlung des Falles keinen Sinn, denn wenn sie auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft aus waren, mussten sie sich kooperativ verhalten.

Das Verhalten des Uzi-Schützen mache also nur unter der Voraussetzung Sinn, dass er tatsächlich glaubte, noch irgendeine Fluchtoption zu haben.

Oder es ging um die Vernichtung von Beweismitteln...

In jedem Fall war es wichtig, dass wir diesen Job so schnell wie möglich erledigten. 

Der einzige ungefähre Anhaltspunkt für den gegenwärtigen  Aufenthaltsort des Uzi-Killers war die letzte Position von Agent Whit Pacey. Wir hatten sein Handy angepeilt. Das Signal kam aus einem der großen Lagerräume im Bauch der JAMAICA BAY. Über Headset erreichte uns eine Meldung unseres indianischen Kollegen Orry Medina, der sich dem Hauptladeraum zusammen mit ein paar weiteren Kollegen von der entgegengesetzten Seite näherte.

Wir arbeiteten uns weiter vorwärts, sicherten uns gegenseitig und erreichten schließlich den Hauptladeraum. Er war gefüllt mit Fässern unterschiedlicher Größe. Ein unangenehmer, stechender Geruch hing in der Luft. Wir fanden Agent Whit Pacey.

Er lag auf dem Boden zwischen zwei Fässern, die schon ziemlich verrostet waren. Milo und ich ließen den Blick schweifen und hielten dabei die Dienstwaffen mit beiden Händen. Fred LaRocca kümmerte sich um Agent Pacey. Er lebte nicht mehr. Ein halbes Dutzend Schüsse hatten ihn durchsiebt.

„Verdammt“, murmelte Fred. Er gab eine kurze Meldung per Headset an die Einsatzleitung.

In diesem Moment nahm ich eine Bewegung war. Der Uzi-Schütze tauchte hinter einem der Fässer hervor. Die Maschinenpistole knatterte los. Milo und ich schossen annähernd im selben Moment zurück. Der Uzi-Schütze taumelte zurück. Sein Körper zuckte unter unseren Treffern. Er schlenkerte mit dem Lauf seiner Waffe unkontrolliert herum, während sich gleichzeitig weitere Schüsse lösten. Projektile stanzten sich in die Blechwände des Laderaums. Teile der Beleuchtung zersprangen und Glassplitter von Neonröhren regneten zu Boden.

Offenbar trug der Uzi-Schütze unter seiner Kleidung eine Kevlar-Weste. Er ließ Milo und mir keine Wahl, als unablässig abzudrücken. Erst ein Treffer am Kopf schaltete ihn aus. Er taumelte gegen eines der Fässer. Eine letzte Sequenz von Schüssen löste sich aus dem kurzen Lauf der Uzi und durchlöcherte zwei Fässer. Aus den Einschusslöchern quoll eine gelbliche Flüssigkeit hervor.

Dann strauchelte der Uzi-Schütze zu Boden.

Milo und ich näherten uns vorsichtig.

Fred LaRocca folgte uns.

„Wir haben ihn!“, meldete ich über Funk an Orry und die anderen weiter.

Wir fanden den Uzi-Schützen schließlich reglos am Boden liegen. Das Blut, das aus der Wunde an seinem Kopf austrat, vermischte sich mit der übel riechenden gelblichen Flüssigkeit, die aus den durchlöcherten Fässern heraus quoll.

Seine Augen blickten starr und tot zur Decke. Ich steckte die Waffe ein, packte ihn an den Füßen und zog seinen Körper aus der anwachsenden gelben Lache heraus, während Milo über Funk Unterstützung anforderte.

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ER HAT UNS KEINE CHANCE gelassen“, sagte ich zehn Minuten später an Clive gewandt. „Es war fast so, als ob der Kerl es darauf angelegt hat, dass wir ihn erschießen!“

„Es macht euch auch niemand einen Vorwurf, Jesse!“, stellte  Clive klar.

Über Funk meldete sich ein Kollege der Hafenpolizei. Das Schiff war unter Kontrolle, sollte jetzt drehen und anschließend zurück nach Manhattan fahren.

Kollegen der Scientific Research Division, des zentralen Erkennungsdienstes aller New Yorker Polizeieinheiten, waren von Anfang an Teil der Operation gewesen. Mehrere Chemiker untersuchten stichprobenartig den Inhalt der Fässer, um abschätzen zu können, welche zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen waren.

Außerdem sahen sich mehrere Erkennungsdienstler des FBI auf der JAMAICA BAY um, darunter unsere Kollegen Sam Folder und Mell Horster.

Tom Gallego, der Einsatzleiter der SRD-Kräfte sprach uns an. Er trug einen Schutzanzug gegen austretende Giftstoffe. Eine Atemmaske hing ihm um den Hals und war jederzeit einsatzbereit.

„Es wäre gut, wenn der Laderaum so schnell wie möglich geräumt würde“, erklärte Gallego an Clive Caravaggio gerichtet. „Wir wissen noch nicht, was hier alles an Chemikalien lagert – aber so, wie es aussieht handelt es sich um hochtoxische, stark ätzende Stoffe. Es ist gut möglich, dass da noch einige üble Überraschungen ans Tageslicht kommen, wenn wir die Fässer öffnen.“

„In Ordnung“, stimmte Clive zu. „Wir überlassen Ihnen das Feld, Tom.“

Wir kehrten an Deck zurück und ich war froh, wieder frei durchatmen zu können. Mitarbeiter der SRD brachten die Leichen des Uzi-Schützen und unseres Kollegen Whit Pacey an Deck.

Unser Beruf bringt gewisse Risiken für Leib und Leben mit sich und man kann nie ganz ausschließen, in einem gefährlichen Einsatz wie diesem umzukommen. Aber ich werde mich wohl nie daran gewöhnen, dass Kollegen in Ausübung ihres Dienstes umkommen.

Zwei Monate war Agent Pacey in unserem Field Office tätig gewesen. Nur zwei Monate...

Einige der Kugeln, die ihn getroffen hatten, waren von der Kevlar-Weste abgefangen worden. Aber es gab auch einen Kopftreffer, der mit Sicherheit tödlich gewesen war.

Unser Kollege Leslie Morell durchsuchte die Kleidung des getöteten Uzi-Schützen. Der Blouson, der seinen Oberkörper bedeckte, war durch die Einschüsse zerfetzt. Darunter kam der graue Stoff einer Kevlar-Lage zum Vorschein.

Leslie stellte einen Führerschein sicher, der auf den Namen Jack Smith ausgestellt war.

„Ich würde nicht damit rechen, dass dieser Mann seine wahre Identität angegeben hat“, meinte Leslie.

Falls der Name Jack Smith falsch war, so hatte dieser Mann ihn mit der Absicht gewählt, nicht aufzufallen. Auf den ersten Blick war der Führerschein nicht als Fälschung erkennbar.

„Ich frage mich, was dieser Mann sich davon versprochen hat, sich buchstäblich bis zum letzten Atemzug gegen eine Verhaftung zu wehren“, meinte Milo.

„Ich vermute, dass er nichts zu verlieren hatte“, gab ich zurück.

„Ein dicker Fisch?“

„Jedenfalls jemand, der nicht auf irgendeine Art von Entgegenkommen durch die Justiz hoffen konnte, Milo.“

„Wahrscheinlich hat der darauf spekuliert, sich irgendwo in den zahllosen Luken und kleinen Nebenstauräumen versteckt halten zu können, um dann vielleicht doch eine Chance zur Flucht wahrzunehmen.“

Auf jeden Fall erwartete ich, dass der Mann, der sich Jack Smith nannte, ein umfangreiches Dossier in den über das Datenverbundsystem NYSIS zugänglichen Daten über Kriminelle vorweisen konnte.

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EINE DREIVIERTELSTUNDE später legte die JAMAICA BAY an Pier 17 an. Dort warteten bereits weitere Einsatzkräfte der SRD auf ihren Einsatz, darunter auch der Gerichtsmediziner Dr. Brent Claus. Außerdem Spezialisten, deren Aufgabe es war, möglichst schnell zu analysieren, was genau sich in den Giftfässern befand, die die JAMAICA BAY auf kriminelle Weise hatte entsorgen sollen.

Wir gingen an Land.

An Bord des Frachters hatten wir jetzt nichts mehr verloren. Nun schlug die Stunde der Experten und Wissenschaftler. Es musste haarklein rekonstruiert werde, wie Agent Pacey gestorben war.

Von Clive erfuhren wir, dass die ersten Verdächtigen, die an anderen Orten im Zusammenhang mit der JAMAICA BAY zeitgleich festgenommen worden waren, bereits im Field Office angekommen waren. Darunter auch Brian Mondale, der Geschäftsführer einer dubiosen Im- und Exportfirma.  Staatsanwalt Jay Kirkland war ebenfalls bereits eingetroffen, um deutlich zu machen, dass derjenige, der sich ohne Verzögerung dazu entschloss, das Schweigen zu brechen, mit Vorteilen rechnen konnte.

Wir wurden zurück zum Field Office in der Federal Plaza 26 beordert.

Als wir dort eintrafen, hatten die Verhöre des Kapitäns und des Steuermanns der JAMAICA BAY bereits begonnen. Der Rest der Besatzung befand sich in Gewahrsam und zum Teil musste erst die jeweilige Identität mühsam festgestellt werden. Manche der Festgenommenen sprachen sehr schlecht Englisch. Es handelte sich um Seeleute, die unter wirklich abenteuerlichen Bedingungen angeheuert worden waren und kaum über die nötigsten Kenntnisse verfügten.

Das Gros schien von den Philippinen und aus Mittelamerika zu stammen, aber die Neigung dieser Männer, mit uns zusammen zu arbeiten, war nicht besonders groß. Erstens begriffen sie offenbar kaum, dass sie sich an einer Straftat beteiligt hatten und zweitens hatten sie nach Ansicht unserer Verhörspezialisten Angst.

„Sie ahnen nicht, dass jemand mutwillig ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat“, stellte unser Kollege Dirk Baker fest, der mit einigen von ihnen gesprochen hatte. „Sie wurden hochgiftigen Stoffen ausgesetzt und verfügen über so gut wie überhaupt keine Kenntnisse darüber, wie man damit umgehen müsste oder wie man sich vor den Giften schützten kann.“

„Das ist wohl einer der Gründe dafür, weshalb eine Entsorgung an Bord der JAMAICA BAY sehr viel günstiger ist als dies normalerweise der Fall wäre“, stellte ich fest.

Dirk nickte. Wir beobachteten durch eine Spiegelwand die Verhöre des Kapitäns und des Steuermanns. Der Kapitän hieß Randolph Jordan. Er weigerte sich, irgendwelche Aussagen zu machen. Die JAMAICA BAY gehörte einer Holding, die wiederum mehrheitlich Eigentum einer Briefkastenfirma war, die ihren Stammsitz auf den Cayman Islands hatte.

„Die wahren Besitzer werden wohl nicht so leicht festzustellen sein“, meinte Milo. „Es könnte durchaus sein, dass Captain Jordan darüber gar nichts weiter weiß.“

„Oder wissen will“, setzte ich hinzu.

Milo zuckte mit den Schultern. „Also ein Fall für Nat.“

Unser Kollege Nat Norton war in unserem Field Office der Spezialist für Betriebswirtschaft. Er wusste, wie man Finanzströme verfolgte, was bei Ermittlungen im Bereich der organisierten Kriminalität einen immer wichtiger werdenden Stellenwert bekommen hatte. Oft war es nur auf diese Weise möglich, kriminelle Verflechtungen aufzudecken.

Unser Kollege Agent Ron Dales führte das Verhör durch. Er gehörte zu den jüngeren Innendienstlern in unserem Field Office. Dirk Baker hielt allerdings große Stücke auf ihn. Außer Dales war noch Staatsanwalt Kirkland anwesend, der sich allerdings nicht weiter einmischte.

„Sie wollen uns doch nicht erzählen, dass Sie nicht gewusst haben, dass die JAMAICA BAY zu einem illegalen Giftmüll-Transport benutzt wurde“, sagte Dales. „Zu diesem Zeitpunkt sind Kollegen von uns in Ihrer Wohnung in Newark und stellen dort alles auf den Kopf. Jede Kontobewegung wird von unseren Spezialisten genauestens unter die Lupe genommen und wenn  Sie noch irgendeine Chance haben wollen, um mit der Staatsanwaltschaft zu einer Übereinkunft zu kommen, dann sollten Sie jetzt auspacken. Sonst ist es zu spät...“

„Ich verweigere unter Hinweis auf den fünften Zusatz der amerikanischen Verfassung die Aussage“, erklärte Captain Jordan. 

„In den Daten, die uns zugänglich sind, wird eine Anklage wegen Versicherungsbetruges vermerkt.“

„Das Verfahren wurde eingestellt.“

„Sie sollen einen Frachter mit dubioser Ladung absichtlich vor der nigerianischen Küste auf Grund gesetzt haben. Man warf Ihnen Versicherungsbetrug vor.“

„Wie gesagt, das Verfahren wurde eingestellt!“

„Eigner des Schiffes war eine Rederei aus Liberia, die einer Holding gehörte, die wiederum hundertprozentige Tochter der International Cargo Holding auf den Cayman Islands war, als deren Geschäftsführer ein gewisser Brian Mondale fungierte!“

„Wenn Sie das sagen!“

„Seltsamerweise ist die JAMAICA BAY Eigentum einer anderen Firma, als deren Geschäftsführer ebenfalls ein gewisser Brian Mondale eingetragen ist, dem außerdem noch eine dubiose Im- und Exportfirma gehört, die hier im Hafen von New York ansässig ist.“

Jordan beugte sich nach vorn. Seine Augen wurden schmal und er sprach beinahe, ohne dass sich seine Lippen überhaupt bewegten. Sie bildeten einen fast geraden Strich, während er zwischen den Zähnen hervorpresste: „Dann befragen Sie doch verdammt noch mal diesen Mister Mondale und nicht mich!“

Jetzt mischte sich Staatsanwalt Jay Kirkland ein.

„Keine Sorge, das geschieht bereits“, versicherte er. „Genau jetzt in diesem Moment in einem unserer anderen Vernehmungszimmer. Und bevor Sie sich von Mister Mondale einen Anwalt bezahlen lassen, sollten Sie darüber  nachdenken, dass Ihre Aussage jetzt der Staatsanwaltschaft noch ein deutliches Entgegenkommen wert sein könnte...“

In dem Vorraum, in dem sich Milo und ich befanden, öffnete sich die Tür. Sie flog förmlich zur Seite. Ein kleiner, gedrungen wirkender Mann mit hoher Stirn trat ein. „Roger W. Sundback von Braden,, Sundback & Partners. Ich bin der Anwalt von Captain Jordan. Die Fragestunde ist damit vorbei! Ich will mit meinem Mandanten unter vier Augen reden.“

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ALS MILO UND ICH EINE Stunde später in dem Dienstzimmer saßen, das wir uns miteinander teilten, kam Agent Max Carter, ein Kollege aus der Fahndungsabteilung unseres Innendienstes herein. 

Die Identität des Uzi-Schützen war geklärt.

„Jack Smith heißt in Wirklichkeit Jack Mantaglia“, erklärte Max. „Er ist seit zehn Jahren untergetaucht. Ihm werden ein halbes Dutzend Morde im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen nachgesagt. Bei mindestens drei Fällen ist die Beweislage sehr eindeutig.“

„Kein Wunder, dass er auf keinen Fall in die Hände der Justiz geraten wollte“, stellte Milo fest. Er wandte den Kopf in meine Richtung. „Du hattest Recht, Jesse.“

„Das kannst du laut sagen!“

„Er hatte einfach nichts zu verlieren.“

„Für wen hat Mantaglia zuletzt gearbeitet?“, fragte ich an Max Carter gerichtet und nippte dabei an meine Kaffeebecher.

„Der letzte Fall, mit den wir ihn in Verbindung bringen konnten, ereignete sich in Buffalo, New York State“, stellte Max fest. „Ich habe euch die Unterlagen auf den Rechner geschickt.“

„Danke.“

„Ein gewisser Miles Sorenson wurde vor sechs Monaten in einem Motel ermordet.“

„Müsste man diesen Sorenson kennen?“, fragte ich.

„Nat sagt, dass er bei einem halben Dutzend Unternehmungen Mondales Geschäftspartner und Teilhaber war. Wir vermuten, dass er im Auftrag von Mondales Müll-Mafia Industrie-Brachen von Strohmännern aufkaufen ließ, um dort Kunststoffabfälle illegal zu lagern.“

Eine alte Masche dieses im wahrsten Sinn des Worts schmutzigen Gewerbes. Der Strohmann tauchte dann irgendwann unter und oft fiel der illegal deponierte Müll erst auf, wenn  es zu Vergiftungen des Grundwassers kam, sich Anwohner über Geruchsbelästigungen beschwerte oder sogar ein Feuer ausbrach. Spontane Selbstentzündungen waren bei unsachgemäß gelagerten Kunststoffabfällen durchaus wahrscheinlich. Das dabei entstehende Dioxin war hoch-toxisch und gehörte zu den giftigsten Substanzen überhaupt. Wenn es dann zur Katastrophe kam, waren die Strohmänner natürlich längst untergetaucht und die Ermittlungen verliefen leider oft genug im Sande, weil sich einfach nicht genügend konkrete Spuren finden ließen.

Milo und ich nahmen uns die Daten über den Mord in Buffalo vor. Es war so gut wie sicher, dass Mantaglia der Mörder war, denn er hatte reichlich DNA am Tatort hinterlassen. Es hatte einen Kampf mit Miles Sorenson gegeben und der hatte Mantaglia durch einen Schuss ins Bein verletzt. Mantaglia war entkommen und hatte sich offenbar in irgendeiner verschwiegenen Privatambulanz behandeln lassen. Die Behörden hatten nie herausfinden können wo.

Das ganze geschah, kurz bevor Sorenson hatte aussteigen und sich einem V-Mann der Organized Crime Squad des Buffalo Police Department hatte anvertrauen wollen.

Das Motiv für Brian Mondale, Sorenson aus dem Weg räumen zu lassen, lag also auf der Hand.

„Können wir Mondale mit Mantaglias Tat in Verbindung bringen?“, fragte ich an Max gewandt.

„Das wird schwierig, wenn wir keine zusätzlichen Beweise oder Zeugenaussagen haben“, glaubte der Innendienstler aus der Fahndungsabteilung.

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GEGEN ABEND ENTSCHLOSS sich Patrick Cruz, der Steuermann der JAMAICA BAY, dazu, mit dem Staatsanwalt zu reden. Er belastete Mondale stark, woraufhin auch Captain Randolph Jordan seine starre Haltung aufgab, den von Mondale bezahlten Anwalt in die Wüste schickte und unseren Kollegen gegenüber umfassend aussagte.

Dabei belastete auch er Mondale stark.

Alles sah danach aus, dass der Fall juristisch erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Entsprechend zufrieden fuhren Milo und ich am Abend mit dem Sportwagen nach Hause. Bevor ich Milo an der bekannten Ecke absetzte, aßen wir noch einen Hotdog in einer Snack Bar.

„Dieser Mondale ist schon ziemlich weit oben in der Müll-Mafia anzusiedeln“, meinte Milo. „So schnell wird sich die von diesem Schlag nicht erholen!“

„Jedenfalls gehört dieser Mondale einer Gewichtsklasse von Gangstern an, an die wir normalerweise selten herankommen“, meinte ich.

„Die Weiße-Kragen-Abteilung der Bosse.“

„So ist es.“

„Um so besser, dass seine Chancen ausgesprochen schlecht stehen, ungeschoren davonzukommen. Und wer weiß, vielleicht zieht er bei seinem Fall ein paar Leute mit in den Abgrund, die noch über ihm stehen.“

Ich nickte. „Es ist immer nur ein Etappensieg, den man im Kampf gegen das organisierte Verbrechen erringen kann“, sagte ich und Milo stimmte mir zu.

Am nächsten Morgen regnete es in Strömen, als ich Milo an der bekannten Ecke abholte und wir zum Bundesgebäude an der Federal Plaza kamen. Auf dem Flur lief uns Max Carter über den Weg. „Der JAMAICA BAY-Fall hat sich vollkommen gedreht“, meinte er im Vorübergehen. „Der Chef hat in fünf Minuten zur Besprechung geladen. Ihr sollt auch dabei sein!“

„Vollkommen gedreht?“, echote ich, aber Max hatte es furchtbar eilig und offenbar vor der Besprechung noch dringend etwas zu erledigen.

Als wir im Besprechungszimmer von Mr Jonathan D. McKee eintrafen, waren unsere Kollegen Clive Caravaggio und Orry Medina schon anwesend.

Mr McKee stand hinter seinem Schreibtisch. Der Chef des FBI Field Office New York telefonierte gerade und sagte zweimal kurz hintereinander etwas angestrengt: „Ja, in Ordnung.“

Wir nahmen Platz. Unsere Erkennungsdienstler Sam Folder und Mell Horster trafen ein. Die Sekretärin unseres Chefs servierte ihren im gesamten Bundesgebäude berühmten Kaffee.

Mr McKee legte auf. „Das war Captain Josephson von der Homicide Squad des Buffalo Police Department“, erklärte er. „Ich werde Ihnen gleich erklären, was es mit diesem Anruf auf sich hat... Aber zunächst möchte ich noch abwarten, bis...“ Mr McKee sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick betrat Max Carter den Raum.

„Wo bleibt Mister Gallego?“

„Gerade eingetroffen. Sie wissen ja, wie das ist, wenn man von den Labors der SRD in der Bronx um diese Zeit zur Federal Plaza zu fahren versucht.“

Ich nippte an meinem Kaffee. 

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann begann Mr McKee, die Zeit damit zu nutzen, dass er uns über den aktuellen Stand der Ermittlungen gegen die an Bord der JAMAICA BAY Festgenommenen informierte.

Inzwischen traf Tom Gallego von der Scientific Research Division ein.

Mr McKee nickte ihm kurz zu. Noch ehe sich Gallego gesetzt hatte, sagte unser Chef: „Unsere Kollegen von der SRD haben bei der genaueren Untersuchung der Giftfässer an Bord der JAMAICA BAY einige interessante Entdeckungen gemacht, die ein völlig neues Licht auf den Fall werfen. Mister Gallego, Sie haben das Wort.“

„Danke, Sir“, sagte Gallego. Er ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen. „Ich will Sie nicht damit langweilen, welche extrem giftigen Chemikalien wir im Einzelnen in den Fässern gefunden haben. Es handelt sich dabei aber durchweg um stark ätzende Säuren, die bei verschiedenen Industrieprozessen entstehen. Aber so stark eine Säure auch sein mag, es gibt Dinge, die selbst der zersetzenden Kraft der stärksten Säure widerstehen können. Insbesondere sind das polymere Kunststoffe, deren lange Molekülketten eine Zersetzung nahezu unmöglich machen. Der bekannteste dieser Stoffe dürfte das Polyvinylchlorid sein – kurz PVC. Eine ähnliche Struktur haben Silikone, wie sie für Brustimplantate, aber auch für den Korrosionsschutz von Leitungssystemen oder auch zum Schutz von Implantaten aller Art vor Zersetzung verwendet werden, denn auch der menschliche Körper produziert hochaggressive Säuren, die auf die Dauer selbst Knie- und Hüftimplantate aus Titan zersetzen würden. Von empfindlichen Herzschrittmachern mal ganz  abgesehen!“ Gallego atmete tief durch und fuhr dann fort: „Wir haben in einem der Fässer ein Brustimplantat gefunden, an dem sich nur noch geringfügige DNA-Reste befanden. Der Körper der Trägerin ist vollständig zersetzt worden, aber anhand der Seriennummer konnten wir die Klinik und die Trägerin des Implantats herausfinden. Es handelt sich um  Norma Jennings aus Buffalo, New York State, die seit fünf Jahren vermisst wird. Sie war Ende zwanzig, rothaarig, zierlich. Der Sie passt in das Opferprofil eines bisher unbekannten Serientäters, dem wir mindestens fünf Frauenmorde in den Staaten Ohio, Pennsylvania und New York State zur Last legen.“

„Ein Serientäter, der seine Leichen in Giftfässern entsorgt hat?“, fragte Clive zweifelnd.

Tom Gallego nickte. „Daran, dass die vermisste Norma Jennings in dem Säurefass an Bord der JAMAICA BAY war, gibt es keinen Zweifel. Der Körper war in Anbetracht der Säurekonzentration wahrscheinlich nach wenigen Wochen vollkommen zersetzt. Das Skelett ist dann nach spätestens drei Monaten völlig aufgelöst gewesen. Eine chemische Feinanalyse wird da kaum noch genauere Erkenntnisse bringen. Der menschliche Körper besteht zu 70 Prozent aus Wasser, das später von dem Wasser, in dem die Säue gelöst war, nicht mehr zu unterscheiden war. Knochen und Zähne brauchen etwas länger bis sie aufgelöst werden, aber letztlich blieb nur das Brustimplantat.“

„Besteht irgendein Anlass, darüber nachzudenken, ob der Mord an Norma Jennings vielleicht im Zusammenhang mit einer Verwicklung in Machenschaften der Müll-Mafia geschah?“, fragte Mr McKee.

„Ich habe bereits eine Schnellabfrage über NYSIS gestartet“, mischte sich unser Kollege Agent Max Carter ein. „Es gibt kein Indiz, das darauf hindeutet. Norma Jennings arbeitete für eine Lokalzeitung, den Buffalo Herald. Ihr Alltag dürften Berichte über den örtlichen Kaninchenzüchterverein, den Basketball-Pokal des Countys für High School Mannschaften und die Unfälle auf den Highways der Gegend gewesen sein.“

„Das ist noch nicht alles“, fuhr Gallego fort. „Wir haben natürlich auch die anderen Fässer untersucht. Dabei sind wir auf weitere menschliche Überreste gestoßen, die möglicherweise von Opfern des Serientäters stammen. Es handelt sich um einen Goldzahn und ein halb zersetztes Knochenfragment. Da beides in unterschiedlichen Fässern sichergestellt wurde, nehmen wir an, dass es sich um zwei verschiedene Opfer handelte, die wir bislang allerdings noch nicht die identifizieren konnten.“

„Wir werden alle vermissten Personen, die ins Raster passen mit den Spuren abgleichen“, erklärte Max Carter „In Frage kommt bisher Myra McConnor, seit vier Jahren vermisst, rothaarig, zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 24 Jahre alt und von Beruf Bedienung in einer Snack Bar in der Bersino Road in Buffalo.“

Mr McKee wandte sich an Milo und mich. „Ich möchte, dass Sie und Milo sich nach Buffalo begeben und der Sache auf den Grund gehen“, erklärte er. „Ich habe vorhin mit dem Chief der Homicide Squad gesprochen. Das Buffalo Police Department wird Sie in jeder Hinsicht unterstützen. Kann sein, dass dies nur ein Zufallsfund ist, der mit den Ermittlungen gegen Brian Mondale und die Müll-Mafia nicht das Geringste zu tun hat. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass hier möglicherweise ein gefährlicher Serientäter am Werk war, der noch immer aktiv sein könnte!“

„Es wäre gut, wenn wir wüssten, von wo genau die Giftfässer stammten“, sagte ich.

„Daran arbeiten wir“, erklärte Tom Gallego.

„In so fern haben beide Fälle schon etwas miteinander zu tun, denn Mondale hat uns bisher nicht verraten, wessen Müll er mit Hilfe der JAMAICA BAY entsorgen wollte“, ergänzte Max Carter. „Aber das Auffinden des Brustimplantats gibt uns natürlich einen Hinweis in Richtung Buffalo.“

„Fand nicht auch Jack Mantaglias letzter Auftragsmord in der Nähe von Buffalo statt?“, fragte ich an Max gerichtet.

Unser Kollege nickte. „Das stimmt.“

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9

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DER MANN MIT DEM GOLDKREUZ auf der Brust nahm sein Glas und machte zwei Schritte nach vorn. Er fixierte mit seinem Blick die Frau Mitte zwanzig, deren rot gelockte Mähne bis weit auf den Rücken hinabreichte. Sie rührte lustlos mit dem Trinkhalm in ihrem Drink herum. Giftgrün war der Drink eine Spezialität von Anselmo dem Barkeeper. Es gab sicher nicht wenige, die Anselmos Drinks wegen in Mac’s Bar kamen. Aber die Rothaarige machte den Eindruck, als wüsste sie die Qualität ihres Drinks heute nicht zu schätzen. 

Der Mann mit dem Kreuz auf der Brust setzte sich auf den Hocker neben ihr und stellte sein eigenes Glas auf den Tresen.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte der Mann mit dem Kreuz. Sie ignorierte ihn zunächst.

Aber das ließ der Mann mit dem Kreuz nicht gelten. Er wiederholte seine Frage einfach – diesmal etwas lauter, sodass sich einige der anderen Gäste schon umdrehten.

Die Rothaarige drehte sich nun zu ihm herum und blickte auf. „Das haben Sie doch schon getan“, sagte sie. Sie musterte ihn. Ihr Urteil stand nach ein paar Sekundenbruchteilen fest. Das war niemand, mit dem sie sich länger beschäftigen wollte. Aber er ließ sich nicht so schnell einschüchtern.

„Mein Name ist Larry“, sagte er.

„Ach!“

„Und wenn Sie nicht schon einen Drink hätten, würde ich Ihnen einen ausgeben.“

„Danke, aber das möchte ich nun wirklich nicht.“

„Wieso? Was ist schon dabei? Nur ein Drink.“

Ihre Stimme bekam jetzt einen ziemlich genervten Tonfall. „Hören Sie, Mister, ich...“

„Sie heißen Roxanne, nicht wahr?“, unterbrach er sie. Er lächelte dabei auf eine Weise, die ihr nicht gefiel. Es war ein Lächeln, das mehr vom Triumph eines Raubtiers hatte, als dass es als Zeichen einfacher Freundlichkeit hätte durchgehen können. Sein Blick fixierte sie. Er schien ihre Verwirrung zu genießen.

Die Rothaarige sah ihn erstaunt an. „Woher wissen Sie das?“, fragte sie kühl.

„Ich bin öfter hier. Und Sie auch. Das erklärt doch einiges.“

„Das erklärt gar nichts.“

„Offenbar haben Sie mich noch nie bemerkt, aber ich konnte nicht umhin einige der Gespräche mit anzuhören, die Sie an dieser Bar geführt haben.“

„Sie belauschen also gerne andere Leute. Na großartig!“

„Roxanne Brady. Das stimmt doch oder? So heißen Sie doch!“

Sie schluckte. Eine tiefe Furche bildete sich auf ihrer ansonsten vollkommen glatten Stirn. Sie strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht. Die Situation drohte ihr zu entgleiten und sie wollte im Moment eigentlich nur noch eins: In Ruhe gelassen werden.

„Hören Sie, Mister...“

Seine makellosen Zähne blitzten auf, als er den Mund breit zog. „Nennen Sie mich Larry. Das klingt nicht so unpersönlich.“

„Nein!“, sagte sie entschieden.

„Bitte!“

Er nahm einen Schluck. Dann noch einen. Schließlich stellte er das leere Glas auf den Tresen und bestellte bei Anselmo noch einen Drink, der sich Black Devil nannte und zu Roxannes Erstaunen tatsächlich vollkommen schwarz war, nachdem der Barkeeper ein halbes Dutzend verschiedener Zutaten zusammengemixt hatte. 

„Larry, ich hatte einen anstrengenden Tag und mir steht nun wirklich nicht der Sinn nach Unterhaltung. Also betrachten Sie es nicht als unhöflich, wenn ich Ihnen sage, dass ich am liebsten einfach meinen Drink nehmen und in Ruhe gelassen werden würde.“

„Ihre Arbeit bei der Lake Erie Assurance ist mit Sicherheit nicht einfach“, sagt Larry. „Und das Betriebsklima soll ja ziemlich schlecht sein, seit Ihre Abteilung von Kendra Closkey geleitet wird.“

Roxanne sah Larry völlig entgeistert an. Sie wurde blass. „Woher wissen Sie das alles?“

„Spielt das eine Rolle?“

„Natürlich!“

Larry lachte. Ein stiller Triumph stand in seinem Gesicht, dessen Ausdruck für sie jetzt fast unerträglich wurde. Er nippte an seinem Drink. Dann verzog er das Gesicht. „Stimmt etwas nicht? Oh, ich vergaß: Natürlich werde ich niemandem etwas davon erzählen, dass die Lake Erie Assurance demnächst wahrscheinlich hundertfünfzig Mitarbeiter entlassen wird. Das soll ja noch unter der Decke gehalten werden, damit die Belegschaft ruhig bleibt. Aber bei Ihnen in den Bürogängen brodelt doch längst die Gerüchteküche und viele fragen sich, ob es nicht viel mehr sein werden, die man später auf die Straße setzt.“

„Jetzt reicht es“, sagte Roxanne, langte nach ihrer Handtasche und legte etwas Geld auf den Tresen. Als Anselmo zu ihr hinüberblickte, sagte sie: „Der Rest ist für Sie, Anselmo.“

„Danke“, nickte er ihr zu und ließ sich dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen. Mit geübten, fast automatisch wirkenden Bewegungen vollendete er zunächst den Drink, den er gerade zusammenmixte.

Die Besonderheit waren die schwimmenden Früchte an der Oberfläche.

Roxanne drehte sich in Richtung Tür um.

Lary spielte mit dem Kreuz an seinem Hals herum. „Es ist ja auch unter diesen Bedingungen nicht so einfach, ein gutes Betriebsklima aufrecht zu erhalten“, sagte er dann so laut, dass mehrere der anderen Gäste zu ihm hinüberschauten. Roxanne blieb stehen. Sie atmete tief durch. Ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen.

Schließlich drehte sie sich wieder um und fragte: „Was wollen Sie eigentlich von mir und wer schickt Sie? Habe ich Sie schon mal bei der Lake Erie Assurance gesehen? Arbeiten  Sie auch dort? Fängt die Geschäftsleitung inzwischen schon damit an, Mitarbeiter auszuspionieren und nach Schwachstellen im Privatbereich zu suchen, damit man jemanden mit besserem Gewissen entlassen kann?“

„Nein, nein, Sie haben mich völlig missverstanden, Roxanne. Wirklich! Ich wollte mich nur mit Ihnen unterhalten. Und was ich über Sie weiß, dass habe ich tatsächlich nur aus Unterhaltungen, die Sie in den letzten drei Wochen in dieser Bar geführt haben. Es tut mir leid, aber da ich fand, dass Sie eine interessante Frau sind, konnte ich einfach nicht anders, als Ihnen zuzuhören und an Ihren Lippen zu hängen.“ Er lächelte matt und wirkte etwas verlegen. „Kommen Sie, nehmen Sie einen Drink mit mir, dann werden sich alle Missverständnisse sicherlich klären lassen.“

Die Zornesfalte auf ihrer Stirn trat etwas weniger deutlich hervor.

Larry sah seine Chance. Er trat einen Schritt auf sie zu und griff sich an das Kreuz, das ihm an einem Goldkettchen um den Hals hing. Er legte offenbar viel Wert darauf, dass man es auch sah, denn die obersten drei Hemdknöpfe trug er offen. „Sehen Sie das hie, Roxanne? Die meisten fragen mich früher oder später, was das zu bedeuten hat. Es ist ein Kreuz, aber wenn Sie genau hinsehen, dann können Sie erkennen, dass das obere Ende länger ist. Ein umgedrehtes Kreuz also – das Symbol dafür, dass es keineswegs so ist, dass Jesus die Welt erlöst hat. Ganz im Gegenteil! Satan herrscht und das Böse breitet sich überall aus. Es ist einfach eine Tatsache... Satan hat sein Gespinst über die gesamte Welt gelegt und Sie sind genauso ein Teil davon wie ich oder die Menschen, denen Sie bei der Lake Erie Assurance begegnen...“

Roxanne wandte sich in Anselmos Richtung.

„Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier solche Spinner dulden, hätte ich Ihre Bar niemals betreten, Anselmo!“, stieß sie hervor.

Sie drehte sich um und ging.

Die Tür fiel ins Schloss.

Larry wollte hinter ihr her, aber Anselmos Stimme hielt ihn ab.

„Sie haben Ihren Drink noch nicht bezahlt“, stellte der Barkeeper fest. Larry kramte umständlich und sichtlich genervt sein Portemonnaie hervor und legte schließlich das Geld auf den Tisch.

„Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee ist, wenn Sie der Lady folgen wollen“, meinte Anselmo.

„Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist.“

„Und ich meine es ganz ernst. Lassen Sie sie am besten in Ruhe. Sie hat Ihnen doch deutlich gezeigt, dass sie nichts mit Ihnen anfangen kann.“

Larry deutete auf den noch nicht einmal zu einem Drittel leer getrunkenen Black Devil. „Ihre Drinks sind lausig, Anselmo. Vielleicht hat Ihnen das noch niemand gesagt, aber es ist so!“

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ES WAR DUNKEL UND ROXANNE schmerzten die Füße, als sie zwei Minuten später von Mac’s Bar in die Christchurch Street einbog, um zu ihrem Wagen zu gelangen, den sie dort abgestellt hatte. Eigentlich hätte sie lieber eines der Parkhäuser im Zentralbereich von Buffalo benutzt, aber erstens hatte sie Angst, dort überfallen zu werden und zweitens wurde eines davon im Moment gerade generalüberholt und fiel daher auf Grund der anfallenden Arbeiten komplett aus, was leider zur folge hatte, dass in ganz Buffalo Parkraum im Moment extrem knapp war.

Ihre Schritte waren recht eilig. Sie hatte noch das Gesicht von diesem aufdringlichen Larry mit seinem seltsamen Kreuz vor Augen. Das Letzte, was sie sich an diesem Abend gewünscht hätte, war ein Typ wie dieser Mann, der sie aufdringlich anquatschte und ihr dann auch noch seine etwas absonderlichen Ansichten über Gott und die Welt aufzudrängen versuchte.

Nein, nicht Gott und die Welt!, korrigierte sie sich. Gott und den Teufel... Im Nachhinein fröstelte es ihr immer noch bei dem Gedanken an die letzten Worte dieses Mannes, die so düster und abgedreht gewesen waren, dass Roxanne immer noch das kalte Grausen überkam, wenn  sie nur daran dachte.

Plötzlich glaubte Roxanne, Schritte hinter sich zu hören. Nein, das darf doch nicht wahr sein!, ging es ihr aufgewühlt  durch den Kopf. Sie blieb stehen und drehte sich um. Aber da war niemand. Für einen kurzen Moment hatte sie geglaubt, einen flüchtigen Schatten erkennen zu können, der in eine  Hausnische huschte und dort verschwand.

Bilde ich mir jetzt vielleicht schon etwas ein?, ging es ihr durch den Kopf.

Es gab Zeiten, da waren ihre Nerven extrem angespannt und sie hatte dann manchmal das Gefühl, Gespenster zu sehen. Jede Kleinigkeit erschien ihr dann verdächtig und sie stellte sich dann immer vor, wo die Personen in ihrer Umgebung wohl Waffen verborgen haben mochten.

Vor einem Jahr war sie überfallen worden.

In einem der Parkhäuser von Buffalo war das geschehen. Seitdem mied sie Parkhäuser im Allgemeinen und stellte ihren Wagen nur noch unter freiem Himmel ab. Eine Psychotherapie, die sie nach dem Vorfall angefangen hatte, hatte sie nach einem halben Jahr ergebnislos abgebrochen.

Seitdem versuchte sie, mit den Dämonen ihrer Ängste selbst fertig zu werden. Die meiste Zeit über fand sie, dass sie das auf eine ganz passable Weise hinbekam.

Nur manchmal schien das fragile Kartenhaus ihrer Selbstgewissheit schon bei dem geringsten Anlass in sich zusammenzustürzen.

Das Auftreten jenes Mannes, der sich selbst Larry genannt hatte, war dazu Anlass genug gewesen.

Roxanne ließ den Blick die Häuserzeilen entlang schweifen.

Da ist nichts!, sagte sie sich. Nichts und niemand!

Sie drehte sich um und ging die letzten Meter bis zu ihrem Wagen.

Als sie den Schlüssel hervorholte, um ihn in das Schloss der Fahrertür zu stecken, bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten.

Dann setzte sie sich hinter das Steuer.

An der Seite tauchte ein Schatten auf und verdeckte den Schein der Straßenlaterne.

Roxanne fuhr in sich zusammen und wollte die Zentralverrieglung betätigen, aber es war zu spät. Die Beifahrertür war schon offen.

Das Gesicht der schattenhaften Gestalt war nicht zu sehen.

Ehe sie noch etwas tun konnte, langte ein Arm zu ihr hinüber. Das Zischen eines Elektro-Schockers ertönte. Kleine Fingerlange bläuliche Stromblitze zuckten in der Dunkelheit und im nächsten Augenblick durchfuhr sie ein höllischer Schmerz. Ihr gesamter Körper krampfte sich zusammen. Einen Moment später wurde ihr schwarz vor Augen.

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SECHS STUNDEN UND 38 Minuten rechnete das Navigationssystem  des Sportwagen für 395 Meilen aus, die man der Nummer 26 an der Federal Plaza in New York City bis nach Buffalo am Lake Erie zurückzulegen hatte. Allerdings nur, wenn man die zum Teil kostenpflichtigen Highwayabschnitte mitbenutze.

Aber da unser Field Office ein großes Interesse daran hatte, dass wir so schnell wie möglich in Buffalo eintrafen, gab es sicherlich keine Probleme, wenn wir die Maut-Gebühren auf die Spesenrechnung setzten. Wir fuhren zunächst auf die Lafayette Street und fuhren in Richtung Duane Street. Dann folgten wir den Schildern zum Holland Tunnel, passierten ihn und fanden uns in New Jersey wieder.

Von da aus ging es über die Interstate 80 bis nach Syracuse, dann Richtung Westen bis Buffalo.

Milo und ich wechselten uns jeweils nach spätestens zwei Stunden Fahrt ab. Als wir durch die Außenbezirke von Buffalo fuhren, war Milo gerade an der Reihe.

Milo deutete auf ein Straßenschild.

„Sieh an – wieder ein Broadway!“, meinte er. Allein in New York gab es mehrere Straßen dieses Namens. Neben der bekannten Theatermeile in Manhattan zum Beispiel eine gleichnamige, wenn auch weniger bekannte Straße in Brooklyn.

„Broadway Street – nicht Broadway“, korrigierte ich. „Wir müssen gleich nach links in die Jefferson Avenue. Das Headquarter des Buffalo Police Department residiert unter Nummer 244.“

„Die Stimme unseres Navigationssystems wird mich schon mehr oder weniger aufdringlich darauf hinweisen“, erwiderte Milo, der sich durch meinen Hinweis offenbar genervt fühlte.

Wenig später erreichten wir das Gelände des Headquarter und fuhren in die Tiefgarage. Mit dem Aufzug gelangten wir in den achten Stock, wo uns Captain Max Josephson begrüßte.

Er stand der Homicide Squad vor und hatte einen der Mordfälle, die in Zusammenhang mit dem Serientäter in Verbindung gebracht wurden, der es auf Rothaarige abgesehen hatte, bearbeitet, als er noch Lieutenant gewesen war.

Ein Fall, den man noch immer keiner Lösung hatte zuführen können.

Josephson war ein Mann mit blonden Haaren. Fast zwei Meter hoch ragte er empor und außerdem war er so breit, dass man ihn eher für einen Catcher halten konnte als für jemanden, der einem geregelten Büro-Job nachging. Und das war Josephsons Job, seit er seine jetzige Position innehatte.

Josephson stand hinter seinem Schreibtisch auf. Er langte über den Tisch, um uns die Hand zu geben.

Wir stellten uns kurz vor.

„Ich bin Special Agent Jesse Trevellian vom FBI Field Office New York und dies ist mein Kollege Milo Tucker. Sie müssten mit Mr McKee gesprochen haben...“

„Ja, Sie wurden mir bereits angekündigt.“ Er blickte auf die Uhr. „Allerdings habe ich ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass Sie heute noch bei mir vorbeischauen...“

Ich hob die Augenbrauen. „Wieso?“

„Ich dachte, Sie suchen sich erst ein Hotelzimmer“, erwiderte er.

„Das hat unser Innendienst schon telefonisch für uns erledigt. Wir dachten, dass wir besser gleich an die Arbeit gehen.“

Josephson zuckte mit den Schultern und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „So habe ich auch mal gedacht, als ich gerade Lieutenant geworden war und den Tod einer gewissen Selma Monteleone untersuchte.“ 

„Klingt Italienisch“, meinte Milo. „Sie sah mit ihren roten Haaren allerdings eher wie jemand aus, der irische Vorfahren hat.“

„So kann man sich täuschen, Milo“, meinte ich.

Captain Max Josephson holte ein Foto aus der Schublade seines Schreibtischs. So abgegriffen, wie das Bild an den Rändern war, musste es für Josephson eine besondere Bedeutung haben. Wir verstanden wenige Augenblicke später auch, worin die bestand. „Sieben Jahre ist das jetzt her. Das war mein erster Fall bei der Homicide Squad, bei dem ich die Leitung hatte. Und er ging gleich daneben. Der Täter läuft wahrscheinlich noch immer frei herum und fährt damit fort, rothaarige Frauen zu töten. Glauben Sie mir, ich würde alles dafür tun, damit diese Sache endlich einen Abschluss findet.“

„Erzählen Sie uns, was mit Selma Monteleone geschah“, forderte ich. Ich hatte diesen Namen zwar in den Unterlagen gelesen, mich aber mit den Einzelheiten noch nicht beschäftigt. Dazu war einfach noch keine Zeit gewesen. Aber immerhin wusste ich, dass man bei Selma Monteleone zumindest die Leiche gefunden hatte und man daher die Tat relativ genau hatte rekonstruieren können. Bei einigen Opfern war lediglich reichlich Blut gefunden worden. Und anderen waren einfach nur verschwunden und erst unsere Funde an Bord der JAMAICA BAY hatten die Verbindung zu dieser Mordserie gezogen.

Josephsons Augen wurden schmal. Er bot uns einen Platz und Kaffee an. Wir nahmen beides dankend an. Der Kaffee kam aus dem Automaten und war ganz in Ordnung.

„Selma Monteleone war Lehrerin an der einer der hiesigen Junior High Schools. Wir fanden sie in ihrem Wagen, der in einem kleinen Waldstück am Erie-See-Ufer abgestellt worden war. Sie war mit einem Elektro-Schocker betäubt worden. Zuvor hat es einen kurzen Kampf gegeben. Deswegen haben wir sieben Jahre alte DNA des Täters unter den Fingernägeln des Opfers.“

„Wie starb sie?“, fragte ich.

„Der Täter hat ihr eine Reihe von Adern aufgeschnitten und sie ausbluten lassen. Es gab allerdings keine Hinweise auf eine Vergewaltigung oder einen Versuch in diese Richtung. Dem Täter ging es nicht um Sex, sondern...“ Josephson zögerte -

„Macht? Rache? Ein allgemeiner Hass auf Frauen oder auf Rothaarige im Besonderen?“, hakte ich nach.

„Ja, das denke ich, könnte es gewesen sein. Allerdings befinde ich mich da in einem Disput mit unserem neuen Profiler. Der bezeichnet die Tat als rituelle Zwangshandlung. Aber damit kann ich ehrlich gesagt nicht viel anfangen.“

„Wir würden gerne mit Ihrem Profiler sprechen“, sagte ich.

„Werden Sie!“, versprach Josephson. „Dr. Franklin F. Martin ist erst seit einem halben Jahr bei uns. Ich bat ihn mal, sich die Unterlagen von damals und insbesondere die Tatortrekonstruktion noch einmal anzusehen, was er auch tat.“

„In anderen Fällen, die man diesem Serientäter zuschreibt, wurde keine Leiche gefunden“, stellte ich fest. „Was hat ihn wohl im Fall von Selma Monteleone davon abgehalten, die Leiche verschwinden zu lassen?“

„Vielleicht wollte er zurückkehren und hatte dann keine Gelegenheit mehr dazu. Der untersuchende Gerichtsmediziner stellte später fest, dass die Tote bereits eine Stunde nach Eintritt des Todes gefunden wurde.“

„Und wer hat sie gefunden?“, fragte Milo.

„Eine Rentnerin, die in der Nähe ihre tägliche Jogging-Runde absolvierte. Eine fitte Frau. Ich habe mich mehrfach mit ihr unterhalten und sie nach Beobachtungen gefragt, die sie gemacht hat.“

„Vielleicht könnten wir uns sie auch noch einmal vornehmen“, schlug Milo vor.

Aber Captain Max Josephson schüttelte den Kopf. „Sie ist letztes Jahr gestorben. An einem Herzinfarkt. Was mal wieder beweist, dass man dem Tod nicht davonlaufen kann.“

„Wir brauchen Anngaben über chemische Betriebe in der Gegend, bei deren Produktionsvorgängen Säuren entstehen wie diejenige, die wir an Bord der JAMAICA BAY gefunden haben“, erklärte ich. „Wenn Norma Jennings, und die anderen, bisher noch nicht identifizierten Opfer, die in den Fässern verstaut und der Zersetzung preisgegeben wurden, tatsächlich von diesem Serientäter umgebracht wurden, dann hatte der zweifellos Zugang zu diesem Abfällen.“

Josephson nickte. „Das ist in  der Tat ein neuer Aspekt, den Ihre Ermittlungen erst in den Fall eingeführt haben“, gab er zu.

„Der Täter könnte Angestellter einer Giftmülldeponie, eines Entsorgungsunternehmens oder eines Betriebes der chemischen Industrie gewesen sein“, sagte ich. 

„Geben Sie uns genauere Daten über die Chemikalien.“

„Sind unterwegs“, versprach ich. „Die Kollegen unseres eigenen Erkennungsdienstes und der Scientific Research Division arbeiten daran.“

„Ich hoffe nur, dass dabei mehr herauskommt als heißer Luft, wie bei den bisherigen Ermittlungen“, meinte Josephson. In diese durch und durch negative Beurteilung schien er seine eigene Arbeit durchaus einzuschließen.

Sobald wir genaueres Wissen haben, kommen wir auf dieser Spur vielleicht weiter.“

Das Telefon auf Captain Josephsons Schreibtisch klingelte. Er nahm ab.

Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Furche. „Eine Meldung, die ins Raster passt“, erklärte Josephson, nachdem er aufgelegt hatte. „Roxanne Brady, 25 Jahre alt und Sekretärin bei der Lake Erie Assurance. Sie ist seit gestern Abend verschwunden. Jetzt wurde sie in ihrem Wagen gefunden. Betäubt mit einem Elektrischocker und mit geöffneten Venen...“

„Genau wie bei Selma Monteleone“, stellte ich fest.

„Ja. Der Red Hair Killer scheint wieder zugeschlagen zu haben. Josephson wirkte grimmig. Er umrundete den Schreibtisch und griff nach seiner Jacke, die an einem Haken an der Wand hing. „Der Fundort der Leiche ist nicht weit von hier entfernt. Wenn Sie wollen, können Sie mich gleich begleiten. Die Kollegen sind am Tatort und beginnen dort mit der Arbeit.“

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DER WAGEN STAND IN einem Hinterhof, etwa zehn Minuten reine Fahrzeit vom  Police Headquarter entfernt.

Überall standen Einsatzfahrzeuge des Buffalo Police Department. Wir fuhren im Dienstwagen von Captain Josephson mit, da es nach seine Angaben völlig sinnlos gewesen wäre, in der Umgebung jetzt noch einen freien Parkplatz zu suchen. In dieser Hinsicht war die Lage in Buffalo zurzeit wohl besonders angespannt.

Also ließen wir den Sportwagen in der Tiefgarage des Headquarter stehen und fuhren mit Captain Josephson zum Ort des Geschehens. Milo und ich saßen auf der Rückbank. Den Beifahrersitz nahm Detective Sergeant Serena Morgan ein, eine Frau von Ende zwanzig mit braunem, gelocktem Haar, das sie zu einem Zopf zusammengefasst trug.

Josephson gab ihr die Anweisung, den Profiler zu verständigen.

„Dr. Martin ist auf dem Weg“, stellte Serena Morgan wenig später fest.

„Das ist gut“, murmelte Josephson.

Ihm war anzumerken, wie sehr ihn die Meldung von dem Leichenfund mitgenommen hatte. Die äußeren Umstände ähnelten wohl einfach zu sehr jenen des Falles von Selma Monteleone.

Wir stiegen aus. In Josephs Gefolge ließen die uniformierten Kollegen uns sofort bis zum eigentlichen Fundort durch.

Der Hinterhof gehörte zum ehemaligen Gelände einer Speditionsfirma, die vor einiger Zeit in Konkurs gegangen war. Der Hof wurde von drei Seiten von Lagerhäusern umgeben. Mehrere Lastwagen standen dort, die jetzt vor sich hin rosteten. Die Reifen hatte man abmontiert, bei einem von ihnen fehlte sogar die Frontscheibe. Die Gebäude standen schon längere Zeit leer, wie am äußeren Zustand unschwer zu sehen war.

„Nicht gerade die schönste Ecke von Buffalo“, meinte ich.

Josephson reagierte darauf nicht. Er ging stieren Blicks auf den Toyota zu, der von Kollegen umringt wurde, die zum Teil zu den uniformierten Kollegen des Police Department gehörten, zu einem anderen Teil dem Erkennungsdienst angehörten.

Detective Morgan antwortete mir stattdessen.

„Nach dem Konkurs der Firma, die hier ansässig war, wollte ein Investor ein Kaufhaus errichten, aber das Projekt kommt nicht so richtig voran.“

„Jedenfalls dürfte hier selten jemand herkommen“, stellte ich fest.

Wir erreichten den Toyota.

Die Tote saß auf dem Beifahrersitz. Der Gerichtsmediziner beugte sich gerade von der Seite über sie, um die Erstuntersuchung durchzuführen. Am Fahrersitz machte sich bereits ein Kollege des Erkennungsdienstes zu schaffen.

Der Gerichtsmediziner war schließlich fürs Erste fertig. Er zog seine Latexhandschuhe aus und wandte sich an Josephson.

„Es gibt ziemlich eindeutige Spuren eines Elektro-Schocker-Einsatzes“, erklärte er. „Was ich Ihnen jetzt sage, ist natürlich ein vorläufiger Befund. Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Obduktion sagen.“

„Natürlich“, sagte Josephson ungeduldig.

„Meiner Ansicht nach ist das Opfer betäubt worden und anschließend ließ man die Frau ausbluten. Letzteres ist dann auch die Todesursache.“

„Gibt es Spuren eines Kampfes?“, fragte ich.

Der Gerichtsmediziner sah mich an und hob die Augenbrauen. „Nein, dafür liegen keine Anzeichen vor.“

Josephson stellte uns kurz und knapp gegenseitig vor. Der Arzt hieß Edgar Simpson und arbeitete für ein gerichtsmedizinisches Institut, das im Auftrag des Coroners tätig wurde, wenn dies von der Justiz angefordert wurde.

Detective Sergeant Serena Morgan hatte inzwischen mit einem der uniformierten Kollegen gesprochen und kehrte jetzt zu uns zurück. „Der Wagen ist auf den Namen Roxanne Brady zugelassen“, stellte sie fest.

„Das bedeutet, dass sie sehr wahrscheinlich nicht hier starb“, schloss ich.

Simpson schien meiner Meinung zu sein. „Sie sitzt sehr schief auf dem Beifahrersitz. So als wäre sie dort hingesetzt worden, nachdem sie schon bewusstlos war.“

Ich ging zum Wagen und sah den Kollegen vom Erkennungsdienst des Buffalo Police Department bei der Arbeit zu. Es war sehr viel Blut ausgetreten, aber kaum etwas davon hatte den Fahrersitz besudelt.

„Der Täter könnte den Wagen hier her gefahren haben, nachdem das Opfer betäubt war“, meinte Milo. „Wahrscheinlich wollte er ungestört das Verbrechen begehen können und hat gehofft, dass man den Wagen mit der Leiche möglichst lange nicht findet.“

„Warum hat er sie nicht in ein Säurefass gelegt – wie Norma Jennings?“, fragte ich.

Milo zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil er im Moment keinen Zugang zu solchen Fässern hat. Vergiss nicht, dass die Fässer, die wir auf der JAMAICA BAY gefunden haben, ja schließlich von irgendwoher abtransportiert worden sind...“

„Vielleicht war es dem Täter auch einfach zu risikoreich, mit einer Leiche im Wagen durch die halbe Stadt zu fahren...“

Ich erkundigte mich bei einem der Uniformierten, wer die Tote eigentlich gefunden hätte.

„Ein paar Jugendliche aus der Gegend, die sich hier ab und zu treffen“, bekam ich zur Auskunft. „Die stehen jetzt unter Schock.“

Ich ließ den Blick durch den Hinterhof schweifen. Diese leerstehenden, vor sich hin rottenden Lagerhäuser waren eigentlich ein typisches Objekt, wie es von Strohmännern der Müll-Mafia häufig angekauft wurde. Dann füllte man die Gebäude mit Müll und irgendwann war der Besitzer dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ermittlungen verliefen häufig im Sand, weil die Täter falsche Identitäten benutzen und zudem das Ganze in der Regel erst dann entdeckt wurde, wenn  es zu irgendeinem gravierenden Vorfall kam. Geruchsbelästigungen, Brände, Vergiftungen – irgendetwas in der Art. Je nachdem, wie gut der Giftmüll verpackt war, konnte das allerdings mitunter Jahre dauern. Die Täter hatten bis dahin längst sämtliche Spuren verwischt und wenn wir dann doch einmal Glück hatten, an einen von ihnen heranzukommen, dann erwischten wir in der Regel nur die Strohmänner auf den unteren Sprossen der Hierarchieleiter innerhalb dieses Zweiges der organisierten Kriminalität.

Ich sagte Captain Josephson, dass ich unbedingt eine Durchsuchung der Lagerhäuser wollte.

Josephson nickte. „Den entsprechenden Durchsuchungsbefehl bekommen wir.“

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JOSEPHSON FORDERTE Verstärkung an und wenig später wurde eines der rostigen Hallentore aufgebrochen. Im Inneren schlug uns ein unangenehmer Geruch entgegen. Aber die Lagerräume, die wir betraten, waren vollkommen leer. Lediglich einige kleinere Haufen mit Plastikabfällen waren zu finden.

Aber auf dem staubigen Boden waren Schleifspuren und Abdrücke sehen. Abdrücke, die von Fässern stammen konnten. Hier und da waren auch undefinierbare Substanzen in den Beton eingezogen und hatten Verfärbungen auf dem Boden hinterlassen. „Hier muss der Erkennungsdienst ran“, sagte ich. „Es müsste doch noch festzustellen sein, was hier mal gelagert worden ist!“

„Jedenfalls wurde hier vor nicht sehr langer Zeit etwas abgeholt...“, stellte Milo fest. „Wenn die Jugendlichen, die die Tote gefunden haben, sich öfter auf diesem Gelände aufhalten, haben sie vielleicht etwas davon bemerkt.“

Über Funk meldete sich einer der Erkennungsdienstler bei Captain Josephson.

„Die haben da offenbar etwas Interessantes gefunden“, erklärte uns der Leiter der Homicide Squad. 

Wir kehrten zu dem Toyota zurück, in dem Roxanne Bradys Leiche gefunden worden war. Inzwischen war dort auch Dr. Franklin Martin eingetroffen.

Josephson stellte ihn uns kurz vor. „Na, wenn das FBI sich an der Ermittlungsarbeit beteiligt, können wir ja sicher bald mit einer Aufklärung rechnen“, sagte er mit einem ironischen Unterton.

„Wir werden tun, was wir können“, erwiderte ich.

Franklin Martin war Mitte fünfzig, hager und hatte eingefallene Wangen. Ich fragte mich, welche Animositäten er wohl gegen das FBI haben mochte.  Aber das erschien mir im Moment zweitrangig.

Einer der Spurensicherer hatte in der Kleidung der Toten eine Packung mit Streichhölzern gefunden, die das Logo von Mac’s Bar trug.

„Die Bar kenne ich“, sagte Josephson. „Liegt hier ganz in der Nähe. Ich war allerdings nur einmal dort.“

„Dienstlich?“, fragte ich.

„Wir haben den Geburtstag unseres Vorgesetzten dort gefeiert. Das können Sie getrost unter dienstliche Pflichten einordnen, denn ich glaube, dass er ziemlich sauer reagiert hätte, wenn ich dort nicht erschienen wäre.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist aber schon lange her.“ Er nahm die Streichholzpackung in die Hand, die von dem Kollegen des Erkennungsdienstes inzwischen sorgfältig eingetütet worden war. „Seltsam, ich hätte nicht gedacht, dass so etwas noch als Aufmerksamkeit für die Kunden vergeben wird...“

„Sie meinen wegen den Anti-Raucher-Gesetzen?“, hakte Milo nach.

„Natürlich. Bei euch in New York City ist man da ja wohl besonders fanatisch.“

„Könnte sich vielleicht lohnen, in dieser Bar mal nachzufragen“, fand ich.

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ALS WIR MAC’S BAR AUFSUCHTEN, hatte der Betrieb dort gerade begonnen. Wir legten unsere Ausweise auf den Tresen. Der Barkeeper warf einen kurzen Blick darauf.

„Womit kann ich dienen? Ich denke nicht, dass Sie einen Drink nehmen wollen...“

„Wie heißen Sie?“, fragte ich.

„Roy Anselmo, ich bin hier als Barkeeper angestellt. Wenn Sie den Besitzer der Bar sprechen wollen, dann müssen Sie sich noch etwas gedulden. Mister MacConroy hat seit zwei Tagen den Fuß in Gips. Er ist zu Hause in seiner Wohnung.“

„Dann gebe Sie uns bitte seine Adresse“, forderte ich.

„Gary MacConroy, 45 Maxwell Road – das ist hier gleich um die Ecke, keine fünf Minuten zu Fuß.“

Ich schrieb mir die Adresse auf.

Im Handschuhfach des Toyota war von den Spurensicherern ein Führerschein sichergestellt worden, in dem die Tote auf einem einigermaßen aktuellen Foto zu sehen war. Captain Josephson legte diesen Führerschein auf den Tresen. „Diese Frau wurde heute tot aufgefunden. Sie besaß Streichhölzer mit dem Logo dieser Bar.“

Etwa einen Meter von mir entfernt befand sich ein Teller mit derartigen Streichholzpackungen. „Mister MacConroy hat vor Jahren etwas zu viele davon günstig in Auftrag gegeben. Inzwischen ist das Rauchen hier ja nicht mehr erlaubt, aber es ist nicht untersagt, Streichhölzer zu verschenken...“ Anselmo wirkte etwas verlegen. Mir fiel auf, dass er sich das Bild nur ganz kurz angesehen hatte. „Roxanne...“, murmelte er dann.

„Sie kannten sie näher?“, fragte ich.

„Wenn Sie den Leuten zuhören, dann lernen Sie sie schnell kennen.“

Einer der Gäste mischte sich ein. „Die Rothaarige von gestern?“, fragte er.

Ich nahm den Führerschein und zeigte ihn auch dem Gast, einem Mann im dreiteiligen kobaltblauen Anzug und schätzungsweise zwanzig Kilo Übergewicht. Ein Geschäftsmann oder Banker, so nahm ich an. Er sah sich das Bild genau an. „Das ist sie. Sie war doch gestern hier als es das Theater mit diesem schmierigen Typen gab. Anselmo, erzählen Sie das doch! Sie waren doch dabei und haben der Frau sogar noch geholfen.“

Anselmo atmete tief durch. Er schluckte. Seine Gedanken schienen für einen Moment ganz weit weg zu sein. Vielleicht war er auch einfach nur tief schockiert über die Nachricht, die wir ihm gerade überbracht hatten.

„Das stimmt“, gab er zu. „Sie hat einen Drink genommen und dann kam dieser eigenartige Typ.“

„Können Sie ihn beschreiben?“

„Ende dreißig, groß und vor allem hatte er ein  goldenes Kreuz auf der Brust. Es hing an einem Goldkettchen. Er heißt Larry, das weiß ich. Und er kann ziemlich aufdringlich sein.“

„Was geschah, als er Roxanne Brady ansprach?“ hakte ich nach.

„Nun, er wollte ihr einen Vortrag über seine seltsamen Ansichten halten.“

„Was für Ansichten?“

„Dass der Satan die Welt beherrscht und so weiter. Deswegen trägt auch ein Kreuz, das verkehrt herum an der Kette hängt. Außerdem wusste er wohl sehr genau über Roxanne Brady Bescheid, was sie natürlich sehr erschrocken hat.“

„Glauben Sie, dass er sie ausspioniert hatte?“

Anselmo schüttelte den Kopf. „Nein, er kommt einfach regelmäßig hier her und hat den Leuten zu gehört. Und Roxanne Brady kam fast immer nach dem Job noch auf einen Drink hier her. Manchmal auch mit Arbeitskollegen, Freundinnen und so weiter. Sie hat aber nie Notiz von ihm genommen, weil sie immer in Gesellschaft war.“

„Dann sah er gestern seine Chance gekommen!“, stellte ich fest.

Anselmo nickte. „Ja, so muss es wohl gewesen sein. Sie war auch irgendwie niedergeschlagen und hatte ohnehin schlechte Laune.“ Der zuckte mit den Schultern und lächelte etwas verlegen. „Das hört sich fast so an, als hätte ich sie besser gekannt...“

„Haben Sie?“

„Nein. Aber als Barkeeper kriegt man wirklich eine Menge mit. Normalerweise geht das beim einen Ohr rein und beim  anderen wieder raus. Lediglich die Vorlieben für die Drinks merke ich mir. Aber wenn es dann plötzlich heißt, dass eine Frau, die fast täglich ungefähr da gesessen hat, wo Sie sich jetzt befinden, plötzlich tot ist...“ Er stockte und sprach dann in gedämpftem Tonfall weiter. „Roxanne war ziemlich gereizt. Sie hat Larry klargemacht, dass sie keine Lust auf sein Gequatsche hat und ist zur Tür raus. Er wollte hinterher, aber ich habe ihn aufgehalten. Er hatte nämlich seinen Drink nicht bezahlt, das gab mir die Möglichkeit, ihr einen Vorsprung zu verschaffen. Ein Service für gute Gäste, verstehen Sie?“

„Und dieser Typ – Larry – ist ihr dann gefolgt“, schloss Josephson.

„Richtig.“ Anselmo blickte auf die Uhr. „Wie gesagt, er kommt fast jeden Tag hierher, aber es noch nicht ganz seine Zeit. Warten Sie eine halbe Stunde, dann könnten Sie Glück haben und ihn treffen...“

„Dann hoffe ich, dass Sie auch etwas Nichtalkoholisches zu trinken haben“, erwiderte Josephson.

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WIR WARTETEN AUF DEN Mann, der Larry genannt worden war. Anselmo versprach, uns ein Zeichen zu geben, wenn er auftauchte.

Dazu postierten wir uns an strategisch günstigen Stellen. Josephson setzte sich in eine Ecke neben der Tür. Milo auf einem Platz, von dem aus man die Tür gut beobachten konnte und ich blieb am Tresen stehen.

„Was ist denn mit Roxanne Brady genau passiert?“, fragte Roy Anselmo plötzlich.

„Sie wurde ermordet“, sagte ich. „Mehr möchte ich im Moment dazu nicht sagen.“ Ich gab ihm meine Karte. „Unter der Handynummer bin ich jederzeit erreichbar. Vielleicht fällt Ihnen ja später noch etwas ein, was uns weiterbringt.“

„Glauben Sie nicht, dass es dieser Typ war? Larry?“

„Das werden wir sehen.“

„Wenn Sie wüssten, was ich mir für Vorwürfe mache. Ich hätte ihn länger aufhalten sollen. Aber...“

„Sie haben sich nichts vorzuwerfen“, meinte ich.

Der Gast im Dreiteiler mischte sich ein. „Sie sind ihm doch sogar noch nachgelaufen und haben ihm draußen nachgeschaut, Anselmo! Mehr kann man wirklich nicht erwarten. Wer hätte denn auch damit rechnen können, dass dieser Spinner ein verrückter Mörder ist.“

„Stimmt das?“, wandte ich mich an Anselmo.

Anselmo nickte. „Ja, aber ich habe keinen der beiden noch gesehen...“

„Verstehe...“

Ich schrieb mir noch die Adresse des Anzugträgers auf. Er hieß Logan Menzinger und arbeitete in der Kreditabteilung eine Bank, zwei Blocks weiter.

Schließlich wandte ich mich wieder an Anselmo. „Bis dieser Larry hier auftaucht könnten Sie mir vielleicht noch etwas von dem erzählen, was Sie über Roxanne so aufgeschnappt haben.“

„Viel ist das im Grunde nicht. Sie arbeitete bei einer Versicherung und hatte dort viel Stress. Es gab da offenbar Pläne, einen Teil der Mitarbeiter zu entlassen. In so fern kann ich gut verstehen, dass Roxanne Brady gestern ziemlich reizbar war.“

„Und dieser Larry? Hat der irgendwann mal über seine persönlichen Dinge gesprochen? Zum Beispiel, welchen Job er hat?“

Anselmo schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“

„Wissen Sie, ob er einen Elektro-Schocker besaß?“

Anselmo war wie vom Donner gerührt.

„Spielt das in dem Fall etwa eine wichtige Rolle?“

„Es war einfach nur eine Frage, Mister Anselmo“, erwiderte ich.

Er nickte schwer. „Da sagen Sie was! Er hatte tatsächlich einen Elektro-Schocker. Und ich glaube, er trug auch eine Waffe.“

„Sie glauben das?“, echote ich.

„Sein Jackett beulte sich unter der Achsel immer ein bisschen aus. Den Schocker trug er in der linken Jacketttasche. Er hat ihn mir mal gezeigt, als er schon ziemlich betrunken war. Larry war vielleicht ein Spinner, der glaubte, dass die Welt von furchtbaren Mächten beherrscht wird. Aber damit verbunden waren auch ungeheure Ängste. Er glaubte immer in Gefahr zu sein, von Kriminellen überfallen zu werden. Jedes Mal, wenn in den Medien ein Überfall gemeldet wurde, sah er das als Bestätigung seiner Theorie über den Satan an. Sie verstehen, was ich meine...“

„Ich denke schon.“

Anselmo blickte an mir vorbei zur Tür. Seine Augen schienen dabei plötzlich ganz starr zu werden. Ich drehte mich um. Ein Mann im hellen Anzug stand dort. Um den Hals hing etwas, das im Licht metallisch aufblitzte.

„Das ist er“, sagte Anselmo.

Larry trat zwei Schritte in die Bar, blieb dann plötzlich stehen.

Mit einer ruckartigen Bewegung drehte er den Kopf.

Der Mann schien so etwas wie einen sechsten Sinn dafür zu haben, um zu bemerken, wenn er verfolgt wurde. Josephson hatte sich inzwischen von seinem Platz erhoben. Milos Hand wanderte unter das Jackett.

„Larry?“, fragte Josephson. Er zog seinen Ausweis hervor. „Police Department. Wir müssen mit Ihnen reden...“

Larrys Augen traten hervor.

Wie angewurzelt stand er da.

Ein Gast betrat die Bar.

Larry packte ihn, riss ihn vor sich, während wir unsere Dienstwaffen zogen. „Ich habe doch alles getan!“, rief er. „Alles, was ihr wolltet! Ich bin doch einer von euch!“

Bei dem Gast handelte es sich um einen völlig verdutzten Banker im Dreiteiler.

Larry setzte ihm den Elektro-Schocker an den Hals.

„Keine Bewegung!“, rief er. „Bleibt, wo ihr seid, oder es wird etwas Schlimmes geschehen!“

„Larry, bleiben Sie ganz ruhig!“, rief ich. „Wir wollen doch nur mit Ihnen sprechen!“

„Ihr sprecht die ganze Zeit zu mir! So laut, dass ich es kaum aushalte. Jetzt lasst mich in Ruhe!“

„Larry!“

Er schleuderte uns den Mann im Dreiteiler entgegen. Dieser taumelte in unsere Richtung.

Gleichzeitig schnellte Larry aus der Tür.

Er wusste genau, dass wir unmöglich schießen konnten, ohne einen Unbeteiligten extrem zu gefährden. Die Tür fiel ins Schloss. Der Mann im  Dreiteiler fiel Josephson vor die Füße.

Ich setzte dem flüchtigen Mann nach.

In Anbetracht der Umstände war er höchst verdächtig. Und sein Verhalten untermauerte diesen Eindruck noch. Ich schnellte mit meiner Dienstwaffe in der Faust auf die Tür zu und riss sie auf. Milo war mir auf den Fersen.

Sekundenbruchteile später stand ich auf dem Bürgersteig.

Larry hatte zum Spurt angesetzt.

Was Roy Anselmo über seine Bewaffnung gemutmaßt hatte, traf leider zu. Larry griff unter sein Jackett und griff nach einer Automatik.

Schüsse peitschten in unsere Richtung. Auf Passanten nahm er dabei keine Rücksicht. Eine Mutter mit Kinderwagen und  ein älterer Herr flohen in eine Türnische. Die Fensterscheiben eines Geschäfts für Computerzubehör gingen zu Bruch. Ein Querschläger kratzte am Lack eines parkenden Fahrzeugs entlang und hinterließ einen Striemen.

Larry rannte vorwärts.

Unser Glück war, dass ihn offenbar nie jemand im schießen richtig ausgebildet hatte, sodass seine Schüsse mehr oder weniger ungezielt waren.

Milo ging an einer Hausnische in Deckung, ich duckte mich hinter den Kotflügel eines blauen Ford, während Larry unablässig Schuss um Schuss abgab. Captain Josephson, der jetzt erst aus Mac’s Bar heraustrat, wurde von einem dieser Schüsse knapp verfehlt. Die Kugel grub sich in das Mauerwerk direkt neben ihm und sprengte ein daumengroßes Loch in den Stein.

Dann erreichte Larry eine Nebenstraße und bog ein.

Wir rannten hinterher.

Josephson folgte uns und rief über Funk Verstärkung. Außerdem gab er Larry in die Fahndung ein.

Ich tastete mich vorsichtig um die Ecke jener Nebenstraße, in die er eingebogen war.

Eine schmale Einbahnstraße, wenig belebt dafür aber fast völlig zugeparkt.

Die Dienstwaffe vom Typ SIG Sauer P226 hielt ich in beiden Händen. Milo folgte mir und sicherte mich ab.

„Der Mann ist verrückt, wir sollten besser nicht damit rechnen, dass er vernünftig handelt“, raunte Milo mir zu.

Captain Josephson überquerte die Straße und bezog auf der anderen Seite Stellung.

„Das Gute ist, der Kerl kann hier nicht einfach in einen Wagen steigen, ohne, dass wir das merken!“, meinte Josephson. „Dies ist nämlich eine Sackgasse.“

Wir sahen die Reihen der parkenden Fahrzeuge entlang. Bei den meisten handelte sich um Pkw. Nur hin und wieder versperrte ein Van oder ein Transporter die Sicht.

Wir arbeiteten uns vorsichtig voran. Vielleicht war Larry auch in einem der Hauseingänge verschwunden. Auf jeden Fall war er gefährlich und nahm bei seinen Handlungen weder auf sich selbst noch auf andere irgendeine Form von Rücksicht.

Ich erreichte die Einfahrt zu einem Hinterhof. Ich tastete mich vor, blickte dann mit der Waffe in der Hand in die  Einfahrt und stellte fest, dass dort niemand war. Ein gusseisernes Tor, etwa zwei Meter fünfzig hoch, versperrte den Zugang zum Hinterhof. In der Mitte war ein Schild angebracht, auf dem Stand: Zulieferer für Mac’s Bar.

Darunter war noch ein Hinweis darauf, dass in der Einfahrt parkende Fahrzeuge kostenpflichtig abgeschleppt würden.

Offenbar gehörte der Hinterhof zur Bar und man wollte vermeiden, dass er als Parkplatz genutzt und zugestellt wurde.

„Dahin kann er nicht verschwunden sein!“, stellte Milo fest.

Mir fiel ein buntes Stück Papier auf dem Boden auf. Nur für eine Sekunde erregte es meine Aufmerksamkeit. Die Worte LAKE ERIE ASSURANCE fesselten mich. Ich zog sofort die Verbindung zu Roxanne Brady, die dort schließlich gearbeitet hatte. Es war offenbar eine Visitenkarte und sie war in keinem guten Zustand. Den einen oder anderen Fußtritt eines Passanten hatte sie schon mitbekommen.

NIEMAND VERSICHERT SIE SO GÜNSTIG!, stand auf der Karte. Ich drehte sie um. In der Ecke waren dienstlicher Telefon- Fax- und Internetanschluss sowie die Zimmernummer von Roxanne Brady zu finden.

„Sieh an!“, murmelte ich.

„Vielleicht hatte sie ihren Wagen hier abgestellt und hat die Karte verloren, als sie in ihrer Handtasche nach dem Wagenschlüssel suchte“, glaubte Milo. 

Im Moment blieb jedoch keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken.

Ein Motor heulte auf. Im nächsten Moment scherte ein viertüriger Chevrolet aus der Reihe der parkenden Fahrzeuge aus. Der Fahrer gab Vollgas und ließ den Motor aufheulen. In einem wahnsinnigen Tempo raste er in dem engen Korridor zwischen den Fahrzeugreihen her...

Ich war mir sicher, dass Larry am Steuer saß, auch wenn ich das von meiner Position aus nicht zweifelsfrei zu erkennen vermochte. 

In diesem Moment bog ein Lieferwagen mit der Reklameaufschrift eines Getränkeherstellers in die Sackgasse ein. Der Fahrer trat in die Eisen. Quietschend kam der Lieferwagen zum stehen, aber für Larry bestand keine Chance, auf der Fahrbahn an ihm vorbeizukommen.

So riss er das Steuer des Chevrolets herum und steuerte durch die Lücke zwischen den parkenden Fahrzeugen, die vor der Einfahrt zum Hinterhof von Mac’s Bar gelassen worden war.

Der Wagen raste auf uns zu. Milo machte einen Satz zur Seite, und rollte sich auf dem Bodden ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu springen.

Allerdings hatte ich keinerlei Möglichkeit, der Wucht des Wagens noch seitwärts zu entkommen.

Ich sprang auf die Kühlerhaube, während Larry den Chevy mit nur unwesentlich gedrosselter Geschwindigkeit über den Bürgersteig brettern ließ.

Milo rappelte sich inzwischen auf und feuerte auf die Hinterreifen. Beide platzten im Abstand von etwa einer Sekunde. Der Wagen brach nach rechts und anschließend nach links aus. Die Kotflügel krachten einmal gegen das Blech der parkenden Fahrzeuge und dann gegen den Stein der Hauswände. Funken sprühten dort. Der Geruch von verbranntem Gummi stach mir in die Nase. Dann verkantete sich der Wagen so, dass er stehen blieb.

Durch den Ruck wurde ich von der Kühlerhaube geschleudert.

Hart fiel ich auf den Boden, rollte mich aber über die Schulter auf dem Asphalt ab. Ein Schuss krachte. Larry hatte seine Waffe hervor gerissen und in meine Richtung gehalten. Der Schuss ging durch die Windschutzscheibe hindurch, verfehlte mich aber und zertrümmerte stattdessen eine Straßenlaterne in zwanzig Meter Entfernung.

Ich war innerhalb eines Sekundenbruchteils wieder auf den Beinen und riss die Waffe empor.

Breitbeinig und in halb geduckter Haltung stand ich vor der Kühlerhaube des Chevy und richtete die schussbereite Pistole auf Larry, der einen Moment lang völlig konsterniert war.

Allerdings wohl weniger wegen meines Einsatzes als auf Grund der Tatsache, dass ein Schwall von Glassplittern ihm entgegengeregnet war, nachdem er die Frontscheibe mit seinem Schuss zertrümmert hatte.

„Waffe weg!“, rief ich. „Sofort!“

Er saß wie erstarrt da. Sein Waffenarm hing herab. Um mich zu erschießen, hätte er die Waffe noch einmal hochreißen müssen. Ich konnte die Anspannung in seinem Gesicht förmlich sehen.

„Über das, was Ihnen jetzt gerade durch den Kopf geht, sollten Sie nicht einmal nachdenken!“, riet ich ihm.

Er schluckte. Gleichzeitig bemerkte ich, wie sich die Muskulatur auf der Seite des Waffenarms bei ihm anspannte.

Vielleicht war es ihm gleichgültig, was passierte. Oder er war verrückt genug, um die Polizei als Instrument zur Inszenierung des eigenen Selbstmordes einfach mit einzukalkulieren.

Inzwischen hatten sich auch Milo und Captain Josephson an den Chevy herangearbeitet.

Als er Milo aus irgendeinem Grund bemerkte und sich halb herumdrehte, blickte er schon in den Lauf seiner Dienstwaffe.

„Es hat keinen Sinn. Es sei denn, Sie sind lebensmüde...“

„Ich wusste, dass ihr so reagieren würdet“, sagte er. „Es stand von Anfang an fest, ihr seid nicht zu täuschen.“

Er ließ sich von Milo widerstandslos die Waffe abnehmen und redete die ganze Zeit über weiter. Auch noch, als die Handschellen klickten und ihm die Rechte vorgelesen wurden. In seinem Fall hatte ich das Gefühl, dass er davon wohl kaum ein Wort mitbekam.

„Jetzt bin ich in eurer Hand“, sagte er. „In der Hand des Bösen...“

„Wir haben keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Larry“, stellte ich fest, nachdem ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.

„Ihr seid doch die Diener des Satans!“, rief er.

„Sind Sie nicht auch einer?“, fragte ich etwas irritiert. „Sie tragen doch das Kreuz falsch herum um den Hals... Soweit ich weiß, ist das das Symbol des Satanismus.“

Seine Augen begannen jetzt fiebrig zu leuchten.

„Nein...“ rief er plötzlich wie irre. „Und ich habe gedacht, ihr hättet mich erkannt! Und dabei hattet ihr keine Ahnung...“

„Bringen wir ihn erstmal in Gewahrsam“, schlug Captain Josephson vor. „Und ich denke, dass als erstes eine psychologische Begutachtung angesagt ist.“

Auch wenn Captain Josephson offenbar die Ansicht vertrat, dass im Augenblick nichts als wertloses Gestammel aus Larry herauskam, sprach ich ihn noch mal an.

„Sie erinnern sich an Roxanne, oder? An ihre roten Haare. Sie sind ihr gestern in Mac’s Bar begegnet.“

Sein Blick veränderte sich.

„Ich erinnere mich.“

„Sie sind ihr gefolgt.“

„Ihr seid allmächtig. Ihr seid allwissend und allsehend. Ihr seid die Diener des Satans. Die Beherrscher der Welt. Warum fragt ihr?“

„Was war mit Roxanne?“, fragte ich. „War sie auch eine Dienerin des Satans?“

„Ich weiß nicht...“, murmelte er und senkte dabei den Blick.

„Ist es hier geschehen?“, hakte ich nach. „Sie sind ihr gefolgt, sie stieg in den Wagen. Sie haben Ihren Elektro-Schocker genommen und...“

„Braucht man!“, fuhr er dazwischen. „Braucht man so eine Waffe! Sonst ist man schutzlos. Aber es nützt nichts. Ihr seid überall.“

Milo schüttelte den Kopf. „Vergiss es Jesse, du wirst hier und jetzt wohl kein vernünftiges Wort mehr aus ihm herausbekommen.“

Ich atmete tief durch. Wahrscheinlich hatte Milo Recht.

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VERSTÄRKUNG DURCH KRÄFTE des Buffalo Police Departments rückte an, um den Gefangenen abzutransportieren. Wenig später traf auch Dr. Franklin Martin ein.

„Ich bin überzeugt davon, dass Roxanne hier betäubt wurde“, meinte ich.

„Haben wir dafür einen schlüssigen Beweis?“, erkundigte sich Dr. Martin.

„Nein, aber er wäre vielleicht zu erbringen.“

„Und wie?“, mischte sich nun Josephson ein, dessen Tonfall seine Skepsis verriet.

„Ich vermute, dass Roxanne ihren Wagen hier abgestellt hatte – das bedeutet, er könnte Reifenspuren hinterlassen haben. Mit etwas Glück sogar ein brauchbares Profil.“

„Sie denken doch nicht etwa daran, hier sämtliche parkenden Fahrzeuge entfernen zu lassen und zwei Dutzende Erkennungsdienstler nach Reifenspuren suchen zu lassen!“, empörte sich Josephson und stemmte dabei seine unwahrscheinlich langen Arme in die Hüften.

„Genau so etwas hatte ich im Sinn, Captain.“

„Hören Sie, das ist Wahnsinn und steht auch überhaupt nicht im Verhältnis zu den zu erwartenden Ergebnissen! Wir haben sehr wahrscheinlich den Täter und es reicht vollkommen, um ihm so viele der zurückliegenden Fälle nachzuweisen, dass er entweder für den Rest seiner Tage in die Psychiatrie oder in die Todeszelle wandert! Wo genau er Roxanne Brady nun betäubt und wo er sie getötet hat, ob das schon hier war oder ein paar Straßenzüge weiter auf dem brachliegenden Gelände dieser Spedition – das spielt doch keine so gewichtige Rolle! Zumal uns Larry sicherlich bald darüber Auskunft geben wird! Da bin ich mir sicher! Diese Typen kenne ich! Die brennen doch regelrecht darauf, wenn sie jemandem ihr verquastes Weltbild erzählen können!“

„Und Sie meinen, vor lauter Dankbarkeit verraten sie uns dann auch Tathergang und Motiv?“

„Bei allem Respekt, Agent Trevellian, aber das wäre nun wirklich nicht das erste Mal.“

„Trotzdem, ich wüsste es gerne genau und würde Sie bitten, eine entsprechende erkennungsdienstliche Aktion anzuordnen. Und zwar möglichst, bevor es einen länger anhaltenden Regenguss gibt, der vielleicht sämtliche noch vorhandenen und verwertbaren Spuren vernichtet.“

Mir war die ganze Zeit schon aufgefallen, was für ein  nachdenkliches Gesicht Dr. Franklin Martin machte. Dem Psychologen und Profiler in den Diensten des Buffalo Police Department schien irgendetwas gegen den Strich zu gehen. Mir war noch nicht so recht klar, was das wohl sein mochte, aber er bot im Moment das Bild eines Menschen, der sehr intensiv nachdachte.

Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Er kratzte sich am Hinterkopf und ich bekam ganz unerwartet einen Bundesgenossen für meine Ansicht...

„Captain, ich wüsste auch gerne, wo genau die Tat stattgefunden hat. Und ich halte es auch nicht für übertrieben, die von Agent Trevellian angesprochene Aktion hier durchzuführen.“

„Und darf ich vielleicht auch den Grund für Ihre Ansicht erfahren?“, fragte Captain Josephson.

Dr. Martin schüttelte den Kopf. „Dafür ist es noch zu früh. Aber ich schlage vor, dass wir uns alle morgen früh zu einem Briefing treffen. Vielleicht bin ich dann mit meiner Analyse schon etwas weiter.“  Als der Profiler die verwirrten und in Josephsons Fall auch ziemlich verärgerten Gesichter um sich herum sah, lächelte er mild und fügte noch hinzu: „Sehen Sie, ich hatte für diese Serie, die wir bisher angenommen haben, nach Durchsicht sämtlicher Unterlagen bisher eigentlich immer einen anderen Tätertyp angenommen. Jemanden, der zwar unter einem Zwang steht und vielleicht auch noch unter anderen, sekundären Zwangserkrankungen leidet, aber nicht jemanden, der unter einem religiösen Wahn leidet. Der Täter, den ich bisher angenommen habe, ist in der Lage sehr überlegt und planvoll zu handeln. Sehen Sie sich doch an, was dieser Larry hier veranstaltet hat! Das gleicht doch mehr einem Amoklauf!“

„Vielleicht haben Sie sich einfach nur geirrt, Dr. Martin.“

Martins Lächeln wurde dünn. „Wir wollen unseren Disput über die Natur des Täters an dieser Stelle nicht noch einmal vertiefen, Captain.“

„Das ist mir durchaus auch lieber so.“

„Und ich will auch keineswegs ausschließen, dass ich mich geirrt habe! Aber dann möchte ich das abgeklärt haben und dabei wäre ich gerne nicht in erster Linie auf die Aussagen dieses Wirrkopfs angewiesen, der vielleicht sogar einen Mord gestehen würde, den er gar nicht begangen hat!“

Josephson wandte sich an mich. „Gratuliere, Agent Trevellian, Sie bekommen Ihre Großaktion. Aber mal Hand aufs Herz: So ein  Zirkus wird doch auch in New York City nicht jedes Mal veranstaltet, wenn irgendein Detail nicht ganz klar ist.“

Ehe ich antworten konnte, hatte Dr. Martin das Wort ergriffen. „Für die Art des angenommenen Täterprofils ist es meiner Ansicht nach von entscheidender Bedeutung, ob der Täter bereits hier zuschlug oder ob das Verbrechen an einem anderen Ort geschah.“

Josephson machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich hoffe nur, dass auch etwas dabei herauskommt“, knurrte er und wählte dann per Handy das Hauptquartier an.

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WIR BLIEBEN NOCH EINE Weile am Ort des Geschehens, während die Erkennungsdienstler mit ihrer Arbeit begannen. Das Schwierigste war dabei die Beleuchtung. Außerdem versuchten zwei Dutzend Police Officers herauszufinden, wem die geparkten Wagen jeweils gehörten. Zumeist wurden sie in den umliegenden Mietshäusern und Geschäften fündig.

Die Arbeit der Kollegen ging ziemlich zäh voran und Josephson fuhr schließlich mit uns zurück zum Hauptquartier.

Dr. Martin beschäftigte sich inzwischen mit dem Festgenommenen. Für den nächsten Morgen wurde ein Briefing verabredet.

Als Milo und ich etwas später auf dem Weg zu unserem Hotel waren, rief Agent Max Carter an.

„Es gibt neue Erkenntnisse über die Müll-Mafia-Organisation, in die Brian Mondale mit seiner JAMAICA BAY verwickelt war.“

„Ist Mondale endlich zur Vernunft gekommen und hat ausgesagt?“, fragte Milo.

„Dass die Spuren in diesem Fall nach Buffalo weisen, war ja schon vorher klar. Schließlich hat Jack Mantaglia dort zumindest einen Auftragsmord begangen, bei dem es unserer Ansicht danach ging, einen Geschäftspartner daran zu hindern sich den Behörden zu offenbaren. Leider haben wir keine Aussage von Mondale. Der verschanzt sich noch hinter einer Mauer, die seine Anwälte um ihn errichten. Aber Randolph Jordan, der Kapitän der JAMAICA BAY war inzwischen zu einer umfangreichen Aussage bereit. Er ist zwar in viele Dingen nicht eingeweiht gewesen, aber immerhin hat er uns ein paar Hinweise gegeben, die interessant sein könnten.“

„Wir sind ganz Ohr“, versprach Milo.

„Jordan gab uns den Hinweis, dass Mondale einer Organisation angehörte, zu deren nächsthöheren Ebene er keinen unmittelbaren Kontakt hatte. Das alles sei über einen Verbindungsmann namens Gregory Sumner gelaufen. Sumner steht schon seit längerem in Verdacht, mit Hilfe von Strohmännern in dubiose Grundstücksgeschäfte verwickelt zu sein.“

„Und es gibt wirklich keinen Hinweis darauf, wer hinter Sumner steht?“

„Nein. Jordan bezweifelt sogar, dass Mondale Näheres darüber weiß. Nat versucht, über das Verfolgen von Geldströmen Näheres zu erfahren. Schließlich sitzt Mondale in Untersuchungshaft und wir haben jetzt die Möglichkeit, seine wirtschaftlichen Verhältnisse genauestens zu durchleuchten. Wir arbeiten da inzwischen eng mit der Steuerfahndung zusammen, aber es würde schon an ein Wunder grenzen, wenn wir da schnelle Ermittlungserfolge verzeichnen könnten.“

„Die Materie ist wohl ziemlich kompliziert“, stellte Milo fest.

Max konnte das nur bestätigen. „Allerdings!“

„Vielleicht könntest du uns ein kleines Dossier über diesen Gregory Sumner zusammenstellen, in dem alles aufgelistet ist, was über seine Geschäftsbeziehungen bekannt ist. Vielleicht ergeben sich dann Zusammenhänge mit unseren Ermittlungen hier in Buffalo.“

„Das ist schon  geschehen“, versicherte Max. „Die Daten sind bereits auf dem Rechner in eurem Sportwagen.“

„Na, bestens!“, sagte Milo.

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DAS HOTEL, IN DEM FÜR uns Zimmer gemietet worden waren, trug den Namen Wellington Plaza und gehörte einer Kette an, die rund um die großen Seen recht verbreitet war. Sowohl in Kanada als auch auf amerikanischer Seite zwischen New York State und Michigan. Es war ein Mittelklasse-Hotel. Bevor wir auf unsere Zimmer gingen, luden wir die Daten, die Max Carter uns geschickt hatte auf ein PDA. Bevor uns am nächsten Morgen mit den Kollegen des Buffalo Police Department zum Briefing trafen, mussten wir uns mit den Daten einigermaßen vertraut machen.

Am Morgen fuhren wir nach dem Frühstück ins Hauptquartier des Buffalo Police Department.

Captain Josephson erwartete uns zusammen mit Detective Sergeant Serena Morgan in einem Konferenzraum. Dr. Franklin Martin traf etwas später ein.

Er gab einen Bericht über die Befragung des Mannes, den wir bisher nur unter seinem Vornamen Larry kannten.

Seine Identität hatte inzwischen festgestellt werden können. Sein voller Name lautete Larry William Basener. Er besaß einen College-Abschluss, arbeitete aber gegenwärtig als Aushilfsfahrer in einer Wäscherei. „Den Job, den er davor in einem Fast Food Restaurant hatte, verlor er, weil er Gäste anpöbelte und sie verdächtigte, vom Satan beeinflusst zu sein“, erklärte Martin. „Der Mann leidet zweifellos unter einer starken Psychose. Er glaubt, dass die Welt vom Satan beherrscht wird, der seiner Ansicht nach fast allen Menschen als eine Art Dämon innewohnen würde. Durch das Tragen eines Satanszeichens, des umgekehrten Kreuzes, glaubte er sich vor dieser feindlichen Umwelt schützen zu können. Er leidet außerdem unter paranoiden Vorstellungen.“

„Und Sie zweifeln noch immer daran, dass wir den Richtigen verhaftet haben?“, fragte Josephson kopfschüttelnd. „Ich denke, dass er unser Mann ist!“

Der Profiler hob die Augenbrauen. „Zumindest hat er aber kein feindseliges Verhältnis zu rothaarigen Frauen“, erklärte Dr. Martin. „Er kam mit drei Jahren in eine Pflegefamilie, weil die Mutter drogensüchtig und nicht in der Lage war, sich um ihr Kind zu kümmern. Welche frühkindlichen Traumata er da erlitten hat, ist bisher schwer zu beurteilen. Da fehlen mir noch wesentliche Informationen. Tatsache ist aber, dass Larry Basener zu einer rothaarigen Pflegemutter kam. Als ich mit ihm über sie zu sprechen begann, wurde er zugänglicher und war mehr und mehr bereit, sich zu öffnen.“

„Kann man seine frühkindlichen Erlebnisse nicht auch als dein  Indiz für seine Täterschaft werten?“, argumentierte Josephson.

Aber der Captain der Homicide Squad bekam für diese Meinung keine Unterstützung. Franklin Martin war anderer Ansicht. Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, die Sache scheint bei Basener etwas anders zu liegen,  als Sie vielleicht denken. Basener hatte ein überaus positives Verhältnis zu seiner Pflegemutter. Er bezeichnet sie als eine der wenigen Menschen, die nicht vom Satan beherrscht würden.“

„Mit anderen Worten, er hat eigentlich keinen Grund, rothaarige Frauen umzubringen“, stellte ich fest.

Martin nickte. „So ist es. Er war übrigens mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Seine Probleme begannen, nach dem Tod der Pflegemutter. Sie starb an Krebs, als er vierzehn war. Danach kam es zum ersten Mal zu einer mehrmonatigen Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Auf die entsprechenden Unterlagen warte ich noch. Aber ich bin mir ehrlich gesagt nicht mehr sicher, ob wir die überhaupt noch brauchen, um Basener als Täter auszuschließen.“

„Weshalb?“, fragte Josephson. „Also für mich ist das längst noch nicht so klar. Vielleicht hat er seiner rothaarigen Pflegemutter nie verziehen, dass sie krank wurde und starb. Kann das nicht auch als ein Im-Stich-Lassen empfunden werden?“

„Völlig richtig, Captain. Aber Tatsache ist nun mal, dass Larry Basener das nicht auf diese Weise verarbeitet hat.“

„Dr. Martin, er hatte einen Elektro-Schocker, er ist dem letzten Opfer gefolgt, das ihm eine Abfuhr erteilte...“

Josephson nippte an seinem Kaffee und es war für mich überdeutlich, dass er diesen Fall einfach nicht mit der nötigen sachlichen Kälte betrachten konnte. Zu tief saß die Niederlage, die ihm der mysteriöse Killer vor Jahren  beigebracht hatte.

Dr. Martin schloss unterdessen sein Laptop an einen Beamer an. Er projizierte eine Karte an die Wand, die den Norden der USA zeigte. Im Westen reichte der Kartenausschnitt bis Idaho, im Osten bis zur Grenze von Maine. Kreuze markierten Orte vor allem in New York State, Ohio, Pennsylvania und Indiana. Außerdem gab es noch eine Reihe von Fragezeichen, die sich vor allem auf Illinois, Michigan und Wisconsin konzentrierten. In Wisconsin gab es außerdem ein Kreuz.

„Sie sehen hier eine geografische Übersicht über alle Fälle, die wir mit dem Red Hair Killer in Verbindung bringen. Die Kreuze bezeichnen Fälle, in denen das sehr wahrscheinlich ist, obwohl wir in manchen davon keine Leiche vorfanden. Aber bei sämtlichen Fällen, die durch ein Kreuz bezeichnet wurden, fanden wir am vermutlichen Tatort zumindest so viel DNA – meistens in Form von Blut – dass wir erstens sicher sein können, dass die betreffende Frau wirklich ermordet wurde und zweitens Rückschlüsse genug auf die Begehungsweise der Tat gezogen werden können, um eine Verbindung zu unserer Serie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit herzustellen. An insgesamt drei Tatorten fanden wir auch Spuren des Täters, die zumindest beweisen, dass drei dieser Fälle von ein und demselben Mann begangen wurden.“

„Ich nehme an, dass bei Larry Basener auch ein Gen-Test durchgeführt wird“, meinte Milo.

Dr. Martin nickte. „Ja, wir erwarten das Ergebnis frühestens übermorgen.“

„Und was sind die Fragezeichen?“, erkundigte ich mich.

„Die Fragezeichen sind Fälle von vermissten Frauen, die von ihren Persönlichkeitsmerkmalen her in das Beute-Schema des Killers passen. Ich habe die über NYSIS zugänglichen Daten verwendet. In wiefern die vollständig sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Es ist durchaus möglich, dass da noch der eine oder andere Fall hinzukommt. Ich habe nun zunächst einmal versucht alle diese Fälle in ein zeitliches Raster zu setzen. Danach hätte der Täter vor zwanzig Jahren mit seinen Morden begonnen, hat darauf wahrscheinlich regelmäßig den Wohnort und den Job gewechselt und ist langsam ostwärts gezogen. Ich konnte übrigens die Zahl der Fragezeichen auf diese Weise reduzieren. Der Täter scheint immer nur Opfer in der näheren Umgebung seines Wohnortes gesucht zu haben und ist dann nach einer Weile weiter gezogen.“

„Vielleicht weil der Fahndungsdruck zu groß wurde?“, vermutete ich.

Martin zuckte mit den Schultern. „Das könnte durchaus ein Grund gewesen sein. Jedenfalls gab es in der Gegend von Buffalo vor sieben Jahren den ersten Fall. Seitdem scheint der Täter diese Gegend nicht mehr verlassen zu haben.“

„Er hatte eine Möglichkeit, die Leichen – wie er glaubte – sicher zu entsorgen“, stellte ich fest. „Norma Jennings wurde vor fünf Jahren getötet und in ein Säurefass gelegt.“

„Gut möglich, dass er sich deswegen sicher fühlte“, nickte Martin. „Wir suchen jedenfalls einem Mann, der um vierzig ist – plus Minus ein paar Jahre. Das trifft auf Larry Basener zu. Er ist 38 Jahre alt. Aber er verbrachte diese gesamten 38 Jahre hier in Buffalo. Die einzigen Unterbrechungen waren Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken in Detroit und in Springfield, Colorado. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Basener in dieser Zeit kreuz und quer durch das Land reiste, um sich seine Opfer zu suchen!“

„Dann fangen wir also wirklich wieder von vorne an?“, fragte Milo.

„Nein, nicht ganz“, meinte Martin. „Wir wissen schon eine ganze Menge über den Täter.

„Unter anderem, dass er Zugang zu eine Giftmülldepot gehabt haben muss“, meinte ich.

„Richtig“, nickte Martin. „Er könnte dort mal gearbeitet haben. Ich wollte noch etwas zum Motiv sagen. Er handelt aus einem Zwang heraus. Er glaubt irrealerweise, dass etwas Schreckliches geschieht, wenn er die Tat nicht vollbringt.  Aber bei der Durchführung geht er sehr planvoll vor – so wie jemand, der unter einem Wasch- oder Kontrollzwang leidet, die Handlung an sich auch mit großer, fachmännischer Akribie ausführt. Dazu passt auch das Entsorgen der Leichen. Es geht ihm nicht darum, Macht zu demonstrieren oder jemandem etwas zu zeigen oder zu beweisen! Ganz im Gegenteil. Und sexuelle Motive scheinen auch ausgeschlossen zu sein. Mit den Jahren verstärkt sich der Zwang. Die zeitliche Frequenz, in der die Handlung durchgeführt werden muss, verringert sich. Er muss immer häufiger töten. Außerdem ist bei der Person, die wir suchen mit Sekundärzwängen zu rechnen.“

„Was meinen Sie damit?“, fragte Milo.

„Es erfordert ungeheure Kräfte, die Zwänge immer zu erfüllen. Schon ein einfacher Kontrollzwang kann zu völliger Erschöpfung führen. Bevor das geschieht gibt es eine Art Notbremse in der menschlichen Psyche. Der Betreffende befreit sich kurzfristig von einem Zwang, in dem er sich einem weniger anstrengenden Zwang unterwirft – zum Beispiel dem, beim Gehen irgendwelchen Linien auf dem Fußboden zu folgen. Unser Mann könnte Ähnliches tun.“

„Gibt es eigentlich Fälle in Kanada?“, fragte ich. „Wir befinden uns hier direkt an der Grenze. Es wäre doch nur logisch, wenn der Täter auch auf der anderen Seite der Grenze zugeschlagen hätte, zumal er sich doch Ihrer Theorie nach mindestens sieben Jahre mehr oder minder ununterbrochen in dieser Gegend aufhält.“

„Und rothaarige Frauen gibt es auch auf der anderen Seite der Grenze“, warf Milo ein.

„Das habe ich bereits abgeklärt“, sagte der Profiler. „Auf kanadischer Seite gibt es keinen einzigen Fall, der ins Raster passt.“

„Das muss einen Grund haben“, meinte Milo.

„Vielleicht war unser Mann einfach nur nie in Kanada!“, warf Josephson ein. Seine Stimme klang leicht genervt. Offenbar hatte er sich schon zu sehr darüber gefreut, dass mit Larry Baseners Verhaftung der ganze Fall gelöst war.

Aber das war er nicht.

„Vielleicht kann er nicht über die Grenze“, schlug ich vor.

„Der Personen- und Warenverkehr ist doch zwischen beiden Ländern frei“, meinte Milo.

„Es wäre möglich, dass er dort straffällig wurde und deswegen nicht über die Grenze kann“, sagte ich.

„Bravo!“, sagte Dr. Martin. „Damit könnten wir ein weiteres Merkmal haben. Vielleicht ist er sogar gebürtiger Kanadier.“

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MILO UND ICH BESCHLOSSEN, die Ermittlungen zunächst da anzusetzen, wo sie zumindest für uns begonnen hatten: Bei den Giftfässern der JAMAICA BAY.

Mit Clinton Barringer, einem Erkennungsdienstler des Buffalo Police Department fuhren wir noch einmal zu dem Speditionsgrundstück, auf dem Roxanne Brady gefunden worden war. „Ich habe inzwischen die Vergleichsdaten über den Inhalt der Fässer erhalten, die Sie und Ihre Leute auf der JAMAICA BAY sichergestellt haben“, erklärte Barringer. „Die Rückstände in den Lagerhäusern lassen darauf schließen, dass hier ähnliche Giftmüllfässer lagerten.“

„Der Konkurs liegt ein halbes Jahr zurück“, stellte ich fest.

„Aber ich nehme an, dass der Giftmüll schon wesentlich länger hier lagerte“, sagte Barringer.

„Mitten in der Stadt – unglaublich!“, meinte Milo. „Wie kommen Sie zu Ihrer Einschätzung?“

„Kommen Sie, ich zeige es Ihnen!“, versprach Barringer. Er führte uns in die Lagerhalle, die wir schon einmal betreten hatten. Aber jetzt konnten wir uns gefahrlos umsehen, ohne befürchten zu müssen, irgendwelche Spuren zu ruinieren. Barringer zeigte uns ein paar Stellen, wo seiner Ansicht nach Säuren in den Beton hineingeätzt und ihn teilweise zersetzt hatten. „Die Beläge, die Sie sehen, kommen von den Fässern, die irgendwann wohl auch durchgefressen worden sind. Okay, die Fässer könnten schon halb zersetzt hier angekommen sein, aber die Spuren im Beton geben eindeutig Auskunft darüber, dass hier über Jahre lang Säure ausgetreten ist.“

„Gibt es irgendwelche Hinweise, woher diese Säurefässer stammten?“ fragte Milo.

Barringer schüttelte den Kopf. „Nein, bisher haben wir leider keine konkreten Anhaltspunkt. Ich habe Ihnen eine Liste von Betrieben zusammengestellt, die hier in der Gegend ansässig sind und dafür in Frage kommen.“

„Dann können wir Ihre Liste mit der abgleichen, die unsere Innendienstler für uns zusammengestellt haben“, warf Milo ein.

Barringer lachte. „Ja, ich verstehe schon, was Sie damit sagen wollen. Es ist ja erstens nicht gesagt, dass die Giftstoffe wirklich aus dieser Gegend stammten. Sie könnten eine ziemlich lange Reise hinter sich gehabt habt haben. Und abgesehen davon, haben die Täter alles Mögliche dafür getan, um zu verhindern, dass man die Stoffe zurückverfolgen kann. Selbst wenn Sie so ein illegales Depot aufspüren, würden Sie keine Etiketten oder Kennzeichnungen an den Fässern finden...“

„Verstehe.“

Den Rest des Vormittags nutzten wir dazu, die Jugendlichen zu befragen, die Roxanne Bradys Leiche entdeckt hatten. Sie besuchten eine der umliegenden High Schools und wir holten sie kurz aus dem Unterricht. Drei Jungen und zwei Mädchen waren von den Kollegen aus Captain Josephsons Homicide Squad notiert worden.

Zuerst waren sie etwas wortkarg.

Der schreckliche Fund, den sie gemacht hatten, war sichtlich ein Schock für sie gewesen.

„Wie oft wart ihr auf dem Grundstück?“, fragte ich.

„Nicht so oft“, sagte ein Junge, der James Napier hieß.

„Vielleicht könnten wir das etwas genauer erfahren?“

Er zuckte mit den Schultern und wich meinem Blick aus.

„Vielleicht zweimal die Woche. Früher war das nicht möglich, da wurde man dort weggescheucht. Aber seid die Lastwagen dort waren und alles weggebracht haben, was sich in den Lagerhallen befand...“

„Was war den dort in den Lagerhallen?“, fragte ich.

„Na, Fässer. Keine Ahnung, was drin war. Die habe sie aufgeladen und weggebracht.“

„Hast du das mit eigene Augen gesehen?“, hakte ich nach.

Er nickte. „ja. Und es stank ziemlich, als sie das Hallentor aufgemacht haben.“

Es stellte sich heraus, dass das erst eine gute Woche her war. Eigentlich passte alles zusammen. Das Speditionsgelände war offenbar eine Art Zwischenlager gewesen und die Fässer waren von dort aus weggebracht worden, um sie endgültig verschwinden zu lassen. Vielleicht über die JAMAICA BAY und den New Yorker Hafen.

Am frühen Nachmittag statteten wir dem Konkursverwalter der Speditionsfirma einen Besuch ab. Er hieß Knowle Brannagan und unterhielt sein Büro in einem der Bürotürme südlich des New York State Expressway, der quer durch Buffalo führte.

Brannagan zeigte wenig Neigung, mit uns zusammen zu arbeiten.

„Sie werden verstehen, dass ich es vorziehe, wenn Sie mich in Gegenwart meines Anwaltes befragen.“

„Das ist Ihr gutes Recht“, sagte ich. „Aber Sie sind im Moment weder ein Verdächtiger, noch werden Sie irgendeiner Straftat beschuldigt. Wir stellen lediglich ein paar rein informatorische Fragen.“

Brannagan war Ende dreißig, hatte ein sehr kantiges Gesicht und trug einen Maßanzug, der sicher das Monatsgehalt eines FBI-Agenten kostete. Er schien uns als seine natürlichen Feinde zu betrachten. Wir warteten eine geschlagene halbe Stunde, bis schließlich sein Anwalt auftauchte. Dessen Name war Sam Kyle – ein drahtiger Mann mit hoher Stirn und einem Haarkranz aus weißblonden Haaren.

Allein die Tatsache, dass Sam Kyle hier auftauchte, war für uns mehr wert, als es jede unwillig gegebene Antwort von Brannagan hätte sein können. Der Name Philip Kyle war uns nämlich ein Begriff. Er tauchte in den Daten auf, die Max uns übersandt hatte. Sam Kyle hatte Gregory Sumner mehrfach vor Gericht vertreten.

Bingo!, dachte ich. Die erste direkte Verbindung zwischen der JAMAICA BAY und dem Grundstück, auf dem Roxanne Brady gefunden war.

„Mein Mandant hat sich nichts zu schulden kommen lassen“, sagte Kyle. „Und Auskünfte über das Konkursverfahren, das Sie angesprochen haben, geben wir nur auf eine richterliche Anordnung.“

„Was mit Fragen zu Ihrer Person, Mister Kyle?“, fragte ich.

Kyle hob die Augenbrauen. Seine Stimme klang wie klirrendes Eis. „Ich glaube, ich verstehe nicht richtig was Sie meinen. Alles, was meine Person betrifft, können Sie auf der Homepage meiner Kanzlei nachlesen.“

„Ich dachte, was Ihr Verhältnis zu Gregory Sumner betrifft“, erwiderte ich.

„Ich rede nicht über Mandanten mit Ihnen, Mister...“

„Agent Trevellian. Das heißt also, Sie vertreten noch immer Mister Sumners Interessen.“

„Ich denke, das Gespräch ist hiermit beendet. Mein Mandant macht Ihnen gegenüber keine Aussage, es sei denn, Sie laden ihn offiziell vor.“

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EIN ERFOLG WAR DEINE Gesprächsstrategie ja nun nicht gerade, Jesse“, musste ich mir Milos Kritik anhören, nachdem wir das Büro von Knowle Brannagan verlassen hatten und uns wieder in den Sportwagen setzten, den wir auf einem zum Haus gehörenden Parkplatz abgestellt hatten.

„Du hättest es ja besser machen“, erwiderte ich.

Ich aktivierte den in die Armaturen integrierten TFT-Bildschirm und sah nach, ob uns unser Field Office irgend etwas an neuen Daten übersandt hatte. Aber das war nicht der Fall.

„Wenn die Fässer dort schon länger gelagert waren, dann kann das eigentlich nur bedeuten, dass die Spedition bereits seit längerem nur ein Tarngeschäft gewesen ist“, stellte ich fest.

Milo nickte. „Das ist anzunehmen. Vielleicht sollte man die letzten Besitzer der Spedition festnehmen und verhören. Die müssten doch wissen, mit wem sie sich eingelassen haben...“

„Wenn nicht einmal Mondale den Kopf der Organisation kennt?“, fragte ich zurück. „Nein, das ist doch gerade der Trick bei der Sache. Die einfachen Strohleute müssen den Kopf hinhalten, aber das Ganze ist so organisiert, dass die Spur allenfalls zur nächsten Etage in der Organisation führt. Aber niemals bis zu den Hintermännern.“

„Die nächste Etage heißt in diesem Fall wohl Gregory Sumner“, stellte Milo fest.

Dem konnte ich nur zustimmen. „So ist es. Und im Moment haben wir außer der Aussage des Captains der JAMAICA BAY keine Beweise gegen Sumner. Der würde den Teufel tun und uns seinen Boss verraten!“

Milo seufzte, während ich den Motor des Sportwagen startete. Der Motor hatte einen angenehm kraftvollen Klang. „Ich hoffe nur, dass wir am Ende nicht mit leeren Händen dastehen und weder den Red Hair Killer noch die Hintermänner der JAMAICA BAY Affäre dingfest gemacht haben.“

„Seit wann neigst du denn derart zum Pessimismus?“

„Das ist nur Realismus, Jesse. Und das ist etwas ganz anderes.“

„Ich bitte dich, Milo!“

„Ist doch wahr!“

Ich fädelte mich in den Verkehr ein. „Ich bin dafür, dass wir Sumner einen Besuch abstatten“, sagte ich schließlich, nachdem wir den New York State Expressway erreicht hatten, aus dem jenseits der kanadischen Grenze der QEW wird, was die Abkürzung für Quebec Expressway ist, was irgendwie nicht ganz logisch war, denn er führte durch den Süden von Ontario und keineswegs durch Quebec.

„Du willst Sumner noch mehr aufschrecken?“, fragte Milo „Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist, Jesse!“

„Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, etwas Bewegung in die Sache zu bringen. Oder willst du abwarten, bis dieser Kyle unseren Gesprächspartner dermaßen auf Krawall gebürstet hat, dass der ebenfalls nicht mehr mit uns reden will?“

„Vielleicht hast du Recht. Aber ich bin dafür, dass wir vorher etwas essen. Mir knurrt nämlich der Magen.“

Zehn Minuten später saßen wir in einem Fast Food Lokal an der Washington Lane. Eine Zeitung lag dort aus. Es war der Buffalo Herald.

Die Titelseite berichtet ausführlich über unsere Aktion im Hafen von New York City, bei der wir die JAMAICA BAY aufgebracht und daran gehindert hatten, ihre todbringende Fracht außer Landes zu bringen.

Die Verbindungen, die der Fall nach Buffalo hatte, wurden natürlich herausgestellt. Auf Seite zwei wurde der Fall Norma Jennings, deren Brustimplantat in einem der Fässer der JAMAICA BAY gefunden war, ausführlich ausgebreitet. Ihr Verschwinden, die bisherigen vergeblichen Bemühungen der Polizei, die Serie des Red Hair Killers aufzuklären und zur Abrundung der Story ein Kurzinterview mit den tief getroffenen Angehörigen.

„Das wird uns nicht gerade helfen“, murmelte ich und gab Milo die zusammengefaltete Zeitung.

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GREGORY SUMNER ZUCKTE zusammen, als das Telefon klingelte. Von seinem Penthouse aus hatte man einen traumhaften Blick auf den Erie-See. Sumner war ein mittelgroßer Mann mit einem Gesicht, dessen hängende Wangen an eine Dogge erinnerten. Er hatte die Hände tief in den Taschen seiner weiten Flanellhose vergraben. Am Gürtel trug er einen leichten 22er Revolver im Holster. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den Hals. Er schwitzte. Es klingelte noch einmal.

Mit einer Bewegung, die ihn sichtliche Überwindung zu kosten schien, nahm er ab.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nicht mehr anrufen sollen, Mister Anselmo... Ja, ich weiß! Ich werde sehen, was ich tun kann, aber ich bin nicht Jesus! Wunder vollbringen gehört nicht in mein Repertoire!“

Dann schwieg Sumner plötzlich.

Der Kinnladen fiel ihm herab und sein Gesicht verlor den letzten Rest an Farbe.

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SUMNER RESIDIERTE IN einem der nobelsten Gebäude von Buffalo. Er nannte ein Traum-Penthouse sein eigen, dessen Anschaffungspreis so hoch war, dass ein einfacher FBI-Agent wohl kaum eine Chance gehabt hätte, die Summe zu Lebzeiten jemals abzuzahlen. 

Wir ließen uns mit dem Aufzug bis zu Penthouse tragen.

Vor der Tür blickten wir in ein Kamera-Auge. Ich betätigte die Klingel.

„Was wollen Sie?“, fragte eine etwas unwirsch klingende Stimme, nachdem ich es zum dritten Mal versucht hatte.

„Jesse Trevellian, FBI. Mein Kollege Agent Tucker und ich haben ein paar Fragen an Sie, Mister Sumner.“

Einige Augenblicke knackte es nur im Lautsprecher. Dann sagte die Stimme: „Halten Sie Ihre Ausweise in die Kamera, damit ich sie sehen kann. Schließlich kann jeder behaupten, was er will.“

Ich hielt ihm also meine ID-Card in die Überwachungskamera. Er wollte auch noch Milos Dienstausweis sehen und so kam mein Kollege der Aufforderung nach und hielt ihn ebenfalls so hin, dass er sich im Erfassungsbereich des Kameraauges befand.

Dann glitt endlich die Tür automatisch zur Seite.

Ich hatte gleich im ersten Moment den Eindruck, dass Sumner ziemlich mitgenommen aussah. Wie jemand, der gerade eine furchtbare Nachricht erhalten hatte, die ihn völlig aus der Fassung brachte.

Vielleicht waren wir ja in seinen Augen die Schreckenboten...

„Ich nehme an, dass Sie gerade einen Anruf erhalten haben“, sagte ich.

Er hob die Augenbrauen. „So?“

„Von Mister Kyle, Ihrem Anwalt.“

„Nein, das stimmt nicht. Aber vielleicht sagen Sie mir zunächst, was Sie eigentlich von mir wollen.“

„In New York City wurde ein Frachter namens JAMAICA BAY von uns aufgebracht, um eine Ladung von Giftmüll sicherzustellen, die illegal entsorgt werden sollte“, erklärte ich.

Unser Gegenüber verzog jedoch nur das Gesicht. „Ach, ja?“, fragte er mit einem ziemlich überheblichen Unterton.

„Sagen Sie bloß, Mister Kyle hat Ihnen nicht abgeraten, mit uns zu sprechen?“, fragte Milo.

„Erstens lassen Sie mir ja wohl ohnehin keine Wahl und zweitens habe ich mit Mister Kyle nicht gesprochen, ob Sie es nun glauben oder nicht.“

„Sie sollten sich gut überlegen, ob Sie nicht einen anderen Anwalt für sich tätig sein lassen“, erklärte ich.

„Am Besten, Sie kümmern sich um Ihren eigenen Kram und lassen ehrlich arbeitende Geschäftsleute einfach in Ruhe ihren Job machen, G-man!“, knurrte Sumner ziemlich giftig.

Er drehte sich um und ging durch eine zweiflügelige Tür ins Wohnzimmer. Durch ein Handzeichen bedeutete er, dass wir ihm folgen sollten. Vom Wohnzimmer aus hatte man einen traumhaften Blick auf Buffalo und den Erie-See.

Es war ein heller, klarer Tag und dann war es aus dieser Höher sogar möglich, bis zum kanadischen Ufer des Erie-Sees hinüberzublicken.

Sumner deutete auf die klobigen Ledersessel. „Setzen Sie sich und dann verraten Sie mir mal, wieso ich mir einen  anderen Anwalt nehmen sollte.“

„Vielleicht deswegen, weil Mister Kyle auch noch jemand anderen vertritt, mit dem sich Interessensgegensätze ergeben könnten.“

„So?“

„Ich spreche von Knowle Brannagan.“

„Am Besten, Sie sagen mir jetzt, was Sie von mir wollen und hören auf, mir die Zeit zu stehlen! Ich habe nämlich viel zu tun!“

„Sie und Brannagan hängen in einer Organisation drin, die mit der illegalen Entsorgung von Müll einen Haufen Geld verdient“, erwiderte ich. „Nur leider ist im New Yorker Hafen kürzlich ein Schiff namens JAMAICA BAY aufgebracht worden – und damit wurde das ganze Ausmaß dieser Machenschaften offenbar. Was glauben Sie, wie lange Ihr Geschäftspartner Mister Mondale noch sein Schweigen aufrecht erhält? Vielleicht ist er jetzt in diesen Moment gerade dabei, mit dem Staatsanwalt einen guten Deal abzuschließen, der es ihm erlaubt in ein paar Jahren wieder draußen zu sein, nur weil er Leute wie Sie ans Messer liefert.“

Schritte waren zu hören. Die Tür zu den Nachbarräumen hatte bis dahin halb offen gestanden. Jetzt öffnete sie sich vollends. Eine junge Frau stand dort. Sie trug einen kurzen Kimono. Das Haar fiel ihr lang über Schultern. Sie war blond. „Du hast Besuch, Darling“, fragte sie und stemmte einen Arm in die Hüfte.

„Verschwinde, Janice!“, knurrte Sumner. „Das hier ist geschäftlich.“

Sie musterte uns kurz und knapp. Dann drehte sich um und schloss hinter sich die Tür.

Sumner wandte sich mir zu. Er fuhr seinen Zeigefinger aus wie ein Klappmesser und sein Gesicht war zur Maske erstarrt. „Entweder Sie sagen mir jetzt ganz schnell, was Sie von mir wollen, oder ich weise den Sicherheitsdienst des Hauses an, Sie vor die Tür zu setzen. Solange Sie keine Vorladung oder einen richterlichen Durchsuchungsbefehl haben, schützt Sir  nämlich keine FBI-Marke davor!“

„Arbeiten Sie mit uns zusammen, Mister Sumner! Die Leute, für die Sie den Kopf hinhalten, sind es nicht wert! Die würden Sie doch auch nicht schützen! Reden Sie mit uns. Und dann ist da übrigens noch etwas.“

Ich zeigte ihm auf dem PDA ein Bild von Roxanne Brady. Es war eines der Tatortfotos und daher entsprechend hart. Auch wenn Sumner so tat, die Sache ließ ihn nicht kalt. Vielleicht war es doch für etwas gut gewesen, dass so viel darüber in den Zeitungen und anderen Medien breitgetreten worden war.

„Was habe ich mit diesem Kerl zu tun, der Rothaarige umbringt?“, fragte er. „Ich habe davon in der Zeitung gelesen“, fügte er noch hinzu, um einer entsprechenden Nachfrage zuvor zu kommen. 

„Packen Sie jetzt aus, Sumner. Dann komme Sie günstig dabei weg. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir Ihre Organisation das Wasser abgraben!“

„Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß dabei, G-man!“ Er lachte heiser. „Und kommen Sie meinetwegen wieder, wenn Sie Beweise haben!“

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AM FRÜHEN ABEND FUHREN wir noch einmal zu Mac’s Bar.

„Hat es irgendeinen bestimmten Grund, dass du unbedingt noch einmal dort hin möchtest?“, fragte Milo.

„Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dort etwas übersehen zu haben. Aber das kann auch nur Einbildung sein.“

„Naja, bevor wir uns bei Captain Josephson sehen lassen kann eine kleine Erholungspause vielleicht nicht schaden“, meinte Milo.

Keiner von uns sprach es offen aus, aber wir traten auf der Stelle. Und zwar sowohl bei der Suche nach dem Red Hair Killer als auch was die Hintermänner der JAMAICA BAY-Affäre betraf. Es war wie so häufig im Kampf gegen das organisierte Verbrechen: Man wusste mehr, als sich gerichtlich verwerten ließ. Sumner war momentan noch nicht angreifbar.

Auf der Fahrt zu Mac’s Bar rief Milo im Field Office an, um sich zu erkundigen, wie weit unserer Kollege Nat Norton mit der Analyse der Geldströme dieses Müll-Syndikates bereits war. Aber es wurde schnell klar, dass da so schnell keine Wunderdinge zu erwarten waren.

Vor allem nicht schnell.

Und was den Fall des Frauenmörders anbetraf, der es auf rothaarige Opfer abgesehen hatte, tappten wir noch immer völlig im Dunkeln. Ein Mann war verhaftet worden, der vielleicht Hilfe brauchte und wahrscheinlich auch um einen längeren Aufenthalt in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung nicht herumkam, den man aber als Täter wohl inzwischen mit ziemlich großer Sicherheit ausschließen konnte.

Kurz nachdem Milo das Gespräch mit unserem Field Office beendet hatte, klingelte es.

Am Apparat war das Buffalo Police Departement.

Captain Josephson persönlich war am Apparat.

„Was gibt es, Captain?“

„Die Analyse der Reifenspuren liegt vor, die auf Ihre Veranlassung hin gemacht wurden“, erklärte er.

„Und?“, hakte ich nach.

„Der Vergleich mit dem Profil mit dem Wagen von Roxanne Brady hat einen Volltreffer ergeben. Wo sind Sie jetzt?“

„Wir waren ohnehin auf dem Weg zu Macs Bar.“

„Dann treffen wir uns am besten dort und sehen uns hinterher an, wo genau der Wagen gestanden hat.“

„In Ordnung“, bestätigte ich.“

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WIR WAREN NATÜRLICH vor Josephson in Mac’s Bar.

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Der Betrieb hatte gerade erst begonnen und es waren kaum Gäste im Raum. Ein junger Mann mit blonden, kurz geschorenen Haaren stand hinter dem Tresen.

„Wo ist eigentlich Mister Anselmo?“, fragte ich.

„Ich habe keine Ahnung.“

Ich legte meine ID-Card auf den Tisch. „Wir hätten noch die eine oder andere Frage an ihn.“

„Vielleicht kann ich ihnen weiterhelfen. An dem Abend, als diese rothaarige Frau hier in der Nähe ermordet wurde, war ich nämlich auch hier in der Bar, allerdings im hinteren Bereich.“

„Ach, so.“

„Ich habe gehört, der verrückte Larry ist inzwischen festgenommen worden. Gut so, der konnte einem wirklich den letzten Nerv rauben. Aber einfach vor die Tür setzen – das hätte unser Chef nicht mitgemacht. Mister MacConroy hat nämlich ein Herz für Leute, die etwas neben der Spur sind. Er sagt immer, dass er selbst mal ein armer Hund war, bevor er diese Bar erbte und aus ihr das Schmuckstück machte, das sie  heute ist.“

„Der Mann, den wir festgenommen haben, ist vielleicht aber  nicht der Red Hair Killer. Auch deswegen hätte ich Mister Anselmo gerne noch mal gesprochen.“ 

Der Barkeeper beugte sich über den Tresen und fuhr in gedämpftem Tonfall fort: „Also, im Vertrauen, Sir... Roy Anselmo hat heute Morgen gekündigt.“

„Wo wohnt Mister Anselmo?“

„Eine Straße weiter in der Bellanova Street, Hausnummer 18, Apartment C 033.“

„Danke. Noch eine Frage: Sie sagten, Sie wären an dem Abend, als Roxanne Brady ermordet wurde, auch hier gewesen.“

„Sicher“, nickte der Barkeeper.

„Anselmo ist anschließend noch auf die Straße gegangen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist – richtig?“

„Ja, das stimmt.“

„Wie lange hat das gedauert?“

„Keine Minute.“

„Und danach?“

Der blonde Barkeeper runzelte die Stirn. Er schien nicht auf Anhieb zu begreifen, worauf ich hinaus wollte. „Wie meinen Sie das?“

„War Roy Anselmo danach die ganze Zeit hier im Schankraum? Oder ist er vielleicht mal nach hinten raus gegangen. – über den Lieferantenausgang und den Hinterhof, von wo aus man sehr schnell in der Straße ist, wo Roxannes Wagen stand.“

„Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass Anselmo irgendetwas mit der Tat zu tun hat! Das kann...“ Er stockte.

„Sagen Sie mir, was geschah“, forderte ich unmissverständlich.

Der Blonde schluckte. „Er hat für den Abend Schluss gemacht.“

„Unmittelbar, nachdem er wieder hereingekommen war?“

„Genau. Er hatte noch Überstunden abzufeiern. In so fern war das in Ordnung. Auf der anderen Seite können die Mitarbeiter natürlich eigentlich nicht so einfach machen, was sie wollen, aber seid Mister MacConroy wegen seiner Fußverletzung nicht hinter allem her sein, kann...“

„Ich verstehe schon“, murmelte ich und wandte mich an meinen Kollegen. „Komm, Milo.“

„Ist das dein Ernst, Jesse?“

„Mein voller. Zumindest müssen wir die Möglichkeit, dass es Anselmo war ausschließen.“ Und an den blonden Barkeeper gewandt, fügte ich noch hinzu: „Falls ein gewisser Captain Josephson von der Homicide Squad hier auftauchen sollte, dann sagen Sie ihm doch bitte, er soll mich auf dem Handy anrufen.“

„Ja, Sir.“

Ich gab dem Barkeeper meine Karte. Dann wandte ich mich zum Gehen. „Komm, Milo, ich fürchte es gibt Arbeit!“

„Würdest du mir freundlicherweise mal verraten, welche Gedanken dir im Moment gerade durch den Kopf spuken?“

„Einen Moment. Die muss ich selbst gerade ein bisschen sortieren, Milo!“

Wir verließen Mac’s Bar und traten ins Freie. Ein kühler Wind fegte vom Erie-See zwischen den Häuserzeilen hindurch.

Milo und ich gingen zu Roy Anselmos Adresse. Da es schwierig genug gewesen war, für den Sportwagen einen Parkplatz zu bekommen, gingen wir zu Fuß. Das Haus, das der blonde Barkeeper in Mac’s Bar uns angegeben hatte, war ein Mietshaus mit etwas heruntergekommener Brownstone-Fassade. Es hatte zehn Stockwerke. Überwachung durch einen Security Service oder Kameras gab es nicht. Ich suchte die Klingel mit Anselmos Namen, fand sie aber nirgends. Also klingelte ich bei jemand anderem. Um diese Zeit waren die meisten Leute bereits zu Hause, daher hatten wir Glück.

„Ja, bitte?“, fragte eine Stimme, von der ich annahm, dass sie einem älteren Mann gehörte.

„Agent Trevellian, FBI, bitte machen Sie uns die Tür auf.“

„Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich vom FBI sind und nicht zu den Trickbetrügern gehören, vor denen im Fernsehen gewarnt wurde?“

„Sie behindern gerade die Verfolgung eines Straftäters – und ich denke nicht, dass das wirklich in ihrem Sinn ist“, gab ich zurück.

Einige Augenblicke lang hörte ich nichts mehr. Dann surrte es und die Tür öffnete sich.

De Aufzug war defekt. Wir gingen über das Treppenhaus in den dritten Stock und hatten wenig später Roy Anselmos Apartmentnummer erreicht. Allerdings wies nichts mehr darauf hin, dass er hier wohnte oder gewohnt hatte. Ein Schild war vor kurzem abgenommen worden, wie man anhand von Umrissen und Schraubenlöchern sehen konnte. Ich betätigte die Klingel.

„Mister Anselmo?“, fragte ich.

Keine Antwort.

„Mister Anselmo, hier spricht Jesse Trevellian, FBI!“

Erneut keine Reaktion. Milo und ich wechselten einen kurzen Blick. Die Tür bewegte sich ein Stück und bildete einen Spalt. Sie war offenbar nur angelehnt gewesen. Ich zog die Dienstwaffe und nahm den Griff in beide Hände. Dann stieß ich die Tür auf. Schon im nächsten Moment ließ ich den Lauf der Waffe wieder sinken. Es war niemand dort. Wir traten ein. Der Wohnungsschlüssel steckte von innen in der Tür. Das Apartment war offenbar möbliert zu vermieten gewesen. Aber nirgends befanden sich in den Schränken und Regalen noch persönliche Gegenstände.

Milo stieß die Tür zur Küche auf, ich nahm mir das Bad vor. Überall bot sich das Bild einer Wohnung, deren Bewohner gerade ausgezogen war. Alles war gründlich gereinigt. Im Bad glänzten die Armaturen. Der Geruch eines Desinfektionsmittels hing in der Luft und erinnerte mich an die typischen Gerüche einer Klinik. Ich steckte die Waffe wieder ein.

„Ich fürchte, Mister Anselmo sehen wir so schnell nicht wieder, Jesse“, meldete sich Milo zu Wort.

Ich nickte. „Das scheint mir auch so.“

„Aber ist das so wichtig?“

„Ja, das ist es, Milo! Immerhin hat seine Zeugenaussage dazu geführt, dass wir den Falschen verhaftet haben!“

„Moment mal – du denkst, dass Anselmo unser Mann sein könnte?“

„Das weiß ich nicht – aber ich weiß, dass mit ihm was nicht stimmt. Warum verschwindet er plötzlich so spurlos? Das sieht doch wie eine Flucht aus!“

„Das mag merkwürdig sein – aber es ist nicht einmal der Hauch eines Indizes, Jesse!“, gab Milo zu bedenken.

Ein Geräusch ließ uns herumfahren.

Die Tür hatte sich in der Zwischenzeit bis auf einen Spalt wieder geschlossen. Etwas stieß dumpf gegen das Holz.

Wir drehten uns um und hoben instinktiv die Dienstwaffen.

„Sind Sie da?“, rief eine heisere Stimme.

Jetzt vergrößerte sich dieser Spalt knarrend wieder. Als die Tür sich weit genug geöffnet hatte, blickte uns ein hagerer alter Mann erschrocken an. Er trug Krücken und mit einer davon hatte er die Tür angestoßen. Jetzt verlor er vor Schreck fast das Gleichgewicht, weil er die Krücke nicht schnell genug wieder auf den Boden setzte.

Mit geweiteten Augen starrte er in die Mündungen unserer Waffen, die wir natürlich sofort senkten.

„Ich tu Ihnen nichts“, sagte er. Ich schätzte sein Alter bei achtzig plus x ein. An seiner etwas schleppenden Art zu sprechen erkannte ich sofort die Stimme aus der Sprechanlage wieder.

„Sie haben uns geöffnet, nicht wahr?“

„Ja, und ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich da nicht einen Fehler gemacht habe!“

Auf seiner Stirnmitte erschien eine ziemlich tiefe Furche. Sein Gesicht hatte eine ovale Form und war abgesehen von einem weißen Kranz so gut wie haarlos.

Ich steckte die Dienstwaffe ein und holte meine ID-Card hervor. Dann trat ich auf ihn zu und hielt ihm das Dokument hin.

„Sehen Sie sich das gut an. Ich bin wirklich vom FBI.“

Er blinzelte. „Wie soll unsereins denn diese Minischrift lesen können? Die drei Buchstaben FBI sind zwar erkennen, aber...“

„Tja, mehr kann ich nicht tun, um Ihnen zu beweisen, wer ich bin, Sir.“

„Sie können mir die Brille aus der Jackentasche nehmen und mir auf die Nase setzen. Wenn ich nämlich die Krücken loslasse, falle ich hin.“

Ich holte ihm also die Brille aus der Tasche und setzte sie ihm auf die Nase. Anschließend sah er sich meinen Ausweis noch mal an. „Sieht echt aus“, meinte er dann.

„Und wenn ich ein Trickbetrüger wäre, hätte ich Ihnen jetzt sowieso schon alles wegnehmen können, was Sie in den Taschen haben“, sagte ich.

Sein Blick streifte interessiert durch das Innere des Apartments. „Ich könnte mich ja mal auf das Sofa da vorne setzen!“, murmelte er und humpelte vorwärts.

„Sie könnten Spuren vernichten“, sagte ich, aber es war schon zu spät.

Er hatte sich auf dem Sofa niedergelassen. Er verlangte jetzt auch Milos Ausweis zusehen. Milo zeigte ihm die ID-Card und meinte dann: „Da Sie jetzt wissen, wer wir sind, wäre es eigentlich ganz höflich, wenn Sie sich auch mal vorstellen würden!“

„Cyrus Norman. Haben Sie das Schild nicht gelesen, auf das Sie gedrückt haben? Wahrscheinlich nicht. Sie wollten nur irgendeinen Idioten dazu bringen, aufzustehen und einen Knopf zu drücken, damit sich unten die Tür öffnen lässt. Und das haben Sie dann ja auch geschafft! Wissen Sie eigentlich, was das für mich bedeutet hat? Ich bräuchte dringend ein neues Knie, aber ich habe leider keine Krankenversicherung, deswegen muss ich mit diesen Dingern hier herumlaufen.“ Er deutete auf seine Krücken, die er rechts und links neben sich an die Sofakante gelehnt hatte.

Milo atmete tief durch.

„Wir wussten ich, dass Sie schlecht zu Fuß sind, Mister Norman“, sagte er.

„Das sage ich doch immer!“ erwiderte er und eine dunkle Röte überzog dabei sein Gesicht. „Genau das sage ich immer! Gedankenlosigkeit ist das Schlimmste! Ich muss mich mit meinen müden Knochen aus dem Sessel quälen, auf dem ich gerade eine Möglichkeit gefunden habe, bequem zu sitzen und Sie machen sich noch nicht einmal Gedanken darum! Oder nehmen Sie den Kerl, der hier wohnte, das war doch auch so einer, der sich über nichts Gedanken machte... Ich meine, wer schon in einer Bar arbeitet! Man kennt das doch! Nachtleben, schnelle Bekanntschaften... Wahrscheinlich Drogen...“

„Kannten Sie Mister Anselmo näher?“, fragte ich.

„Er sah meinen Sohn ähnlich“, sagte Norman. „Also meinem zweiten Sohn von meiner ersten Frau. Mit meiner zweiten hatte ich keine Kinder. Sie starb im vergangenen Jahr. Wo meine erste Frau jetzt lebt, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit unsere Tochter geheiratet hat. Übrigens einen Schwarzen. Meine Frau war deswegen dagegen, aber ich habe ihr immer gesagt, wenn die beiden...“

Er redete einfach immer weiter und Milo warf mir einen hilflosen Blick zu, der nichts anderes zu sagen schien als: Wie bekommen wir den Mann hier wieder weg?

Ich unterbrach schließlich höflich, aber bestimmt seinen Redefluss.

„Mister Norman, wir haben noch einiges zu tun. Nachdem Sie nun hoffentlich überzeugt sind, dass wir rechtmäßig hier unsere Arbeit machen, wäre es vielleicht besser, wenn Sie zurück in Ihre Wohnung gehen. Ist Ihre Wohnung hier auf dem Flur?“

„Eine Tür weiter. Ich habe Sie reden hören und da dachte ich mir, ich schaue mal nach, was das los ist. Die Wände sind nämlich ziemlich hellhörig, müssen Sie wissen.“ Er kratzte sich am Kinn. „Was ist denn hier eigentlich passiert?“

„Mister Norman...“

„Ich meine, wenn Sie Anselmo suchen, verstehe ich nicht, was Sie hier noch wollen!“

„Das lassen Sie mal unsere Sorge sein.“

„Ich habe ihn heute Morgen getroffen, als er das Haus verließ und seine Sachen nach draußen getragen hat. Viel war das nicht. Einen Umzug würde ich das nicht nennen, aber ich glaube, er ist ganz schön herumgekommen, wie er mir mal sagte. Deshalb hat er wohl nie viel Hausrat angehäuft.“

Ich sah ihn verwundert an. „Ich dachte, Sie sind so schlecht zu Fuß? Und dann laufen Sie im Flur herum?“

„Nur in diesem Stockwerk. Man muss doch etwas fit bleiben. Außerdem habe ich meinen Kumpel Artie erwartet, der zum Schachspielen vorbeischauen wollte und sich verspätet hat.“

Jetzt mischte sich Milo ein. „Sie haben gesagt, die Wand wäre sehr hellhörig. Haben Sie mal mitbekommen, was hier so vor sich ging?“

„Sie meinen, wenn er Besuch hatte?“, schloss Norman.

Milo nickte. „Zum Beispiel.“

„Das war ein ziemlicher Casanova, würde ich sagen. Ich habe ihn nicht einmal mit derselben Frau angetroffen, auch wenn wer seinem Typ eigentlich immer treu geblieben ist.“

„Seinem Typ?“, echote ich.

„Rote Haare. Ja, schauen Sie mich nicht so an, das ist mir schon aufgefallen. Alle Frauen, mit denen ich ihn gesehen habe, hatten rote Haare. Manchmal kürzer, manchmal länger, manchmal glatt, manchmal gelockt...“ Er beugte sich vor und sprach in einem leiseren, verschwörerisch klingenden Tonfall weiter. „Ich wette, dass der Kerl eine ganz üble Masche hatte. Er hat die Frauen betrunken gemacht und dann hier hin abgeschleppt. Eine konnte nicht mal mehr richtig gehen. Er musste sie fast tragen...“

„Wann war das?“, hakte ich nach.

„Ist noch nicht so lange her. Vor vier Wochen vielleicht...“

„Sie haben das mit eigenen Augen gesehen?“

„Ja, das war mitten in der Nacht! Vier Uhr, kann auch halb fünf gewesen sein. Ich meine, Anselmo hatte ja einen Job, bei dem er nachts arbeiten musste, aber wie ich schon sagte, das Haus ist sehr hellhörig. Das hat mich jedes Mal aus dem Schlaf gebracht. Und dieses eine Mal war der Krach besonders groß, weil er mit dem Schlüssel so im Schloss herumgestochert hat. Dabei muss man die Wohnungstüren etwas anziehen, damit sie geöffnet werden können. Das ist bei meiner auch so. Weil das für mich so schwierig ist, lege ich immer einen Keil dazwischen, wenn ich die Wohnung verlasse. Ich gehe ja auch nur ein paar Schritt auf dem Flur...“

„Kommen Sie zu Mister Anselmo zurück“, verlangte ich.

„Tut mir leid, ich wollte nicht abschweifen. Mister Anselmo hatte nur eine Hand frei, weil ihm diese junge Frau so am Hals hing. Oder besser gesagt: über der Schulter. Er musste sie mehr oder weniger hineintragen. Ich habe ihn zur Rede gestellt. Er war ziemlich gereizt und hat gesagt, dass ich mir Ohrenstöpsel kaufen soll.“

„Haben Sie die Frau noch einmal gesehen?“, fragte Milo.

„Da bin ich mir nicht sicher.“

„Wieso?“, fragte ich. „Entweder Sie haben Sie noch einmal gesehen oder nicht. Da gibt es doch eigentlich nichts dazwischen.“

Norman seufzte hörbar. „Ich habe doch sowieso nur ihre Haare gesehen, weil ihr Gesicht auf seiner Schulter lag oder wie auch immer man das nennen will. Einige Zeit später habe ich ihn mit einer jungen Frau mit ähnlicher Haarfarbe gesehen. Es könnte von den Proportionen her dieselbe gewesen sein – aber das weiß ich nicht.“

Immerhin hatten wir einen Zeugen dafür, dass Roy Anselmo ein ausgeprägtes Interesse an Rothaarigen hatte. Ohne es zu  wissen hatte uns Norman damit ein weiteres Mosaikstein in einem Muster geliefert, das Anselmo als verdächtig erscheinen ließ. Es passte anscheinend alles zusammen.

„Haben Sie irgendetwas von dem mitbekommen, was hier drinnen gesprochen wurde?“

„Nein, viel geredet wurde da nicht. Und mich hat auch gewundert, wie leise der Kerl mit seinen Eroberungen beim Sex war. Bei den Nachbarn auf der anderen Seite meiner Wohnung hört man nämlich alles. Aber vielleicht ist ja bei Anselmo in dieser Hinsicht auch nicht mehr so viel gelaufen, weil die Damen schon zu betrunken waren... Hat Anselmo irgendetwas verbrochen?“

„Das wissen wir nicht“, wich ich aus.

„So kann man sich doch in einem Menschen täuschen. Ich habe ihn für harmlos gehalten.“

In der Nachbarwohnung klingelte das Telefon. Der Beweis dafür, dass Normans Aussage von der Hellhörigkeit der Wände stimmte.

Für den alten Mann war das das Signal aufzubrechen. Er humpelte aus der Wohnung hinaus und bot uns an, später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen.

„Am besten Sie beeilen sich jetzt erst einmal, dass Sie zum Telefon kommen!“, sagte Milo.

„Ach, das ist um diese Zeit wahrscheinlich mein jüngster Sohn Brian. Der weiß, dass ich schlecht zu Fuß bin und lässt den Apparat entsprechend lange klingeln.“

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MEIN HANDY KLINGELTE. Captain Josephson meldete sich aus Mac’s Bar. „Wo sind Sie, Agent Trevellian?“, fragte er.

„Nur ein paar Minuten entfernt!“

Ich gab ihm Anselmos Adresse durch. „Und sagen Sie dem Erkennungsdienst Bescheid“, fügte ich noch hinzu. „Hier ist zwar sehr gründlich saubergemacht worden, aber in der Regel finden die Kollegen trotzdem etwas.“

„Haben Sie eigentlich mal bedacht, dass Sie dafür einen richterlichen Befehl brauchen?“, fragte Josephson etwas ungehalten. „Sie sind immerhin in eine fremde Wohnung eingedrungen.“

„Die Tür stand offen. Mister Anselmo ist hier offensichtlich ausgezogen, das heißt der Vermieter hat wieder die Verfügungsgewalt über das Apartment“, entgegnete ich. „Und wenn ich den davon überzeuge, dass es dringend notwendig ist, hier eine erkennungsdienstliche Untersuchung durchzuführen, ist das rechtlich in Ordnung.“

Josephson unterbrach die Verbindung.

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wer der Vermieter ist?“, fragte Milo.

„Nein, aber das werden wir herausfinden, indem wir uns bei den anderen Bewohnern dieses Hauses erkundigen.“

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ROY ANSELMO LEGTE SEINE Reisetasche auf den Boden und setzte sich auf das Bett.

„Es wird hier nicht geraucht“, hörte er die junge Frau sagen, die ihm das Zimmer geöffnet hatte. Sie hatte blondes Haar mit einem deutlichen Rotstich.

„Schon in Ordnung“, murmelte Anselmo.

„Sie haben für drei Nächte im Voraus bezahlt, aber wenn Sie für eine ganze Woche bezahlen, bekommen Sie Rabatt.“

„Ich weiß aber nicht, ob ich noch eine ganze Woche in der Stadt bleibe“, erwiderte Anselmo. Er sah sie an und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Sie krampften sich so sehr zusammen, dass an den Knöcheln das Weiße hervortrat. Du musst es tun!, wisperte eine Stimme in seinem Innern. Jetzt. Sofort.

„Nein!“, sagte er laut und die junge Frau runzelte die Stirn, weil sie nicht begriff, dass das etwa war, das er zu sich selbst sagte und nicht zu ihr.

„Was meine Sie mit nein?“, fragte sie. „Sind Sie Raucher? Dann tut es mir leid. Unter diesen Umständen muss ich Sie bitten...“

„Ich bin kein Raucher“, sagte Anselmo. Er schwitzte. „Und jetzt lassen Sie mich bitte einen Augenblick allein.“

Sie sah ihn etwas verwundert an. Ihre Augenbrauen zogen sich in der Mitte zusammen.

„Ist Ihnen nicht gut? Soll ich einen Arzt holen?“

„Nein, es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur, dass Sie mich jetzt allein lassen.“

Die junge Frau verließ das Zimmer. Bilder erschienen vor seinem inneren Auge. Erinnerungen. Erinnerungen. Er war ein Kind. Und da saß diese große Frau mit den roten Haaren auf dem Sofa. Ihre Haare waren nicht wirklich rot. Sie färbte sie nur. Er hatte das schon mal gesehen, wie sie das machte. Aber sie konnte das nur, wenn sie nicht so viel getrunken hatte wie jetzt. Jetzt konnte sie nicht einmal aufstehen. “Du musst es tun!“, hörte er ihre Stimme. Diese Stimme, die ihn seit jener Zeit nie verlassen hatte und die immer diesen einen Satz sagte - manchmal so undeutlich, dass wohl niemand anders ihn verstanden hätte.

„Nein!“, sagte Roy Anselmo laut in das Zimmer der heruntergekommenen Absteige hinein. „Nein!“

Aber die Stimme aus der Vergangenheit war unerbittlich. Du musst es tun! Sonst halte ich es nicht aus! Bitte!

Er erinnerte sich daran, den Rest an Dollars aus ihrem Portemonnaie geholt zu haben und losgegangen zu sein. Der Laden an der nächsten Ecke gehörte einem Bekannten, der es  gewohnt war, dass er für eine Mutter etwas zu trinken holte, auch wenn das eigentlich nicht erlaubt war. Dann ging er mit den Flaschen zurück und brachte sie ihr. Sie trank und lallte und trank noch mehr. Und irgendwann war es dann Stille gewesen. Sie hatte sich nicht mehr bewegt und ihre Augen waren ganz starr gewesen.

Er hatte nicht wegsehen können.

Dieses Gesicht... Etwas war seitlich aus ihrem Mund herausgelaufen. Blut. Sie hatte so friedlich ausgesehen.

Roy Anselmo blickte auf den Boden. Manchmal half das. Manchmal, wenn der Boden richtig war und Linien hatte.

Dieser hatte Linien. Ein Muster. Anselmo erhob sich und folgte den Linien – so lange, bis er sie alle einmal betreten hatte. Dabei setzte er immer einen Fuß direkt vor den anderen.

„Es ist alles in Ordnung“, murmelte er laut. „Alles...“

Ein Ritual.

Er wusste, dass es nicht immer half.

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NACHDEM DIE KOLLEGEN des Erkennungsdienstes eintrafen, machten Milo und ich uns zusammen mit Josephson auf, um dem Barbesitzer MacConroy einen Besuch abzustatten. Wenn jemand etwas über Anselmo wusste, dann vielleicht er.

Als wir an MacConroys Wohnungstür klingelten, öffnete uns mit einiger Verzögerung ein Mann von Ende vierzig, der auf Krücken lief. Er hatte den rechten Fuß in Gips. Wir zeigten ihm unsere Ausweise.

„Kommen Sie herein, aber erwarten Sie keine Bewirtung oder so etwas. Ich  kann Ihnen weder Kaffee ich sonst etwas anbieten und bin schon froh, dass ich es bis zur Tür geschafft habe.“

„Was ist passiert?“, fragte ich.

„Ich bin auf der Treppe ausgerutscht. Wie üblich war ich zu spät dran. Naja, ich verschone sie mit den Einzelheiten.“

„Roy Anselmo hat heute gekündigt“, stellte ich fest.

MacConroy nickte. „Ja. Da war gleich ein Schock am Morgen. Mein bester Barmixer sagt einfach, dass er geht! Ach, was heißt mein bester! Der einzige, der sein Handwerk einigermaßen versteht und dessen Drinks sich ein bisschen von dem üblichen Einerlei abheben und auch gut schmecken, wenn  sie extravagant aussehen. Irgendetwas zusammengießen kann nämlich jeder, verstehen sie?“ Er seufzte. „Schade um ihn, aber er wollte sich nicht davon abhalten lassen. Und das, obwohl ich ihm eine kräftige Gehaltserhöhung in Aussicht gestellt habe!“

„Haben Sie eine Ahnung, wo er hin ist?“

Er blickte auf. Seine recht buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. Dann schüttelte er energisch den Kopf. „Nein, Sir. Wirklich nicht. Bedauerlicherweise übrigens. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass es nicht so weit gekommen wäre, aber...“

Er sprach nicht weiter. Sein Blick wirkte nach innen gekehrt.

„Er hat nichts hinterlassen?“, fragte ich.

„Nein. Was sollte ich tun? Er ist ein erwachsener Mann. Ich kann ihn ja nicht fesseln oder so!“ MacConroy lachte heiser.

„Haben Sie ihn nicht gefragt, wohin es ihn zieht?“, hakte ich noch mal nach.

Ein mattes Lächeln flog über sein Gesicht. Dann verzogen sich seine Züge. Irgendetwas an seinem Fuß schien ihm jetzt Schmerzen zu bereiten.

„Doch, das habe ich.“

„Und?“

„Er ist ausgewichen. Ich habe mich erkundigt, ob er in der Gegend bleibt und wer ihm so ein gutes Angebot gemacht hat, dass er plötzlich abspringt... Aber dazu wollte er nichts sagen. War schon etwas merkwürdig, das Ganze. Er wirkte so bedrückt und auf eine seltsame Weise angespannt. So habe ich ihn ehrlich gesagt, noch nie erlebt. Warum fragen Sie das alles?“

„Erzählen Sie uns alles, was Sie über ihn wissen“, ergänzte Milo. „Alles, was Ihnen einfällt, auch Dinge, von denen Sie vielleicht nicht denken, dass sie wichtig sein könnten...“

MacConroy hob die Augenbrauen. „Der Mann hat auf jeden Fall eine bunte berufliche Vergangenheit und ist wohl ganz schön herumgekommen.“ 

„Hat er erzählt, wo er schon überall gelebt hat?“

„Des Moines in Ohio, Erie in Pennsylvania... Wir hatten mal Gäste aus Europa, denen er den Weg zu den Niagarafällen auf Französisch beschrieben hat. Aber ich glaube, er hatte nicht einmal einen College-Abschluss. Jedenfalls hat er das mal erwähnt.“

„Er konnte Französisch?“, echote Milo.

„In Kanada spricht man Französisch“, stellte ich fest. „Sie haben nicht zufällig ein Bild von ihm?“

„Nein, er wollte nie fotografiert werden. Selbst für den Gastronomieführer des Staates New York nicht!“, berichtete MacConroy.

Ich nickte. „Langsam verstehe ich auch, weshalb“, murmelte ich. „Besaß er ein Handy?“

„Allerdings. Ich habe die Nummer. Soll ich Sie Ihnen aufschreiben?“

„Unbedingt.“

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ROY ANSELMO NAHM DAS Handy ans Ohr. „Mister Norinsky? Hier spricht Anselmo.“

„Woher haben Sie diese Nummer?“

„Ein gemeinsamer Bekannter hat sie mir gegeben und sie sollten ihm deswegen nicht böse sein. Er hatte gute Gründe dafür. Er heißt Gregory Sumner und ich nehme an, dass er meine Kontaktaufnahme bereits angekündigt hat.“

Anselmo stand von seinem Bett auf. Er ging ans Fenster. Es hatte zu nieseln begonnen. Neben einer Straßenlaterne sah Anselmo eine junge Frau. Zuerst nur den Körper von den Zehen bis zu den Schultern. Der Rest wurde durch einen Regenschirm verdeckt. Dann drehte sie sich zur Seite. Es war die Rothaarige. Sie rauchte. Sieh an, dachte Anselmo. Du hättest dir eben kein Nichtraucherhotel suchen sollen, um deinem Job nachzugehen... Aber vielleicht konntest du es dir ja auch nicht aussuchen. Wer kann das schon...

„Sind Sie noch dran, Mister Norinsky?“, fragte Anselmo.

„Was wollen Sie?“

„Da wissen Sie doch. Sumner wird es Ihnen gesagt haben.“

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen auf der anderen Seite der Leitung. Anselmo hörte nur das Atmen seines Gegenübers.

„Wenn Sie glauben, dass Sie Forderungen stellen können...“

„Ich weiß alles über Sie, Mister Norinsky. Über die Fässer mit Säure, von denen man ein paar auf der JAMAICA BAY in New York gefunden hat und von denen noch so viele an mehreren Stellen in Buffalo und Umgebung deponiert sind. Ich gebe zu, dass ich diese Fässer für einen Zweck benutzt habe, der vielleicht nicht ganz gesetzeskonform ist. Seit sieben Jahren sammle ich Informationen über sie und den Müll, den Sie möglichst preiswert loszuwerden versuchen. Es hat sich einfach so ergeben und ich denke, wir haben beide dasselbe Interesse.“

„So?“

„Dass vom Inhalt dieser Fässer nie wieder etwas auftaucht. Mögen sie in der Versenkung verschwinden.“

„Sie haben eine seltsame Art, sich auszudrücken.“

„Es wird Sie freuen, dass ich dasselbe will – in der Versenkung verschwinden. Ich weiß, dass Sie die Möglichkeit haben, mir eine neue, perfekte Identität zu verschaffen. Strengen Sie sich an. Sie haben gar keine andere Wahl, als mir zu helfen.“

Eine quälend lange Pause folgte.

„Wir werden uns treffen müssen“, sagte Norinsky.

Ein mattes, kaltes Lächeln spielte um Anselmos Lippen. „Nichts dagegen, Mister Norinsky!“

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WIR VERLIEßEN MACCONROY. Josephson war ziemlich schweigsam. Aber er war nicht der Einzige, der mit dieser Wendung ebenfalls nicht gerechnet hatte.

„Unser Mann ist gebürtiger Kanadier“, stellte ich fest. „Und da er sich scheinbar nicht traut, über die Grenze zu gehen, müsste man ihn in den dort geführten Dateien über Kriminelle finden.“

„Ich werde mal gleich mit Mr McKee deswegen telefonieren“, sagte Milo. „Das wird wohl auf höherer Ebene geklärt werden müssen.“

Milo hatte sein Handy noch nicht am Ohr, das klingelte der Apparat von Josephson. Der Captain der Homicide Squad sagte zweimal kurz hintereinander „Ja!“ und einmal „In Ordnung.“ Nachdem er dann noch einmal „Ist das sicher?“ gefragt hatte, beendete er die Verbindung.

„Das waren die Kollegen vom Erkennungsdienst, die gerade Anselmos Apartment untersuchen.“

„Wir sollten uns an diesen Namen nicht allzu sehr gewöhnen“, sagte ich. „Er ist mit Sicherheit falsch.“

„Die Kollegen haben Reste von Blut gefunden. Da muss etwas bis zur Decke gespritzt sein. Und selbst dort, wo Anselmo sorgfältig sauber gemacht hat, lassen sich noch mit Luminol Reste nachweisen.“

„Ich denke, das reicht für einen Haftbefehl, oder?“, fragte ich.

Josephson nickte. „Ganz sicher!“

Wir kehrten zum Headquarter des Police Department zurück.

Mit Hilfe der Handynummer, die uns MacConroy gegeben hatte, versuchten die dortigen Innendienst-Kollegen, den Aufenthaltsort zu bestimmen. Aber das Gerät war offensichtlich nicht eingeschaltet. Und so lange das nicht der Fall war, liefen unsere diesbezüglichen Bemühungen zwangsläufig ins Leere.

Ein Anruf des Field Office New York erreichte mich. Eigentlich hatte ich gehofft, dass es bereits grünes Licht für den Datenaustausch mit den kanadischen Behörden gab, aber unser Kollege Max Carter rief wegen einer anderen Sache an.

Offenbar hatten die Ermittlungen unserer Spezialisten für Betriebswirtschaft Erfolg gehabt. Nat Norton war es gelungen, die Geldströme zumindest ein Stückweit zurückzuverfolgen, die von Brian Mondales Konten ausgingen, über verschlungene Pfade nach Liechtenstein via Cayman Islands führten, um schließlich irgendwann ihr Ziel in Nordamerika oder auf einem Schweizer Nummernkonto zu finden.

Ein Name tauchte dabei immer wieder auf. So oft, dass es kein Zufall sein konnte.

„Brad Norinsky“, sagte Max Carter. „Über ein paar Umwege ist er genau an denselben Briefkastenfirmen beteiligt wie Mondale und dieser Gregory Sumner – auch wenn da immer irgendeine windige Limited nach britischem Recht dazwischen geschaltet ist, um die Wirtschaftskonzerne zu verschleiern.“

„Was wissen wir über diesen Norinsky?“, fragte ich.

„Jemand, den wir schon seit langem mit Geldwäschegeschäfte in Verbindung bringen, ohne es ihm beweisen zu können. Außerdem soll er die Prostitution im südlichen Ontario unter Kontrolle haben. Der Mann nimmt die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA wirklich ernst!  Dass er allerdings auch im Müll-Geschäft dick drinsteckt, ist uns neu.“

„Das ist also der Mann hinter Sumner!“, murmelte ich.

„Allerdings wird es schwierig, ihm etwas zu beweisen. Leute, die in der Vergangenheit gegen ihn aussagen wollten, sind kurzerhand umgebracht worden.“

„Was ist mit Kanada?“ 

„Ein bisschen Geduld noch, Jesse. Mr McKee telefoniert schon seit einer halben Stunde mit Toronto.“

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EIN NEUES LEBEN!, DACHTE er. Zumindest ein neuer Abschnitt...

Er lächelte.

Ich habe alle Trümpfe in meiner Hand!, ging es ihm durch den Kopf. Norinsky hatte gar keine andere Wahl, als das Spiel mitzuspielen – ob es ihm nun passte oder nicht.

Anselmo ging die Treppe hinunter. Die Stufen knarrten. Das Hotel, in dem er sich eingemietet hatte, hatte seine besten Tage lange hinter sich. Das Gebäude stammte aus den Dreißigern – aber seit mindestens zwanzig Jahren war keine Renovierung mehr durchgeführt worden.

Für Anselmo war es genau richtig.

Hier war man froh über jeden Gast. Niemand stellte Fragen und es wurde auch niemand misstrauisch, wenn man nicht mit Kreditkarte sondern bar bezahlte. Anselmo besaß zwar eine Kreditkarte, aber er hielt es für klüger, sie im Moment nicht zu benutzen. Er musste vorsichtig sein. Verdammt vorsichtig. Wenn er in den vergangenen gut zwanzig Jahren etwas gelernt hatte dann das.

Wer rechtzeitig untertauchte erhöhte seine Chancen davonzukommen.

Und bis jetzt war er davongekommen.

Roy Anselmo erreichte das Foyer.

Hinter dem Tresen stand die rothaarige Frau.

Sie war damit beschäftigt, Unterlagen zusammenzuheften. Wahrscheinlich Quittungen. Zunächst war sie so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie Anselmo gar nicht bemerkte. Anselmo näherte sich und blieb dann stehen. Die Junge Frau blickte auf und zuckte zusammen.

„Meine Güte, Sie haben ich mal erschreckt...“

„Tut mir leid.“

„Sie stehen da und starren mich an!“

„Ich sagte doch, es tut mir leid.“

Sie ist allein!, dachte er. Die Gelegenheit war günstig. Aber es gab jetzt etwas anderes, das Vorrang hatte. Später!, dachte er. Du musst abwarten...

Ihr Gesicht veränderte sich. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn auf eine Weise an, die ihm nicht gefiel. So als wäre etwas mit ihm nicht in Ordnung.

Roy Anselmo legte den Zimmerschlüssel auf den Tresen.

„Es ist rund um die Uhr jemand hier“, sagte die junge Frau.

„Haben Sie heute die Nachtschicht?“

„Ja.“

„Ein harter Job, was?“

„Ich bin froh, dass ich die Stelle hab.“

„Ja, aber es muss trotzdem seltsam sein.“

„Wovon sprechen Sie bitte?“

„Ich meine, dass Sie nach draußen gehen müssen, um eine Zigarette zu rauchen.“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“

Anselmos Gesicht wurde zu einer Maske. „Nichts für ungut“, sagte er und in seiner Vorstellung sah er für einen Moment seine Mutter vor sich. Sah das Blut. Die starren Augen. Du musst es tun! Dieser Satz hämmerte immer wieder in seinem Kopf. Seine Hand glitt in die Seitentasche des Jacketts. Dort trug er den Elektro-Schocker.

Seine Hand ertastete die Waffe, umklammerte den Griff und aktivierte das Gerät.

Norinsky erwartet dich. Du darfst nicht zu spät zum Treffpunkt kommen!, meldete sich eine Stimme in seinem Hinterkopf. Wie aus weiter Ferne erschien ihm dieser Ruf.

Er blickte zu Boden. Das Foyer war mit Parkett ausgelegt, das verblasst und abgeschabt war. Aber die Linien waren deutlich zu sehen. Anselmo konnte den Blick nicht von ihnen lassen. Er drehte sich fast wie mechanisch um und folgte den Linien, bis er in der Mitte des Foyers befand. Dann fand er eine Linie, die zur Tür führte, ging mit gesenktem Kopf auf sie zu und anschließend ins Freie, ohne noch ein Wort zu sagen.

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ANSELMO STOPPTE DEN Wagen auf einer Asphaltfläche, die zu einer Industriebrache zwischen Seaway Trail und dem Erie-See gehörte. Lagerhallen und Hafenanlage rosteten hier vor sich hin.

Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen. Ein fahler Vollmond stand hoch über dem Lake Erie, auf dem sich eine Dunstschicht aufbaute, die langsam, auf die Küste zu kroch.

Anselmo schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Ihn fröstelte. Er stieg aus, sah sich um. Seine Rechte überprüfte den Sitz der Pistole, die er bei sich trug. Außerdem war er mit einem Elektro-Schocker ausgerüstet. Sicher war sicher. Leuten wie Norinsky traute er nicht über den Weg.

Sollte dieser Kerl ihn vielleicht nicht ernst nehmen?

Eigentlich hatte Anselmo erwartet, dass Norinsky pünktlich war. Ich sollte ihm etwas Feuer unter dem Hintern machen!, dachte Anselmo. Er griff zum Handy, aktivierte es und drückte auf die Kurzwahltaste, unter der er die Nummer von Norinskys Prepaid-Handy gespeichert hatte.

Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar, sagte eine ziemlich kühl klingende weibliche Stimme.

Anselmo schaltete das Gerät wieder aus und steckte es ein.

Na warte!, dachte er! Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du dich tot stellst!

In diesem Moment ließen ihn die Motorengeräusche mehrerer Fahrzeuge herumfahren. Zwei Limousinen, eine davon im Stretch-Format. Dazu noch ein Van.

Die Türen des Van öffneten sich. Mehrere Männer mit Maschinenpistolen im Anschlag sprangen heraus und richteten ihre Waffen auf Anselmo.

Als die Leibwächter die Lage als unbedenklich eingestuft hatten, wurden die Türen der Limousinen geöffnet.

Anselmo bemerkte Sumner.

Aber die beherrschende Gestalt, auf die die Augen aller gerichtet waren, glich einer Kugel. Brad Norinsky war Ende vierzig und kaum ein Meter siebzig groß – allerdings wirkte er fast genauso breit. Er wog schätzungsweise hundertzwanzig Kilo. Dass sein Anzug trotzdem perfekt saß, lag daran, dass er ausschließlich Maßanfertigungen trug.

Anselmo verzog das Gesicht. „Oh, großes Aufgebot! Welche Ehre!“

„Wir haben einiges zu besprechen“, sagte Norinsky.

Anselmo grinste. „Ja, das denke ich auch!“

Norinsky machte ein Zeichen.

Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. Etwas schoss durch die Luft. Einer der Männer aus Norinskys Gefolge hatte einen Taser abgeschossen. Die Pfeile mit den Elektroden trafen Anselmo im Rücken. Er wollte nach seiner eigenen Waffe greifen, aber der Stromschlag ließ ihn zusammenkrampfen, dass er im nächsten Moment vollkommen bewegungsunfähig war.

Roy Anselmo brach zusammen und blieb auf dem feuchten Asphalt liegen.

Norinsky trat an ihn heran. Mit der Fußspitze drehte er den hilflosen Anselmo herum. „Niemand tanzt mir auf der Nase herum!“, zischte der korpulente Mann. „Und schon gar nicht so ein Stück Dreck wie du!“

Anselmo war unfähig, etwas zu erwidern.

Er stöhnte nur auf.

Norinsky machte eine ausholende Handbewegung. „Bringt ihn in die Lagerhalle. Und dann werden wir uns mal eingehend darüber mit ihm unterhalten, was er wirklich weiß...“ Der große Boss verzog das Gesicht zu einer grausamen Maske. „Deine Schreie wird hier draußen niemand hören, du Narr!“ Dann kicherte er in sich hinein.

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ROY ANSELMO FAND SICH tatsächlich in den Kriminaldateien der Kollegen aus Quebec. Es gab mehrere Haftbefehle gegen ihn, einer davon wegen Totschlag. Dazu kamen noch ein paar kleinere Vergehen, darunter Körperverletzung und Nötigung.  Unter anderem hatte er eine junge Frau ziemlich übel zugerichtet. Leider war aus den Unterlagen nicht ersichtlich, ob diese Frau rote Haare hatte.

Roy Anselmo war als Jean Marquanteur in Quebec geboren worden. Nachdem frühen Alkohol-Tod seiner Mutter war er in  einem Heim gelandet und bald wegen psychischer Auffälligkeiten und einem Hang zur Gewalttätigkeit in Erscheinung getreten. Um der Strafverfolgung zu entgehen war der Mann, den wir bisher als Roy Anselmo kannten, untergetaucht. Man hatte in Kanada nie wieder etwas von Jean Marquanteur gehört.

Das musste wohl die Geburtsstunde einer anderen Identität gewesen sein.

Er wurde in die Fahndung eingegeben.

„Der Mann hat es gelernt, sofort zu verschwinden, wenn der Verfolgungsdruck zu groß wird“, analysierte Dr. Franklin Martin. „Ich nehme an, dass er sich nicht zum ersten Mal eine neue Identität zulegt.“

„Aber diesmal werden wir dafür sorgen, dass es schwieriger für ihn wird“, kündigte Captain Josephson an. „Wir werden Fotos an die Medien geben.“

„Die Fahndungsfotos der Kollegen aus Kanada sind allerdings deutlich veraltet“, stellte Milo fest. „Darauf wird ihn niemand wieder erkennen.“

„Man müsste ihn künstlich altern lassen“, stellte ich fest.

„Kein Problem“, erklärte Josephson. Er grinste. „Wir haben hier vielleicht nicht eine ganz so perfekte Ausstattung, wie Sie es vom FBI her gewohnt sind, aber so etwas können wir auch.“

Ein Pizza-Service brachte für uns alle etwas zu essen. Es war klar, dass unser Einsatz noch etwas länger dauern konnte und wir eine lange Nacht vor uns hatten. Wenn wir es nicht schafften, Anselmo alias Marquanteur einigermaßen schnell zu fassen, bestand die Gefahr, dass wir ihn völlig verloren.

Er hatte schließlich ausreichend Erfahrung darin, sich unsichtbar zu machen.

Der Kaffee im Headquarter war stark genug, schmeckte aber etwas bitter. Immerhin sorgte er dafür, die Müdigkeit zu vertreiben. Ich kaute auf einem Stück Pizza herum und machte mir Gedanken darüber, welches Netz man auslegen konnte, um diesen Täter in die Falle laufen zu lassen.

Milo schien meine Gedanken zu erraten.

„Er ist uns einfach einen Schritt voraus gewesen“, meinte er.

Dann meldete sich plötzlich eine Kollegin aus dem Innendienst zu Wort.

„Anselmo hat sein Handy für etwa eine halbe Minute aktiviert“, meldete sie. „Jetzt ist das Signal wieder weg.“

„Reicht das, um seinen Aufenthaltsort zu bestimmen?“, fragte ich.

„Es reicht“, nickte die Kollegin. „Anselmo – oder vielleicht auch nur sein Handy – hält sich inmitten der Hafenruine am Lake Erie auf!“

Ich wandte mich an Josephson. „Mobilisieren Sie alles, was im Moment noch im Dienst ist, Captain!“

„Das werfe ich!“, versprach er.

Ich ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. „Dies ist vielleicht unsere letzte Chance, den Kerl noch zu fassen“, murmelte ich.

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IM GEFOLGE VON EINEM Dutzend Einsatzwagen des Buffalo Police Department erreichten wir die Industrieruine am Hafen. Captain Josephson hatte die Einsatzleitung. Vom See her näherten sich zwei Helikopter, die mit großen Scheinwerferkegeln das Gelände absuchten.

Wir stellten unseren Sportwagen ab und stiegen aus. Dann legten wir unsere Kevlar-Westen an, die bei einem Einsatz wie diesem unerlässlich waren. Schon peitschten Schüsse in der Dunkelheit. Überall kreisten Scheinwerfer.

Zusammen mit den Einsatzkräften der Polizei arbeiteten wir uns voran. Etwa hundert Meter von uns entfernt befanden sich mehrere Fahrzeuge, die offenbar von einem halben Dutzend Personen bewacht wurden.

MPis knatterten los und Mündungsfeuer blitzten auf.

Aufgeregte Stimmen gellten durch die Nacht.

Eine Megafonstimme ertönte und forderte die Bewaffneten auf, sich zu ergeben.

Im nächsten Moment heulte der Motor eines Van auf, dessen Insassen offenbar einen Durchbruch versuchten.

Der Wagen fuhr mit einer halsbrecherischen Geschwindigkeit auf die Einsatzkräfte zu.

Schüsse in die Vorderreifen ließen den Van zur Seite ausbrechen. Nachdem das Gummi innerhalb von Augenblicken verbrannte, kratzten die bloßen Felgen funkensprühend über den Asphalt.

Josephson und seine Leute kreisten den Van ein. Die Insassen ergaben sich. Handschellen klickten.

Den Verhafteten wurden die Rechte vorgelesen.

Inzwischen gaben auch die Männer in der Nähe der anderen Fahrzeuge auf. Die Übermacht der Polizei war einfach zu überwältigend.

„Wo ist Roy Anselmo?“, fragte ich. „Wir haben sein Handy geortet und wissen, dass er hier war!“

Milo deutete auf einen Ford, der gegenüber den Limousinen und dem Van doch erheblich abfiel. „Das dürfte sein Wagen sein!“

Ein Kennzeichenvergleich ergab tatsächlich, dass es sich um ein Fahrzeug handelte, das auf den Namen Roy Anselmo zugelassen war.

Wenig später fand Milo das Handy auf dem Boden. Es war zertrümmert worden.

Ich wandte mich an einige der Gefangenen. „Wo ist der Mann, dem dieser Wagen gehört? Wenn Sie selbst juristisch mit einem blauen Auge davonkommen wollen, dann sollten Sie jetzt kooperieren.“

Schweigen schlug uns zunächst entgegen.

Dann gab sich einer der Festgenommenen einen Ruck. „Sehen Sie in der Halle da vorne nach!“, murmelte er.

Wir verloren keine Zeit, sondern arbeiteten uns weiter voran. Zusammen mit den Beamten des Buffalo Police Department näherten wir uns der Halle. Unmenschliche Schreie waren von dort zu hören. Gewaltsam öffneten wir die Tür. Mit der Dienstwaffe in der Hand stürmten wir hinein. Die Lichtkegel unsere Taschenlampen schwenkten herum.

Aber es war niemand zu sehen. Ein stechender Geruch hing in der Luft und etwa hundert halbverrostete Fässer standen dort.

Erneut war ein dumpfer Schrei zu hören.

„Vielleicht gibt es hier noch eine Keller!“, vermutete Milo. Die Einsatzkräfte der Polizei schwärmten aus.

Wenig später hatte jemand den Kellerzugang gefunden. Vorsichtig gingen wir die schmale Treppe hinab. Es roch feucht und modrig. Wir folgten einem schmalen Gang. Mehr als das, was die Lichtkegel unserer Taschenlampen erfassten, konnten wir nicht sehen. Die Schreie wurden lauter. Vermutlich hatte sich unten mal eine Heizungsanlage befunden, aber es war alles entfernt und ausgeschlachtet worden, bevor man diese Lagerhalle dem langsamen Verfall preisgegeben hatte.

Wir erreichten eine Metalltür.

Milo riss sie auf. Ich stürmte hinein, in der Rechten die Dienstwaffe, in der Linken die Taschenlampe.

Der Raum, der sich uns offenbarte, war kaum zwanzig Quadratmeter groß. Es gab nur einen einzigen Zugang, was allen, die sich im Moment hier befanden eine Flucht völlig unmöglich machte. Anselmo lag auf dem Boden. Er war gefesselt und seine Augen vor Entsetzen geweitet. Die Männer, die um ihn herum standen hatten ihn offenbar mit einem Elektro-Schocker zugesetzt. Wie sich später herausstellte handelte es sich dabei um Anselmos eigenes Gerät.

„Die Hände hoch und keine Bewegung“, sagte ich.

Niemand sagte ein Wort.

Die Blicke gingen zu dem übergewichtigen Mann hin, dessen Identität sich wenige Augenblicke später herausstellen sollte, als wir seine Sachen durchsuchten und Papiere sicherstellten.

„Brad Norinsky!“, sagte ich, als die Handschellen bereits klickten. „Wer hätte das gedacht...“

„Kennen wir uns vielleicht?“, knurrte Norinsky.

„Nicht unmittelbar“, erwiderte ich kühl. „Aber das macht nichts.“

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DIE VERHAFTETEN WURDEN abgeführt. Roy Anselmo alias Jean Marquanteur wurde zunächst einmal in eine Klinik gebracht. Eine Gefängnisklinik allerdings. Wie sein Fall zu bewerten war und wie weit er als schuldfähig gelten konnte, das mussten die Gerichte entscheiden.

Jedenfalls war seine grausige Mordserie gestoppt.

In den nächsten Tagen folgten Durchsuchungen von Norinskys Anwesen sowie einer Reihe von gewerblichen Immobilien, die er unter dem Namen von Strohmännern erworben hatte, um dort Giftmüll zu lagern.

Und nachdem nach und nach seine Untergebenen ihr Schweigen brachen, wurde mehr und mehr das ganze Ausmaß seiner Geschäfte offenbar. Die JAMAICA BAY sollte nicht das einzige Schiff bleiben, das mit hochgefährlichem Giftmüll auf eine ungewisse Reise geschickt werden sollte.

Norinsky fühlte sich zunächst ziemlich sicher, weil es nur wenige Zeugen gab, die in der Lage waren, ihn direkt zu belasten. Die Rolle des Mannes im Hintergrund, einer grauen Eminenz der Müll-Mafia, hatte er perfekt gespielt. Und dazu auf eine Weise, die sein eigenes Risiko nahezu minimiert hatte. Aber einen Zeugen gab es, der sehr genau über Norinsky Bescheid wusste.

Roy Anselmo alias Jean Marquanteur.

Die traurigen Einzelheiten seiner Lebensgeschichte kamen schließlich ebenso ans Licht wie die beispiellose Grausamkeit, mit der er vorgegangen war, um seine Opfer ins Jenseits zu befördern.

Wir verließen Buffalo schon nach ein paar Tagen, sodass wir das juristische Gezerre nur noch am Rande und aus den Medien mitbekamen.

ENDE

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Alfred Bekker

KILLER IN NEW YORK

Vier Jesse Trevellian Thriller in einem Band – 1000 Taschenbuchseiten Crime & Action

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EIN CASSIOPEIAPRESS E-Book

©1997,1998,2008,2010, 2012 by Alfred Bekker

© 2012 der Digitalausgabe 2012 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

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INHALT

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KILLER OHNE NAMEN

Killer ohne Reue

Killer ohne Gnade

Killer ohne Skrupel

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KILLER OHNE NAMEN

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NEW YORK 1998

Der gepanzerte Transporter hielt an der rotgestreiften Barriere. Es sah ganz nach einer Vollsperrung aus. Das konnte heiter werden...

"Verdammt, warum hat uns niemand etwas davon gesagt?", knurrte einer der Wachmänner. Er saß auf dem Beifahrersitz. "Was soll das hier?"

"Vielleicht ein Unfall, Billy", meinte der Mann am Steuer.

"Ich frage trotzdem mal in der Zentrale nach."

Links von ihnen hielt ein Chevy, rechts ein Mercedes. Hinter ihnen war ein Lieferwagen. Der gepanzerte Transporter war eingekeilt.

Billy griff zum Funkgerät.

Aber noch ehe er auch nur einen Ton gesagt hatte, sprangen links und rechts bis auf die Zähne bewaffnete Vermummte aus dem Wagen. Nicht mehr als einen schmalen Streifen in Augenhöhe ließen die dunklen Sturmhauben frei. Sie trugen Maschinenpistolen, Pump Guns und Sturmgewehre. Dazu kugelsichere Westen. Fast konnte man von der Ausrüstung her an ein Sondereinsatzkommando des New York Police Departments denken.

Aber dies waren keine Polizisten.

Billy schrie es fast in das Funkgerät hinein.

"Überfall! Etwa zwei Meilen nach dem Ausgang des Lincoln Tunnels Richtung Union City... Zwölf bis fünfzehn schwerbewaffnete Täter."

"Verhalten Sie sich ruhig und gehen Sie kein Risiko ein", kam es aus dem Lautsprecher des Funkgeräts heraus.

"Verstanden", murmelte Billy.

"Versuchen Sie, die Täter hinzuhalten. Wir tun was wir können."

"Ein wunderbarer Trost", erwiderte Billy gallig.

"Wo ist unsere Eskorte?"

"Keine Ahnung. Nicht da, wenn man sie braucht..."

Einer der Gangster fuchtelte mit dem kurzen Lauf seiner Uzi-Maschinenpistole herum. Er signalisierte den beiden Wachmännern auszusteigen.

"Wir bleiben hier ganz ruhig sitzen", erklärte Billy. "Die können uns mit ihren Waffen nichts anhaben..."

Der Transporter hatte ein so stabiles Panzerglas, dass selbst ganze Salven von Maschinengewehrfeuerstößen für die Insassen ungefährlich bleiben würden.

Und auf die Panzerung der Karosserie war Verlass.

Die Türen waren von innen verschlossen.

Einer der Kerle riss jetzt von außen daran. Aber er hatte keine Chance.

Billy grinste. "Denen geht es jetzt wie dem berühmten Affen, der versucht, an das weiche Innere einer Kokosnuss heranzukommen!"

Die Wachmänner würden einfach abwarten, bis die ganze Maschinerie von Polizei und FBI sich in Bewegung gesetzt hatte. Das Gebiet würde weiträumig abgeriegelt. Die Gangster hatten keine Chance. Jede Sekunde bedeutete für sie, dass ihre Chancen erheblich sanken.

Die beiden Wachmänner griffen zu den automatischen Pistolen, die sie in den Gürtelholstern stecken hatten.

"Sie können nichts machen", meinte der Mann am Steuer zufrieden.

Aber dann öffneten sich seine Augen weit vor Entsetzen.

Einer der Gangster hatte sich mit einer Bazooka in Stellung gebracht. Deren Geschosse durchschlugen mühelos die Stahlplatten von Panzerfahrzeugen.

Die beiden Wachleute wurden bleich.

Sie erkannten, dass ihr Verzögerungsspiel jetzt vorbei war. Endgültig. Sie ließen die Waffen sinken und hoben die Hände. Aber offenbar nicht schnell genug.

Die Bazooka wurde abgefeuert. Das Geschoss durchschlug das Panzerglas. Die Fahrerkabine des Transporters verwandelte sich in ein Inferno. Flammen schossen empor. Der Knall der Detonation war ohrenbetäubend und übertönte die Todesschreie der Insassen.

Diese hatten keine Chance.

Wenn sie nicht durch die Explosion förmlich zerrissen worden waren, versengten sie die Flammen.

In die Reihen der Gangster kam Bewegung.

Mit zwei Feuerlöschern wurden die Flammen eingedämmt.

Grauweißer Schaum erstickte das Feuer innerhalb von fünfzehn, zwanzig Sekunden.

Einer der Maskierten half einem Komplizen dabei von vorn, durch die zerstörte Frontscheibe hindurch in die Fahrerkabine zu steigen. Es roch nach verbrannten Leichen und geschmolzenem Plastik.

"Der Schlüssel!", rief der Kerl.

Er warf ihn hinaus, einem Komplizen direkt in die Hand.

Dieser rannte zur Rückfront des Transporters.

Die Tür wurde geöffnet.

Und dann lag endlich das vor ihnen, was sie haben wollten.

Es war eine Kiste aus Stahl, gut gesichert durch mehrere Halterungen. Mit zwei winzigen Plastiksprengstoffladungen wurden sie zersprengt.

Die Kiste war schwer.

Zwei Männer trugen sie hinaus und luden sie in den Kofferraum des Chevys.

Zehn Sekunden später brausten die Vermummten in ihren Wagen davon. Reifen drehten durch und quietschten. Sie fuhren wie die Teufel, denn sie wussten nur zu gut, dass jetzt jeder Cop im Umkreis von fünfhundert Meilen hinter ihnen her sein würde.

Aber ihre Beute war es wert.

Glaubten sie.

*

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DER STAAT NEW JERSEY gehört zum Zuständigkeitsbereich des FBI-Districts New York. Aber das war längst nicht der einzige Grund dafür, dass das unser Fall war.

Als ich zusammen mit meinem Freund und Kollegen Milo Tucker am Ort des Geschehens eintraf, herrschte dort das blanke Chaos. Die State Police des Staates New Jersey hatte alles weiträumig abgeriegelt. Der McKeeway nach Union City war gesperrt.

Ich ließ die Seitenscheibe meines Sportwagens hinuntergleiten, als man uns an der ersten Straßensperre anhielt.

Ein uniformierter und schwerbewaffneter State Police-Beamter grüßte knapp.

Ich hielt ihm meinen Dienstausweis hinaus.

"Special Agent Jesse Trevellian vom FBI-District New York", murmelte ich dazu.

Mein Gegenüber nickte nur und winkte mich durch.

Ich stellte den Sportwagen irgendwo ab. Wir stiegen aus.

Der überfallene Transporter sah furchtbar aus.

Spurensicherer machten sich bereits überall zu schaffen.

Unser FBI-Distrikt hatte auch eine gute Handvoll Erkennungsdienst-Spezialisten herübergeschickt, um die hiesigen Kräfte zu unterstützen.

Außerdem war da noch ein ziemlich gestresst wirkender Captain der Polizei von Union City, in deren Zuständigkeitsbereich diese Tat bereits lag.

Der Captain hieß Craig, war grauhaarig und etwas untersetzt. Seine Schultern waren breit und gaben ihm ein sehr stämmiges Aussehen.

Er sah sich meinen Ausweis interessiert an.

"Ihnen nach dem, was hier passiert ist, noch einen guten Tag zu wünschen, würde mir unpassend erscheinen, Agent Trevellian", brummte Craig zwischen den Zähnen hindurch. "Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was wir bislang haben."

Wir umrundeten den Transporter.

Ein unangenehmer Geruch stieg uns in die Nase.

Bei dem Blick in die Fahrerkabine wurde mir fast schlecht.

Ich habe dem Kampf gegen das Verbrechen mein Leben gewidmet. Und mein Job als G-man bringt es nun einmal mit sich, immer wieder auch dem Tod in vielfältiger Gestalt zu begegnen. Und doch gibt es immer wieder Dinge, die man in den Schlaf mitnimmt. Bilder wie das der beiden schrecklich zugerichteten Wachmänner in diesem Transporter zum Beispiel.

Ich bin hart im Nehmen.

Aber nicht abgestumpft.

"Die Gangster waren sehr gut organisiert", erklärte Craig mit tonloser Stimme. "Sie haben eine Bazooka oder so etwas verwendet. Die beiden armen Kerle hatten nicht den Hauch einer Chance."

Craig ballte die Hände zu Fäusten.

Irgendein Kollege meldete sich über Funk bei ihm. Er zog das Gerät aus der Manteltasche und meldete sich.

Offenbar gab es noch immer keine Spur von den Tätern. Und das obwohl eine Großfahndung eingeleitet worden war. Das konnte eigentlich nur heißen, dass sie eine sehr gute Organisation im Hintergrund hatten, die ihnen beim Untertauchen half.

Ich erwartete, dass wir bald irgendwo auf ein paar Wagen stießen, die sie benutzt und dann irgendwo abgestellt hatten.

Wenn wir Glück hatten, ergaben sich dann ein paar Hinweise.

Wenn wir Glück hatten. Aber die Chancen standen nicht allzu gut, wenn man die Kaltblütigkeit bedachte, mit der sie gehandelt hatten.

Jedes Detail schien genau überlegt und organisiert gewesen zu sein.

Während Craig damit fortfuhr, uns den Tatort zu erläutern, wurde mir das immer klarer.

"Sehen Sie das weißgraue Pulver, Agent Trevellian?"

"Ja. Stammt wohl von einem Feuerlöscher. Sie haben den Brand gelöscht. Warum haben sie das gemacht?"

"Um den Schlüssel an sich zu bringen. Das Schloss der Hintertür verfügt über einen besonderen Schutzmechanismus gegen Sprengungen. Bei Hitzeeinwirkung schmilzt da irgend etwas zusammen und man kann die Tür dann nur noch mühsam aufschweißen. Deswegen haben die auch nicht einfach ihre Bazooka auf die Rückfront gehalten oder versucht, die Tür aufzusprengen. Nein, sie mussten an den Schlüssel..."

"Sie meinen, dass sie diese Details wussten?", mischte sich jetzt Agent Milo Tucker ein.

Craig zuckte die Achseln.

"Haben Sie eine bessere Erklärung? Das mit der Bazooka hatte übrigens auch noch einen anderen Vorteil für diese Killer. Sehen Sie den schwarzen, eingeschmolzenen Klumpen da oben?"

"Ich sehe ihn."

"Das war mal die Videoüberwachungsanlage."

Selbst, wenn die Täter maskiert gewesen waren, ließen sich aus solchen Aufnahmen oft wertvolle Rückschlüsse ziehen.

Auch, wenn von den Gesichtern nichts zu sehen war. In Kalifornien war von den dortigen FBI-Kollegen vor kurzem ein maskierter Bankräuber auf Grund des unverwechselbaren Waschmusters seiner Jeans überführt worden.

Aber wir konnten in diesem Fall auf derartige Hilfe nicht hoffen.

Ich wandte mich von dem schrecklichen Anblick der ausgebrannten Fahrerkabine ab und deutete auf die rotgestreiften Barrieren, die mitten auf die Straße gestellt worden waren.

"Sieht nicht gerade nach einer Baustelle aus, an der viel gearbeitet worden ist", stellte ich fest.

Craig nickte.

"Sie haben vollkommen recht, Agent Trevellian. Das haben die Gangster inszeniert, um den Transport anzuhalten."

"Das bedeutet, dass sie auch über den Zeitplan genau Bescheid wussten, der für den Transporter galt."

"Das ist auch mein Gedanke."

"Ich möchte mir den Wagen gerne von innen ansehen", meinte Milo.

Craig nickte.

"Nichts dagegen."

Er führte uns zur hinteren Tür. Der Schlüssel steckte noch.

Er war verkohlt. Schon daran konnte man sehen, dass er aus der Fahrerkabine geholt worden war.

Craig kramte einen Latexhandschuh aus der Manteltasche, bevor er die Tür öffnete.

Er stieg hinein und deutete mit der ausgestreckten Hand auf eine Stelle am Boden. Zerborstene Halterungen zeugten davon, dass man hier wenig zimperlich vorgegangen war.

"Hier war die Kiste mit den Druckplatten", erklärte der Police Captain. "Mehr als nur eine Lizenz zum Gelddrucken! Wer diese Dinger hat, kann Originalbanknoten der Vereinigten Staaten von Amerika herstellen, soviel er will." Craig deutete mit gestrecktem Zeigefinger im Laderaum des Transporters umher. "Die Halterungen wurden gesprengt... Der Transport wurde übrigens von einer Zivileskorte begleitet, die dem eigentlichen Transport unauffällig folgen sollte. Aber die wurde durch einen - vermutlich provozierten Auffahrunfall aufgehalten..."

Milo sah mich an.

Sein Gesicht war ernst.

"Da muss ein ganz großer Hai dahinterstecken", war er überzeugt. Ich konnte ihm nur zustimmen.

*

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26 FEDEREL PLAZA IST die Adresse des FBI-Distrikthauptquartiers. Wir saßen im Büro von Special Agent in Charge Jonathan D. McKee, unserem Chef.

Außer Milo Tucker und mir waren noch ein halbes Dutzend weiterer Agenten anwesend. Darunter Ronald Figueira, ein Falschgeldspezialist aus dem Innendienst und Max Carter aus unserer Fahndungsabteilung.

Carter erläuterte uns gerade, wie der Stand der Großfahndung war, die man in vier Bundesstaaten ausgelöst hatte. Leider war das Ergebnis bis jetzt gleich null, wenn man es auf den Punkt brachte.

"Der Wagen war von Queens aus unterwegs. Ausgangspunkt war das Gelände von McGordon Inc., einem kleinen McKee-Tech-Unternehmen, das unter anderem solche hochwertigen Druckplatten in seiner Produktpalette hat. Zielpunkt war eine Druckerei in Newark, die im Auftrag der US-Zentralbank arbeitet."

"Wir werden sehr intensiv nachforschen müssen, in wie weit es in der Druckerei oder bei McGordon Inc. schwache Stellen gibt", meinte Mr. McKee.

"Es muss sie geben", war Carter überzeugt. "Dazu waren die Täter einfach zu gut informiert."

"Was ist mit den Wachleuten?", fragte ich.

"Soweit wir wissen, sind das zuverlässige Sicherheitsbeamte, die über jeden Zweifel erhaben scheinen", erwiderte Carter. "Sowohl diejenigen, die das Pech hatten mit im Transporter zu sitzen als auch die Leute von der Eskorte scheinen über jeden Zweifel erhaben..."

"Auch das werden wir genau überprüfen müssen", kündigte Mr. McKee an. Er sah sich um, blickte von einem G-man zum anderen. "Dieser Fall hat absolute Priorität. Denn, wenn der FBI nicht sehr schnell und sehr gut ist, werden uns die Täter durch die Lappen gehen. Und dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann irgendwo eine Geldfabrik zu arbeiten beginnt, die Dollarnoten herstellt, die von niemandem mehr von echten Scheinen zu unterscheiden sind!"

Wir waren uns alle über den Ernst der Lage im Klaren.

"Ich werde mal die Reihe unserer Informanten abklappern", meinte Agent Clive Caravaggio. Der flachsblonde Italo-Amerikaner kratzte sich am Hinterkopf. "Wäre doch gelacht, wenn nicht der eine oder andere in Little Italy etwas von diesem Coup gehört hätte!"

"Sie tippen auf die Mafia?", fragte Mr. McKee.

Caravaggio zuckte die Achseln.

"Es war doch hier immer von einer schlagkräftigen Organisation die Rede! Die Mafia mag etwas in die Jahre gekommen sein, aber was die Organisation angeht, ist sie anderen Syndikaten immer noch meilenweit voraus!"

"Falschgeld ist eigentlich nicht gerade das traditionelle Betätigungsfeld der Mafia", gab Mr. McKee zu bedenken.

Caravaggio beugte sich etwas vor. "Ihr Betätigungsfeld liegt immer da, wo es großen Gewinn gibt..."

"Und wenig Risiko", gab ich zu bedenken. "Wenn wirklich die Mafia dahinterstecken würden, hätten wir vermutlich im Vorfeld irgend etwas gehört. Hinweise, Gerüchte... irgendetwas."

Mr. McKee sah mich nachdenklich an, dann wandte er sich an Caravaggio. "Versuchen Sie es, Clive! Immerhin ist die Mafia eine der wenigen in Frage kommenden Organisationen, die so etwas überhaupt auf die Beine stellen könnte! Außerdem müssen wir natürlich die bekannten Adressen in der Falschgeldszene abklappern..."

Jetzt meldete sich Agent Orry Medina zu Wort, ein G-man indianischer Herkunft, der durch seine ausgesucht edle Garderobe auffiel. "Wenn wir jeden unter die Lupe nehmen, der in dieser Hinsicht mal auffällig geworden ist und zur Zeit frei herumläuft, brauchen wir viel zu lange, um den Tätern noch gefährlich werden zu können!"

"Keine wahlloses Überprüfen", korrigierte Falschgeldspezialist Figueira. "Ich habe nach bestimmten Kriterien eine Vorauswahl getroffen... Es könnte gut sein, dass die Druckplatten in der Szene irgendwann angeboten werden und dann müssen wir zur Stelle sein. Schließlich sind die Dinger nicht geraubt worden, um sie in einem Safe versauern zu lassen."

Ich hoffte nur, das Figueira damit recht hatte.

Ein bisschen Zweckoptimismus war sicher auch dabei. Denn, wenn sich wirklich jemand dazu entschloss, die Platten einfach für ein paar Jahre wegzuschließen, sah es für uns unter Umständen nicht gut aus.

Aber vielleicht hatten wir ja Glück, und einer der Täter lief in das weitgespannte Netz, das der FBI im Verbund mit den Staatspolizeien von New York und New Jersey gezogen hatte. Straßenkontrollen an den Highways und Bundesstraßen gehörten dazu ebenso wie eine Überwachung der Flughäfen.

Ein Netz, das uns Fahndungsspezialist Max Carter im Anschluss eingehend erläuterte.

Uns rauchten die Köpfe, als schließlich Mandy, die Sekretärin unseres Chefs, für eine angenehme Unterbrechung sorgte. Sie brachte uns ein Tablett mit dampfenden Pappbechern herein. Mandys Kaffee war im gesamten FBI-Hauptquartier eine Legende.

*

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MILO UND ICH FUHREN nach Queens. Das Gelände von McGordon Inc. lag an einer Sackgasse, bei der sich niemand die Mühe gemacht hatte, ihr einen Namen zu geben. Strenggenommen war es überhaupt keine öffentliche Straße, sondern ein Privatweg, der der Firma gehörte.

Wir mussten mehrere Schlagbäume passieren. Jedesmal wurden unsere FBI-Ausweise einer intensiven Prüfung unterzogen.

"Als würden die den Schatz von Fort Knox bewachen", scherzte Milo.

Der eigentliche Komplex war mit einem hohen Zaun abgesperrt. Düster dreinblickende Uniformierte patrouillierten auf und ab. Mannscharfe deutsche Schäferhunde wurden an kurzen Leinen geführt. Es beruhigte mich zu sehen, dass sie Maulkörbe trugen.

Wir stellten den Sportwagen auf einen Mitarbeiterparkplatz und stiegen aus.

Eine wasserstoffblonde Schönheit erwartete uns mit geschäftsmäßigem Lächeln.

Sie reichte mir die zierliche Hand mit rotlackierten Nägeln - passend zu ihrem engsitzenden Kostüm.

"Mein Name ist Janet Larono. Ich bin die Pressesprecherin von McGordon Inc. und verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit."

"Jesse Trevellian, FBI", sagte ich. "Dies ist mein Kollege Milo Tucker..."

"Ja, Sie wurden bereits erwartet..."

"Allerdings weiß ich nicht, ob Sie der richtige Gesprächspartner für uns sind", wandte Milo ein. "Nichts gegen Ihre Arbeit, aber es geht hier nicht darum, etwas an die Öffentlichkeit zu verkaufen."

Janet Larono hob die Augenbrauen. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie beleidigt war.

"Ich kann Ihnen versichern, dass ich durchaus in der Lage bin, Ihnen zu helfen. Ich bin instruiert worden, Sie überall dort hinzuführen, wo Sie hinwollen..."

"Das ist gut", sagte ich. "Uns interessiert vor allem der organisatorische Ablauf bei der Vorbereitung des Transports. Seit wann standen Zeitpunkt und Fahrtroute fest?"

"Das werden wir klären können, Mr. Trevellian", erwiderte sie.

"Nennen Sie mich ruhig, Jesse."

Vielleicht war das Lächeln, das ich dieser Schönheit geschenkt hatte, etwas zu nett. Jedenfalls war ihre Erwiderung kühl wie ein Gefrierschrank.

"Ich will Ihnen gleich sagen, dass Ihr Charme an dieser Stelle verschwendet ist, Mr. Trevellian."

"Ach,ja?"

"Ich halte Beruf und Privatleben strikt auseinander."

"Ich wollte nur freundlich sein!"

"Dann ist es ja gut."

"Hören Sie, Janet..."

"Nennen Sie mich lieber Miss Larono."

"...könnte es sein, dass jemand anderes in Ihrem Unternehmen diese Trennung nicht so genau nimmt?"

"Was meinen Sie damit?"

"Die Täter waren sehr gut informiert. Sie wussten Details, die eigentlich nur jemand wissen konnte, der an der Quelle sitzt!"

Sie zeige mir ihre wunderschönen Zähne, als sie erwiderte: "Was glauben Sie, worüber sich hier jeder Gedanken macht, Mr. Trevellian?"

*

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OFFICER CAMERON VON der New Jersey State Police schob sich die Mütze ein Stück in den Nacken. Er schwitzte erbärmlich unter seiner kugelsicheren Weste. Die Maschinenpistole vom Typ Heckler und Koch hing ihm an einem breiten Riemen über der Schulter.

"Die Kerle sind doch längst über alle Berge", war sein Kollege, Officer Brent überzeugt, der eigentlich seinen verdienten Urlaub hatte nehmen wollen und von seinem Vorgesetzten in letzter Sekunde zurückgepfiffen worden war.

Ein weißer Golf fuhr langsam an die Straßensperre heran, die die Interstate in Richtung Pennsylvania blockierte.

Ein gutes Dutzend State Police-Beamte waren schwer bewaffnet in Stellung gegangen und kontrollierten jeden Fahrer. So gründlich wie möglich durchsuchten sie die Wagen nach Waffen oder anderen Gegenständen, die vielleicht mit dem Überfall auf den Druckplatten-Transport in Verbindung stehen konnten.

Die Gangster waren ja in alle Richtungen davongebraust.

Bei irgendeinem von ihnen war die Beute.

Der Golffahrer trug eine dunkle Sonnenbrille. Er wirkte ziemlich mürrisch.

Als er ziemlich hektisch unter seine Jacke griff, um seine Papiere herauszuholen, wurden gleich mehrere Maschinenpistolen durchgeladen. Das Geratsche ließ den Mann erstarren.

Ganz langsam zog er dann seinen Führerschein heraus.

"Sie müssen schon entschuldigen", meinte Officer Cameron dann, nachdem er die Papiere überprüft und den Kofferraum durchsucht hatte. "Die Kerle, auf die wir scharf sind, haben eine Bazooka..."

"Schon gut", sagte der Mann. "Ich habe von der Sache im Radio gehört!"

Cameron winkte ihn durch.

Dann kam ein Mercedes.

Zwei Männer saßen darin.

Baseballmützen und Sonnenbrillen mit Spiegelgläsern ließen von ihren Gesichtern so gut wie nichts übrig, woran man sie identifizieren konnte.

Die beiden wirkten nervös. Ein heftiger Wortwechsel ging zwischen ihnen hin und her. Cameron konnte davon keine Silbe verstehen. Er sah nur die Gesten.

Der Wagen kam heran.

Cameron klopfte an die Scheibe der Beifahrertür. Langsam glitt sie hinunter.

"Führerschein und Zulassung bitte. Und setzen Sie Sonnenbrille und Mütze ab..."

Der Fahrer suchte in seinen Taschen, während Officer Brent von außen die Tür öffnete. Die Maschinenpistole hatte der State Police-Mann im Anschlag.

"Hier ist der Führerschein", sagte der Fahrer schließlich und reichte ihn Brent.

"Sie sind Jay Wilbur?" fragte Brent.

"Ja." Er setzt seine Brille und die Baseballmütze ab. "Gibt bessere Fotos von mir, denke ich!"

"Was ist mit der Zulassung?", fragte Brent.

"Ich weiß nicht, ich dachte, ich hätte sie in den Führerschein gelegt... Vielleicht im Handschuhfach..."

Der Beifahrer beugte sich vor, um das Handschuhfach zu öffnen. Aber Cameron hielt ihn davon ab. "Zurück! Steigen Sie aus, das machen wir!"

Brent wandte sich an den Fahrer: "Sie auch, Mr. Wilbur! Ziehen Sie den Schlüssel ab und geben Sie ihn mir!"

Die beiden stiegen aus.

Wilbur gab Brent den Schlüsselbund.

"Welcher ist für den Kofferraum?"

"Der mit dem schwarzen Rand!"

Brent warf ihm einem Kollegen zu, der nach hinten ging, um die Klappe zu öffnen.

"Das Gesicht zum Wagen, die Hände auf das Dach", sagte Brent. Wilbur gehorchte. Der Beifahrer stand ihm auf der anderen Seite gegenüber, ein Officer hinter ihm. Cameron öffnete derweil das Handschuhfach.

Dort war nichts, außer einem Funktelefon.

Jetzt meldete sich der Officer zu Wort, der den Kofferraum geöffnet hatte.

"Seht euch das an!", rief er, nachdem er etwas darin herumgekramt hatte. "Eine Bazooka!"

*

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SEKUNDENBRUCHTEILE war Officer Brent abgelenkt. Der Schlag kam mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit. Ein mörderischer Handkantenschlag in die Halsgegend - geführt, als wäre die Hand eine messerscharfe Klinge. Jay Wilbur hatte seine volle Kraft in diesen Schlag gesetzt. Ein hässliches, knackendes Geräusch wurde von dem Ächzen übertönt, das aus Wilburs Mund kam.

Während Officer Brent mit starren Augen und unnatürlich abgewinkeltem Kopf zu Boden sackte, riss Wilbur dem Toten die MPi aus den Händen. Eine Sekunde später feuerte er wild drauflos.

Zwei State Police Beamte zuckten unter den Feuerstößen zusammen, die aus der MPi herauskrachten. Die Projektile rissen die Einsatzjacken auf, fraßen sich in die kugelsicheren Westen. Ihre Wucht war dennoch immens. Einer der Officers taumelte zurück und riss dabei seine eigene Waffe hoch. Rot züngelte das Mündungsfeuer aus dem kalten Lauf.

Aber der Schuss ging dicht über Wilbur hinüber.

Den etwas weiter rechts stehenden Officer erwischte es am Kopf.

Wilbur duckte sich, während der Feuerstoß einer Polizeiwaffe in seine Richtung ging. Die Kugeln ließen die Scheiben zerspringen und stanzten Löcher in das Blech.

Wilbur hechtete in den Wagen und zog die Tür hinter sich zu. Seinen Beifahrer hatten die Cops. Jedenfalls sah Wilbur nichts von ihm. Und die Officers, die auf der Beifahrerseite des Mercedes gestanden hatten, hatten sich ganz offensichtlich in Sicherheit gebracht.

Wilbur lud die MPi durch.

Keiner würde ihn kriegen!

Keiner!

Erst jetzt bemerkte er das Blut an der Schulter. Er fluchte lautlos.

Das Puls ging ihm bis zum Hals.

"Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!", dröhnte von draußen ein Megafon. "Sie haben keine Chance!"

Wilbur verzog das Gesicht zu einer wölfischen Grimasse.

Er dachte gar nicht daran, aufzugeben.

Wilburs griff ging an die Verkleidung unterhalb des Lenkrades. Er riss sie einfach heraus. Mit geübten Bewegungen zog er die entscheidenden Kabel heraus. Er schloss den Wagen kurz. Der Motor sprang an und übertönte das Megafon, das ihn noch einmal zum Aufgeben aufforderte.

Wilbur drückte den Schalthebel des Automatikgetriebes in die Position D.

Dann trat er mit dem Fuß das Gaspedal voll durch.

Der Mercedes schoss vorwärts.

Wilbur musste blind fahren.

Den Straßenverlauf schätzte er grob aus der Erinnerung.

Mit einer Hand lenkte er, während die andere die MPi umklammert hielt.

Wie ein Geisterwagen schoss der Mercedes auf die Barriere zu. Die State Police Officers sprangen zur Seite, während die rotgestreifte Sperre durch die Luft geschleudert wurde.

Wilbur tauchte hoch, hielt mit einer Hand die Maschinenpistole empor und ließ die Waffe losknattern.

Die Projektile pfiffen durch die zersprungene Scheibe.

Der Mercedes jagte indessen in seiner Höllenfahrt vorwärts.

Aber nur noch wenige Sekunden lang.

Ein Ruck ging durch den Wagen.

Ein Knall!

Wilbur verlor die Kontrolle über den Wagen. Ein schleifendes Geräusch ertönte. Der Geruch von verbranntem Gummi erfüllte die Luft.

Wilbur hatte eine Wegfahrsperre überfahren.

Spitze Metalldornen hatten sich in die Reifen gebohrt. Der Wagen rutschte schräg über die Straße und krachte dann gegen einen der Einsatzwagen der State Police.

Wilbur schlug mit dem Kopf hart auf.

Etwas benommen erhob er sich.

Einer der State Police-Männer war bereits mit der Waffe im Anschlag an den Mercedes herangestürmt.

"Fallenlassen!", brüllte dieser.

Wilbur ließ die MPi nicht fallen. Er riss die Waffe hoch und ließ seinem Gegenüber keine Wahl. Die Kugel traf Wilbur im Oberkörper. Er selbst hatte fast gleichzeitig gefeuert.

Das Projektil war oben an der Dachkante durch das Blech gefetzt. Etwa eine Handbreit am Kopf des State Police-Beamten vorbei.

*

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JANET LARONO HATTE uns in die Personalabteilung geführt. Wir gingen zusammen mit Personalchef Duane Jennings die Daten jener Mitarbeiter durch, die in den sicherheitsrelevanten Bereichen beschäftigt waren. Insbesondere interessierte uns natürlich, in wie weit sie Zugang zu den Einsatzplänen hatten, die für die Transporte existierten.

"Wir gehen da auf Nummer sicher", erläuterte uns Duane Jennings, ein ergrauter Mitvierziger, der ziemlich ratlos wirkte. "Einzelheiten werden immer erst festgelegt, kurz bevor es losgeht. Selbst die begleitenden Sicherheitsleute wissen nicht, wann es losgeht oder was sie transportieren."

"Solche Transporte scheinen häufiger vorzukommen", meinte ich.

"Wir sind eines der wenigen Unternehmen in unserer Branche, das diesen Standard aufweist. Das der Dollar immer noch eine relativ leicht zu fälschende Währung ist, liegt nicht an uns, sondern an der Regierung, die einfach kein Geld für wirklich innovative Neuerungen hat." Jennings redete sich geradezu in Rage. "Aus Sicherheitsgründen wäre ein Austauschen sämtlicher Dollar-Noten längst überfällig. Aber wer will das bezahlen."

"Allerdings."

"Wir bieten unsere Technologie übrigens weltweit an. Einige südamerikanische und asiatische Länder lassen ihr Geld mit unseren Verfahren drucken und wir warten auch die Druckanlagen. Wir hatten sogar schon Anfragen aus den ehemaligen GUS-Staaten, von denen ja jetzt jeder sein eigenes Geld produziert. Naja, Sie können sich denken, dass wir da eben ab und zu kostbare Teile hin- und hertransportieren müssen."

"Ist das kein immenses Risiko?"

"Es sind ja nicht jedesmal komplette Druckplatten. Manchmal auch elektronische Bauteile, mit denen höchstens die Konkurrenz etwas anfangen könnte. Aber bis jetzt haben wir nie Probleme gehabt, Mr. Trevellian."

"Doch diesmal hat jemand genau Bescheid gewusst und entsprechend zugeschlagen", gab ich zu bedenken. "Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hätte es den Gangstern auch wenig gebracht, einfach nur irgendeinen ihrer Transporte zu überfallen, weil das transportierte Gut dann zumindest für sie - wertlos gewesen wäre."

"Das ist richtig." Duane Jennings nickte nachdenklich.

"Haben Sie irgendeine plausible Erklärung dafür?"

"Nein."

In diesem Moment ertönte ein Summton. Jennings schaltete die Gegensprechanlage seines Büro ein.

"Ich habe doch gesagt: Keine Störung!", fauchte er.

"Mr. Jennings, es gibt Schwierigkeiten", säuselte eine Sekretärinnenstimme, der man die Verwirrung deutlich anhörte.

"Hier ist Mr. Reilly von der EDV... Es scheint da ein Problem zu geben..."

*

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REILLY WAR NOCH EINEN ganzen Kopf größer als ich, blassgesichtig und trug eine ziemlich dicke Brille.

"Es scheint so, als hätte jemand an unserer EDV herummanipuliert", erläuterte er. "Jedenfalls ist eine E-Mail abgeschickt worden, kurz nachdem der Einsatzplan für den Transport eingegeben wurde."

"Können Sie nicht ermitteln, wer von den Mitarbeitern zu der Zeit im System war?", fragte ich.

"Sicher, das ist möglich."

"Gut. Sie werden verstehen, wenn wir die befragen würden. Ich schlage vor, Sie rühren das System jetzt nicht mehr an."

"Aber..."

Reilly schien davon nicht begeistert zu sein.

"Der FBI verfügt über Computerspezialisten. Lassen Sie unsere Leute da heran. Dann haben wir vielleicht eine Chance, zu rekonstruieren, was passiert ist!"

In diesem Moment klingelte das Handy in Milo Tuckers Jackentasche. Er holte das Gerät heraus, nahm es ans Ohr und sagte ein paarmal "Ja."

"Und?", fragte ich, nachdem das Gespräch beendet war.

"Die New Jersey State Police hat zwei Kerle gefasst, die eine Bazooka im Kofferraum hatten. Einer der beiden starb bei einem Feuergefecht, aber der zweite Mann lebt."

Immerhin, dachte ich. Das sah endlich nach einem Anfang in diesem Fall aus.

*

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DIE MEISTEN LEUTE WOHNEN in Queens, um in Manhattan zu arbeiten. Bei Nathan Reilly war es umgekehrt und damit gehörte er zu einer Minderheit. Der Top-Job, den er bei McGordon Inc. innehatte, sorgte dafür, dass er sich eine Wohnung am Central Park West leisten konnte. Nicht gerade ein Penthouse, aber die Aussicht war auch aus dem 9.Stock traumhaft genug.

Es war später als gewöhnlich.

New York war bereits zu einem Lichtermeer in der Dunkelheit geworden.

Reilly passierte den Security-Mann am Eingang dieses Mietshauses. Nur die wirklich guten Adressen leisteten sich diesen Luxus noch. Zumeist wurden die Sicherheitsdienste durch elektronische Überwachungsanlagen verdrängt.

"Guten Abend, Mr. Reilly!"

"Hallo, Jordan! Wie geht's?"

"Ich beneide Sie, Sir. Sie haben schon Feierabend, mein Dienst beginnt erst."

Reillys Lächeln war matt. Die Erlebnisse des heutigen Tages waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen.

Er nahm den Aufzug.

Wenig später stand er dann vor seiner Wohnungstür.

Sie war nicht abgeschlossen.

Reilly runzelte die Stirn. Er öffnete die Tür und trat ein.

Die Wohnung war sehr großzügig - zumal für einen Single.

Und für New Yorker Verhältnisse ohnehin, wo jeder bewohnbare Quadratmeter einer Wertanlage gleichkam.

Reilly durchquerte das Wohnzimmer. Seine Aktentasche legte er auf einen der weichen, etwas klobigen Sessel.

Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spalt breit offen.

Dahinter war es dunkel.

Reilly lockerte sich die Krawatte und schob sich die dicke Brille wieder den Nasenrücken hinauf.

Dann ging Reilly zur Schlafzimmertür. Er gab ihr einen Stoß, so dass sie sich vollkommen öffnete.

"Hallo, Darling!"

Die rauchige, tiefe Frauenstimme wirkte elektrisierend auf Reilly.

Er machte einen Schritt nach vorn.

Auf dem breiten Bett räkelte sich im Halbdunkel eine aufregende Schönheit. Die langen Stiefel reichten ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel. Der schwarze Lederfummel den sie trug, ließ die Körpermitte frei. Die wenigen Fetzen, mit denen sie bekleidet war, schmiegten sich geradezu perfekt an ihre aufregende Formen.

Ihr Blick hatte etwas Herausforderndes.

Eine Strähne ihrer blauschwarzen Mähne befand sich zwischen ihren großen, sinnlich wirkenden Lippen.

"So magst du mich doch am liebsten, oder Darling?", hauchte die Leder-Lady.

"Ja...", murmelte Nathan Reilly kaum hörbar. Er musste schlucken. Der ganze verdammte Tag bei McGordon Inc. war für ein paar Augenblicke vergessen. Mein Gott, dachte er.

Die Leder-Lady zog einen Schmollmund.

"Ich musste lange auf dich warten, Darling."

"Ich weiß, Baby... Ich weiß..."

"War irgend etwas Besonderes?"

"Es gab Probleme in der Firma!"

"Was denn für Probleme?"

"Unwichtig, Baby!"

"Komm schon, öffne dein Herz, Darling."

Reilly kam näher. Ein Schritt noch trennte ihn von dem breiten Bett und dieser Traumlady. Reilly registrierte, dass ihre Brüste das knappe Lederteil um ihren Oberkörper beinahe zu sprengen drohten.

Und dann blieb der Computerfachmann von McGordon Inc. abrupt stehen.

Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte die Leder-Lady etwas metallisch Aufblinkendes in der Hand.

Eine Pistole.

Der kalte Lauf war so blank, dass man sich darin spiegeln konnte. Und die Mündung war direkt auf Reillys Körper gerichtet.

Ein teuflisches Lachen ging über die dunkelrot geschminkten Lippen der Leder-Lady.

"Setz dich, mein Guter," säuselte sie.

"Ja..."

Reilly gehorchte wortlos.

Die Leder-Lady lachte schrill.

"Na, los, mach schon!" forderte sie ihn dann auf.

Reilly langte in seine Hemdtasche. Er holte ein Päckchen Zigaretten heraus und nahm sich eine heraus. Seine Finger zitterten leicht. Er steckte sie sich in den Mund. In den Augen der Leder-Lady blitzte es.

"Na, endlich, Darling," hauchte sie.

Und drückte ab.

*

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DIE LEDER-LADY ATMETE tief durch. Ihre Brüste hoben und senkten sich dabei. Sie richtete sich vollends auf und lächelte zufrieden, als die Flamme aus dem Revolverlauf schlug.

Reilly beugte sich etwas nieder, so dass die Zigarette an die Flamme kam.

Dann nahm er einen tiefen Zug.

"Die eigenen vier Wände - einer der wenigen Orte an denen man in New York diesem Laster noch frönen darf", meinte er.

"Du solltest es dir trotzdem abgewöhnen", erwiderte die Leder-Lady.

"Ja, ja..."

"Ist auch schlecht für die Liebe, Darling."

"Wenn mich nichts anderes umbringt, bin ich zufrieden, Baby."

"Tja, wer kann das schon garantieren", murmelte die Leder-Lady mehr zu sich selbst als zu ihrem Darling.

Sie erhob sich und stand auf.

Reilly verschluckte sich fast, als er die schwindelerregende Silhouette ihrer Figur sah.

Ihr Blick war auf die silberfarbene Pistole gerichtet.

"Ein hübsches Feuerzeug, was du da hast", meinte sie und richtete den Lauf erneut auf Reilly. Sie drückte ab, ließ das Feuer herausschießen und warf dem Computerspezialisten dann das Spielzeug zu. Reilly fing es mit Mühe auf.

Dann lehnte er sich zurück.

Die Leder-Lady begann, an ihren Sachen herumzunesteln.

"Was machst du da?", fragte Reilly.

"Na, wonach sieht's denn aus, Darling?"

Ein Teil nach dem anderen glitt zu Boden, bis sie schließlich nur noch die hohen Stiefel trug. Nichts sonst.

Ihr aufregender Körper schimmerte im Gegenlicht. Reilly sah ihr fasziniert zu.

Dann beugte sie sich über ihn. Ihre aufregenden Brüste wippten dabei auf und nieder.

Sie packte ihn an der Krawatte.

"Darling, du erzählst mir jetzt, was in der Firma war..."

"Später, Baby! Später..."

"Nein, jetzt! Solange das nicht 'raus ist, kannst du dich sowieso nicht richtig entspannen, Nathan!"

Reilly atmete tief durch.

Ihre Augen funkelten ihn an.

"Na, los!", forderte sie.

Sie saß jetzt rittlings auf seiner Körpermitte.

"Du hast sicher von dem Überfall gehört... Auf den Transport, der Druckplatten zur Produktion von Dollarnoten in eine Druckerei nach Newark bringen sollte..."

"Die kamen aus eurem Laden?", fragte die Leder-Lady.

"Ja." Reilly hatte Schweißperlen auf der Stirn. Er starrte erst einen Augenblick auf ihre Brüste, dann in ihr Gesicht.

"Mein Gott, der FBI war bei uns. Wir sind nacheinander verhört worden. Die Gangster wussten genauestens Bescheid... Und dann stellte sich noch heraus, dass jemand an unserer EDV

herummanipuliert hat."

"Ach! Jemand von euch?"

Reilly schüttelte den Kopf. "Jemand von außen... Aber eigentlich ist das unmöglich..."

"Wieso? Hacker sind doch auch in die Zentralcomputer des Pentagon gelangt!"

"Trotzdem... Mit Hilfe der FBI-Spezialisten konnten wir in etwa rekonstruieren, was passiert ist. Die haben unsere Passwörter benutzt!"

"Hat der FBI denn schon irgendeine Spur?"

"Die werden jetzt nacheinander jeden durchleuchten, der Zugang zum Sicherheitsbereich hatte! Und dann ist da noch..."

Er hielt plötzlich inne.

Sein Blick wurde nachdenklich. Er schien durch ihren Körper hindurchzublicken.

"Was?", fragte sie.

Ihre Stimme klirrte jetzt wie Eiswürfel in einem Glas Scotch.

"Nichts", murmelte er.

Sie stieg von ihm herunter.

"Was ist los?", fragte Reilly.

Sie antworte ihm nicht.

Er sah, wie sie nackt auf diesen bis zu den Oberschenkeln reichenden Stiefeln durch das Halbdunkel ging.

Reilly richtete sich auf.

Er sah gerade noch, wie die Leder-Lady nach ihrer Handtasche griff, die sie auf einem Stuhl abgelegt hatte. Sie öffnete die Tasche. Etwas Dunkles, Längliches kam zum Vorschein.

Eine Pistole mit Schalldämpfer.

Reilly öffnete den Mund. Seine Augen waren schreckgeweitet.

Er brachte keinen Ton heraus.

Die Leder-Lady streckte den Arm aus und zielte. Ein kurzes 'Plop!' ertönte. Rot züngelte für einen Sekundenbruchteil das Mündungsfeuer aus dem Schalldämpfer.

Mitten auf Reillys Stirn bildete sich ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Reilly wurde nach hinten gerissen.

Ein zweiter Schuss traf ihn im Oberkörper und verursachte ein letztes Zucken.

Reillys tote Augen blicken fragend gegen die Decke.

Die Leder-Lady trat noch einmal etwas näher an ihn heran, um sich davon zu überzeugen, dass er auch wirklich nicht mehr lebte.

"Tut mir leid, Darling", murmelte sie dann. "Aber dich am Leben zu lassen hätte einfach ein zu großes Risiko bedeutet."

*

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ES WAR SCHON DUNKEL, als Milo und ich mit meinem Sportwagen durch die Straßen von Manhattan jagten. Das Blaulicht hatte Milo auf das Dach gesetzt.

Wir mussten schnell sein.

Verdammt schnell.

Stundenlang hatten wir in den Büroräumen von McGordon Inc. die Mitarbeiter befragt, während unsere Computerspezialisten sich um die Manipulationen in der EDV gekümmert hatten.

Inzwischen stand fest, dass jemand von außen in das System eingedrungen war. Ein Hacker. Er hatte das Computersystem von McGordon Inc. dahingehend manipuliert, dass sämtliche Daten über Transporte, für die irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden, sofort per E-Mail verschickt wurden. So waren die Gangster über jede Änderung - auch in letzter Minute - sofort informiert. Das Programm, dass bei McGordon Inc. benutzt wurde, erstellte normalerweise selbsttätig eine Protokoll-Datei, in der sämtliche Vorgänge verzeichnet waren. Der Hacker hatte dafür gesorgt, dass dieses Protokoll nur in verstümmelter Form vorlag. Unsere Spezialisten hatten es geschafft, die gelöschten Daten zurückzugewinnen. In dem Fall war das nicht so problematisch, weil die entsprechende Datei noch nicht neu überschrieben worden war. Aber unsere Leute hatten auch schon aus halb eingeschmolzenen Notebooks hin und wieder noch Daten retten können.

Das wichtigste hatten wir jedenfalls.

Nämlich jenen Telefonanschluss, über den die Daten empfangen worden waren.

Der Anschluss gehörte zum Blackwood-Hotel in der Lower East Side. Ein Etablissement der gehobene Ansprüche.

"Kaum zu glauben", meinte Milo. "Da sitzen diese Kerle seelenruhig in einem Hotelzimmer, schließen ihre Notebook ans Telefonnetz an und spionieren ohne irgendein Risiko die bestgehütesten Geheimnisse von McGordon Inc. aus!"

"Ja, Spione sind auch nicht mehr das, was sie mal waren", murmelte ich.

Vor uns wichen die Wagen nach rechts und links aus.

Die Leute hinter denen wir her waren, hatten keinen Grund, ihren Horchposten aufrecht zu erhalten.

Sie hatten bekommen, was sie wollten.

Die Lizenz zum Gelddrucken.

Wenn wir Pech hatten, dann waren sie längst über alle Berge.

Die Reifen des Sportwagen quietschten, als ich um eine Ecke bog. Ich hoffte, dass die Kollegen schneller waren, als wir.

Immerhin kamen wir von Queens her, während die anderen alarmierten G-men von der Zentrale an der Federal Plaza in Manhattan aus einen viel kürzeren Weg hatten.

Allerdings musste das im dichten New Yorker Abendverkehr nicht unbedingt sehr viel bedeuten.

"Ich glaube nach wie vor, dass einer aus der Firma denen geholfen hat", war Milo überzeugt.

"Ach, und wieso? Dafür konnten wir keine Anhaltspunkte finden! Hacker können doch heute mehr der weniger überall eindringen, wenn sie gut genug sind!"

"Eben! Wenn sie gut genug sind - das ist der Punkt! Die Hacker-Szene ist relativ abgeschlossen, aber ich vermute, dass die Leute, mit denen wir es zu tun haben aus einer ganz anderen Ecke kommen. Die Benutzung der Bazooka spricht doch Bände!"

"Milo, wenn du das entsprechende Kleingeld hast, dann bekommst du jeden Hacker herum, für dich zu arbeiten!"

"Solche Leute sind eitel. Wenn ich so ein Projekt aufziehen würde, wäre mir das zu risikoreich jemanden von außen hereinzunehmen."

Ich war ziemlich erstaunt über Milos Worte.

"Da kann der FBI ja froh sein, dass du niemals so ein Ding aufziehen würdest. Sonst sähen wir wohl ziemlich alt aus!"

"Im Ernst, Jesse. Die Gangster wussten die Passwörter, sonst wären sie nicht ins System gekommen. Normalerweise kommen Hacker an diese Passwörter, indem sie probieren. Bei der Auswahl dieser Wörter werden nämlich immer wieder dieselben Fehler gemacht. Man nimmt das Geburtsdatum, den Vornamen der Ehefrau und so weiter. Aber ich habe mir die Liste der verwendeten Passwörter zeigen lassen. Solche Fehler hat man bei McGordon Inc. nicht gemacht."

"Vielleicht sind wir ja gleich schlauer, wenn wir dieses Hotelzimmer besichtigen."

"Ich hoffe nur, dass wir dort überhaupt noch irgend etwas finden, Jesse."

*

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ALS WIR DAS BLACKWOOD-Hotel erreichten, waren unsere Kollegen Medina und Caravaggio schon da, dazu noch ein gutes Dutzend weiterer G-men.

Caravaggio lockerte den Sitz seiner Dienstpistole.

"Alle Ausgänge sind von unseren Leuten besetzt, Jesse." Er deutete in die Höhe. "Wenn sie noch da oben sind, dann kriegen wir sie."

"Okay", murmelte ich.

Wir betraten die Eingangshalle.

Zwei unserer Agenten hatten sich am Portal postiert.

Wir alle waren über kleine, zierliche Walkie Talkies miteinander verbinden.

In der Eingangshalle war verhältnismäßig viel Betrieb. Für diejenigen, hinter denen wir her waren, bedeutete das einen Vorteil. Schließlich waren wir es, die Rücksicht nehmen mussten und nicht einfach ein Blutbad riskieren konnten.

Das Zimmer, zu dem der Anschluss gehörte, lag im dritten Stock. Clive Caravaggio hatte mit dem Hotelmanager gesprochen. Schließlich wollten wir nicht, dass uns einer der Hoteldetektive in die Quere kam.

Also musste die andere Seite informiert sein.

Es war die Nummer 321, eine richtige Suite.

Die Schlüssel waren in der Rezeption nicht abgegeben worden. Vielleicht bedeutete das, dass jemand dort war.

Wir nahmen den Aufzug.

Dann ging es einen langen Flur entlang.

Vor der Zimmernummer 321 hing ein Schild BITTE NICHT STÖREN. Aber diesen Gefallen konnten wir ihnen nicht tun. Wie auf ein geheimes Zeichen hin griffen wir nach unseren Dienstwaffen, automatischen Pistolen vom Typ P 226 der Firma Sig Sauer. Eine Patrone im Lauf, 15 weitere im Magazin.

Medina nickte mir zu.

Ich nahm einen Schritt Anlauf. Mit einem wuchtigen Tritt ließ ich die Tür aus dem Schloss springen.

"FBI! Hände hoch!", brüllte ich mit der Waffe im Anschlag.

Vor mir lag ein recht weiträumiges Wohnzimmer. Eine Glastür führte zum Balkon. Eine Schiebetür trennte den Wohnraum von einem weiteren Raum - vermutlich dem Schlafzimmer.

Zwei Männer saßen an dem niedrigen Tisch, auf dem sich tatsächlich ein Notebook befand. Offene Taschen und Koffer lagen auf dem Sofa. Offenbar hatten wir hier jemandem beim Packen gestört.

Einer der beiden Männer war dunkelhaarig, der andere so strohblond, dass man seine Zweifel haben konnte, ob die Farbe echt war.

Der Blonde schnellte herum.

Hinter der Stuhllehne hatte ich die Uzi-Maschinenpistole nicht sofort sehen können.

Erst im letzten Moment sah ich das Mündungsfeuer aus dem kurzen Lauf der MPi herausschießen.

Ich duckte mich, sprang zur Seite und drückte gleichzeitig zweimal meine P226 ab.

Dann presste ich mich gegen die Wand, während das Dauerfeuer der Uzi den Türrahmen zersplittern ließ.

"Geben Sie auf! Hier ist der FBI! Das Gebäude ist umstellt! Sie haben keine Chance zu entkommen!", rief Medina, als der Kugelhagel nachgelassen hatte.

Hektische Schritte waren zu hören.

Jetzt tauchte Milo aus der Deckung heraus.

Die P226 hielt er mit beiden Händen umklammert.

Er war bereit abzudrücken, wenn ihm die Gangster keine Wahl ließen.

Doch er ließ schon in der nächsten Sekunde die Pistole sinken. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der ungläubiges Staunen signalisierte.

"Die sind weg", murmelte er.

Caravaggio gab es gleich per Funk an die Kollegen. Ich nahm ihm das Funkgerät kurz aus der Hand lieferte eine kappe Beschreibung der beiden.

Milo pirschte sich bis zu der Sitzgruppe heran.

Orry folgte. Er arbeitete sich zur Tür des Nebenzimmers voran, die einen Spalt offenstand. Mit einem Tritt öffnete er sie vollends und stürmte mit der Waffe im Anschlag hinein.

Caravaggio und ich betraten als letzte die Suite.

Mit ziemlich ratlosem Gesicht kehrte Orry aus dem Nebenzimmer zurück.

"Hier ist niemand", erklärte er. "Und auch im Bad nicht."

Ich ließ den Blick schweifen. Die Fenster und die Glastür zum Balkon waren geschlossen. Und mir erschien es auch unwahrscheinlich, dass sie jemand geöffnet hatte, zumal die gläserne Hebetür, die zum Balkon führte, nur von innen zu verschließen war.

"Das gibt's doch nicht!", schimpfte Milo.

G-men sind im allgemein logisch denkende und nüchtern analysierende Leute. Für Zauberei oder dergleichen ist in unserem Weltbild kein Platz. Es gibt für alles eine Erklärung.

Orry setzte sich in einen der Sessel und warf einen Blick auf den Schirm des Notebooks. Ein Modem war auch zu finden, mit dessen Hilfe man das Notebook ans Telefonnetz anschließen konnte. Aber sämtliche Geräte waren jetzt nicht eingeschaltet.

"Hallo, hier Agent Caravaggio", meldete sich der flachsblonde Italo-Amerikaner per Funk bei den Kollegen. "Die Kerle sind nicht mehr hier. Ist bei euch jemand aufgetaucht, auf den die Beschreibung passt?"

Die Antwort war durchweg nein.

"Jemand muss den Ausgang der Tiefgarage überwachen", meinte ich.

Caravaggio sah mich mit leichtem Vorwurf an.

"Für wen hältst du uns, Jesse?"

"So war es nicht gemeint."

"Still", zischte Milo Tucker.

Ein summendes und manchmal etwas schepperndes Geräusch drang an unser Ohr. Wir lauschten angestrengt.

Dann machte ich zwei Schritte nach vorn und zog einen Wandteppich zur Seite.

Die Schiebetür dahinter sah auf den ersten Blick aus, als würde sie zu einem Wandschrank gehören. Ich öffnete sie. Dahinter war ein Loch in der Wand.

"Ein Lastenaufzug", stellte ich fest. Offenbar ließen sich die gutbetuchten Mieter dieser Suite auf diesem Weg das Essen servieren.

Ich blickte den Schacht hinunter.

Die beiden Männer hatten sich wohl in die Kiste gequetscht, die an Stahlbändern auf und abtransportiert wurde. Für die beiden Männer war es abwärts gegangen.

"Wo sind sie?", fragte Orry.

"Vermutlich in der Küche", meinte ich.

Ich drückte auf den Knopf, der den Aufzug heraufholte.

Ächzend kam das Ding herauf.

Ich sah Milo an. "Wird ein bisschen eng werden, Alter! Aber ich denke, das ist der kürzeste Weg!"

*

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DER MANN MIT DER WEIßEN Koch-Haube stöhnte erschrocken auf und wich zwei Schritte zurück.

Mit der P226 im Anschlag sprang ich aus dem Lastenaufzug heraus, in dem ich in kniender, geduckter Haltung hatte kauern müssen.

Milo folgte mir.

Ich zog meinen Ausweis.

"FBI!", rief ich und ließ dabei den Blick durch die Großküche des Blackwood-Hotels schweifen. Überall dampfte es. Auf großen Essenswagen wurden Mahlzeiten transportiert.

Lastenaufzüge für die Suiten wurden mit erlesenen Spezialitäten bestückt.

Insgesamt gab es vier Ausgänge.

"Hier sind gerade zwei Männer mit dem Lastenaufzug angekommen?"

"Ja, ja! Diese Verrückten! Die haben mich einfach über den Haufen gerannt!"

"Wohin sind sie?"

Der Mann deutete auf einen der Ausgänge.

"Die waren bewaffnet", flüsterte er dann noch.

Aber da waren Milo und ich längst auf dem Weg. Wir rannten quer durch die Großküche. Das kam einer Art Hindernislauf gleich. Mit einem Satz schwang ich mich über eine Spüle.

Augenblicke später hatten wir die Tür erreicht.

Mit der Waffe im Anschlag gab ich ihr einen Tritt. Sie flog zur Seite.

Dahinter war ein langer kahler Flur. Vermutlich waren dort Vorratsräume untergebracht.

Ich spurtete los.

Milo folgte mir. Am Ende des Gangs befand sich ein Treppenhaus, das wohl als Notausgang im Brandfall zu dienen hatte.

Ein Hinweisschild verriet, dass man auf dem Weg nach unten in die Tiefgarage gelangen konnte.

Milo holte das Walkie Talkie aus der Jackentasche.

"Hier Tucker. Die Gesuchten befinden vermutlich in der Tiefgarage!"

Mein Blick ging kurz nach oben. Die Kerle hinter denen wir her waren, waren keineswegs auf den Kopf gefallen. Sie mussten ahnen, dass eine panische Flucht sie nur in die Arme unserer Kollegen treiben würde.

Oder sie setzten darauf, dass wir geblufft hatten und das Blackwood keineswegs umstellt war.

Eine Geräusch ließ mich herumfahren.

Auf dem kahlen Flur war eine Tür aufgegangen.

Ich sah das Gesicht des Blonden. Mein Waffenarm mit der P226 ging blitzartig hoch, während ich in den Lauf der Uzi blickte, die mein Gegenüber auf mich richtete. Der Dunkelhaarige kam ebenfalls aus der Tür. Er packte seine Uzi mit beiden Händen und riss sie hoch.

Ich konnte nicht abdrücken.

Der Blonde hatte einen Mann in weißer Küchenkleidung im Würgegriff und hielt ihn wie einen Schutzschild vor sich.

Der Blonde feuerte.

Milo und ich warfen uns zur Seite und pressten uns dann rechts und links des Flureingangs gegen die Steinwand. Die MPi-Garbe knatterte an uns vorbei. Die Projektile fetzten irgendwo hinter uns den Putz von der Wand.

Dann war plötzlich Stille.

"Lassen Sie uns gehen! Legen Sie Ihre Waffen auf den Boden! Andernfalls stirbt dieser lausige Koch hier!", rief eine heisere Stimme aus dem Flur. "Ich zähle bis drei, verdammt nochmal!" Der Kerl war nahe an einem Zustand, den man nur als Panik bezeichnen konnte.

Milo sprach in sein Funkgerät.

"Hier Tucker! Die Kerle sind im Flur zwischen Küche und Treppenhaus. Sie haben eine Geisel..."

In der nächsten Sekunde konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Einer der Gangster ließ seine Maschinenpistole nochmal loskrachen.

"Halt's Maul dahinten!", krächzte er.

"Wir müssen versuchen, sie hinzuhalten", meinte ich.

"Eins!", hörte ich die heisere Stimme. Ich glaubte, dass sie dem Blonden gehörte, der den armen Kochgehilfen immer noch als lebenden Schutzschild vor sich hielt.

"Zwei!"

Ich hörte ein ratschendes Geräusch.

Das Magazin einer MPi wurde ausgewechselt und die Waffe dann durchgeladen.

"Nein!", schrie die Geisel. "Bitte nicht!"

"Wir gehen auf Ihre Forderungen ein!", rief ich. "Aber lassen Sie den Mann frei!"

"Eure Waffen, G-men!"

Ich ließ meine P226 so zu Boden fallen, dass der Kerl es sehen musste. Ich selbst hielt mich aber immer noch in Deckung.

Die Uzi krachte wieder los. Ein Feuerstoß von mindestens zwanzig Kugel ließ meine Pistole am Boden tanzen. Die Projektile zerfetzten den Griff, ließen ihn splittern und kratzen in den glatten Fußboden.

"Ich warte nicht länger!", krächzte der Kerl.

Ich hoffte nur, dass Orry, Caravaggio und den anderen Kollegen in der Zwischenzeit etwas einfiel.

Milo ließ seine Waffe ebenfalls zu Boden segeln. Sie rutschte ein Stück.

"Jetzt ihr! Wenn ihr Bastarde nicht herauskommt, hat der arme Kerl hier keinen Kopf mehr! Habt ihr verstanden! Wollt ihr das? Verdammt, ihr Arschlöcher, ich habe ich euch was gefragt!"

Unser Gegner war unberechenbar.

Wie ein in die Enge getriebenes Raubtier.

"Sie bekommen alles, was Sie wollen", versprach ich, obwohl ich nicht wusste, ob ich das halten konnte. Aber erst einmal mussten die beiden Gangster beruhigt werden. So außerhalb jeder Selbstkontrolle, wie sie im Moment waren, lief das ganze auf eine blutige Katastrophe hinaus. "Wir können über alles reden. Aber..."

"Halt's Maul und zeig dich G-men! Sonst ist meine Geisel gleich so lebendig wie die Rinderhälften in der verdammten Kühlkammer hier!"

Wir kamen aus unserer Deckung hervor.

Wehrlos.

"Kickt eure Waffen zu uns hinüber!", brüllte der Blonde.

Wir gehorchten. Unsere am Boden liegenden Pistolen rutschten über den glatten Boden wie Eishockey-Pucks.

Auf dem Gesicht des Dunkelhaarigen stand ein gemeines Grinsen.

Die beiden kamen auf uns zu.

Der Kochgehilfe war totenbleich.

"Leg sie um", knurrte der Blonde. "Alle beide."

*

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MEIN BLICK WAR AUF den kurzen, dunklen Lauf der Uzi gerichtet, die der Dunkelhaarige in den Händen hielt. Der Zeigefinger seiner Rechten wurde weiß am Knöchel, als er den Druck auf den Abzug etwas verstärkte.

"Worauf wartest du, blas sie um, die Cops!", kreischte der Blonde. "Sie haben unsere Gesichter gesehen!"

"Halt's Maul!", knurrte der Dunkelhaarige. Mir fiel die kleine Narbe auf, die er knapp unterhalb des linken Auges hatte.

"Heh, Milo, was ist los bei euch?", meldete sich Agent Medinas leicht verzerrte Stimme durch Milos Walkie Talkie.

Der Dunkelhaarige zeigte seine Zähne wie ein Raubtier.

"Umlegen können wir sie später!", brummte er. Er hob die Uzi etwas an. Sie zeigte auf Milos Oberkörper. "Eure Leute stehen unten am Ausgang der Tiefgarage, oder?"

"Ja", sagte Milo.

"Dann sagt eurer Meute, dass sie dort verschwinden soll! Sonst ist die Geisel tot! Und ihr auch!"

Milo nahm das Walkie Talkie. "Orry! Es gibt ein Problem. Zieht alle Leute von der Tiefgarage zurück."

"Haben die euch in der Gewalt?", fragte Medina.

Der Dunkelhaarige machte einen Schritt nach vorn. Brutal rammte er die Uzi in Milos Bauch und riss ihm das Funkgerät aus der Hand. Milo taumelte ächzend nach hinten.

Der Dunkelhaarige richtete einhändig die Uzi auf ihn.

"Wenn du fällst, fällst du für immer, G-man!"

Milo unterdrückte einen Fluch.

Der Dunkelhaarige nahm das Funkgerät.

"Hört ihr mich? Es gibt hier ein Blutbad, wenn ihr uns den Weg nicht freigebt! Kapiert?"

"Wir ziehen unsere Leute zurück", sagte Medina.

"Keine Tricks!"

"Keine Tricks", versprach Medina.

In den Augen des Dunkelhaarigen blitzte es triumphierend.

Er schwenkte die MPi. "Vorwärts!", forderte er uns auf.

Es ging die Treppe hinunter. Mit erhobenen Händen gingen wir vor den MPi-Läufen her. Milo hatte den gemeinen Schlag inzwischen einigermaßen weggesteckt.

Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm.

Es war uns beiden klar, dass wir auf unsere Chance warten mussten. Jetzt irgend etwas zu versuchen war sinnlos.

Eine feuersichere Stahltür führte in die Tiefgarage.

Der Dunkelhaarige öffnete sie. Der Lauf seiner Uzi bohrte sich dabei schmerzhaft in meine Rippen. "Los", knurrte er.

Es war kühl in der Tiefgarage.

Mein Blick glitt schnell über die langen Reihen der luxuriösen Pkw, die die Hotelgäste hier unten abgestellt hatten. Eine Überwachungskamera bewegte sich selbsttätig.

Der Dunkelhaarige hatte das auch bemerkt.

Er riss die Maschinenpistole hoch und feuerte. Die Kamera wurde durch den Bleihagel regelrecht zerfetzt.

Dann ließ der Gangster misstrauisch den Blick kreisen.

Nichts zu sehen.

Aber genau das musste ihm verdächtig erscheinen. Schließlich war hier normalerweise ständig Betrieb. Irgendwer brauchte zu jeder Tages- und Nachtzeit seinen Wagen, ließ ihn sich entweder von einem Hotelangestellten holen oder ging selbst hier hinunter. Aber jetzt war hier buchstäblich niemand.

"Das ist 'ne verdammte Falle!", kreischte der Blonde, der kurz davor stand, die Kontrolle zu verlieren. Er setzte der Geisel die Uzi an die Schläfe.

"Sei still!", knurrte der Dunkelhaarige. Er nahm das Funkgerät und brüllte dann: "Was hat das zu bedeuten? Warum ist hier kein normaler Betrieb?"

Orry antwortete.

"Wir haben die Tiefgarage schon vorher räumen lassen!"

"Ihr wisst was passiert, wenn..."

"Wissen wir! Machen Sie sich keine Sorgen. Was haben Sie jetzt vor?"

"Wir gehen zum Wagen. Und dann werden Sie uns fahren lassen. Eine Geisel nehmen wir mit, damit ihr G-men nicht auf dumme Gedanken kommt!"

"Wo werden sie die Geisel freilassen?"

"Das müssen Sie uns überlassen!"

Wir durchquerten die Tiefgarage. Die Gangster beobachteten misstrauisch die dicken Betonpfeiler, so als erwarteten sie, dass jederzeit unsere Leute dahinter hervorspringen konnten.

Dann erreichten wir eine dunkle Limousine.

Ein langgezogener, viertüriger Chevy.

Der Blonde schloss die Tür auf und schob die Geisel auf den Rücksitz.

"Nehmen Sie mich statt dieses Mannes mit", sagte ich. "Lassen Sie ihn frei! Ich garantiere Ihnen, dass man Sie durchlässt!"

Der Dunkelhaarige grinste.

"Keine Chance, Mister!"

Die beiden stiegen in den Chevy.

Dann brauste der Wagen los. Die Seitenscheibe der Hintertür glitt hinunter, während der Chevy mit quietschenden Reifen einen Haken schlug.

"Vorsicht, Milo!"

Wir hechteten zu Boden, ehe der Blonde in unsere Richtung ballerte. Die Kugel durchstanzten das Blech der parkenden Wagen.

Der Chevy hatte indessen die Ausfahrt erreicht.

"Ich hoffe, unsere Leute bleiben dran", meinte Milo, nachdem er sich wieder erhob.

*

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ICH HATTE MIR DIE AUTONUMMER des Chevys gemerkt. Eine Blitzabfrage in der Zentrale ergab, dass er auf einen gewissen Walid Kerim zugelassen war. Kerim war ein alter Bekannter. Er hatte mehrere Verurteilungen hinter sich, unter anderem wegen der Verbreitung von Falschgeld und schwerer Körperverletzung.

"Bingo", meinte Milo dazu, als wir oben in der Hotelsuite standen, von der aus die beiden operiert hatten.

"Die müssen sich sehr sicher gefühlt haben", war ich überzeugt. "Sonst wären sie nicht mit ihrem eigenen Wagen hier her gekommen..."

Kerim hatte auch das Zimmer angemietet, wie sich herausstellte. Allerdings unter falschem Namen.

Kerim war Amerikaner arabischer Abstammung. Seine Eltern kamen aus dem Libanon.

Vermutlich war er der Dunkelhaarige mit der Narbe unter dem Auge. Letzte Sicherheit würden wir erst haben, wenn wir sein Bild auf unserem Computerschirm vor uns sahen.

"Ihr habt verdammtes Glück gehabt", meinte Agent Medina.

Ich zuckte die Achseln.

"Ich hoffe, dieser Kochgehilfe hat es auch." In den Händen hielt ich noch die Einzelteile meiner zertrümmerten P226, die ich inzwischen aufgesammelt hatte. Ich würde mir eine neue Dienstwaffe besorgen müssen.

Im nächsten Moment klingelte Medinas Handy.

Er machte ein ziemlich deprimiertes Gesicht, als er den Apparat wieder sinken ließ.

"Das war Agent LaRocca! Unsere Leute haben den Wagen verloren..."

Ich fluchte innerlich.

Es war ein scheußliches Gefühl, nichts tun zu können.

"Die werden uns schon ins Netz laufen, Jesse," war Medina recht zuversichtlich.

Milo und ich fuhren zurück zum Hauptquartier in der Federal Plaza. Es war um diese Zeit kaum noch jemand da und auch wir hätten eigentlich längst Feierabend gehabt.

Mr. McKee hörte sich unseren Bericht an.

"Niemand macht Ihnen beiden einen Vorwurf", meinte er.

"Ich weiß", sagte ich. "Dieser Blonde war nahe davor durchzudrehen. Wir konnten kein Risiko eingehen."

"Ich hoffe nur, dass er inzwischen nicht durchgedreht hat", ergänzte Milo.

Mr. McKee war trotz allem zuversichtlich - zumindest, was die Chance anging, die beiden zu kriegen.

"Von Walid Kerim werden die Fahndungsfotos schon gedruckt. Der kann sich ab jetzt nirgends mehr sehen lassen. Und zwei unserer Agenten warten ständig vor seiner Wohnung."

"Er wird kaum so dumm sein, dorthin zurückzukehren," meinte ich.

"Weiß man nie, Jesse."

"Was ist eigentlich mit dem Kerl, den man in New Jersey festgenommen hat?"

"Wird noch verhört. Aber die Bazooka ist aller Wahrscheinlichkeit nach bei dem Überfall benutzt worden. Was das angeht, wissen wir morgen mehr."

In diesem Moment betrat Max Carter das Büro. In seinem Gefolge kam Ronald Figueira, unser Falschgeldspezialist herein. Figueira hatte bereits ein Dossier über Walid Kerim unter dem Arm. Er legte es Mr. McKee auf den Tisch.

"Kerim könnte ein vielversprechender Ansatzpunkt sein", meinte Figueira. "Allerdings halte ich ihn für ein zu kleines Licht, als das der Überfall auf den Transporter allein auf seinem eigenen Mist gewachsen sein kann."

"Immerhin hatte er doch eine äußerst wichtige Aufgabe bei der Sache", gab ich zu bedenken. "Auch, wenn er wohl kaum an dem Überfall selbst beteiligt gewesen sein kann."

"Kerim hat gewisse Kenntnisse, was Computer angeht", sagte Figueira. "Aber ich glaube nicht, dass die ausgereicht hätten, um so ein Ding durchzuziehen."

"Das heißt, der zweite Mann muss der Spezialist sein", schloss ich.

"Du sagst es, Jesse."

*

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VON DEM BLONDEN KONNTE nach den Angaben von Milo und mir zwar ein Phantombild gemacht werden, das ihn ziemlich gut traf. Aber in unseren Datenbanken war nichts über einen Mann verzeichnet, der dieses Aussehen hatte. Selbst die Fingerabdrücke, die unsere Leute von dem Notebook im Hotel Blackwood genommen hatten, brachten uns nicht weiter.

Max Carter, unser Fahndungsspezialist, mit dem zusammen Milo und ich fast bis Mitternacht vor dem Bildschirm saßen, packte beinahe die Verzweiflung. 

"Der Kerl scheint noch nie verhaftet worden zu sein", meinte Milo.

"Ein Neuling. Vielleicht war er deshalb so nervös", meinte Carter.

Die Fingerabdrücke vom Notebook gehörten zwei verschiedenen Personen. Die eine war Kerim. Die zweite musste nach menschlichem Ermessen der Blonde sein. Aber über AIDS, das zentrale System zur Erfassung von Fingerprints, das die Abdrücke von Kriminellen, Bewerbern für den öffentliche Dienst oder Army-Angehörigen speicherte, erfuhren wir nichts über den Blonden.

"Wir kommen heute nicht weiter", meinte Carter. "Was möglich war, haben wir gemacht..." Er gähnte bereits.

Vermutlich hatte Carter sogar recht, auch wenn keinem von uns der Gedanke gefiel. Aber im Kampf gegen das Verbrechen braucht man oft eine langen Atem.

Es ist ein Langstreckenrennen, kein Sprint.

Ein Anruf kam.

Es war Agent Fred LaRocca.

"Hallo Jesse. Wir haben die Geisel. Und auch den Fluchtwagen. Steht hier an der Bowery."

"Geht es dem Mann wenigstens gut?", fragte ich.

"Er hat eine Gehirnerschütterung. Die Kerle haben ihn niedergeschlagen und im Wagen zurückgelassen, bevor sie zu Fuß ihre Flucht fortgesetzt haben. Ein Psychologe der City Police kümmert sich um ihn."

Ich nickte. "Danke, Fred."

*

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AM NÄCHSTEN MORGEN holte ich Milo wie üblich an der bekannten Ecke ab.

Wir waren auf dem Weg zur Federal Plaza, als uns die Zentrale anrief. Milo nahm das Gespräch entgegen.

"Ein gewisser Nathan Reilly ist in seiner Wohnung erschossen aufgefunden worden", berichtete er dann.

"Reilly? Von McGordon Inc.?"

"Genau der, Jesse."

"Das kann kein Zufall sein."

"Allerdings."

"Wo geht es hin?"

"Ich nehme an, du weißt, wo der Central Park West ist."

Ich setzte das Blaulicht auf den Sportwagen und trat auf das Gaspedal. Bis zu Reillys Adresse war es nur ein Katzensprung.

Als wir den Central Park West erreichten, war es keine Schwierigkeit, das richtige Haus zu finden. Die Blinklichter der City Police-Einsatzwagen wiesen uns den Weg.

Ich parkte den Sportwagen in einer der wenigen Lücken, die noch geblieben waren. Wir stiegen aus.

Die Posten der City Police ließen uns passieren.

Wir gelangten ins Haus. Der Sicherheitsdienstler, der am Eingang seinen Posten in einer Art Glaskäfig hatte, wurde gerade von Polizisten befragt.

Ein Aufzug brachte uns in den 9. Stock.

Als wir Reillys Wohnung betraten, war dort noch nicht viel los. Die Spurensicherer vom SRD, dem Scientific Research Department, ließen noch auf sich warten.

Kein Wunder. Der SRD hatte seinen Sitz in der Bronx. Er war der zentrale Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, und auch wir vom FBI nahmen seine Hilfe häufig in Anspruch.

Im Wohnzimmer saß eine junge Frau, mit langem, sehr seidigen brünettem Haar. Sie sah in sich gekehrt aus. Das Make-up war etwas verwischt. Sie hatte geweint und schien uns gar nicht zu bemerken.

Aus dem Nebenzimmer trat ein breitschultriger Sergeant der City Police heraus.

"Trevellian, FBI", stellte ich mich kurz und knapp vor. Ich deutete auf Milo. "Das ist Agent Tucker."

"Ich bin Sergeant Willis. Kommen Sie bitte."

Wir folgen ihm ins Schlafzimmer. Der Tote lag ausgestreckt auf dem Bett. Starr und mit gebrochenen Augen blickte Nathan Reilly durch seine dicken Brillengläser an die Decke.

"Sie sind ziemlich früh", meinte Sergeant Willis. "Eigentlich hatten wir die Homicide Squad unseres Reviers erwartet..."

"Die kommt sicher noch", meinte ich.

"Was habt ihr G-men denn mit dem Fall zu tun?"

"Wir vermuten, dass dieser Mord mit dem Überfall auf den Transporter zu tun hat, bei dem die Dollar-Druckplatten erbeutet wurden", erläuterte Milo.

"Ich habe davon gehört", sagte der Sergeant.

Ich deutete auf den Toten.

"Zwei präzise Schüsse."

"Ja, sieht nach einem Profi aus. Jedenfalls hat hier niemand etwas gehört. Wenn der Gerichtsmediziner kommt, wissen wir vielleicht genaueres über die Todesursache."

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Einrichtung war von moderner Sachlichkeit. Fast konnte man sie unpersönlich nennen.

Milo deutete indessen auf die Pistole, die neben dem Toten auf dem Bett lag.

"Die Tatwaffe?"

"Wissen wir nicht. Am besten, wir lassen sie liegen, bis die Spurensicherer da sind..."

Ich fragte in gedämpftem Tonfall. "Wer ist die Frau, da draußen?"

"Miss Carol Reilly."

"Miss?", vergewisserte ich mich.

Sergeant Willis nickte. "Sie ist die Schwester des Toten - nicht seine Ehefrau."

"Hat Miss Reilly ihn gefunden?"

"Ja."

"Ich werde mich mal ein bisschen um sie kümmern..."

*

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"MEIN NAME IST JESSE Trevellian, ich bin Special Agent des FBI", sagte ich, als ich mich ihr gegenübersetzt hatte. Von meinem Dienstausweis nahm sie überhaupt keine Notiz. Sie sah mich nicht an. Tränen glitzerten in ihren Augen.

"Sie haben einen Schlüssel für diese Wohnung?", fragte ich dann.

Ein Ruck ging durch ihren zierlich wirkenden Körper. So als hätte ich sie jetzt aus ihrer inneren Welt herausgerissen.

"Ja, ich habe einen Schlüssel. Wissen Sie, ich studiere in Albany, aber wenn ich in New York bin, dann kann ich jederzeit bei meinem Bruder übernachten. Manchmal war ich wochenlang hier..." Sie seufzte. "Ich spreche immer noch in der Gegenwart von ihm. So als wäre er noch da...", fiel ihr dann auf. "Wissen Sie, ich kann einfach noch nicht begreifen, was geschehen ist."

"Das verstehe ich."

"Bestimmt fragen Sie mich jetzt danach, ob er irgendwelche Feinde hatte."

"Und?", fragte ich. "Hatte Ihr Bruder Feinde?"

"Nein, nicht, dass ich wüsste. Er war ein sehr sanfter, eher schüchterner Mensch, der Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg ging. Das einzige, was ihn wirklich interessierte waren Computer. Er war auf dem Gebiet ein Top-Mann!"

"Bei McGordon Inc. hat er es ja auch schön weit gebracht."

Sie sah mich erstaunt an. "Sie wissen, wo Nathan gearbeitet hat?"

"Ja."

"Aber..."

"Miss Reilly, wir vermuten, dass der Tod Ihres Bruders mit dem Überfall auf einen McGordon-Transporter zu tun hat..."

"Sie meinen, das mit den Druckplatten? Meine Güte, das Fernsehen und die Zeitungen sind voll davon."

"Genau das nehme ich", bestätigte ich.

"Ich wusste nicht, dass diese Sache mit der Firma meines Bruders zusammenhängt."

"Die Gangster wussten genau, wann was transportiert werden würde. Sie waren über alle firmeninternen Einzelheiten informiert. Und Ihr Bruder hat herausgefunden, dass ganz offensichtlich Fremde Zugang zur Firmen-EDV hatten."

"...und jetzt ist er tot", vollendete Carol Reilly.

"Verstehen Sie jetzt meinen Gedankengang?"

"Deshalb kümmert sich das FBI um die Sache - und nicht die normale Mordkommission. Ich habe mich schon gewundert, als Sie mir gerade Ihren Ausweis zeigten. Aber irgendwie war ich einen Moment lang etwas weggetreten..." Sie zuckte die Achseln. "Es hat eine Weile gedauert, bis bei mir der Groschen gefallen ist."

"Haben Sie in letzter Zeit irgendeine Veränderung an Ihrem Bruder und seinen Lebensverhältnissen festgestellt? Irgend etwas, das Ihnen aufgefallen ist.."

"Sie glauben, dass Nathan mit diesen Gangstern unter einer Decke steckte?"

Empörung klang in ihrem Tonfall mit. Ich bemerkte deutlich die Reserviertheit, die sie plötzlich erfüllte.

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, das muss nicht unbedingt sein."

"Aber Sie schließen es nicht aus."

"Nun..."

"Ich halte das für völlig ausgeschlossen, Mr. Trevellian! Das hätte Nathan niemals getan! Dafür kenne ich meinen Bruder gut genug..."

"Miss Reilly..."

"Ich glaube das einfach nicht!"

"Noch wissen wir nichts Bestimmtes, Miss Reilly. Aber sehr wahrscheinlich hat jemand die Passwörter verraten und Ihr Bruder war einer der wenigen in Frage kommenden Personen.

Miss Reilly, womöglich wurde er dazu gezwungen und mit irgend etwas unter Druck gesetzt..."

"Am Ende werden Sie noch behaupten, dass er sich die Pistole selbst an die Stirn gesetzt hat!"

"Nein, das behauptet niemand, Miss Reilly." Eine Pause entstand. Sie strich sich mit einer fahrigen Geste das Haar zurück. Einen gewissen Schock über das, was geschehen war, musste man ihr zugutehalten. Aber andererseits wuchs die Chance des Killers von Augenblick zu Augenblick, der ungenutzt verstrich. Also konnte ich nicht lockerlassen. Beim besten Willen nicht.

"Ich denke, Sie wollen, dass die Mörder Ihres Bruders gefasst werden", sagte ich.

"Natürlich will ich das."

"Dann haben wir dasselbe Ziel, Miss Reilly. Auch wenn es Ihnen jetzt schwerfällt, denken Sie nochmal über das, was ich Ihnen gesagt habe, nach."

Sie atmete tief durch.

Ihr Blick war jetzt wieder so in sich gekehrt wie zu Anfang. Dann öffnete sie halb den Mund, ohne das ein Laut über ihre Lippen kam.

"Nun?", fragte ich.

"Sie sprachen von Veränderungen in der letzten Zeit..."

"Ja."

"Es gab da eine. Deswegen hatten Nathan und ich uns auch etwas zerstritten. Eigentlich hatte ich nämlich vorgehabt, die kompletten Semesterferien hier in New York zu verbringen, aber... Naja, ich bin im Streit abgereist und wollte mich jetzt eigentlich mit ihm aussprechen."

"Worum ging es bei dem Streit?"

"Wissen Sie, Nathan ist unverheiratet gewesen und hatte eigentlich auch kaum Freunde oder Bekanntschaften. Außerdem ging er kaum raus, wenn Sie wissen, was ich meine."

"Ich denke schon", erwiderte ich.

"Keine Diskotheken, kein Ausgehen... Stattdessen surfte er lieber nächtelang im Internet. Computer waren sein ein und alles. Ein Verrückter, wenn Sie so wollen. Aber dann war da plötzlich diese Frau... Carla Raines. Sie hat ihn völlig unter Kontrolle gehabt. Typ: Leder-Vamp. Sie erinnerte mich vom Outfit her stark an die Art Frauen, die an der Bowery auf und ab gehen und gegenüber den Cops behaupten, dass Spazierengehen ja in New York noch nicht verboten ist - im Gegensatz zur Prostitution."

"Seit wann kannte er diese Carla Raines?"

"Seit ein paar Wochen."

"Wie hat er diese Frau kennengelernt?", hakte ich nach.

"Hat er mir nicht gesagt, aber ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass sie ihn angesprochen hat - nicht umgekehrt."

"Und was missfiel Ihnen an dieser Beziehung?"

"Ich glaube, dass diese Carla nicht ehrlich zu ihm war. Sie spielte mit ihm und er war so verblendet, dass er das gar nicht bemerkte... Ich sagte ihm, dass ich der Meinung bin, dass sie ihn nur ausnutzen wollte. Naja, das Ergebnis war ein ziemlich unerfreulicher Streit."

*

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JEDER QUADRATZENTIMETER der Wohnung wurde genauestens abgesucht, jeder Fingerabdruck genommen, jede Faserspur gesichert. Aber eines fanden wir nicht. Die Adresse von Carla Raines. Nathan Reilly schien sie sich nirgends aufgeschrieben zu haben.

Allerdings meinte seine Schwester, Reilly hätte immer ein kleines Notizbuch bei sich gehabt, wo er alles Wichtige hineingeschrieben hätte. Angefangen von Passwörtern für Computerprogramme bis hin zu wichtigen Adressen. Ein solches Buch fand sich allerdings nicht in der Wohnung.

Die Todeszeit ließ sich in etwa ermitteln.

Reilly war schon am vergangenen Abend ermordet worden.

Etwas später befragten wir den Security-Mann, der zu jener Zeit Dienst gehabt hatte.

Wir fragten ihn auch nach Carla Raines.

"Ich erinnere mich an die Frau. Dunkle Brille, dunkle Haare. Sie hatte hier freien Zutritt..."

"Wieso das?", fragte ich.

"Weil Mr. Reilly das so bestimmt hat. Soweit ich weiß, hatte sie einen Wohnungsschlüssel. In der letzten Zeit war sie fast jeden Tag hier, kam immer so am frühen Abend oder späten Nachmittag. Immer etwa eine Stunde, bevor Mr. Reilly nach Hause kam."

"Und gestern Abend?"

"Dasselbe. Allerdings ist mir aufgefallen, dass sie nicht nur gekommen, sondern am selben Abend auch wieder gegangen ist. Das war sonst nie der Fall. Ein Taxi hat sie abgeholt..."

"Es wäre gut, wenn Sie mit uns ins Hauptquartier kommen würden."

"Aber wieso? Ich habe doch alles gesagt!"

"Ja, sicher", gestand ich zu. "Aber wir müssen mit Ihrer Hilfe ein Phantombild erstellen. Sie kennen Miss Reilly?"

"Ja, sicher! Mr. Reillys Schwester."

"Sie wird uns dabei ebenfalls behilflich sein."

Der Security-Mann runzelte die Stirn. "Stimmte mit dieser Frau etwas nicht? Glauben Sie, diese Leder-Lady hat Mister Reilly auf dem Gewissen?"

"Das wissen wir nicht", erklärte ich sachlich. "Auf jeden Fall ist sie eine wichtige Zeugin."

*

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"WENN SIE MICH FRAGEN: Das kling doch sehr einleuchtend", meinte Mr. McKee später, als wir in seinem Büro saßen. "Diese Carla wurde von den Drahtziehern des Überfalls auf Reilly angesetzt, um ihm die Passwörter abzuluchsen. Langsam setzt sich das ganze Puzzle Stück für Stück zusammen..."

"Zu dumm, dass wir noch nicht die wirklich wichtigen Teile haben", meinte Milo.

Von Walid Kerim und seinem unbekannten blonden Komplizen gab es bislang keine Spur. Sie schienen wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

"Was ist eigentlich mit dem Kerl, der in dem Wagen saß, in die Bazooka gefunden wurde?", erkundigte ich mich.

Mr. McKee machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Die Kollegen in New Jersey haben ihn laufenlassen."

"Was?"

"Er war nur ein Anhalter, Jesse. Er hatte mit der Sache nichts zu tun. Nur der Fahrer steckte mit drin. Und der ist bei der Schießerei, die er vom Zaun gebrochen hat, gestorben. Aber zu dem Toten kann Max etwas mehr sagen."

Agent Max Carter blätterte in seinem Dossier herum, das vorwiegend aus Compterausdrucken bestand. "Der Tote besaß einen Führerschein, der auf den Namen Jay Wilbur lautete.

Eine schlechte Fälschung. Sein wirklicher Name war Kevin Fernandez. Ein Mann für's Grobe, wurde wegen mehrerer Raubüberfälle bereits steckbrieflich gesucht. Das war ganz bestimmt keiner der Köpfe dieses Überfalls. Dazu war die Sache einfach zu gut geplant."

"Aber Fernandez hat früher mal für Guy Carini als Leibwächter gearbeitet", gab Ron Figueira, unser Falschgeldspezialist zu bedenken.

"Wer ist Carini?", fragte ich.

"Ein Buchmacher aus East Harlem", erläuterte Figeira. "Allerdings betreibt er noch diverse Nebengeschäfte, von denen die meisten illegal sein dürften. Insbesondere besteht der Verdacht, dass er seine Finger in der Falschgeldszene hat. Wettbüros sind doch ein idealer Ort, um Blüten reinzuwaschen."

"Der Spur sollten wir nachgehen", meinte Mr. McKee. "Insbesondere wäre interessant, ob es auch eine Verbindung von Walid Kerim zu diesem Buchmacher gibt!"

"Checke ich ab", versprach Max Carter von der Fahndungsabteilung.

Mr. McKee wandte sich nun an Medina und Caravaggio.

"Was ist mit unseren Informanten?", fragte der Chef des FBI-Districts New York im Rang eines Special Agent in Charge dann.

"Nichts." Clive Caravaggio hob hilflos die Hände. "Niemand weiß was, jeder wundert sich über die Dreistigkeit der Täter. Und zum Verkauf angeboten wurden die Platten vermutlich auch noch nicht, sonst hätte das längst die Runde gemacht."

"Das hoffst du", warf Orry ein.

Clive verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln.

"Ich bin eben immer ein Optimist."

*

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FAST ANDERTHALB STUNDEN verbrachten wir damit, zu telefonieren. Dann hatten wir den Taxifahrer ermittelt, der Carla Raines abgeholt hatte.

Wir trafen uns mit ihm am Times Square.

"Klar, erkenne ich die Lady wieder", meinte er nachdem wir ihm das Phantombild gezeigt hatten. "Kommt nicht so häufig vor, dass ich Gäste mit so kurzem Rock habe! Gott sei Dank! Sonst würde ich wohl öfter einen Unfall bauen."

"Wohin ging die Fahrt?", fragte Milo.

Der Taxifahrer gab uns eine Adresse in der Lower East Side.

"Ich nehme an, dass sie dort wohnt."

"Woraus schließen Sie das?", hakte ich nach.

"Na, was hätte sie dort sonst wohl suchen sollen? Das ist ein großer Wohnkomplex mit Apartments. Keine Luxusbuden, eher was für die Mittelklasse."

Wir machten uns auf den Weg.

Carla Raines' Wohnung lag im zehnten Stock. Vom Verwalter ließen wir uns den Schlüssel geben. Als wir ihm Carlas Phantombild zeigten, zuckte er nur die Schultern.

"Wissen Sie, hier kennt eigentlich niemand den anderen", meinte er. "Die Bewohner der Apartments wechseln häufig. Es sind vor allem Leute, die vorübergehend in New York zu tun haben oder übergangsweise hier wohnen..."

Eine ideale Adresse für jemanden wie Carla, dachte ich. Für jemanden, der nicht auffallen will!

Wir betraten die Wohnung.

Die Möblierung war sparsam und preiswert. Die Regale waren leer. Die Schränke ebenfalls.

"Ich fürchte, wir kommen zu spät", kommentierte Milo das Bild, das sich uns bot. "Miss Raines scheint es vorgezogen zu haben, hier auszuziehen."

"Trotzdem sollten wir den Erkennungsdienst das Apartment unter die Lupe nehmen lassen", meinte ich.

"Ein Strohhalm, Jesse. Mehr nicht."

"Und wenn schon."

Ich ging ins Bad. Auch das war penibel gereinigt worden.

Gerade so, als wollte es die Leder-Lady dem Erkennungsdienst besonders schwer machen.

*

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DAS MEGAMOON WAR IN der Nacht ein laserlichtdurchfluteter Nobel-Schuppen. Eine In-Disco der Superlative, in der an nichts gespart worden war.

Jetzt, mitten am Tag, gingen hier die Lieferanten ein und aus.

Putzkolonnen wienerten den Boden spiegelblank.

Walid Kerim hatte den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen.

"Wir stecken ganz schön im Dreck, was?", meinte indessen der Blonde.

"Keine Panik", sagte Kerim.

"Du hättest mich die beiden G-men doch abknallen lassen sollen..."

"...was du ja um ein Haar auch noch gemacht hättest, du Narr", knurrte Kerim. "Weißt du, was auf Polizistenmord steht? Im Staat New York ist dir dann die Giftspritze ziemlich sicher."

Am Eingang des MEGAMOON stand ein breitschultriger Glatzkopf, der irgendwann mal mit einem Messer frisiert worden sein musste. Jedenfalls zog sich eine ziemlich hässliche Narbe quer über die Rundung seines kahlen Schädels.

"Halt, was wollt Ihr?", knurrte er, als Kerim und der Blonde versuchten, durch die Tür zu gehen. "Der Betrieb beginnt erst heute Abend. Aber ob ich euch dann reinlasse, weiß ich noch nicht. Wir sprechen eigentlich ein anderes Publikum an."

"Wir werden erwartet", sagte Kerim.

"Ach, was."

"Wir sind mit Mr. Carini hier verabredet, also jetzt lassen Sie uns rein!"

Das Gesicht des Glatzkopfs blieb unbewegt.

"Einen Moment", sagte er dann. "Ihr wartet hier!"

Er ging ins Innere des MEGAMOON und kehrte nach zwei Minuten zurück. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung bedeutete er den beiden, ihm zu folgen.

Sie durchquerten die Nobeldisco, gingen vorbei an der Bar.

Der Kahlkopf führte sie durch eine Seitentür. Ein halbdunkler, schmaler Flur folgte, bis sie an eine weitere Tür gelangten.

Der Kahlkopf klopfte an.

"Herein", kam es heiser von drinnen.

Der Kahlkopf öffnete die Tür.

Kerim und der Blonde traten ein. Der Kahlkopf blieb hinter ihnen und schloss die Tür.

Ein Mann mit schwarzem, pomadegetränktem Haar saß hinter dem großen Schreibtisch. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und eine dicke Havanna im Mund stecken. Rechts und links standen zwei baumlange Bodyguards mit kantigen Gesichtern.

"Mr. Carini", entfuhr es Kerim. In seinem Tonfall schwang fast so etwas wie Ehrfurcht mit.

Carini blies Kerim den Rauch seiner Havanna entgegen.

"Ihr seid in Schwierigkeiten", stellte Carini fest.

"Wir können unser Gesicht nirgendwo sehen lassen", erläuterte Kerim. "Vor meiner Wohnung stehen Zivilfahnder vermutlich vom FBI - die nur darauf warten, dass ich dort wieder auftauche. Wir können nirgends hin..."

"Ja, dumm gelaufen, Kerim", sagte Carini kalt.

Kerim streckte die Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger auf Carini.

"Sie müssen uns helfen, Mr. Carini."

"Ihr habt doch genug an der Sache verdient, oder etwa nicht? Ich habe euch euren Anteil auf ein Schweizer Nummernkonto überweisen lassen! Ganz so, wie ihr das wolltet."

"Da können wir im Moment nicht dran. Was glauben Sie, was passiert, wenn wir eine Kreditkarte benutzen oder in eine Bank spazieren, um uns etwas überweisen zu lassen."

Carini zuckte die Achseln. "Ein gewisses Risiko, das gebe ich zu", meinte er. "Aber so stadtbekannt seid ihr nun auch nicht!"

Der Blonde wurde dunkelrot.

"Jetzt hören Sie mir mal gut zu", knurrte er. "Von Leuten wie uns lassen Sie sich die Kastanien aus dem Feuer holen, die Sie dann für viel Geld verscherbeln - und zum Dank lassen Sie uns dann im Regen stehen. Haben Sie sich mal überlegt, was passiert, wenn der FBI uns in die Finger kriegt? Man wird uns ein Angebot machen, denn die können sich ausrechnen, dass wir mit den Druckplatten nichts anfangen können..."

Der Blonde machte einen Schritt nach vorne. Eine hektische Bewegung folgte. Seine Hände wurden zu stahlharten Fäusten.

Die Knöchel wurden weiß, so sehr presste er sie zusammen.

Dann erstarrte er mitten in der Bewegung.

Die beiden Leibwächter von Mr. Carini hatten blitzschnell Automatik-Pistolen unter ihren Jacketts hervorgerissen und durchgeladen.

"Schön ruhig", sagte Mr. Carini. Er nahm die Füße vom Tisch und beugte sich etwas vor. Dann nahm er die Havanna aus dem Mund. "Jetzt hört mir mal gut zu, ihr Zwei. Ich mag es nicht, wenn ich unter Druck gesetzt werde! Kapiert? Ich mochte schon die Art und Weise nicht, in der ihr am Telefon gekommen seid! Und wenn das gerade eine Drohung sein sollte..." Er zerdrückte die Havanna im Aschenbecher, obwohl sie nicht einmal zur Hälfte aufgeraucht war. Ihm war offenbar gründlich der Appetit darauf vergangen. "Vor allem mag ich es nicht, hier im MEGAMOON gesehen zu werden... Es muss ja nicht jeder wissen, dass der Laden zu zwei Dritteln mir gehört. Das gibt nur Ärger mit der Konkurrenz..."

"Ach, Sie hätten sich also lieber mit uns in einem ihrer Wettbüros getroffen, was Carini", versetzte der Blonde voller Ironie. Kerim stieß ihn an.

Carinis Gesucht wurde dunkelrot.

"Es ist ja wohl nicht gerade die feine Art, wenn mich jemand mitten in der Nacht aus dem Bett klingelt und mir sagt: 'Wenn Sie nicht wollen, dass wir auspacken, treffen wir uns morgen Mittag im MEGAMOON!'"

"Mr. Carini, wir brauchen Hilfe", sagte Kerim dann relativ ruhig.

Carini lächelte wie ein Hai.

"Okay, das sehe ich ein. Dann legt als erstes eure Waffen hier auf den Tisch."

Der Blonde wirkte etwas irritiert.

Carini zischte: "Die sind heiß, Mann! Geht das nicht in deinen Schädel, Jespers?"

Der Blonde erhob sich.

Kerim holte indessen seine Uzi unter der Jacke hervor und legte sie auf den Tisch. Der blonde Jespers folgte einem Beispiel.

"Ich werde dafür sorgen, dass diese Dinger am Grund des Hudsons verrosten. Das Notebook, mit dem ihr in die EDV von McGordon Inc. eingedrungen seid, ist in den Händen des FBI?"

"Ja", gab Jespers kleinlaut zu.

"Bedeutet das ein Problem, Jespers?"

"Was weiß ich."

"Na, Kerim hat Sie mir doch als große Computerkapazität vorgestellt! Also spielen Sie nicht den Ahnungslosen. Wenn es Ärger geben könnte, weiß ich das lieber im Voraus."

"Es gibt keine Spur, die zu Ihnen hinführt, Mr. Carini", erklärte Jespers. "Das ist es doch, was Sie meinen."

"Ja, genau." Carini öffnete die Schublade des Schreibtisches. Zwei Bündel mit Geldscheinen warf er lässig auf den Tisch.

"Ihr wolltet etwas Handgeld. Hier, bedient euch."

"Das reicht nie im Leben", rief Jespers. "Wir brauchen Papiere und..."

"Es ist für alles gesorgt", erklärte Carini. "Dies ist lediglich ein Taschengeld, um die erste Zeit zu überbrücken. Ich sorge für alles andere. Ihr bekommt Papiere und werdet außer Landes gebracht. Irgendwelche Einwände?"

Kerim atmete tief durch.

"Nein."

"Na, fein!"

"Wann geht es los?"

"Jetzt gleich. Im Hinterhof steht ein Wagen bereit, der euch an einen Ort bringt, an dem euch niemand finden wird..."

*

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WIR BEFANDEN UNS NOCH in Carla Raines Apartment, als der Anruf von der Zentrale kam. Max Carter von der Fahndungsabteilung meldete sich.

Er hatte inzwischen abgecheckt, ob es einen Zusammenhang zwischen Walid Kerim und Guy Carini gab.

Es gab ihn.

Carini hatte vor drei Jahren eine Kaution für Kerim bezahlt.

"Fernandez, der Kerl mit der Bazooka, war mal Carinis Leibwächter. Und jetzt Kerim! Das kann kein Zufall sein", war Milo überzeugt.

Ich fragte mich, welche Rolle Carla Raines in der ganzen Sache eigentlich spielte. Aber was die geheimnisvolle Leder-Lady anging, kamen wir im Moment nicht weiter. Dafür hatte sie gesorgt. Und zwar auf eine Weise, die für meinen Geschmack deutlich über das hinausging, was man einem gewöhnlichen Callgirl zutrauen konnte, das irgendein Fädenzieher im Hintergrund auf den armen Nathan Reilly angesetzt hatte, um ihm die Passwörter abzuluchsen.

*

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DAS WETTBÜRO LAG AN der 111.Straße in East Harlem, einem Stadtteil in dem Puertoricaner und Einwanderer aus der Karibik dominierten. Als wir nach Guy Carini fragten, wurden wir in ein Hinterzimmer geführt.

Ein dicklicher, kleiner Mann mit dunklem Teint saß uns gegenüber und kraulte einen Rottweiler.

Er sah sich eingehend unsere Dienstausweise an, dann deutete er auf die protzigen Ledersessel. "Bitte setzen Sie sich, Gentlemen. Möchten Sie etwas zu trinken?"

"Nein danke", erwiderte ich.

"Es tut mir leid für Sie, aber Mr. Carini ist zur Zeit nicht im Haus."

"Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?"

"George Al-Malik", erwiderte unser Gegenüber. "Ich bin Mr. Carinis Partner."

"Was hat Mr. Carini denn dazu bewogen, einen Partner mit ins Geschäft zu nehmen?", fragte ich.

Al-Maliks Lächeln war kalt und geschäftsmäßig.

"Er brauchte Geld."

"Will er expandieren?"

"Darf ich Ihren Ausweis nochmal sehen? Ich möchte mich vergewissern, ob da statt FBI nicht vielleicht der Stempel der Finanzbehörde zu sehen war? Die Praktiken ehrbarer Geschäftsleute dürften Sie kaum interessieren, Mister...?"

"Trevellian", sagte ich. Ich holte drei Bilder aus der Jackettinnentasche. Eins zeigte Walid Kerim, das andere Kevin Fernandez. Außerdem noch ein Phantombild des unbekannten Blonden. "Kennen Sie einen dieser Männer?"

"Tut mir leid, aber meine Augen."

"Sie haben überhaupt nicht richtig hingesehen, Mr. Al-Malik."

"Was ist mit diesen Leuten?"

"Wir wissen, dass sie auf die eine oder andere Weise mit dem Überfall auf den Transport der Dollar-Druckplatten zu tun haben, der im Moment Schlagzeilen macht."

"Ja,ja, ich habe davon gehört."

"Seit wann kennen Sie Carini?"

"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Mr. Trevellian. Und da Sie offenbar nichts von mir wollen und sich Ihre Fragen nicht auf die gemeinsamen Geschäfte beziehen, die Mr. Carini und ich betreiben, betrachte ich unser Gespräch als beendet."

Ich deutete auf die Bilder.

"Zwei dieser Männer haben etwas mit Carini zu tun. Und es würde mich nicht wundern, wenn wir bei dem dritten auch noch eine Spur finden, die in diese Richtung weist. Vermutlich nur eine Frage der Zeit. Und wenn Sie nicht in diesen Strudel mit hineingerissen werden wollen, sollten Sie uns jetzt sagen, was Sie wissen."

In dieser Sekunde sprang die Tür auf.

Ein Mann mit zurückgekämmten, pomadedurchtränktem Haar trat ein. Im Gefolge hatte er zwei riesenhafte Leibwächter, die demonstrativ die Jacketts zur Seite schlugen, so dass man die Griffe ihrer Pistolen aus den Gürtel-Halftern herausragen sehen konnte.

"Gut, dass Sie da sind, Mr. Carini", sagte Al-Malik. Der Rottweiler zu seinen Füßen knurrte indessen. "Jetzt können Sie sich mit den beiden G-men hier herumschlagen und sich Löcher in den Bauch fragen lassen!" Al-Malik kraulte den Rottweiler. "Ganz ruhig", brummte er. Er sah mich an und grinste breit.

"Ich hoffe, er gehorcht Ihnen", sagte ich.

"Sein Name ist Kaatil", sagte Al-Malik. "Das ist arabisch und bedeutet 'Mörder'. Und er gehorcht mir aufs Wort, Mr. Trevellian. Da können Sie ganz unbesorgt sein."

Ich hob die Augenbrauen.

"Wie ich sehe, sind Sie ein Mann von ganz erlesenem Geschmack, Mr. Al-Malik."

"Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Mr. Trevellian. Und im übrigen hoffe ich, dass wir so bald nichts mehr miteinander zu tun bekommen."

Ich lächelte dünn und erwiderte: "Kann ich leider nicht versprechen."

"Gehen wir nach drüben, in mein Büro, Gentlemen", schlug Carini vor. "Und dann sagen Sie mir, was Sie zu sagen haben. Ich hoffe nur, dass das nicht allzu viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich bin nämlich ein vielbeschäftigter Geschäftsmann und kein Staatsbediensteter mit Pensionsberechtigung!"

*

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"WOHIN FAHREN WIR?", fragte Walid Kerim.

Der Fahrer der dunkle Limousine, die im Hinterhof des MEGAMOON auf sie gewartet hatte, trug eine Spiegelbrille und war stumm wie ein Fisch.

Der blonde Jespers saß hinten auf dem Rücksitz. Er drehte sich immer wieder nervös um. Kerim hatte hingegen auf dem Beifahrersitz platzgenommen.

"Kennt ihr euch so schlecht in New York aus?", sagte jetzt der Fahrer. Er lachte heiser. "Darf doch nicht wahr sein... Die Williamsburg Bridge führt nach Brooklyn..."

"Du kannst ja reden, Mann", knurrte Kerim.

"Aber du kannst nicht die Schnauze halten, was?"

"Hör zu, ich will wissen, wie es weitergeht."

"Erstmal machen wir Bilder von euch. Für die neuen Pässe. Mr. Carini hat einen Mann an der Hand, der hauptberuflich Maskenbildner am Broadway ist und der wird eure Visagen so verändern, dass ihr sie selbst nicht wiedererkennt. Und dann geht's so schnell wie möglich ab ins Ausland."

"Wohin?"

"Werdet ihr früh genug erfahren."

Die Limousine jagte die Williamsburg Bridge entlang, die in den Broadway mündete. Allerdings den Broadway von Brooklyn, der mit der gleichnamigen Theatermeile in Manhattan nichts zu tun hatte. Eine breiter Freeway, der sich wie eine gerade Linie durch die Stadtlandschaft zog.

"Ich habe das Gefühl, dass uns jemand folgt", meinte Jespers. "Schon eine ganze Weile..."

"Meinst du den champagnerfarbenen Mercedes?", fragte der Kerl mit der Spiegelbrille.

"Ja."

"Keine Sorge, Mann! Das sind unsere Leute. Die passen ein bisschen auf uns auf."

Die dunkle Limousine nahm eine Abfahrt. Der Mercedes folgte ihr. Dann ging es in immer kleinere Nebenstraßen, bis sie schließlich ein Gelände erreichten, das wie eine verkommene Industriebrache aussah. Ein halbes Dutzend Fabrikhallen standen nebeneinander. Zwei davon waren bereits zur Hälfte abgerissen. Hier war nichts los.

Die Limousine hielt an.

"Aussteigen, Amigos", sagte der Mann mit der Spiegelbrille. "Mein Job ist erledigt! Viel Glück!"

Kerim öffnete die Tür und stieg aus.

Jespers folgte seinem Beispiel.

Der Mann mit der Spiegelbrille trat auf das Gaspedal. Mit quietschenden Reifen brauste die Limousine davon und verschwand hinter der nächsten Ecke.

Aber der Mercedes blieb.

Er kam etwas heran.

Vier Männer saßen darin.

Auch sie hatte alle Spiegelbrillen auf. Die Haare waren dunkel, ihr Teint ebenfalls.

Sie stiegen aus.

Sie trugen dunkle Anzüge, wie zu einer Beerdigung.

Kerim hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Verdammt, dachte er. Was wird hier mit uns gespielt?

Dann ertönte ein dröhnendes Geräusch. Es wirkte geradezu ohrenbetäubend und schien aus einer der Hallen zu kommen.

"Mein Gott, was ist das?", rief Jespers.

"Verlier jetzt nicht wieder gleich die Fassung, Harry!", raunte Kerim dem Blonden zu.

Die Vierer-Gruppe der Spiegelbrillen-Träger kam auf sie zu.

"Kommen Sie mit uns", sagte einer von ihnen. Als er grinste, schimmerte ein Goldzahn hervor.

"Was ist da drinnen los?", wollte Jespers wissen.

Annähernd gleichzeitig rissen die vier ihre Waffen unter den Jacketts hervor. Automatische Pistolen vom Kaliber 45.

Kerim wusste nur zu gut, was deren Projektile für Löcher in menschliche Körper rissen.

"Schluss mit dem Gequatsche", knurrte der Kerl mit dem Goldzahn. "Vorwärts!"

*

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KERIM UND JESPERS WURDEN in eine der Hallen hineingeführt.

Ein großer Betonmischwagen stand dort. Der Mischer war in Betrieb und drehte sich immer wieder. Daher kam der dröhnende Lärm.

Ein Mann stand daneben und bediente die Maschine.

Er war genauso gekleidet wie die vier Gorillas, die Kerim und Jespers hereingeführt hatten. Sein tausend Dollar-Anzug war entschieden zu fein, um damit auf den Bau zu gehen.

"Was soll das?", rief Kerim.

Der Mann mit dem Goldzahn lachte.

"Stellt euch da vorne vor die Grube!", befahl er.

Kerim sah die Grube.

Vielleicht hatte man dort früher Sattelschlepper gewartet oder etwas ähnliches.

"Wir werden dafür sorgen, dass euch keiner findet", sagte der Mann mit dem Goldzahn.

"Diese Hallen werden doch abgerissen", rief Kerim verzweifelt durch den Lärm hindurch, den der Betonmischer verursachte.

Der Mann mit dem Goldzahn grinste.

"Natürlich", gab er zu. "Aber erst, wenn der neue Eigentümer wieder flüssig ist und das kann ein paar Monate dauern. Außerdem - die Betonsockel sollen bestehen bleiben. Kein Mensch wird die aus der Erde reißen. Ihr werdet also im Fundament eines nagelneuen Bauwerks liegen - was immer das dann auch für eine Hütte sein mag." Er hob die Waffe. "Seit so freundlich und steigt die Leiter hinab. Wir wollen keine Verunreinigungen außerhalb der Grube hinterlassen, okay?"

In dieser Sekunde verlor der blonde Jespers die Kontrolle.

Er stürzte sich mit bloßen Händen auf den Mann mit dem Goldzahn.

Der drückte ab.

Der Schuss traf Jespers im Oberkörper und stoppte ihn.

Das Gesicht war wutverzerrt. Eine zweite Kugel gab ihm einen Ruck nach hinten. Mit einem heiseren Schrei auf den Lippen taumelte er in die Grube. Auf dem Betonboden blieben rote Flecken zurück.

Kerim hatte sich indessen geduckt. Aber schon blitzten die Mündungsfeuer an den dunklen Pistolenläufen der Automatiks auf. Die Schüsse konnte man auf Grund des Lärms, den der Betonmischer verursachte, kaum hören.

Die Projektile zerfetzten Kerims Lederjacke. Ein Stück des Futters flog in Form kleiner weißer Wattebällchen durch die Luft und segelte langsam herab. Ein Ruck ging durch Kerims Körper, ehe auch er in die Grube stürzte.

Der Mann mit dem Goldzahn atmete tief durch.

Er deutete mit dem Lauf seiner Waffe auf die Blutflecken und wandte sich dann an seine Leute. "Die Putzfrau werdet ihr spielen, kapiert?"

Er machte dem Mann am Betonmischer ein Zeichen.

Dann trat er an den Rand der Grube heran.

Das zufriedene Lächeln, das sich gerade erst auf seinem Gesicht breitgemacht hatte, gefror, als er hinabblickte.

Direkt in den Lauf einer Pistole hinein! Noch ehe er seine eigene Waffe abdrücken konnte, blitzte es da unten grellrot auf. Die Kugel trat durch das rechte Glas seiner Spiegelbrille. Einen Sekundenbruchteil später sackte er in sich zusammen und rutschte in die Grube.

*

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WALID KERIM DRÜCKTE sich an die nasskalte Betonwand, während neben ihm der Körper seines Gegners schwer zu Boden fiel. In seltsam verrenkter Haltung blieb er liegen.

Kerim beugte sich vor, um dem Toten die Waffe abzunehmen.

Die kleinkalibrige Pistole, die er aus einem kleinen Futteral herausgezogen hatte, das sich in seinem Stiefelschaft befand, reichte kaum aus, um sich diese Killer auf Dauer vom Leib zu halten.

Kerim drückte sich in eine Ecke der Grube, in jeder Hand eine Waffe. Sobald sich von oben irgend etwas zeigte, würde er losfeuern.

Seine Lederjacke hing ihm in Fetzen vom Oberkörper.

Aber die kugelsichere Weste, die er darunter trug, hatte das meiste von dem, was auf ihn abgefeuert worden war, abgehalten. Lediglich ein Streifschuss hatte ihn an der Schulter erwischt. Aber das war halb so schlimm.

Sein Komplize Jespers hatte es immer abgelehnt, mit schusssicherer Weste herumzulaufen. "Es sieht einfach entsetzlich aus", hatte er gemeint. Wer schön sein will, muss früher sterben, dachte Kerim jetzt. Er hatte zweimal geradezu unwahrscheinliches Glück gehabt. Zuerst, als die Killer nicht auf seinen Kopf, sondern auf seinen Körper hielten und dann zum zweiten Mal, als er beim Sturz in die Grube auf den toten Jespers gefallen war.

Andernfalls hätte Kerim sich vermutlich alle Knochen gebrochen.

Und jetzt wartete er.

Es war ein Pokerspiel.

Wer sich zeigte, bekam eine Kugel in den Kopf. Das war die einzige Regel.

Kerim umklammerte beide Waffen mit festem Griff. Die Knöchel an seinen Händen traten dabei weiß hervor.

Im nächsten Moment erzitterte der Boden zu seinen Füßen.

Es dröhnte gewaltig. Der Betonmischer, ging es ihm durch den Kopf. Er näherte sich... Und langsam dämmerte Kerim, dass die Killer wohl nichts anderes vorhatten, als ihn lebendig zu begraben!

Der Mischer kam heran.

Wie ein riesiges Ungetüm tauchte er oben am Grubenrand auf.

Die in der Mischung enthaltenen Steine klackerten an der metallenen Außenwand. Die breiten Doppelreifen fuhren bis an die Kante. Kerim presste sich an der Wand entlang, bis zu der Leiter, an der er und Jespers eigentlich hätten heruntersteigen sollen. Ein Schwall von Beton rutschte in die Grube. Die Mischung war ziemlich flüssig. Der Boden war innerhalb von wenigen Augenblicken bedeckt. Es war nur eine Frage von Augenblicken, wann die beiden Leichen endgültig begraben sein würden.

Kerim zog die Füße aus dem weichen Beton und stieg die erste Stufe der Leiter hinauf. Er fragte sich, wie hoch die Grube wohl abgefüllt sein würde, wenn der Mischer seine gesamte Ladung abgelassen hatte. Aber selbst wenn er nur bis zu den Knien im Beton stand, konnte er dort nicht bleiben.

Sonst stand er innerhalb kurzer Zeit buchstäblich wie angewurzelt da. Beton konnte verflucht schnell trocknen...

Kerim sah einen seiner Gegner über den Grubenrand auftauchen. Er zögerte keine Sekunde und feuerte.

Kerim war ein guter Schütze.

Auf der Stirn seines Gegners bildete sich ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Der Killer knallte zu Boden.

Kerim spürte den Beton an seinen Füßen. Er stieg noch eine weitere Stufe hinauf. Die Kleinkaliberwaffe steckte er hinter seinen Hosenbund, um sich mit einer Hand festhalten zu können. Immer höher kam der Beton. Ein graues Leichentuch für Jespers und den Mann mit dem Goldzahn, dessen Hand gerade noch an der Oberfläche schwamm.

Jetzt setzte Kerim alles auf eine Karte.

Er kletterte die Leiter hinauf, hechtete dann sofort zu Boden und rollte sich herum, während einige Schüsse über ihn hinwegpeitschten. Kerim riss die Waffe hoch, die er dem Mann mit dem Goldzahn abgenommen hatte. Er feuerte. Ein heiserer Schrei mischte sich mit dem Getöse des Betonmischers. Kerim hatte einen seiner Gegner erwischt. Der Mann klappte zusammen wie ein Taschenmesser und blieb reglos liegen. Die anderen duckten sich und feuerten auf ihn.

Kerim sprang auf und hatte einen Sekundenbruchteil später hinter dem Betonmischer Deckung gefunden. Er spurtete los, riss die Beifahrertür des Mischers auf und feuerte sofort.

Ohne zu zielen, ohne zu schauen, ob überhaupt jemand hinter dem Steuerrad saß.

Der Fahrer sackte zu Boden.

Kerim duckte sich als ein Schuss die Frontscheibe zertrümmerte und feuerte sofort zurück. Dann durchsuchte er den Gürtel des Fahrers nach dessen Waffe. Er zog sie aus dem Gürtelholster, öffnete die Tür und schob den Toten hinaus.

Der leblose Körper kam mit einem dumpfen Geräusch auf dem harten Betonboden auf.

Kerim rutschte hinter das Steuerrad. Er löste die Handbremse und ließ den Motor aufheulen. Ein Geschoss zischte dicht an ihm vorbei. Kerim fuhr los. Er blieb in geduckter Haltung und feuerte blindlings durch die zerstörte Frontscheibe hindurch. Hier und da sah er seine Gegner in Deckung springen.

Kerim gab Vollgas.

Er fuhr einfach geradeaus, auf das große Tor zu.

Ein furchtbares, metallisches Geräusch ertönte bei der Kollision. Die Halterungen des Tores brachen aus dem Mauerwerk heraus. Dann hatte Kerim es geschafft. Er war draußen. Schüsse peitschten. Die Hinterreifen des Betonmischers zerplatzen. Kerim riss die Tür auf, sprang hinaus. Einer seiner Gegner tauchte beim Tor auf. Kerim feuerte, traf aber nicht.

Der Killer ging in Deckung, während Kerim auf den Mercedes zuspurtete. Dabei feuerte er unablässig in Richtung des Tors, bis die Waffe leergeschossen war. Dann warf er sie weg. Er erreichte den Mercedes, hechtete hinter den Kotflügel und holte die Waffe hervor, die er dem Fahrer des Mischers abgenommen hatte. Geduckt gelangte er zur Fahrertür des Mercedes, öffnete sie und sprang hinein. Dann startete er. Die Killer hatte den Schlüssel steckenlassen. Wer hätte ihnen auch den Wagen stehlen sollen? Sicher nicht der Mann, dem sie hier ein kaltes Grab bereiten wollten.

Kerim ließ den Mercedes mit quietschenden Reifen losjagen.

Er schlug einen Haken, riss das Lenkrad herum und hörte im Hintergrund noch ein paar Schüsse, eher er hinter der nächsten Halle verschwunden war.

*

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"HÖREN SIE ZU, MR. TREVELLIAN, das wird Konsequenzen für Sie haben", ereiferte sich Guy Carini. "Sie belästigen mich hier und beschuldigen mich auf eine Weise, die wirklich..."

"Niemand hat Sie beschuldigt, Mr. Carini", stellte ich klar. "Aber Sie werden doch verstehen, dass wir hellhörig werden, wenn sich herausstellt, dass zwei Männer, die unzweifelhaft an dem Überfall auf den Druckplatten-Transport beteiligt waren, Verbindungen zu Ihnen haben."

"Sie können mir nichts vorwerfen", rief Carini. "Meinetwegen können Sie gerne meine Läden nach diesen Druckplatten durchsuchen. Sie werden Sie nicht finden."

"Das glauben wir sofort", warf Milo ein.

Carini verzog das Gesicht. Wir hatten uns mit ihm in ein weiträumiges Büro zurückgezogen. An der Wand hingen großformatige Bilder von Künstlern, die gerade Furore machten. Carinis Geschäfte schienen nicht schlecht zu gehen.

"Bis wann war Kevin Fernandez bei Ihnen als Leibwächter beschäftigt?", fragte Milo.

"Was weiß ich?", fauchte Carini. "Das muss vor zwei, drei Jahren gewesen sein."

"Und Sie haben ihn seitdem nicht mehr gesehen?"

"Man läuft sich halt in einem Dorf wie New York City immer wieder über den Weg, G-man. Sie wissen doch, wie das ist."

Milo warf mir einen verzweifelten Blick zu. Was Carini anging, drehten wir uns immer wieder im Kreis. Und wir wussten genau, das wir gegen ihn nichts in der Hand hatten. Kein Richter in den USA hätte uns einen Durchsuchungsbefehl ausgestellt, von einem Haftbefehl ganz zu schweigen.

"Hören Sie, ich habe ein paar Fehltritte hinter mir. Aber ich bin seit langem sauber. Sie können mir nichts nachweisen. Nicht das geringste." Carini hob die Hände. "Ich bin ein ehrbarer Geschäftsmann mit großem Einfluss. Ein Einfluss, der bis in höchste Stellen reicht."

"Wir haben Ihre Drohung gut verstanden", sagte Milo. "Aber so leicht lassen wir uns nicht einschüchtern."

"Das war keine Drohung."

"Ach, nein? Hörte sich in meinen Ohren ganz so an."

"Es war nur eine Beschreibung der Tatsachen. Und wenn Sie klug sind, Mr. Tucker, dann ziehen Sie und Ihr Kollege die Konsequenzen daraus... Man begegnet sich immer zweimal, G-man! Denken Sie daran!"

"Ich denkew an nichts anderes, Mr. Carini."

"Das freut mich zu hören."

"Sie haben vor einiger Zeit für Walid Kerim eine Kaution gestellt. Warum?", fragte ich dann sachlich.

Carini seufzte.

"Mein Gott, helfen Sie mir ein bisschen auf die Sprünge. Meinen Sie, ich habe solche Sachen noch jahrelang im Kopf?"

"Es war vor drei Jahren. Kerim war wegen schwerer Körperverletzung angeklagt."

"Ich glaube, das war einfach nur ein Gefallen, den ich jemandem getan habe."

"Wie kamen Sie dazu, Kerim einen Gefallen zu tun?"

"Nicht Kerim", behauptete Carini. "Den kannte ich gar nicht."

"Sondern?"

"Es ging um eine Frau..." Carini sah mich an und zögerte.

Dann kratzte er sich am Hinterkopf. "Ich lernte sie in einer Bar kennen. Leila Kerim. Walid ist ihr Bruder. Und als der in Schwierigkeiten geriet, habe ich ihm aus der Patsche geholfen. Leila hat mich darum gebeten. Ich konnte ihr damals einfach nichts abschlagen..."

"Haben Sie noch Kontakt zu dieser Leila?", fragte ich.

"Nein. Sie war eines Tages einfach verschwunden." Er zuckte die Achseln. "Wie auch immer, Mr. Trevellian, ich denke n Ihre Frage ist damit hinreichend geklärt!"

*

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"BRINGEN SIE MICH ZUM Hotel Plaza Athenee in der 64. Straße Ost, Hausnummer 37", sagte Carla Raines.

"In Ordnung, Ma'am", antwortete der Taxifahrer. "Darf ich Ihr Gepäck nehmen."

"Nein, das nehme ich lieber selbst."

"Wie Sie wollen."

Er zuckte die Schultern. Sie stiegen ein.

Als Leder-Lady hatte sie die öffentlichen Toiletten betreten. Und in einem gänzlich anderen Outfit war sie eine Viertelstunde später zurückgekehrt und hatte nach dem Taxi gerufen. Sie trug jetzt ein konservativ geschnittenes Kostüm, mit dem sie sich in jeder Bank hätte bewerben können.

Das Haar trug sie streng nach hinten frisiert. Das Make-up war dezent.

Der Taxifahrer summte ein Lied mit, das gerade im Radio lief.

Carla saß auf dem Rücksitz.

Sie hatte nur einen kleinen Handkoffer bei sich und eine Handtasche aus dunklem Leder. Das einzige Teil, was von ihrem vorhergehenden Outfit geblieben war.

Sie nahm die Handtasche und öffnete sie, während sich das Taxi durch den dichten New Yorker Verkehr den Broadway hinaufquälte.

Sie holte einen Pass aus der Tasche heraus, schlug ihn auf.

Ihr eigenes Foto blickte sie an. Carla Raines, amerikanische Staatsbürgerin. So stand es dort.

Sie lächelte.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738919370
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
ermittler jesse tevellian fünf kriminalromane seiten

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Ein Ermittler namens Jesse Tevellian: Fünf Kriminalromane auf 1000 Seiten