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Leonardo und der Fluch des schwarzen Todes

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 180 Seiten

Zusammenfassung

Band 5 von 6 der mysteriösen Abenteuer des jungen Leonardo da Vinci
Als im Dorf ein Bettlerjunge mit dunklen Flecken im Gesicht auftaucht, sind die Bewohner von Vinci in heller Aufregung: Die Pest ist ausgebrochen! Zum Glück ist schnell ein Arzt zur Stelle, der ein Heilmittel gegen den schwarzen Tod besitzt. Leonardo möchte das Mittel gerne untersuchen. Doch der Arzt hütet sein Geheimnis wie seinen Augapfel. Und Leonardo setzt alles daran, es zu lüften.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Leonardo da Vincis Fälle Band 5

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Leonardo und der Fluch des Schwarzen Todes

von Alfred Bekker

Die deutschsprachigen Printausgaben erschienen 2008/2009 im Arena Taschenbuchverlag;

Übersetzungen liegen auf Türkisch, Indonesisch, Dänisch und Bulgarisch vor.

Neu durchgesehene Fassung

© 2008, 2009 by Alfred Bekker; Cover: Steve Mayer

© 2015  AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Ein CassiopeiaPress E-Book

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Der Umfang dieses Buch entspricht 113 Taschenbuchseiten.

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Dieses Buch beinhaltet folgende Kapitel:

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1. Kapitel: Geheimnisvolle Zeichen

2. Kapitel: Ein seltsamer Junge

3. Kapitel: Der schwarze Tod in Vinci

4. Kapitel: Der Mann mit den Mumien

5. Kapitel: Das Wundermittel

6. Kapitel: Albertos Geheimnis

7. Kapitel: Die Mumiendiebe

8. Kapitel: Der Ritt nach San Luca

9. Kapitel: Die Feuerreiter

10. Kapitel: „Brennt Vinci nieder!“

11. Kapitel: Der Moment der Wahrheit

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1.Kapitel

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Geheimnisvolle Zeichen

Kerzenlicht flackerte in dem halbdunklen Raum. Schatten tanzten an den Wänden des kühlen Gewölbes.

Leonardo sah auf die Reihen der geheimnisvollen Zeichen. Manche schienen Zeichnungen zu gleichen und waren liebevoll ausgemalt. Andere ähnelten Tieren, wirkten sehr kompliziert und waren jeweils mit einem lang gezogenen Oval umschlossen.

„Was bedeuten diese Zeichen da auf dem Papier?“, fragte Leonardo.

„Das ist weder Papier noch Pergament, sondern Papyrus“, korrigierte ihn der alte Mann in dem kostbaren Gewand und der goldenen Kette um den Hals. Er streckte die faltige Hand mit den dürren Fingern aus. Ein Ring mit dem Siegel der Familie Medici befand sich am Ringfinger, einer mit dem Siegel der Stadt Florenz am Mittelfinger. „Und die Zeichen sind ägyptische Hieroglyphen, mit denen vor langer Zeit geschrieben wurde...“

„Vor wie langer Zeit?“, fragte Leonardo.

Der alte Mann hob die Augenbrauen und ein mildes Lächeln glitt über sein Gesicht.

„Du kennst die Geschichten über Moses und wie er vom Pharao die Freiheit für das Volk Israel gefordert hat?“

„Ja, mein Großvater hat mir davon erzählt. Und manchmal der Pater in der Kirche...“

„Zur Zeit von Moses hat man wohl diese Zeichen benutzt.“

„Und was bedeuten sie?“

„Das weiß niemand. Manchmal sind klare Bilder dazwischen –

meistens von Tieren. Aber was die im Zusammenhang mit den anderen Zeichen bedeuten und ob es sich um Buchstaben handelt oder das ganze Zeichen für sich für einen Begriff steht...“ Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, obwohl ich mir alle Mühe gegeben habe, es herauszufinden. Die klügsten Gelehrten habe ich hierher nach Florenz kommen lassen. Aber das Rätsel hat niemand lösen können. Wer weiß, vielleicht schafft das mal jemand irgendwann in der Zukunft. Jemand, der sich auf Geheimschriften versteht, so wie du – denn es muss ja ein System hinter allem stecken!“

Der alte Mann war Cosimo de’ Medici.

Er war das Oberhaupt der reichsten und mächtigsten Familie in Florenz und außerdem der Herr der Stadt. Cosimo war schon inzwischen schon über 80 Jahre, aber er hielt die Macht noch immer in den Händen und dachte auch noch gar nicht daran, sie an einen Nachfolger anzugeben.

Durch den Handel mit Wolle hatte Cosimo als junger Mann dafür gesorgt, dass die Familie Medici reich und mächtig wurde. Aber er hatte einen Teil des Reichtums nicht in Paläste oder Luxus gesteckt, sondern damit seine Sammelleidenschaft finanziert. Cosimo sammelte nämlich alte Schriften. Vor allem Werke der alten Römer und Griechen, aber auch arabische und hebräische Bücher waren zahlreich vertreten. Durch ganz Europa war er selbst gereist, um alte Schriften zu erwerben. Später hatte er Gelehrte in seinen Diensten, die das für ihn taten. Sie reisten bis ins Heilige Land nach Jerusalem oder nach Kairo und Alexandria in Ägypten. So hatte Cosimo de’ Medici im Laufe der Zeit eine gewaltige Sammlung zusammengetragen.

Und dass Leonardo Gelegenheit hatte, in dieser einzigartigen Sammlung zu stöbern, verdankte er der Tatsache, dass sein Vater Ser Piero ab und zu als Notar und Schreiber für den Stadtherrn von Florenz tätig war.

„Es gibt so vieles, was die Menschheit in den letzten tausend Jahren vergessen hat, mein Junge“, sagte Cosimo. „Die alten Ägypter, Römer, Griechen, Perser... In ihren Schriften sind so viele Erkenntnisse, Erfindungen, Gedanken...“ Cosimo wirkte regelrecht ergriffen und bewegt. Sein Blick war ins Nichts gerichtet, so als würde er sich an die alten Zeiten erinnern, da er noch durch unzählige Länder gereist war und nach Schriften gesucht hatte.

„Wie konnte es geschehen, dass diese Dinge vergessen wurden?“, fragte Leonardo. „Und warum musstet Ihr durch halb Europa reisen, um all die Bücher zusammen zu holen? Man hätte doch auch vorher schon eine Bibliothek daraus machen können, in die jeder hineingehen kann!“

„Man hat die alten Texte in Griechisch und Latein zum Teil von den Pergamenten herunter radiert, um etwas anderes darauf schreiben zu können“, sagte er. „Vor allem natürlich Texte, die entstanden sind, bevor es den christlichen Glauben gab! Denn das waren doch Bücher von ungläubigen Heiden! Wozu sie aufbewahren, wenn Pergament oder Papier doch so knapp war?

Glücklicherweise haben die Araber viele der griechischen Texte abgeschrieben und übersetzt, sodass sie noch erhalten sind...“

Cosimo wandte sich nun an Ser Piero, der auch im Raum war und die ganze Zeit über nur zugehört hatte. „Ihr habt einen sehr verständigen Sohn, Ser Piero“, meinte er. „Weiß er schon, was er einmal werden will?“

„Er interessiert sich für so vieles“, sagte Ser Piero. „Er zeichnet Fantasiemaschinen und beobachtet gerne die Tiere in der Natur. Er malt gerne und ist außerdem handwerklich geschickt. Deswegen denke ich, es ist das Beste, er lernt in einer Künstlerwerkstatt.“

Cosimo nickte. „Das ist gut“, fand der Stadtherr von Florenz, wobei es Leonardo etwas ärgerte, dass die beiden jetzt über ihn sprachen, als wäre er gar nicht dabei. Wie über ein Kind eben, dachte er. Dass es an sich schon sehr außergewöhnlich war, dass Cosimo de’ Medici sich Zeit dafür nahm, um mit einem Jungen vom Dorf in alten Schriften zu stöbern, daran dachte Leonardo gar nicht. Aber vielleicht spürte er, dass Leonardo von demselben Interesse, an diesen geheimnisvollen, rätselhaften Dingen erfüllt war. Schritte waren plötzlich zu hören.

Sie halten in dem Gewölbe wider. Ein Bediensteter des Hauses Medici näherte sich, machte eine Verbeugung und sagte dann: „Herr, Ihr habt mir aufgetragen, Euch in Erinnerung zu rufen, dass Ihr Euch jetzt in den großen Saal begeben müsst. Die Verhandlungen mit dem Gesandten aus Mailand...“

Cosimo hob die Hand und verzog angestrengt das Gesicht. „Ah, erinnert mich nicht über Gebühr an diese unerfreulichen Dinge!“, wehrte er ab. „Richtet aus, dass ich gleich eintreffen werde!“

„Jawohl“, nickte der Bedienstete, verbeugte sich abermals und ging wieder davon.

Cosimo erhob sich nun. „Du hast es ja gehört, mein Junge, die Regierungsgeschäfte rufen mich.“

„Herr Cosimo, überlasst mir dieses Papyrus!“, meint er. „Vielleicht könnte ich das Rätsel der Hieroglyphen für Euch lösen!“

„Es tut mir Leid, aber dieses Stück ist zu wertvoll, um es aus der Hand geben zu können“, sagte Cosimo. „Du kannst es dir gerne ansehen, aber das geht nur hier in den Räumen meiner Bibliothek...“

„Dann lasst mich dieses Dokument abzeichnen“, sagte Leonardo. „Denn ich weiß nicht, ob mir gerade hier der richtige Gedanke kommt, um die Bedeutung zu entschlüsseln.“

Cosimo atmete tief durch. Bevor der Stadtherr jedoch etwas sagen konnte, ergriff Ser Piero das Wort. „Entschuldigt, wenn ich Euch zuvorkomme, aber das Anliegen meines Sohnes erscheint mir ziemlich unverschämt und deswegen...“

„Mir ist es recht und billig“, meinte hingegen Cosimo zu Ser Pieros Überraschung. „Wer bin ich, dass ich einem Talent im Wege stehen sollte.“

„Ihr seid sehr großzügig“, fand Ser Piero und verneigte sich tief.

„Ihr aber auch, Ser Piero“, erwiderte Cosimo. „Schließlich müsst Ihr ja auf Euren Sohn warten, bis er mit seinen Zeichnungen fertig ist – und nicht ich!“

Nachdem Cosimo de Medici gegangen war, machte sich Leonardo sogleich ans Werk. Papier und Bleistift hatte der Notar Ser Piero immer in seiner Tasche, schließlich war es ja sein Beruf, für andere Leute, die dazu nicht in der Lage waren, Verträge oder Bittschreiben und Briefe aufzusetzen.

Leonardo sah sich die Zeichen und Bilder genau an. Auffallend waren für ihn die Zeichnungen von Wesen, deren Körper wie Menschen aussahen, aber einen Tierkopf besaßen. Männer mit Krokodilköpfen, Katzenköpfen und solche, die an Hunde erinnerten, fielen ihm auf. Besonders aber ein Vogelköpfiger. Dieser Vogelkopf hatte einen sehr langen, gebogenen Schnabel, wie ihn Leonardo bisher noch bei keinem Vogel gesehen hatte.

Gerade für Vögel interessierte er sich besonders, was einfach daran lag, dass sie fliegen konnten und er irgendwann hoffte, das Geheimnis des Fliegens von ihnen abschauen zu können. Und während Leonardo sorgfältig jedes Zeichen und jedes Bild auf das Papier bannte, rasten die Gedanken nur so in ihm. Fragen über Fragen eröffneten sich. Hatten diese Tiermenschen wirklich gelebt oder waren sie Götzenbilder, die von den Menschen verehrt wurden? Und hing das mit den Zeichen zusammen, die um sie herum angeordnet waren? Leonardo hatte nämlich keineswegs den Eindruck, dass auch nur irgendein Strich auf diesem Papyrus zufällig gesetzt worden war. Alles schien einer wunderbaren Ordnung zu entsprechen. Einer Ordnung, von der aber niemand mehr etwas wusste, sodass die Botschaft nicht mehr gelesen werden konnte. Ser Piero ging zunächst etwas unschlüssig auf und ab. Dann sagte er schließlich: „Es ist ohnehin schon später geworden, als ich gedacht hatte. Ich schlage vor, dass wir daher eine Nacht länger hier in Florenz bleiben und erst morgen früh uns auf den Weg nach Vinci machen.“

„Mir ist das sehr recht“, sagte Leonardo. „Wir könnten auch zwei Tage noch hier bleiben, denn der Cosimo hat sicherlich noch eine Reihe anderer hochinteressanter Schriftstücke hier liegen...“

„Also das kommt ganz bestimmt nicht in Frage“, erklärte Ser Piero klipp und klar.

Am nächsten Morgen machten sich Leonardo und sein Vater auf, um zurück nach Vinci zu reiten. Leonardo ritt auf der Stute Marcella, die sein Vater mal von einem Schuldner als Pfand genommen hatte und nun seitdem von Leonardos Großvater im Stall gehalten wurde. Leonardo hatte die Zeichnung von dem Papyrus zusammengefaltet in einer Tasche, die er um die Schultern trug und die ansonsten noch ein paar andere Dinge enthielt, die Leonardo auf die Kurzreise von Vinci nach Florenz und wieder zurück mitgenommen hatte.

Eigentlich hatte es einen besonderen Grund gehabt, dass Leonardo seinen Vater nach Florenz begleitet hatte.

Ser Piero hatte nämlich gehofft, Leonardo noch einmal in der Bildhauer-und Malerwerkstatt des berühmten Andrea del Verrocchio vorstellen zu können.

Dort, so sein Plan, sollte Leonardo in die Lehre gehen und alles über die Bildhauerei und die Malerei zu lernen. Andrea del Verrocchio war ein Meister seines Fachs und Leonardo hätte auch liebend gern bei ihm gelernt. Aber Meister Verrocchio konnte sich seine Schüler aussuchen, da es als große Ehre galt, bei ihm in die Lehre zu gehen. So war der Andrang an neuen Lehrlingen immer recht groß.

Ser Piero hatte Leonardo bereits einmal vorgestellt und die Antwort bekommen, dass man noch warten sollte, bis Leonardo etwas älter sei. Es gab manchmal sehr früh begabte Lehrlinge, die dann zwölf oder dreizehn Jahre waren. Normalerweise aber hatten die Lehrlinge des Andrea del Verrocchio ein Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren, sodass sie dann mit spätestens neunzehn fertig waren und in die Malergilde von Florenz aufgenommen werden konnten.

Leonardo allerdings war erst zehn.

Und das war dem Meister einfach zu jung gewesen. Nun hatte Ser Piero allerdings gehört, dass einer der Lehrlinge an einer plötzlich auftretenden Krankheit gestorben war. Was für eine Krankheit das war, hatte niemand genau festgestellt, aber Ser Piero hatte sich natürlich Hoffnungen gemacht, dass sich der große Andrea del Verrocchio vielleicht doch erweichen ließ und Leonardo aufnahm. Dass der Junge begabt war, daran hatte er ja nie gezweifelt.

Doch Ser Pieros Pläne hatten sich zerschlagen, denn Meister Verrocchio war für ein paar Wochen nach Pisa abgereist – einen Tag bevor Ser Piero und Leonardo in Florenz eintrafen!

„Du wirst dich vielleicht gewundert haben, weshalb ich so darauf dränge, dass du doch schon früher in die Lehre gehen kannst“, sprach Ser Piero seinen Sohn während des Rittes an.

Doch Leonardo hörte gar nicht richtig zu. Er beobachtete nämlich ein paar Vögel, die über den Himmel zogen. Große Vögel waren das – mit langen Beinen und sehr langen Schnäbeln. Vielleicht Störche oder Fischreiher. Genau ließ sich das aus der Entfernung nicht sagen, aber wenn sie weniger weit weg gewesen wären, hätte Leonardo sofort gewusst, um welche Vogelart es sich handelte. Inzwischen kannte er sich damit nämlich sehr gut aus.

„Hörst du mir eigentlich zu?“, fragte Ser Piero. „Warum starrst du denn dauernd die Vögel da oben an?“

„Ich habe an die Vogelköpfe auf dem Papyrus gedacht“, sagte Leonardo. „Die hatten auch lange Schnäbel. Soweit ich bisher gesehen habe, benutzen immer die Vögel lange Schnäbel, die damit im Wasser Fische fangen und ich frage mich, ob der Vogelmensch auf dem Papyrus wohl auch Fische gefangen hat.“

„Leonardo, ich rede über deine Zukunft und du siehst Vögeln nach!“

„Vater, ich weiß nicht, weshalb du dir da jetzt so viele Gedanken machst, aber Andrea del Verrocchio hat doch schon gesagt, dass er mich gerne nehmen will. Nur eben jetzt noch nicht. Dass wir ihn nicht angetroffen haben, ist Pech, aber wenn er mich nicht nimmt, wird mich schon eine andere Werkstatt aufnehmen. Und wenn das noch ein paar Jahre dauert, ist das auch nicht so schlimm. Dann kann ich bis dahin vielleicht ein paar meiner Erfindungen so vollenden, dass man sie wirklich einsetzen kann und habe vielleicht das Geheimnis des Fliegens endlich gelüftet.“ Er berührte mit der Hand die Tasche an seiner Seite. „Und natürlich die Hieroglyphenschrift! Das wäre ja schließlich gelacht! Griechisch und Hebräisch kann man ja auch heute noch lesen und viel komplizierter als die Geheimschrift, die ich mir selbst ausgedacht habe, können die Zeichen auf dem Papyrus ja wohl auch nicht sein!“

„Leonardo, ich habe dir ja schon mal gesagt, dass ich darüber nachdenke, ob wir in den nächsten Jahren nach Florenz ziehen. Vielleicht etwas früher, vielleicht etwas später. Aber ich arbeite jetzt so viel für Cosimo de’ Medici, da wäre das schon recht praktisch.“

„Hast du gesagt ‚wir’?“, fragte Leonardo.

Er wohnte nämlich bei seinem Großvater in Vinci. Seine Eltern waren nicht verheiratet gewesen. Seine Mutter hatte einen Bauern und Töpfer aus der Umgebung geheiratet und mit ihm eine eigene Familie. Dort hatte er nicht bleiben können. Und auch bei Ser Piero hätte er nicht aufwachsen können.

So hatte er die letzten fünf Jahre bei seinem Großvater gelebt - was ihm nicht schlecht bekommen war, denn kaum jemand anderes hätte ihm so viele Freiheiten erlaubt.

„Und was wird dann aus Großvater?“, fragte Leonardo.

„Er ist schon alt und niemand weiß, wie lange er noch lebt. Wer weiß, vielleicht käme er ja auch mit nach Florenz. Jedenfalls wäre mir wohler, wenn du schon bald etwas lernen würdest.“

Leonardo überlegte einige Augenblicke.

Dann sagte er schließlich: „Ich glaube nicht, dass das klappt, Vater. Niemand nimmt jemanden, der so jung ist wie ich. Man traut uns einfach nichts zu, das ist das Problem!“

Als sie weiter ritten, trafen sie ein paar Meilen vor Vinci einen Jungen. Er lief in Lumpen daher. Sein Gewand wirkte wie ein vielfach geflickter Sack und seine Hose schien fast nur noch aus Flicken zu bestehen. Er trug ein Bündel bei sich, in dem sich wohl sein ganzer Besitz befand. Dieses Bündel hatte er an einen Stock geknotet, den er über die Schulter gelegt hatte. Leonardo zügelte die Stute Marcella, als sich sein Vater und er dem Jungen näherten. Dieser pfiff ein Lied vor sich hin, drehte sich zu ihnen um und wich zur Seite, um den beiden Reitern den Weg frei zu machen.

Leonardo schätzte den Jungen auf vielleicht elf oder zwölf Jahre. Das gelockte Haar fiel ihm bis in die Augen, sodass man gar nicht sehen konnte, ob er einen ansah oder nicht.

„Eine milde Gabe für ein armes Waisenkind!“, sagte der Junge und hielt seine Hand auf, als Leonardo und Ser Piero ihren Pferden nicht sofort die Hacken in die Weichen drückten, um sie davon galoppieren zu lassen. „Ihr habt doch ein gutes Herz, seit Christen und glaubt an den Herrn Jesus und die barmherzige Jungfrau Maria. So helft einem armen Waisenkind den nächsten Tag zu überleben. Mir knurrt der Magen und wahrscheinlich muss ich bald Hungers sterben, wenn ich mir nichts kaufen kann...“

Irgendwie erschien Leonardo die Art und Weise, in der der Junge seine Bettelei vor trug etwas übertrieben, denn auch wenn er ärmlich gekleidet war, so waren seine Wangen doch voll und rund. Ser Piero warf ihm eine Münze zu.

Der Junge fing sie auf.

„Und ist Euer Ziel zufällig der Ort Vinci?“, fragte er.

„Dahin sind wir unterwegs“, antwortete Leonardo.

„Dann könntet Ihr mich doch mitnehmen.“ Er wandte sich an Leonardo. „Du bist jünger als ich und zusammen wären wir nicht zu schwer für dein Pferd!“

„Du hast schon genug bekommen!“, sagte Ser Piero. „Jetzt werde nicht unverschämt!“

„Aber ich bin ein armes Waisenkind ohne Eltern, das sich allein durchschlagen muss!“, erwiderte der Junge. „Habt Ihr den gar kein Mitleid? Was für eine hartherzige Welt. Aber Jesus Christus sagt: Was ihr dem Geringsten unter euch tut, das habt ihr mir getan!“

„Wie heißt du?“, fragte Leonardo.

„Mein Name ist Alberto.“

Leonardo reichte ihm die Hand. „Komm, schwing dich hinter mich aufs Pferd. Marcella ist zwar schon müde, aber das wird sie wohl auch noch schaffen.“

„Tausend Dank!“, sagte der Junge. „Im Himmel wird man dich dafür belohnen!“

Während der letzten Meilen bis Vinci kam Leonardo mit einem Jungen ins Gespräch. Er gab an, von Ort zu Ort zu ziehen und sich mit Gelegenheitsarbeiten bei den Bauern über Wasser zu halten. Seine Eltern seien selbst Bauern gewesen, hätten aber bei einem Brand ihr Leben verloren und da das Land nicht ihr eigenes gewesen wäre, hätte Alberto dort auch nicht bleiben können. „Seitdem ziehe ich umher und lebe von der Barmherzigkeit der Menschen und meiner Hände Arbeit. Wisst ihr nicht vielleicht einen Hof in der Nähe von Vinci, der gerade einen guten Knecht braucht? Denn das bin ich bestimmt! Ich weiß, wie man die Tiere gut behandelt, wie man melkt, wie man das Getreide aberntet, wie man eine Wiese mäht und wie man Käse zubereitet...“

„Ich könnte mal Großvater fragen“, meinte Leonardo. „Der ist doch mit allen Bauern in der Umgebung bestens bekannt und hat sicher gehört, wo jemand eine Hilfe braucht.“

Es dauere nicht mehr lange und sie erreichten das Dorf Vinci. Das Haus von Leonardos Großvater lag direkt am Dorfplatz. Großvater wartete schon vor der Tür. Er saß dort auf der Bank und erhob sich, als er die Reiter kommen sah.

„Nanu, ihr wolltet doch einen Tag früher zurückkehren“, meinte er.

„Leonardo wollte unbedingt ein ägyptisches Papyrus abzeichnen“, sagte Ser Piero und lachte. „Nein im Ernst: Es hat an mir gelegen. Cosimo de’ Medici hatte so viel für mich zu tun. Da waren die ganzen Grundverträge und...“

„Ja, ja, die Einzelheiten spare dir ruhig, mein Sohn. Oder erzähl sie mir beim Essen.“

„Und Leonardo hatte die Ehre, vom großen Cosimo persönlich in dessen Bibliothek herumgeführt zu werden“, berichtete Ser Piero.

„Der Mann weiß so viel“, stieß Leonardo hervor. „Nicht nur, wie man Geschäfte macht, sondern auch alles über alte Schriften. Über die Griechen, die Römer... und sogar etwas über die Ägypter. Die ihre Toten auf eine Weise behandelten, dass sie nicht verwesen konnten...“

„Die Familie Medici hat schon viele Talente gefördert“, sagte Großvater. „Maler, Bildhauer, Wissenschaftler... Wer weiß, vielleicht wird dir dieser Kontakt noch nützlich sein, wenn du erstmal in der Werkstatt von Meister Andrea del Verrocchio ausgelernt hast, dann wird dir Cosimo sicher zu Aufträgen verhelfen können.“

„Was Meister Verrocchio angeht, waren wir leider nicht so erfolgreich, wie ich gehofft hatte“, bekannte Ser Piero. Alberto hatte sich inzwischen von Marcellas Rücken herab gleiten lassen.

Großvater musterte ihn. „Und wer bist du?“

„Man war so freundlich, mich mitzunehmen“, sagte Alberto. „Ich bin ein wandernder Bauernknecht und helfe gerne jedem, der meine Hilfe braucht – wenn er umgekehrt dafür sorgt, dass ich keinen knurrenden Magen mehr habe.“

„Großvater, du redest doch viel mit den Bauern aus der Gegend. Kann da nicht irgendeiner einen Knecht brauchen?“, fragte Leonardo.

„Da wüsste ich gleich mehrere“, bekannte Großvater. „Zumal die Ernte noch nicht eingebracht ist und auf den meisten Höfen wirklich jede Hand gebraucht wird!“

„Für einen einfachen Hinweis, an wen ich mich wenden könnte, wäre ich sehr dankbar.“

„Den sollst du bekommen“, erwiderte Großvater. „Und zwar, wenn du dich an meinen Tisch setzt und mit uns isst. Du bist herzlich eingeladen.“

„Oh, Ihr seid ein wahrer Christ!“, rief Alberto aus. „Jemand, der noch Mitleid mit den Mühseligen und Beladenen hat!“

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2. Kapitel

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Ein seltsamer Junge

Als Alberto zusammen mit Großvater, Ser Piero und Leonardo am Tisch saß, stocherte lustlos in einer Art Pfannkuchen, die Großvater nach seinem eigenen Rezept gekocht hatte.

Eine Spezialität, die sich auch unter Freunden und Nachbarn großer Beliebtheit erfreute. Selbst der Besitzer des örtlichen Dorfgasthofes hatte sich schon nach den Einzelheiten des Rezeptes erkundigt, aber Großvater hätte nicht im Traum daran gedacht, sie zu verraten.

Alberto hingegen schien dieses Rezept nicht besonders zu zusagen. Er verzog das Gesicht und würgte schließlich ein paar Bissen herunter. Dann aber erklärte er: „Es tut mir Leid, aber bevor ich auf Leonardo und seinen Vater traf, kam ich an ein paar Apfelbäumen vorbei und habe mir dabei wohl so den Magen voll geschlagen, dass mich jetzt ganz plötzlich eine starke Übelkeit quält.“

Großvater war sichtlich beleidigt.

„Nun, es zwingt dich in diesem Hause niemand, meine Pfannkuchen zu essen“, meinte er mit einem Gesichtsausdruck, der seine Verärgerung deutlich machte.

Ein paar Tipps, bei wem er sich als Knecht vorstellen könnte und wo die Höfe lägen, gab Großvater ihm allerdings trotzdem. Dann hatte Alberto es plötzlich sehr eilig.

Als er zur Tür hinausging, stolperte er über die Schwelle. Er konnte sein Gleichgewicht gerade noch halten, aber sein Bündel fiel ihm dabei zu Boden.

Es löste sich und ein Stück Käse, ein Laib Brot und ein ziemlich großes Stück Schinken rollten über den Boden.

„Wie ich sehe, bist du ja ganz gut mit Proviant ausgestattet“, stellte Großvater fest und stemmte dabei die Hände in die Hüften.

„Das sieht ja fast so aus, als hätte dir jemand etwas zusammengepackt, damit du eine Weile über die Runden kommst!“

„Ach, das war ein fahrender Händler, der ein gutes Herz hatte und den mein Schicksal bekümmerte...“

„Ein fahrender Händler“, mischte sich Leonardo ein. „So viele gibt es davon nicht in dieser Gegend. Dann wird das sicher der Vater meines Freundes Carlo sein.“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte Alberto.

„Hieß der Händler zufällig Maldini?“

„Ja, richtig, Maldini hieß er. Ich erinnere mich. Und er erzählte mir auch davon, was für ein schöner Ort Vinci sei und dass hier so viele wohltätige und barmherzige Menschen wohnen würden.“

Alberto sammelte alles wieder ein, schnürte das Bündel neu zusammen und verabschiedete sich dann.

„Das ist ein wirklich komischer Vogel“, sagte Großvater an Leonardo gewandt. „Ein Bettler, der das Bündel voller Proviant hat, hast du so etwas schon mal gehört?“

Leonardo zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist er einfach ein sehr erfolgreicher Bettler!“, versuchte Leonardo eine Erklärung zu liefern.

„Was auch immer er in Wahrheit suchen mag, ich hoffe, dass er es findet“, sagte Großvater. „Aber wenn du mal bei deinem Freund Carlo vorbeischaust, dann frag dessen Vater doch mal, ob er neuerdings guten Käse und Schinken in rauen Mengen an Bettler verteilt! Das kann ich mir bei dem Geizhals nämlich ehrlich gesagt kaum vorstellen.“ Großvater wandte das Gesicht in Leonardos Richtung und fuhr dann fort. „Carlo hat sich übrigens nach dir erkundigt, während ihr weg wart.“

„Er hat wohl genau wie du damit gerechnet, dass wir einen Tag früher zurückkommen!“

„So ist es.“

Noch am Abend schaute Leonardo bei den Maldinis vorbei, deren Haus am Rand des Dorfes lag.

Carlo hatte längst bemerkt, dass Leonardo und sein Vater aus Florenz zurückgekehrt waren, denn die beiden waren am Haus der Maldinis vorbei geritten.

„Leider konnte ich nicht rauskommen und euch begrüßen“, sagte Carlo bedauernd. „Ich musste meinem Vater mal wieder beim Rechnen und beim Sortieren unserer Warenbestände helfen. Das musste unbedingt heute fertig werden, weil er morgen schon wieder über Land zieht...“

„Dann war dein Vater in den letzten Tagen gar nicht unterwegs?“, fragte Leonardo.

„Nein. Bei einem der Wagenräder war eine Speiche gebrochen und das wurde erst gestern Abend wieder fertig. Meister Giovanni, ein Tischler aus Empoli musste eigens hier her kommen, denn unser Dorftischler hat es nicht hinbekommen! Mein Vater war vielleicht wütend – vor allem, weil der Dorftischler für seine Bemühungen auch noch Geld verlangt hat!“

„Dann hat dein Vater auch nicht zufällig einem Bettler-Jungen Käse, Brot und Schinken gegeben?“

Carlo war jetzt doch ziemlich verwundert. Er runzelte die Stirn und schüttelte dann energisch den Kopf. „Du kennst doch meinen Vater! Auf jeden Florin achtet der, als wäre es der letzte!“

„...weil man es sonst zu nichts bringt und nie auf einen grünen Zweig kommt“, war jetzt eine tiefe Stimme zu hören. Carlos Vater betrat gerade den Raum. Er trug ein Fass und stellte es zu einer Reihe anderer Fässer. Dann wandte er sich an Leonardo und Carlo. „Unterhaltet euch ruhig weiter über mich, ich räume hier nur noch ein paar Sachen zusammen...“

„Es ging um einen Bettlerjungen, dem mein Vater und ich gestern begegnet sind“, sagte Leonardo. „Sie sind ihm nicht zufällig begegnet?“

Der Händler Maldini schüttelte den Kopf. „Nein, ganz bestimmt nicht! Und ehrlich gesagt halte ich auch nicht viel von Leuten, die nur die Hand aufhalten, etwas von Barmherzigkeit sagen und dann meinen, man müsste in diese Hand etwas hinein tun. Ich arbeite schließlich auch für meinen Lebensunterhalt und den meiner Familie! Und das Geschäft ist hart! Ich hätte für so jemanden nicht mal eine Kupfermünze übrig!“

Da hatte Carlo seinen Vater also genau richtig eingeschätzt. Fragte sich nur, wem Alberto dann begegnet sein mochte. Natürlich gab es noch andere Händler, die zumeist auf dem Weg Richtung Florenz den Weg über Vinci nahmen, aber irgendwie hatte Leonardo jetzt auch den Eindruck gewonnen, dass mit Alberto irgendetwas nicht stimmte.

Maldini wandte sich an seinen Sohn Carlo. „Ich werde übrigens diesmal nicht so lange wegbleiben“, sagte er. 

„Warum nicht?“, wollte Carlo wissen.

„Weil ich das Dorf Tarrenta auslassen werde. Dort ist nämlich der Schwarze Tod ausgebrochen. Das hat mir der Tischler erzählt.“

Der Schwarze Tod - so nannte man die Pest. Immer wieder suchte diese verheerende Seuche Städte und Dörfer heim und manchmal wurden ganze Ortschaften von der Krankheit ausgerottet. Niemand wusste, wodurch sie verursacht wurde oder warum sie plötzlich wieder verschwand. Manche sagten, dass ein übler Geruch aus der Erde aufstieg und die Menschen krank werden ließ. Andere hielten die Krankheit für eine Strafe Gottes oder glaubten, dass vergiftete Brunnen die Ursache wären. Man wusste nur, dass sie sehr ansteckend war und von denen, die erkrankt waren, kaum jemand überlebte und das überall, wo sie auftrat zuvor vermehrt Ratten gesehen worden waren.

Allein der Name dieser Krankheit jagte den Menschen schon eisige Schauer über den Rücken.

„Dann mach besser einen sehr großen Bogen um Tarrenta“, sagte Carlo. „Es wäre schrecklich, wenn du dich ansteckst. Und der böse Atem kommt vielleicht auch noch in einiger Entfernung von Tarrenta aus der Erde....“

„Ich werde schon aufpassen“, versprach Maldini. Später zeigte Leonardo seinem Freund Carlo noch die Kopie, die er von dem Papyrus angefertigt hatte. Sie saßen auf dem Boden von Leonardos Zimmer, das im Obergeschoss von Großvaters Haus zu finden war. Der Fensterladen stand offen und ein angenehm kühler Wind blies herein.

„Sieh dir das nur an, Carlo!“, stieß Leonardo voller Begeisterung hervor. „Ist das nicht einmalig?“

„Also für mich sieht das aus wie ein ziemlich großes Durcheinander!“, meinte Carlo. „Zeichen, Bilder, Gebilde, die aussehen, als ob sie eine Mischung aus Zeichen und Bildern sind, Linien, die Kolonnen von Zeichen umranden... Also ich kann darin keinen Sinn erkennen. Und dann diese eigenartigen Tiermänner oder was das da sein soll.“

„So haben die Menschen zur Zeit der Pharaonen geschrieben“, sagte Leonardo.

„Das soll eine Schrift sein? Ich würde sagen, das ist ein Bild von jemandem, der nicht richtig wusste, was er zeichnen sollte und dann hat er ein riesiges Durcheinander angestellt.“

„Der Skizzenblock eines Künstlers?“ Leonardo verzog das Gesicht. „Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, es könnte eine Geschichte sein. Eine Erzählung, in der die Tiermänner eine Rolle spielen und vielleicht Abenteuer erleben... Aber was es auch immer sei, ich bin fest entschlossen, es herauszubekommen. Cosimo de’ Medici wird sich wundern, wenn ich ihm damit komme!“

Carlo war sehr erstaunt. „Cosimo de’ Medici?“ Natürlich war ihm der Name des Stadtherrn von Florenz ein Begriff. Schließlich lebten letztlich auch die Menschen von Vinci unter seiner Herrschaft, denn zur Republik Florenz gehörte nicht nur die Stadt selbst, sondern ein Gebiet, das bis zur Küste reichte und unter anderem auch den wichtigen Hafen Pisa mit einschloss.

Als Leonardo dann davon berichtete, dass er sich mit Cosimo persönlich über alte Schriften unterhalten hatte, konnte Carlo das kaum glauben.

„Leider hat er mir das Original des Papyrus nicht überlassen können“, sagte Leonardo. „Er meinte, es sei zu wertvoll, aber ich habe mich lange gefragt, weshalb ihn das eigentlich daran hindern sollte, es mir mitzugeben? Schließlich hat er doch mehr als genug Geld und wer weiß, vielleicht wäre es noch mehr wert gewesen, wenn er es hätte lesen können... Ich denke, da steckt etwas anderes dahinter.“

„Und was?“, fragte Carlo etwas angestrengt.

„Natürlich seine Verwandtschaft! Cosimo ist doch schon alt und ich glaube, seine zukünftigen Erben machen ihm die Hölle heiß, wenn sie erfahren sollten, dass er Stücke aus seiner Schriftensammlung einfach aus dem Haus gibt!“

„Wer weiß, vielleicht ist das Papyrus nicht einmal echt gewesen“, sagte Carlo. „Das Durcheinander könnte doch jeder hinbekommen. Am Ende hat sich das alles nur irgendjemand ausgedacht, der weiß, dass Cosimo de’ Medici alte Schriften sammelt und viel Geld dafür bezahlt.“

„Oh nein“, widersprach Leonardo. „Cosimo hat mir erzählt, wie er an das Papyrus gekommen ist. Er hat es zusammen mit einer Mumie erworben – und zwar von einem Händler aus Venedig, der regelmäßig nach Alexandria segelt und auf diese Sachen spezialisiert ist. Beides gehörte zusammen.“

„Und dann hast du die Mumie auch gesehen?“

„Leider nicht“, gestand Leonardo. „Vor ein paar Jahren hat es einen Brand im Palast der Medici gegeben und die Mumie konnte leider nicht gerettet werden..“ Leonardo rieb sich das Kinn. Plötzlich war ihm ein Gedanke gekommen. „Ich habe eine Idee, was hier stehen könnte“, sagte er plötzlich.

Carlo seufzte und verdrehte die Augen.

„So schnell? Leonardo, das kann doch wohl kaum sein...“

„Ich meine natürlich nicht, dass ich jetzt schon wüsste, was da im Einzelnen steht – aber im Allgemeinen! Vielleicht steht da etwas über das Geheimnis der Mumifizierung! Darüber, wie man es hinbekommen hat, dass Tote nicht verwesen!“ Er schnippste mit den Fingern. „Stell dir doch nur mal vor, wie wunderbar das wäre, wenn man dieses Wissen erlangen könnte!“

„Ach, Leonardo, wozu soll das denn gut sein?“

„Überlege doch mal! Jemand stirbt an einer Krankheit, über die man nicht so viel weiß! Sagen mal die Pest, von der ja auch noch niemand eine Idee hat, wie man sie heilen könnte. Man mumifiziert den Toten und kann ihn dann Jahrelang aufbewahren – lange genug, bis der Tote nicht mehr ansteckend ist. Und dann könnte man herausfinden, was die Krankheit genau bei ihm angerichtet hat und vielleicht dadurch ein Gegenmittel finden.“

„Ja, du Schlaumeier. Du hast nur eine Sache dabei übersehen“, erwiderte Carlo.

Leonardo überlegte und zuckte dann mit den Schultern.

„Ehrlich gesagt – ich wüsste nicht was. Mein Plan ist so perfekt, dass ich mich frage, wieso vorher noch niemand darauf gekommen ist, es so zu machen und wir uns vor dieser Krankheit immer noch so sehr fürchten müssen, dass schon alle ganz bleich werden, wenn nur irgendwer erwähnt, dass es in einem meilenweit entfernten Ort einen Pestkranken gegeben hat!“

„Dann will ich dir mal sagen was du übersehen hast: Niemand würde sich finden, um den Toten zu mumifizieren, weil man sich dabei anstecken könnte! Es hat schließlich seinen Grund, dass Pesttote verbrannt werden!“

Leonardo runzelte die Stirn.

„Für das Problem gibt es sicherlich auch noch eine Lösung“, war Leonardo zuversichtlich, während Carlo eine wegwerfende Handbewegung machte.

„Ja, ja, genau wie beim Rätsel des Fliegens, dem du ja auch noch immer nicht auf der Spur bist oder bei der automatischen Pferdetränkanlage im Stall deines Großvaters, die nur dazu geführt hat, dass jetzt kein Wasser mehr in der Tränke bleibt, weil sie unten zwei Löcher hat.“

„Auch dafür finde ich noch eine Lösung“, versprach Leonardo. „Manche Erfindung braucht halt ihre Zeit.“

„Ich würde sagen, als erstes baust du deinem Großvater mal einen neuen Bratenwender, bei dem sich der Braten auch wirklich über dem Feuer dreht und keine schwarzen Stellen bekommt...“

„Im Moment interessiert mich etwas anderes“, sagte Leonardo. Er deutete auf das Papyrus. Sein Finger zeigte auf den Mann mit dem Vogelkopf. „Was denkst du ist das für ein Vogel?“

„Keine Ahnung. Ein Storch, der sich seinen Schnabel verbogen hat oder so was Ähnliches.“

Leonardo holte unter seinem Bett einen Holzkasten hervor, der wohl eigentlich dazu gedacht war, Bettwäsche aufzubewahren. Carlo sah interessiert hinein.

„Das sind ja Knochen!“, stieß er hervor.

„Wir haben doch neulich den toten Storch gefunden, als wir an dem Teich waren...“

Carlo seufzte. Er erinnerte sich natürlich sehr gut daran. Leonardo hatte dauernd versucht, die Wasservögel aufzuscheuchen, um zu sehen, wie sie sich in die Luft erhoben. Er hoffte, daraus Erkenntnisse für den Bau von Flugmaschinen zu gewinnen. Und dabei hatten sie dann im Schilf den toten Storch gefunden. Woran er gestorben war, konnten sie nicht feststellen. Vielleicht war er einfach an Altersschwäche gestorben.

Jedenfalls hatte Leonardo ihn mitgenommen.

„Du weißt ja, dass Großvater mir eigentlich strikt verboten hat, tote Tiere in meinem Zimmert aufzubewahren, weil sie an zu stinken fangen“, sagte Leonardo.

Carlo seufzte. „Ja, seitdem kann man in deinem Zimmer auch wieder richtig atmen.“

„Diesmal habe ich nicht erst längere Zeit damit gewartet, die Knochen herauszuholen und zu reinigen. Und den Rest habe ich hinausgebracht, bevor Großvater den Gestank bemerken konnte.“

„Und dein Großvater hat nichts bemerkt?“

„Nein. Aber grundsätzlich möchte ich schon gerne wieder tote Tiere auseinander schneiden können – und nicht nur an Skeletten forschen. Auch dafür wäre es ideal, wenn ich das Rätsel der Mumifizierung lösen könnte. Dann könnte ich tote Tiere mumifizieren und könnte sie dann noch lange Zeit untersuchen, ohne dass sich Großvater über den Gestank beklagen müsste! Du weißt ja, dass er da dein bisschen kleinlich ist.“

„Also meine Eltern würden mir nicht einmal erlauben, Storchenknochen im Bettkasten aufzubewahren!“, erwiderte Carlo. Leonardo schien Carlos letzte Bemerkung jedoch gar nicht zu hören. Er betrachtete die ungeordnet daliegenden Knochen und sagte: „Und hier ist es nun: Ein vollständiges Storchenskelett. Irgendwann möchte ich das mal zusammensetzen. Es sind alle Knochen dabei, allerdings bin ich mir nicht mehr bei allen so wirklich sicher, wo sie gesessen haben...“ Leonardo nahm den Schädel des Storches, hielt ihn neben die Zeichnung, die er von dem Vogelmann gemacht hatte und schüttelte den Kopf. „Nein, da gibt’s keine Übereinstimmung, würde ich sagen, oder?“

„Tja, wenn du das sagst, Leonardo!“

Später kam dann noch Gianna dazu. Sie war die Tochter des Dorfwirts und genau wie Leonardo und Carlo etwa zehn Jahre. Leonardo wollte auch ihr gerne die Kopie des Papyrus zeigen, aber Gianna interessierte sich nicht im Mindesten dafür und sie ließ

Leonardo auch gar nicht erst zu Wort kommen.

„Hört mal, da behaupten einige Leute im Gasthof, dass irgendwo hier in der Gegend die Pest ausgebrochen sein soll!“, berichtete sie.

„Das wissen wir auch schon“, meinte Carlo.

„In drei Dörfern soll es schon Kranke gegeben haben. Und ein Mann hat gesagt, am Horizont hätte ein Feuer gebrannt. Da hat man bestimmt das Haus eines Pestkranken in Brand gesteckt, damit sich die Krankheit nicht weiter ausbreiten kann.“ Gianna war ganz aufgeregt. Sie verhaspelte sich beim reden, atmete dann tief durch und setzte noch einmal an. „Und das Schlimmste kommt noch“, brachte sie dann heraus.

Die beiden Jungen sahen sie voll banger Erwartung an. War das, was sie bisher vorgetragen hatte, denn nicht schon schlimm genug?

Was konnte da an noch Schlimmeres folgen?

Gianna sah erst Leonardo und dann Carlo einige Augenblicke an und sagte dann mit leiser, brüchiger Stimme: „Vorhin, als hier her lief, habe ich eine Ratte gesehen. Die erste Pestratte von Vinci... Das ist bestimmt ein Zeichen!“

„Nun mal ganz ruhig“, sagte Leonardo. „Was die Ratten betrifft – die leben überall! Vor allem da, wo Menschen sind und wenn ich eine Ratte wäre, würde ich auch in der Nähe eures Gasthofs herumstreichen, weil da vielleicht irgendetwas Leckeres übrig bleibt...“

„Die Ratten sind die Boten des Schwarzen Todes, Leonardo!“, sagte Gianna mit bedeutungsvoll klingender Stimme. „Auch wenn du es vielleicht nicht wahrhaben willst und dir einredest, dass das nichts zu bedeuten hätte! Es hat etwas zu bedeuten... Der Schwarze Tod ist auf dem Weg hier her...“

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3. Kapitel

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Der Schwarze Tod in Vinci

In den nächsten Tagen hörte man in Vinci immer wieder etwas über den Schwarzen Tod. Leonardos Vater Ser Piero verschob einen Termin, bei dem es um den Vertrag für ein Grundstücksgeschäft ging, auf unbestimmte Zeit, denn einer der Geschäftspartner stammte aus Tarrenta, dem Dorf, in dem die Pest ausgebrochen sein sollte. Die unterschiedlichsten Gerüchte machten bald die Runde. Zuerst war es nur Tarrenta, das betroffen war, doch schon wenig später erzählte man im Dorfgasthof, dass auch in drei anderen Dörfern Pestfälle aufgetreten wären. Mal war nur von einzelnen Erkrankten die Rede, dann wollten aber andere wissen, dass bereits Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Menschen sterbenskrank in ihren Betten lägen.

Immerhin schien Florenz noch nicht betroffen zu sein, denn ein durchreisender Söldner, der im Auftrag der Stadt eine Botschaft nach Pisa zu überbringen hatte, wusste nichts von einer Pest in Florenz. Im Dorfgasthof wurde er regelrecht ausgefragt. Eigentlich hatte er die Nacht über in Vinci bleiben wollen. Stattdessen ritt er aber sogleich weiter. Und einige Bauern, die ihn gesehen hatten, während sie auf den Feldern ihre Ernte einbrachten, berichteten später, dass der Söldner nicht den gewöhnlichen Weg nach Pisa genommen hätte. Stattdessen nahm er wohl einen weiten Umweg in Kauf – nur um die Gegend, die mit dem Schwarzen Tod in Verbindung gebracht wurde zu meiden.

Leonardo verbrachte die Tage damit, über die Bedeutung der Zeichen auf dem Papyrus zu grübeln. Aber dieses Zeichensystem schien irgendwie doch bedeutend komplizierter zu sein, als eine der Geheimschriften, die Leonardo sich selbst ausgedacht hatte. Er fand einfach nicht den richtigen Dreh – und wenn er ganz ehrlich war, dann beschäftigte auch ihn immer wieder der Gedanke an den Schwarzen Tod, der sie alle bedrohte.

Noch war die Gefahr nicht in Vinci. Aber unsichtbar lag die Bedrohung bereits wie ein dunkler Schatten über den Bewohnern. Leonardo spürte es ganz genau. Die Leute von Vinci verhielten sich plötzlich anders, sie waren weniger froh, sie wirkten gedrückt, und machten den Eindruck, als würden sie eine unsichtbare Last tragen. Hin und wieder wurde leise davon gesprochen und die Leute fragten sich angstvoll, ob man denn schon irgendetwas Neues gehört hätte. Den Bettler Alberto sah Leonardo in den nächsten Tagen genau zwei Mal wieder.

Das erste Mal traf er ihn, als er mit Carlo über die Felder und Wiesen streifte. Alberto saß oben auf einem Heuwagen, zusammen mit dem Bauern Rafaelo, bei dem er sich als Ernteknecht gemeldet hatte.

Das zweite Mal gestaltete sich sehr viel dramatischer. Es war abends, als die Sonne sich bereits anschickte, hinter dem Horizont zu versinken und die Arbeit auf den Feldern überall längst beendet war. Leonardo, Carlo und Gianna saßen in Leonardos Zimmer. Leonardo hatte eigentlich gehofft, dass Gianna und Carlo ihm entweder beim entschlüsseln des Papyrus oder wenigstens beim Sortieren der Storchen-Knochen halfen.

Aber dazu waren beide gedanklich einfach zu sehr mit den Gerüchten über den Schwarzen Tod beschäftigt. Vor allem Gianna, die im Gasthaus ihrer Eltern immer als erste die neuesten Schreckensnachrichten erfuhr.

Dann hörten sie ein schmerzerfülltes Aufstöhnen. Die Drei liefen zum Fenster, von dem aus man einen Blick über den Dorfplatz hatte.

Dort sahen sie Alberto. Sein Gesicht war verändert. Er hatte ein paar dunkle Flecken auf der Haut und seine Augen wurden von schwarzen Rändern umgeben. Er hielt sich den Bauch und sank auf die Knie.

„So helft mir... Ich kann... nicht mehr!“, rief er aus. Er sank schließlich ganz auf den Boden und krümmte sich zusammen. Er schrie so laut, dass nun in mehreren Häusern in der Umgebung die Leute ans Fenster gingen – so ähnlich, wie Leonardo, Gianna und Carlo es auch taten.

„Wir müssen ihm helfen“, fand Leonardo. „Mit dem Kerl stimmt doch irgendetwas nicht!“

Also liefen sie die Treppe herunter. Durch die Wohnstube ging es hinaus ins Freie. Dort lag Alberto nun auf dem Boden, wälzte sich im Staub und hielt sich dabei den Bauch.

Großvater, der im benachbarten Stall gewesen war, um die Stute Marcella zu versorgen, kam jetzt ebenfalls herbei – und auch aus einigen anderen Häusern kamen Menschen.

Leonardo hatte sich bereits bis auf wenige Schritte genähert, da richtete sich Alberto auf, streckte die Hand abwehrend aus und rief: „Bitte nicht! Bleib stehen... Keinen Schritt darfst du weitergehen! Sonst wird es dein Verderben sein!“

Leonardo sah wie gebannt in Albertos Gesicht. Es war sehr bleich und die dunklen Flecken waren jetzt etwas besser zu erkennen.

„Der Schwarze Tod!“, rief Gianna mit schriller Stimme. „Er ist hier in Vinci!“

Innerhalb kurzer Zeit hatte sich das halbe Dorf um Alberto versammelt. Allerdings hielt man einen gewissen Abstand und niemand wagte es, dem offenbar schwer Kranken näher als vier oder fünf Schritte zu kommen.

„War er nicht zuletzt Knecht beim Bauern Rafaelo?“, fragte eine Frau und wandte sich an ihre Nachbarin. „Du warst doch gestern noch dort, um Milch zu kaufen!“

„Hinaus mit dem Jungen aus Vinci!“, rief eine andere Frau. „Der Schwarze Tod mag dann an uns vorübergehen!“ Sie bekreuzigte sich daraufhin.

„Geht nur – und mich Unglücklichen lasst allein sterben!“, rief Alberto. „Oh, warum hat mich der Herr so gestraft, dass ich den Schwarzen Tod zu euch gebracht habe...“

„Sieh zu, dass du fortkommst und uns nicht alle ansteckst!“, rief nun ein Mann, der neben dem Haus von Carlos Eltern in einem kleinen Gebäude lebte und sein Geld verdiente, indem er als Schlachter von Hof zu Hof zog. Er hieß Alessio und war ein großer Mann mit sehr kräftigen Armen, die er vor der Brust verschränkt hatte.

„Wie kannst du so reden, Alessio!“, erhob sich da die gestrenge Stimme des Pfarrers, der ebenfalls zum Ort des Geschehens geeilt war. „Jesus hat sich um die Aussätzigen gekümmert – und du willst diesen armen Jungen davon jagen! Wo ist deine Nächstenliebe?“

„Jesus konnte die Aussätzigen aber auch heilen“, sagte der Schlachter. „Aber wir sind gegen den Schwarzen Tod machtlos. Er wird uns einen nach dem anderen holen. Niemand wird mehr in dieses Dorf kommen oder Leute aus diesem Dorf empfangen wollen. Kein Bauer wird mich als Schlachter holen oder Maldinis Waren kaufen...“

„Der Junge muss das Dorf verlassen“, nickte eine der Frauen.

„Jawohl!“, sagte eine andere. „Und zwar so schnell wie möglich.“

Viele redeten jetzt durcheinander. Alberto stöhnte noch einmal zum Steinerweichen. Er hielt sich nacheinander alle möglichen Körperstellen und der Pfarrer wagte sich immerhin bis auf zwei Schritte an den Betteljungen heran, machte das Kreuzzeichen und sprach dann ein tröstliches Gebet.

Ein Reiter näherte sich, wurde aber von den anderen kaum bemerkt.

Es war Leonardos Vater.

Ser Piero machte sein Pferd an der Querstange vor Großvaters Haus fest und gesellte sich dann zu den anderen. Leonardo schritt jetzt beherzt auf Alberto zu und näherte sich sogar noch etwas weiter als der Pfarrer.

Bis auf einen Schritt kam er an ihn heran.

„Leonardo!“, stieß sein Großvater hervor.

Als Leonardo noch klein gewesen war und bei seiner Mutter Catarina gelebt hatte, war er einmal so schwer krank gewesen, dass schon der Pfarrer gekommen war, um bei ihm die letzte Ölung durchzuführen. Er hatte so hohes Fieber gehabt, dass er manchmal gar nicht mehr gewusst hatte, ob er wach war oder schlief und träumte. Niemand hatte ihm helfen können. Und später konnte man weder sagen, was ihn krank gemacht hatte, noch weshalb er gesund geworden war.

Seitdem hatte sich Leonardo für den Aufbau und die Funktionsweise von Körpern interessiert – sowohl von Menschen, als auch von Tieren. Sein Onkel Francesco, der viel über die Natur wusste, hatte ihm mal gesagt, dass man dann krank würde, wenn etwas im Körper nicht richtig funktionierte. Aber stimmte das wirklich? Konnte man nicht eher durch einen Fluch oder wegen einer Sünde und schlechter Taten krank werden, wie die meisten Menschen glaubten?

Leonardo hatte sich damals vorgenommen, auch dieser Frage irgendwann einmal auf den Grund zu gehen. Das war einer der Gründe dafür, weshalb er tote Tiere gesammelt und aufgeschnitten hatte. Er wollte wissen, wie sie im Inneren funktionierten. Denn wenn man das bei Tieren herausgefunden hatte, wäre es vielleicht nicht mehr so schwierig, dass auch beim Menschen zu erkennen, so sein Gedanke.

Und nun hatte er die einmalige Möglichkeit, Geschwüre des Schwarzen Todes aus nächster Nähe zu sehen! Natürlich tat Alberto ihm auch Leid und er wünschte sich, im helfen zu können. Aber es war auch eine ungeheuer starke Neugier in ihm, die ihn jede Vorsicht vergessen ließ.

„Bleib wo du bist, du Unglücklicher!“, rief Alberto. „Für mich kann niemand mehr etwas tun. Bete für meine Seele! Bete dafür, dass ich ohne viele Qualen in den Himmel komme, denn ich bin zwar arm, aber ein guter Christenmensch von reinem Herzen!“

Ein Raunen ging durch die Menge.

„Wir wissen doch noch gar nicht, ob du wirklich unter dem Schwarzen Tod leidest!“, rief Leonardo.

„Siehst du denn ich, wie der Tod in mein Gesicht geschrieben worden ist?“, rief Alberto.

Ser Piero war inzwischen bei ihm und zog ihn zurück.

„Nicht so nah, Leonardo.“

„Ich bin doch noch weit genug weg und habe ihn gar nicht berührt. Und man muss ihn erst genau untersuchen, bevor man wirklich sagen kann, was ihm fehlt!“

„Vielleicht ist ja dein Vater bereit, das Geld zu bezahlen, das man einem Arzt dafür geben müsste“, höhnte der Schlachter Alessio daraufhin. „Außerdem wird doch niemand bereit sein, ihn zu untersuchen und dabei zu riskieren, dass die Krankheit auf ihn überspringt!“

Ein chaotisches Stimmengewirr erhob sich. Alle redeten durcheinander. Die einen wollten, dass der Junge Alberto sofort aus dem Dorf verbannt wurde. Ser Piero gab zu bedenken, dass Alberto dann doch ins nächste Dorf laufe und die Krankheit weiter trage, bis er schließlich tot zusammenbreche. „Hat nicht jeder von euch Verwandte in den Nachbarborten, denen er es ersparen möchte, dass die Pest auch dorthin kommt?“

„Das können wir sowieso nicht verhindern“, meinte der Schlachter Alessio. „Die Erde scheint überall den Atem des Bösen emporsteigen zu lassen, um die Menschen krank zu machen.“

Schließlich schritt der Pfarrer ein. „Wir müssen Barmherzigkeit walten lassen und das tun, was der Herr uns aufgegeben hat! Soll er sich doch in die alte Scheune auf der Westseite einquartieren. Die wird im Moment doch nicht gebraucht. Das Essen stellen wir ihm hin, sodass er es sich holen kann und sich niemand ansteckt.“

„Wollen Sie vielleicht für den Jungen kochen?“, fragte eine der Frauen.

„Also ich werde mich daran beteiligen“, erklärte Großvater.

„Und ich melde mich freiwillig, um das Essen zur Scheune zu bringen“, meinte Leonardo.

Der Pfarrer wandte sich an Alberto. „Es tut mir Leid, aber mehr werden wir wohl nicht für dich tun können. Der Rest liegt in Gottes Hand.“

So wurde Alberto in die baufällige und leer stehende Scheune einquartiert, die ungefähr zweihundert Schritte westlich des Dorfes Vinci einst vom Bauern Aldo errichtet worden war. Aber der war längst gestorben und hatte keinen Erben hinterlassen. Manchmal hatten sich schon einige Dorfbewohnern Bretter aus dem Gebäude heraus gebrochen, um sie als Brennholz zu verwenden, sodass in den Wänden einige nicht vorgesehene Öffnungen waren. Dass Leonardo sich gemeldet hatte, um dem Kranken das Essen zu bringen, fanden weder sein Großvater noch sein Vater besonders gut.

„So etwas kann doch auch der Pfarrer tun“, meinte Ser Piero. „Da musst du dich doch nun wirklich nicht vordrängen!“

„Wollt ihr es mir verbieten? Aber irgendjemand muss es doch tun und sollten wir nicht alle uns um diejenigen kümmern, denen es schlecht geht? Sagt das nicht der Pfarrer jeden Sonntag in der Kirche?“

„Ja, das schon“, gab Ser Piero zu.

„Eben – und das heißt doch wohl nicht, dass sich nur der Pfarrer daran halten soll. Außerdem möchte ich unbedingt...“

„Du schaust dir jedenfalls nicht seine Geschwüre aus der Nähe an oder probierst irgendeine deiner selbst angerührten Tinkturen daran aus!“, unterbrach ihn jetzt Großvater sehr energisch. „Das ist nämlich hoch gefährlich. Dieser Junge hat die Pest und wahrscheinlich wird es jetzt bald noch mehr Fälle hier in Vinci geben... Leonardo, im Gegensatz zu dir habe ich schon ein paar Pestausbrüche erlebt. Wenn es die Lungenpest mit blutigem Husten ist, lebt Alberto keine drei Tage mehr. Aber ich glaube nicht, dass das der Fall ist.“

„Und wieso nicht?“, fragte Leonardo.

„Weil er sich dann gar nicht mehr bis ins Dorf hätte schleppen können“, sagte Großvater. „Ich nehme an, dass er die einfache Beulenpest hat. Zwei bis drei Wochen leben die meisten noch, wenn die Zeichen der Krankheit sichtbar werden...“

„Aber es gibt ein paar, die wieder gesund werden!“, wandte Leonardo ein.

„Ja, aber nur sehr wenige und du kannst nicht damit rechnen, dass du dazugehörst! Also bleib ja weit genug von Alberto entfernt und versuche nicht den Arzt zu spielen! Das bist du nicht und davon verstehst du auch nicht genug! Es geht hier nicht darum, eine tote Krähe zu untersuchen oder solche Spielereien - sondern darum, dass du das ganze Dorf gefährden könntest, wenn du leichtsinnig bist!“

„Das werde ich bestimmt nicht sein“, versprach Leonardo.

Weder Carlo noch Gianna hatten Lust, Leonardo dabei zu begleiten, wenn er Alberto das Essen brachte. Sie hatten einfach zu große Angst. Und Gianna meinte sogar, dass es wohl besser sei, wenn sie sich in nächster Zeit nicht träfen. „Mir ist das einfach zu unheimlich. Mein Vater sagt, du könntest die Krankheit schon in dir haben, ohne, dass du es weißt!“

„Ihr seid doch furchtbare Angsthasen“, erwiderte Leonardo. „Kein Wunder, dass es so wenig gute Ärzte gibt und die wenigen, die sich so nennen, noch so gut wie gar nichts über diese Krankheit herausgefunden haben!“

„Könnte es nicht sein, dass diejenigen, die es versucht haben, dabei umgekommen sind?“, antwortete Gianna spitz. Die Leute von Vinci stellten abwechselnd eine der Mahlzeiten für Alberto zusammen. Der Pfarrer beteiligte sich daran, Carlos Großvater und noch einige andere. Leonardo brachte die jeweilige Mahlzeit dann mit einem Korb in die Nähe der Scheune, an die er nur bis auf Rufweite herankommen sollte.

„Alberto!“, rief er dann. Und manchmal musste er mehrmals vergeblich rufen, ehe sich Alberto dann endlich zu Wort meldete.

„Stell es einfach auf den Boden“, sagte er dann zumeist. Leonardo versuchte, dem Jungen noch ein paar Fragen zu stellen. Dass niemand ihn genauer untersucht hatte, weil es so gefährlich war, verstand er ja. Was er nicht begreifen konnte, war, dass Alberto eigentlich auch niemand wirklich genauer befragt hatte. Oder konnte es gar eine Krankheit geben, die sich durch Worte übertrug? Das konnte sich Leonardo eigentlich nicht vorstellen.

„Alberto, sag mal hast du auch diese beulenartigen Geschwüre? Mein Großvater hat mir erzählt, dass die typisch für den Schwarzen Tod wären.“

„Du hast mich doch gesehen – und dir müssen doch auch die Zeichen des Todes aufgefallen sein.“

„Ja, dein Gesicht sah nicht so gut aus. Aber so richtige Beulen habe ich da nicht gesehen. Deshalb frage ich, ob du vielleicht welche am Körper hast? Und falls das der Fall sein sollte – vielleicht könntest du dann mal draufdrücken und nachsehen, ob vielleicht eine Flüssigkeit herauskommt.“

„Verschwinde einfach, damit ich mir das Essen holen kann!“, rief Alberto. „Leide ich etwa nicht genug? Soll ich mir jetzt noch auf die Geschwüre drücken, um mich noch mehr zu strafen? Das kann doch nicht dein Ernst sein...“

Leonardo hatte Alberto eigentlich noch erklären wollen, warum er das alles wissen wollte und dass es doch auch sein konnte, dass Alberto gar nicht an der Pest erkrankt war und sich alle geirrt hatten!

Deswegen kam es auf diese Einzelheiten an.

Aber Alberto gab Leonardo einfach keine Antwort mehr. Leonardo ließ zunächst nicht locker.

„Alberto, vielleicht kann man dir ja doch noch helfen. Ich will ja gerne alles dafür tun, um dich zu retten, aber dann musst du auch mir helfen!“

Die einzige Antwort bestand darin, dass Alberto bitterlich an zu weinen fing. Es war zum Stein erweichen. Leonardo konnte natürlich gut verstehen, dass der Bettlerjunge verzweifelt war. Schließlich war es so gut wie sicher, dass er bald sterben würde und Leonardo war realistisch genug, um zuzugeben, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass man dem Jungen noch helfen konnte.

Ohne Hoffnung und allein – das war wirklich Grund genug, um bitterlich zu weinen.

Und doch kam Leonardo dieses Weinen irgendwie seltsam vor. Er konnte nicht genau sagen, weshalb eigentlich. Es hatte einfach einen seltsamen Klang und er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen anderen, auf diese besondere Weise weinen gehört zu haben. Aber dann zuckte er die Schultern.

Er spricht ja auch eigenartig!, dachte er. Schon die Art und Weise in der er Vater und mich auf dem Weg von Florenz nach Vinci angesprochen hat, war eigenartig! So übertrieben... Warum sollte so einer nicht auch auf seltsame Weise weinen?

Das waren die Gedanken, die Leonardo so durch den Kopf gingen, während Albertos Weinen in ein leises Wimmern überging.

„Da bin ich schon todkrank und komme jetzt noch nicht einmal an mein Essen, weil du da immer noch herumstehst!“, rief Alberto schließlich.

Leonardo seufzte. „Ich gehe ja schon“, murmelte er und entfernte sich notgedrungen.

Als er bereits die halbe Strecke zum Dorf zurückgelaufen war, kam Alberto aus der Scheune und holte sich den Korb, den Leonardo ihm hingestellt hatte.

Die nächsten Male, da Leonardo dem todkranken Alberto das Essen brachte, gab dieser überhaupt keine Antwort. Selbst, wenn Leonardo ihn mehrfach ansprach und bat, sich doch mit ihm zu unterhalten und auf diese oder jene Frage eine Antwort zu geben. Alberto schwieg eisern.

Zuerst befürchtete Leonardo schon, dass es Alberto inzwischen zu schlecht ging und der Schwarze Tod seinem Leben vielleicht schon ein Ende bereitet hätte.

Aber als er später sah, wie Alberto sich den Korb holte, wusste er, dass diese Sorge unbegründet war.

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4. Kapitel

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Der Mann mit den Mumien

Ein paar Tage vergingen und Leonardo bereute es schon fast ein wenig, die Aufgabe übernommen zu haben, dem Kranken das Essen zu bringen. Denn erstens erfüllte sich seine Hoffnung nicht, mehr über den Schwarzen Tod zu erfahren, weil Alberto einfach nicht darüber reden wollte. Und zweitens ging der Kranke nun dazu über, die Erfüllung von Sonderwünschen zu verlangen. Er wollte generell die Mahlzeiten stärker gewürzt haben und wünschte außerdem, dass immer frisches Obst und Käse dabei sein sollten. Giannas Vater reagierte ziemlich beleidigt, als Leonardo dem Dorfwirt diese Nachricht überbrachte.

Und auch der Pfarrer war sehr irritiert, als Leonardo ihm eröffnete, dass Alberto seinen Schinken nicht mögen würde.

„Er mag diesen herben Räuchergeschmack nicht“, fasste Leonardo das zusammen, was Alberto ihm dazu gesagt hatte. Der Pfarrer hob die Augenbrauen, holte einmal tief Luft, so als wollte er gleich ein paar ärgerliche Worte verlieren und blieb dann aber doch gewohnt sanftmütig.

„Das scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, dass es dem Kranken noch immer überraschend gut geht“, fand er. „Vielleicht gehört er ja zu den seltenen Ausnahmen, die wieder gesund werden.“

„Darf ich Euch etwas fragen?“

„Aber bitte, Leonardo! Alles, was du auf dem Herzen hast.“

„Alberto ist gewiss in einer Mitleid erregenden Lage. Er ist todkrank und es besteht kaum eine Möglichkeit, dass er seinen nächsten Namenstag noch erlebt.“

„Das ist leider wahr.“

„Und doch empfinde ich viel weniger Mitleid mit ihm, als es da eigentlich normal wäre. Wie kommt das?“

„Das kann ich dir nicht sagen, Leonardo. Da musst du dein eigenes Inneres erforschen.“

„Das ist es ja gerade!“, stieß Leonardo hervor. „Albertos Weinen, seine Krankheit, sein Unglück – das hat mein Inneres nicht erreicht! Schon als mein Vater und ich ihn unterwegs trafen und er als armer Bettler um eine milde Gabe bat, hatte ich ein sehr seltsames Gefühl dabei.“

„Ich fürchte, deine Frage kann ich dir nicht beantworten, Leonardo. Abgesehen davon hast du doch genug Mitleid mit ihm gehabt, um ihm zu helfen und jeden Tag das Essen zu bringen.“

„Ich habe auch seine Lumpen gesehen – aber trotzdem war es anders, als wenn man sonst jemandem begegnet, der Hilfe braucht. Vielleicht hängt es mit der seltsamen Art zusammen, auf die er redet.“

„Aber trotzdem hast du dich nicht von diesen Äußerlichkeiten irritieren lassen und das getan, was die Pflicht eines Christen ist. Du hast geholfen. Und dafür seist du gesegnet!“

Der Pfarrer machte das Kreuzzeichen und Leonardo hatte den Eindruck, dass er einfach nur keine Lust hatte, sich länger mit ihm zu unterhalten. Vielleicht wusste er keine Antwort auf Leonardos Frage. Leonardo hielt es aber auch für möglich, dass der Pfarrer gar nicht verstand, was er eigentlich meinte.

Leonardo grübelte noch darüber nach, als er das Haus des Pfarrers verlassen hatte.

Eins stand für ihn jetzt fest – abgesehen davon, dass Alberto vom Schwarzen Tod befallen war, stimmte noch etwas anderes nicht mit ihm.

Ein paar Tage später war Leonardo sehr vertieft darin, eine Vergrößerung des Vogelkopfes anzufertigen, den er von dem Papyrus abgezeichnet.

Carlo war bei ihm – das erste Mal seitdem Leonardo damit angefangen hatte, dem kranken Alberto die Mahlzeiten zu bringen. Genau wie Gianna hatte Carlo anfangs große Angst davor gehabt, sich anzustecken. Die Stimmung war gedrückt und bislang war kaum etwas gesagt worden.

Doch plötzlich sagte Leonardo in die Stille hinein: „Ich werde mal meinen Onkel Francesco fragen, was das für eine Vogelart auf dem Papyrus sein könnte. Wenn ich die Vogelart kenne, kann ich vielleicht darauf schließen, worum es in dem Text geht!“

„Und dein Onkel Francesco weiß das“, zweifelte Carlo.

„Ja sicher! Es gibt niemanden, der so viel über Tiere und die Natur weiß. Früher, als ich noch bei meiner Mutter lebte, sind wir oft zusammen losgezogen, um Tiere zu beobachten. In letzter Zeit ist es dazu leider nicht gekommen...“

Leonardos Onkel lebte erst seit kurzem wieder in Vinci. Zuvor hatte er ein paar Jahre in Florenz gelebt.

In diesem Moment war das Geräusch eines Wagens zu hören, der die Dorfstraße von Vinci entlang rumpelte und mitten auf dem Dorfplatz stehen blieb. Leonardo und Carlo gingen ans Fenster. Der Wagen hatte ein Verdeck und wurde von zwei Pferden gezogen. Auf dem Verdeck stand in großen Buchstaben: Doktor Petronius – Meister der Heilkunst und der Alchimie! Heilmittel und Arzneien für alle Krankheiten.

„Es geschehen doch Wunder!“, stieß Carlo hervor. „Sieh nur, ein Arzt!“

Es musste schon viele Jahre her sei, dass sich zuletzt ein Meister der Heilkunst nach Vinci verirrt hatte. In einem so kleinen Dorf konnte ein Arzt nicht genug verdienen, sodass er dort auch nicht hätte leben können. Der Mann auf dem Kutschbock stieg nun ab. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und trug ein Gewand aus dunklem Leinen. Hinten stieg ein Junge aus dem Wagen, den Leonardo auf höchstens fünfzehn oder sechzehn Jahre schätzte. Sein Haar war gelockt und er trug ein langes Messer am Gürtel.

Er war offenbar der Assistent des Arztes. Hinten am Wagen befand sich eine Glocke und die schlug der Junge nun. Die Glocke hatte keinen guten Klang. Er war scheppernd und hörte sich eher an, als würde man gegen einen Kochtopf schlagen.

Aber dieser Klang war durchdringend genug, um notfalls die Bevölkerung eines Ortes aus dem Tiefschlaf zu wecken, wenn es sein musste.

Dazu steckte der Junge noch einen Gegenstand in den Mund, bei dem es sich wohl um eine sehr kurze Flöte handeln musste. Damit erzeugte er so schrille Töne, dass Leonardo sich am Liebsten die Ohren zugehalten hätte.

„Das ist ja grausam!“, rief er. „Wahrscheinlich ist das ein Arzt, der erstmal alle ohrenkrank zu machen versucht, damit er später für die Behandlung Geld nehmen kann!“ Er wandte sich an Carlo. „Es würde mich nicht wundern, wenn man ihm erst eine Kupfermünze geben muss, damit er aufhört!“

„Seien wir doch froh, dass endlich ein richtiger Arzt nach Vinci kommt!“, erwiderte Carlo ganz aufgeregt. „Der kommt doch wie gerufen!“

Das Konzert auf Glocke und Flöte wurde wenig später beendet.

„Kommt aus euren Häusern!“, rief der Junge mit heiserer Stimme. „Doktor Petronius ist gekommen, um euch von allem Leiden zu befreien! Kommt und seht, was er vermag! Niemand kennt die Geheimnisse des menschlichen Körpers besser als er, niemand verfügt über ein größeres Wissen über die Herstellung von Arzneien und niemand außer ihm hat ein Mittel gegen den Schwarzen Tod!“

Es dauerte nicht lange und auf dem Dorfplatz sammelten sich die Bewohner von Vinci um den Wagen.

Leonardo und Carlo gingen auch ins Freie. Und auch Großvater bemühte sich dort hin.

Während Doktor Petronius nur schweigend mit unbewegtem Gesicht dastand und die Arme vor der Brust verschränkte, begann der Junge mit den gelockten Haaren damit, das Verdeck des Wagens zurück zuschlagen. Eine Reihe von Holzkisten und Fässern wurde sichtbar. Dann sprang der Junge vom Wagen und fuhr mit seinem Rufen fort. „Der Schwarze Tod geht um – aber mein Herr und Meister der weise und erfahrene Doktor Petronius, hat ein Mittel entwickelt, das den Schwarzen Tod zu heilen vermag. Aber im Gegensatz zu vielen Quacksalbern, die nur am Gewinn interessiert sind, stellt der ehrenwerte Doktor Petronius seine Medizin gegen einen geringen Preis zur Verfügung und zeigt jedem, der dies wünscht, wie man Doktor Petronius’ Wundersalbe selbst herstellen kann!“

Leonardo hielt den Atem an.

Konnte das wirklich möglich sein? Hatte doch endlich jemand das Geheimnis gelüftet, wie man diese furchtbare Seuche heilen konnte?

„Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung für diesen Alberto“, meinte Carlo zuversichtlich. „Ich meine, für das Dorf ist es doch sicherlich preiswerter, wenn alle zusammenlegen und den Preis für diese Wundersalbe bezahlen, als wenn sie ihm weiter Essen bringen müssen.“

„So lasst Doktor Petronius sprechen und hört euch seine Worte an!“, rief der Junge. „Es wird vielleicht euer Leben retten können – denn in den Nachbardörfern hat es schon einzelne Fälle von Pest gegeben und irgendwann wird der Schwarze Tod auch euch holen. Und dann solltet ihr gerüstet sein! Begreift es als ein Geschenk des Herrn und eine Gunst des Schicksals, dass Doktor Petronius zuerst in euer Dorf gekommen ist. Denn in wenigen Wochen könnte es gut sein, dass es mehr Kranke überall im Land gibt, als man zu zählen vermag und seine Medizin schnell verbraucht ist...“

Inzwischen war es mucksmäuschenstill geworden. Alle starrten wie gebannt auf den Mann, der sich Doktor Petronius nannte. Dieser schien die Aufmerksamkeit zu genießen und wartete erst einmal einige Augenblicke ab. Dann wandte er sich an seinen Assistenten. „Du kannst beginnen, Edoardo!“, sagte er dann. Der Junge mit dem Lockenkopf machte sich daraufhin an einer der Kisten auf der Ladefläche des Wagens zu schaffen. Aber Doktor Petronius schüttelte energisch den Kopf. „Nicht die – nimm die andere, Edoardo!“

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738918854
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
leonardo fluch todes

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Leonardo und der Fluch des schwarzen Todes