Zusammenfassung
Der Körpertausch geht Rhomroor und Candric nun doch langsam gehörig gegen den Strich und daher suchen Sie Rat bei den Elben, deren überlegene Magie ihnen helfen soll, den Fluch zu überwinden. Doch zuerst muss sich Rhomroor, der neue Anführer der Orks, mit seinem Vorgänger Moraxx herumschlagen. Er ist verschwunden und erschuf mit magischen Experimenten mächtige Monstren, die niemand mehr unter Kontrolle halten kann. Als es dann am großen Elbenstein zur Entscheidung kommt, greift eine bisher unbekannte Macht ein und es beginnt der Sturm auf das Elbenreich ..
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Sturm auf das Elbenreich
Die wilden Orks - Band 4
von Alfred Bekker
© by author /Cover: Agentur Munsonius
© 2015 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich (Westf.)
postmaster@alfredbekker.de
Der Umfang dieses Ebook entspricht 154 Taschenbuchseiten.
Übersicht: Athranor & Zwischenland der Elben
In Alfred Bekker's Athranor und dem Zwischenland der Elben spielende Buchtitel (chronologisch), ungeachtet ihrer jeweiligen Verfügbarkeit als E-Book, Buch, Hörbuch bzw. als Gesamt- oder Teilausgaben.
Die wilden Orks (spielt zur Zeit des Elbenkönigs Péandir in Athranor)
Angriff der Orks
Der Fluch des Zwergengolds
Die Drachen-Attacke
Sturm auf das Elbenreich
Überfall der Trolle
Die Halblinge von Athranor (spielt 360 Jahre später in Athranor)
Der Sohn der Halblinge
Das Erbe der Halblinge
Der Befreier der Halblinge
Elben - Die Trilogie
(beginnt mit der Ankunft der Elben im Zwischenland; entspricht “Elben - Die Serie”, Episode 1-43)
Das Reich der Elben
Die Könige der Elben
Der Krieg der Elben
Elbenkinder 1-7 (beginnt nach dem großen Krieg gegen Xaror)
Das Juwel der Elben
Das Schwert der Elben
Der Zauber der Elben
Die Flammenspeere der Elben
Im Zentaurenwald der Elben
Die Geister der Elben
Die Eisdämonen der Elben
Zwergenkinder (spielt zur Zeit des Elbenkönigs Daron)
Die Magie der Zwerge
Die Zauberaxt der Zwerge
Die Dracheninsel der Zwerge
Der Kristall der Zwerge
Gefährten der Magie
(spielt zur Zeit des Elbenkönigs Daron)
Lirandil - Der Fährtensucher der Elben
(spielt zur Zeit des Elbenkönigs Daron)
Lose mit der Saga um Athranor und das Zwischenland in Verbindung stehende Titel:
Das Schiff der Orks (als John Devlin, spielt in den Ländern südlich von Athranor)
Nebelwelt - Das Buch Whuon (als John Devlin - die Saga um Whuon den Söldner, bekannt aus den Bänden um "Die Halblinge von Athranor")
Gorian-Saga (Spielt viele Zeitalter nach den Athranor- und Zwischenland-Büchern auf dem Kontinent Ost-Erdenrund, zu dem Caladir mit seinem Luftschiff gelangt)
Gorian - Das Vermächtnis der Klingen (mit dem Gargoyle Ar-Don)
Gorian - Die Hüter der Magie (mit Eldamir/ Caladir gründete das Reich der Caladran)
Gorian - Im Reich des Winters (mit Eldamir, dem blinden Schlächter der Elben von Athranor)
DrachenErde-Saga (1-3, Trilogie)
(mit dem zwischen den Welten verschollenen Elbenkrieger Branagorn ab Band 2)
Drachenfluch
Drachenring
Drachenthron
Der Teufel von Münster (Kriminalroman mit dem Elbenkrieger Branagorn als Ermittler)
Die Papiermacherin (als Conny Walden - historischer Roman mit Branagorn )
Der Medicus von Konstantinopel (als Conny Walden - historischer Roman mit Kurzauftritt von Branagorn)
Leonardos Drachen (historisches Jugendbuch - mit Branagorn alias Fra Branaguorno)
Die Herrschaft der Alten (Zukunftsroman - Auftritt von Lirandil, Keandir, Gorian, Ar-Don und anderen als Simulationen)
Band 4: Sturm auf das Elbenreich
Der Körpertausch geht Rhomroor und Candric nun doch langsam gehörig gegen den Strich und daher suchen Sie Rat bei den Elben, deren überlegene Magie ihnen helfen soll, den Fluch zu überwinden. Doch zuerst muss sich Rhomroor, der neue Anführer der Orks, mit seinem Vorgänger Moraxx herumschlagen. Er ist verschwunden und erschuf mit magischen Experimenten mächtige Monstren, die niemand mehr unter Kontrolle halten kann. Als es dann am großen Elbenstein zur Entscheidung kommt, greift eine bisher unbekannte Macht ein und es beginnt der Sturm auf das Elbenreich ...
1
Der Boden erzitterte unter den Füßen von zehntausend elefantengroßen Hornechsen. Auf jedem dieser zumeist dreihörnigen Reptilien ritt mindestens ein schwer bewaffneter Ork-Krieger – auf vielen saßen sogar zwei oder drei.
Man hätte meinen können, ein Gewitter würde aufziehen, solch einen Donner verursachten die trampelnden Füße der Hornechsen.
An der Spitze dieser gewaltigen Ork-Streitmacht ritt Rhomroor, ihr junger Anführer. Nie hatte es einen jüngeren Anführer als Rhomroor gegeben. Alle drei Orkländer hatten ihn inzwischen anerkannt. Es gab keinen Stamm, der sich zurzeit gegen ihn wandte. Das galt für die auf Hornechsen reitenden Orks ebenso wie für die zu Fuß gehenden Clans, die im Grenzgebirge zu den Menschenreichen hausten, oder die Stämme aus der Skorpion-Senke am Blutfluss, deren Dörfer auf gewaltigen Riesenskorpionen gebaut waren. Selbst die sehr eigenwilligen Bewohner der Orkstadt und die seefahrenden Orks der Insel Orkheim, die sich selbst als zivilisierter ansahen, weil sie das Wasser nicht auf Riesenschildkröten oder Flößen überwanden, sondern richtige Schiffe bauten, hatten ihn anerkannt.
Vorerst jedenfalls.
Rhomroor wusste sehr gut, wie schnell sich das Blatt wenden und ein Anführer seine Stellung verlieren konnte. Das hatte er oft genug erlebt – zuletzt bei seinem abgesetzten Vorgänger Moraxx, der immer versucht hatte, sich mit Elbenmagie aus gestohlenen Schriften Vorteile zu verschaffen.
Rhomroor nahm seine linke Pranke, während die rechte eines der Hörner seiner Echse umfasste, und benutzte sie als Schirm vor seinen Augen, um sich gegen das Licht der noch tief stehenden Sonne zu schützen.
Es war nämlich noch früher Morgen. Die Ork-Streitmacht war vor ein paar Tagen von der Orkstadt aus aufgebrochen. Tag und Nacht waren sie ohne Unterbrechung geritten. Rhomroor gähnte laut und riss dabei sein Maul mit den vier Hauern auf. Das wirkte irgendwie ansteckend. Neben ihm tat daraufhin sein Gefährte Brox dasselbe und mit ihm erst fünf, dann zehn und innerhalb weniger Augenblicke vielleicht sogar hundert andere Orks. Es war eine gute alte Ork-Sitte. Niemand sollte allein sein, wenn er gegen die Müdigkeit kämpfte, deswegen stimmte sofort fast die gesamte Ork-Schar mit ein. Ein dröhnender Laut erhob sich daraufhin.
„Ich hoffe nur, wir haben nicht die Lindwürmer verschreckt!“, meinte Brox, nachdem das dumpfe Gähnen der ganzen Ork-Armee wieder aufgehört hatte. Brox lenkte dabei seine Echse etwas näher an Rhomroors Reittier heran. Er streckte die Pranke aus und deutete zum Horizont. Hinter einer Kette von Dünen tauchte dort etwas Blaues auf.
„Die Lindwurmküste!“, murmelte Rhomroor.
Dort war ihr Ziel. An diesen Stränden genossen die riesenhaften, schlangenähnlichen Lindwürmer die Kühle des Meeres und tranken fässerweise Salzwasser, ohne das sie nicht leben konnten.
Ein lautes Zischen kam jetzt von dort. Es klang wie ein Sturmwind und war so laut, dass Rhomroor sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aber das wäre von den anderen Orks wohl als Zeichen der Schwäche ausgelegt worden und Ork-Anführer durften wirklich alles tun – nur keine Schwäche zeigen. Denn das war der erste Schritt zu ihrer Absetzung.
„Die Antwort der Lindwürmer!“, stellte Rhomroor fest, nachdem der Krach vorbei war.
„Scheint sich um mutige Exemplare zu handeln!“, meinte Brox.
„Das heißt auch, dass sie widerborstig sein werden, nicht wahr?“
„Sicher.“
Rhomroor seufzte. Einen Moment lang dachte er, dass es vielleicht gar nicht so schlecht gewesen wäre, wenn die Lindwürmer alle Reißaus genommen hätten und so weit ins Meer geschwommen wären, dass es unmöglich gewesen wäre, einen von ihnen zu fangen.
Denn genau das erwarteten seine Ork-Krieger jetzt von ihm, ihrem Anführer. Aber er hatte das erstens noch nie gemacht und zweitens war er sich auch nicht sicher, ob er es überhaupt fertigbringen würde.
„Du weißt, was man von dir erwartet!“, rief ihm Worror zu, ein besonders großer und mächtiger Ork, der statt eines schlammverschmierten Harnisches ein Stück Riesenschildkrötenpanzer auf dem Rücken trug, das ihn vor Angriffen von hinten schützen sollte.
„Das weiß ich“, nickte Rhomroor und klopfte sich mit der Faust gegen seine Ork-Brust. Der Schlamm, der Kleidung, Harnisch und die schuppige Haut bedeckte, war getrocknet und bröckelte nun von ihm ab und staubte. Er brauchte dringend wieder ein richtiges Schlammbad!
„Einen Lindwurm zu bändigen ist eine Prüfung, die jeder Ork-Herr aller drei Länder bestehen muss!“, sagte Worror, öffnete sein Maul und rülpste laut. Seine vier Hauer waren abgebrochen, als er versucht hatte, damit den Panzer einer menschenkopfgroßen Wüstenassel mit einem Biss zu knacken, um an das köstliche Innere heranzukommen. Er war einfach zu gierig gewesen. Aber in der Orkstadt gab es einen geschickten Zahnarzt – einen Menschen aus Westanien, dessen vergleichsweise kleine Hände wie geschaffen dazu waren, die Zähne in einem Ork-Maul zu behandeln. Er hatte Worror auf die abgebrochenen Hauer Spitzen aus Obsidian-Gestein gesetzt, die noch viel furchterregender aussahen, als die Originalhauer es je getan hatten.
Worror galt als einer der besten Kämpfer im Ost-Orkreich. Und wahrscheinlich hatte er auch schon mit dem Gedanken gespielt, selbst Anführer der drei Orkländer zu werden.
Im Moment traute er sich aber offenbar nicht, Rhomroor herauszufordern. Und das, obwohl dieser geradezu schmächtig und klein wirkte, verglichen mit dem riesenhaften Worror, der selbst die größten Orks noch um einen halben Kopf überragte.
Aber hatte Rhomroor nicht schließlich quasi im Alleingang die Drachen besiegt, die sein Vorgänger Moraxx unbedachterweise mit Hilfe der gestohlenen Elbenmagie aus versteinerten Dracheneiern hatte entstehen lassen?
Davon erzählte man sich inzwischen in allen drei Orkländern. Und mit jemandem, der so eine Tat zu vollbringen vermochte, legte man sich besser nicht an! Selbst wenn er noch ein junger Ork war, dem eigentlich die nötige Erfahrung fehlte, um sich auf Dauer zu behaupten.
In diesem Moment zog Rhomroor am Horn seiner Echse und brachte sie damit zum Stehen. Auf seinem Rücken trug Rhomroor neuerdings ein Schwert. Es war eigentlich viel zu groß für ihn. Wenn er mit den Füßen auf dem Boden stand und es über den Rücken gegürtet trug, musste er darauf achten, dass es schräg genug hing, sonst schleifte die Spitze über den Boden. Außerdem musste er seine Streitaxt nun an der Hüfte tragen, seit er das Schwert mit sich herumschleppte, mit dem man noch nicht einmal richtig kämpfen konnte, weil es einfach zu groß und unhandlich war. Zumindest war das Rhomroors vorläufige Meinung dazu, weswegen er auch seine Axt am Gürtel beließ.
Es gab zwei Gründe dafür, dieses Schwert mit sich zu führen. Der erste war, dass es ein Geschenk des Herrn der Orkstadt war, auf dessen Unterstützung Rhomroor angewiesen war. Die Tatsache, dass er ihm dieses Schwert in aller Öffentlichkeit vor dem Stadttor der Orkstadt übergeben hatte, war das Zeichen dafür, dass er Rhomroor als Oberherren aller Orks anerkannte. Gerüchten zufolge hatte der Ork-Herr dieses Schwert allerdings vor allem deshalb als Geschenk ausgewählt, weil er es selbst zum Geschenk erhalten hatte und unbedingt loswerden wollte. Und diese Gerüchte hatten mit einer besonderen Eigenschaft der Waffe zu tun, die ihr auch den Namen gab. Man nannte sie nämlich „das Singende Schwert“. Wenn der Träger dieser Waffe einen kräftigen Ruf ausstieß, während er ihren Griff umfasste, dann geriet der besondere Stahl, aus dem die Klinge geschmiedet war, in Schwingungen und erzeugte einen Laut, der so durchdringend war, dass er nicht nur in einer Entfernung von mehreren Meilen noch zu hören war, sondern manchmal auch Holz, Glas und sogar Stein zerspringen ließ. Es hieß, dass der Herr der Orkstadt sich damit den Unmut seiner Bürger zugezogen hatte. Die Sitte, Fenster mit Glas zu schließen, hatte nämlich durch die dort ansässigen Kaufleute aus den Menschenreichen inzwischen immer mehr Verbreitung in der Stadt gefunden. Und ganz gleich, ob der jeweilige Hausbesitzer nun ein Ork, ein Mensch, ein kleiner Halbling oder vielleicht sogar ein Elb war – von zersprungenen Fenstergläsern und eventuell sogar Rissen in den Hauswänden war keiner begeistert.
So war der Herr der Orkstadt sicher ganz froh gewesen, das unhandliche Ding loszuwerden und für Rhomroor wäre es unmöglich gewesen, das Schwert nicht zu tragen. Das wäre einer Beleidigung gleichgekommen.
Aber vielleicht habe ich ja Glück und es geht bald in irgendeinem Kampf kaputt!, dachte Rhomroor nicht zum ersten Mal. Dann konnte ihm zumindest niemand etwas nachsagen.
Rhomroor zog nun das Schwert aus dem Futteral auf seinem Rücken. Wegen seiner Länge war allein das schon eine Kunst für sich. Und weil sich die Klinge auf der letzten Handbreit am Ende in zwei leicht zur Seite gebogene Spitzen gabelte, konnte es auch noch passieren, dass man damit in den groben Nähten des Lederfutterals hängen blieb.
„Du siehst aus als würdest du orkhaft mit deinem eigenen Schwert kämpfen!“, lachte sein Freund Brox, der etwas älter war als Rhomroor. Brox hatte auf diesen Ritt zwar auch Streitaxt und Schwert mitgenommen, aber sein Sichelschwert war nicht einmal halb so lang wie Rhomroors Waffe. Schon deswegen war er im Moment zu beneiden, wie Rhomroor fand.
Rhomroor hatte es schließlich geschafft, das Schwert zu ziehen.
„Der Kampf mit sich selbst ist immer am schwersten!“, sagte Rhomroor.
„Was ist das denn? Eine Elbenweisheit oder Menschengerede?“, fragte Brox.
Doch Rhomroor war im Augenblick nicht nach Witzen zumute. Dafür war die Situation zu ernst. Schließlich stand ihm ja noch eine Prüfung bevor, mit der er beweisen musste, dass er nicht nur im West-Orkreich und in Orkheim, sondern auch im Ost-Orkreich zu Recht der oberste Anführer aller Orks geworden war. Und das war gar nicht so einfach ...
Er hielt das Singende Schwert in die Höhe und stieß einen dröhnenden Ruf aus. Dieser Ruf hätte einen menschlichen Zuhörer vielleicht an das Röhren der Großhirsche im Reich des Waldkönigs von Valdanien erinnert. Aber in den kargen, unfruchtbaren Orkländern gab es keine Hirsche. Und so wirkte Rhomroors Ruf auf sein Gefolge unvergleichlich. Allerdings wäre es viel zu leise gewesen, als dass jeder Krieger dieser großen Ork-Armee es gehört hätte. Normalerweise hätte Rhomroor nun abwarten müssen, dass die Orks in seiner unmittelbaren Umgebung den Ruf aufnehmen und weitergeben würden, sodass innerhalb von Augenblicken ein einziges lautes Geschrei entstand.
Aber in diesem Fall war das anders, denn Rhomroor nutzte die Eigenschaften des Singenden Schwertes. Als er seinen Ruf ausstieß, geriet es sofort in Schwingungen und begann einen durchdringenden Ton zu erzeugen. Zwar waren sofort auch andere Orks in den Ruf ihres Anführers eingefallen, wie es unter ihnen nun mal üblich war, aber der Ton des Singenden Schwertes übertönte alles. Selbst als die Hornechsen mit ihren tiefen, gurgelnden Stimmen ihren Teil zum Konzert beitrugen, war davon kaum etwas zu hören.
Es war das Signal zum Anhalten, das Rhomroor auf diese Weise gegeben hatte.
Der ganze Zug kam daraufhin zum Stehen.
Rhomroor stieg vom Rücken seiner Hornechse hinab und steckte das Singende Schwert wieder in das Futteral auf seinem Rücken. Der Ton des schwingenden Metalls war längst verklungen und auch das Geschrei von Orks und Echsen war verstummt, als die Antwort der Lindwürmer in Form eines lauten Zischens vom Strand herüberschallte. Zuerst hätte man meinen können, dass ein Wind aufkam, allerdings hätten sich dann die Gräser und Sträucher auf den Dünen heftiger bewegen müssen.
„Sag mal, du wolltest doch nicht etwa die Lindwürmer verschrecken, damit sie so weit ins Meer hinausschwimmen, dass wir keinen von ihnen fangen können!“, meinte Worror.
„Natürlich nicht!“, behauptete Rhomroor.
„Na, da werden aber alle Orks des Ost-Orkreichs beruhigt sein – denn jemandem, der sich vor Lindwürmern fürchtet, würde hier niemand folgen!“
„Das weiß ich“, knurrte Rhomroor und ließ seinen Worten noch einen aus tiefster Kehle kommenden Gurgellaut folgen, der dann schließlich in einem sehr gashaltigen Rülpsen seinen würdigen Abschluss fand.
Worror rülpste zur Bestätigung zurück – allerdings um einiges lauter, wie Rhomroor zugeben musste. Der aasige Geruch von halbverdauten Riesenschrecken blies Rhomroor dabei ins Gesicht. Das machte schon fast Appetit. Jetzt nur nicht ans Essen denken!, ging es dem jungen Ork-Anführer durch den Kopf. Ihm war schließlich wegen der bevorstehenden Prüfung ohnehin schon flau im Magen.
2
Rhomroor legte seine Waffen ab und gab sie Brox zur Aufbewahrung. Vor allem das unhandliche Singende Schwert hätte ihn nur unbeweglich gemacht. Rhomroor streckte die Arme aus und trommelte dann auf seinen Brustharnisch, bis ihm der getrocknete Schlamm ins Gesicht staubte und er beinahe niesen musste. Zahlreiche Orks in seiner Umgebung folgten seinem Beispiel und taten dasselbe. Wir wünschen unserem Anführer Glück und Stärke!, hieß das in diesem Moment wohl.
Dann wandte sich Rhomroor in Richtung des Strandes, wo das Zischen der Lindwürmer sich mit dem Rauschen des Meeres mischte.
Rhomroor setzte zu einem Spurt an. Er lief über die Dünen zum Strand. Für die anderen Orks war das das Zeichen dafür, ihm zu folgen. Sie liefen hinter ihm her, um von der Dünenkette aus zu beobachten, was am Strand geschah. Die Hornechsen blieben dabei allerdings zurück. Hornechsen standen durchaus auf dem Speiseplan der Lindwürmer, die groß genug waren, um eine dieser Echsen mit einem einzigen Bissen zu verschlingen. Mit Haut, Horn und Knochenschild, wobei der Lindwurm letzteren dann meistens irgendwann wieder hervorwürgte. Also durfte man die Reittiere nicht zu nahe an die Lindwürmer heranlassen.
Der Strand war breit und flach.
Der Unterschied zwischen Ebbe und Flut war hier an der Lindwurmküste sehr groß. Das Wasser zog sich manchmal weit zurück. Jetzt stieg das Wasser und näherte sich wieder langsam. Dutzende von walgroßen, schlangenhaften Lindwürmern lagen am Strand. Die Köpfe waren zumeist in Richtung des Meeres ausgerichtet. Sie hatten die Mäuler geöffnet und ließen sich mit jeder am Strand auslaufenden Welle Wasser in den Rachen spülen, das sie dann mit gurgelnden, grollenden Lauten herunterschluckten. Wenn ihnen dabei der eine oder andere Fisch, Krebs oder auch Seetang in den Schlund gespült wurde, hatten sie natürlich nichts dagegen. Aber vor allem kam es ihnen auf das Salzwasser an, das sie dringend brauchten. Sie tranken so viel davon, wie sie konnten. Dann machten sie sich auf den weiten Weg in die Hornechsenwüste, den trockensten Ort von ganz Athranor. Dieses Gebiet lag mitten im Ost-Orkreich. Es war ein unvorstellbarer Glutofen, in dem es vermutlich seit Jahrtausenden nicht mehr geregnet hatte. Gebirge schirmten die Hornechsenwüste von der Küste bei den Anfurten der Riesenschildkröten ebenso ab wie von den südlichen Teilen des Ost-Orkreichs und dem Blutfluss. Diese Gebirge hielten sämtliche Wolken fern.
Aber genau diese unwirtliche Hitzehölle war das Gebiet, in dem die Lindwürmer sich paarten und ihre Eier ablegten. Nirgendwo sonst war es warm genug, um ihre empfindliche Brut gedeihen zu lassen. Aber nicht nur deshalb kehrten die riesigen Geschöpfe immer wieder in die Hornechsenwüste zurück. Sie versorgten auch ihren Nachwuchs, so lange er noch zu klein und verletzlich für die Reise bis zur Lindwurmküste war, mit Salzwasser. Die Lindwürmer trugen es im Inneren ihrer riesigen, nach dem Trinken an der Meeresküste bis zum Bersten gefüllten Schlangenkörper zu ihren Nachkommen, die in der Wüste auf sie warteten.
So waren Lindwürmer ihr ganzes Leben lang auf der Wanderschaft zwischen Wüste und Küste.
Dass man diese Wüste „Hornechsenwüste“ nannte, war im Grunde ein Irrtum, denn früher hatten die Orks geglaubt, dass sie die eigentliche Heimat der Hornechsen wäre. Es gab dort zwar wilde Hornechsenherden, aber nur in den äußeren Gebieten der Wüste, in denen es noch weit verstreute Oasen und Wasserstellen gab. In das heiße Innere jedoch wagten auch sie sich kaum jemals vor.
Dort waren nur die Lindwürmer zu Hause.
Doch dorthin musste sich auch Rhomroor in Kürze begeben, denn es gab beunruhigende Nachrichten aus dem Inneren der Wüste. Unheimliche, nie zuvor gesehene Monstren waren aufgetaucht und eigenartige Erscheinungen hatten den Himmel zeitweilig verdunkelt. Orks, die mit ihren Hornechsenkarawanen am Rande der Wüste entlanggezogen waren, hatten davon berichtet – und auch einige der Skorpionreiter-Stämme, die dort an manchen Stellen nach Diamanten gruben, die sie dann auf den Märkten der Orkstadt verkauften.
Magie war dabei zweifellos im Spiel – und als Anführer aller Orks hatte sich Rhomroor wohl oder übel um dieses Problem zu kümmern. Das erwartete man von ihm. Warum auch nicht? Von einem, der Drachen besiegt hatte, konnte man ja wohl auch annehmen, dass er den seltsamen Erscheinungen in der Wüste auf die Spur kam ...
Aber um schnell genug und vor allem tief genug in die Wüste zu gelangen – dorthin, wo es selbst den Hornechsen, die ihr den Namen gegeben hatten, zu heiß wurde – war ein gezähmter Lindwurm das beste Transportmittel, das man sich denken konnte.
Besser als jede Hornechse – und nicht zu vergleichen mit den recht langsamen Riesenskorpionen.
Rhomroor ging den Strand entlang. Mehrere tausend Orks sahen ihm dabei von den Dünen aus zu. Aber sie waren vollkommen ruhig geworden. Keiner von ihnen gab auch nur einen einzigen Laut von sich, denn sie wussten sehr genau, dass dadurch die Lindwürmer in Unruhe versetzt werden konnten.
Rhomroor suchte nach einem Lindwurm, der sich schon ziemlich vollgetrunken hatte, was man leicht daran sehen konnte, wie aufgeblasen er wirkte. Die Wasserspeicher in dem gewaltigen Körper dehnten sich dann aus.
Es dauerte nicht lange, bis Rhomroor fündig wurde.
Ein besonders großer Lindwurm lag zur Hälfte am Strand, zur anderen Hälfte im Wasser. Ein blubbernder Strudel vor der Küste machte klar, wo sein untergetauchtes Maul gerade noch Wasser in sich hineinsog. So viel wie möglich schlürfte der Lindwurm in sich hinein und nutzte dazu die Kraft der Flut, um es sich möglichst weit in den Rachen hineinzutreiben.
Rhomroor näherte sich von hinten dem Geschöpf, dessen schlangenartiger Körper höher emporragte als die höchsten Türme der Orkstadt. Die Lindwürmer waren zwar groß und ungeheuer stark, aber nicht sehr klug. Sie schienen zu denken, dass ihre Artgenossen das Meer austranken und für denjenigen, der sich auch nur einen Moment lang vom Wasser abgewandt hatte, nichts mehr übrig bliebe. So hob der Lindwurm, auf den es Rhomroor abgesehen hatte, zwar den Kopf, drehte ihn kurz in seine Richtung und warf Rhomroor mit seinen schlangenhaften Augen einen kurzen Blick zu, beachtete ihn aber weiter kaum. Eine lange, gespaltene Zunge kam aus dem Maul des Lindwurms heraus und zog sich zischend wieder zurück. Rhomroor war einen Moment wie erstarrt. Wenn der Lindwurm jetzt den hinteren Teil seines Schlangenkörpers herumfahren ließ, dann hatte er verloren. Einen solchen Schlag überlebte nicht einmal ein Ork. Aber stattdessen steckte der Lindwurm wieder den Kopf ins Wasser und begann erneut Wasser in sich hineinzusaugen. So viel wie nur irgend möglich versuchte er davon aufzunehmen.
Jetzt!, dachte Rhomroor. Er rannte los und hatte wenig später den Körper des Lindwurms erreicht. Da dessen Wasserspeicher bereits bis zum Rand ihres Fassungsvermögens aufgefüllt waren, hatte sich seine Schuppenhaut gedehnt. Die Lücken zwischen den einzelnen Schuppen waren so groß, dass Rhomroor mit seinen ungeschlachten Füßen und Pranken dort bequem Halt fand.
So kletterte er am Körper des Lindwurms empor, der davon anscheinend gar nichts mitbekam.
Augenblicke später stand Rhomroor oben auf dem Tier. Er lief auf den Kopf der Kreatur zu. Einer der alten Orks hatte Rhomroor erklärt, was er zu tun hatte. Der Name des Alten war Zorrogg und er kam aus dem West-Orkreich und gehörte zum Stamm der Orkherrenhöhle – demselben Stamm, dem auch Rhomroor angehörte. Zorrogg hatte selbst nie einen Lindwurm gezähmt, aber er hatte angeblich von anderen gehört, wie das ging. Und das war ja schon mal was!, dachte Rhomroor. Allzu viele Orks hatte Rhomroor nicht fragen können, denn das hätte sich unter den Orks des Ost-Orkreichs ganz schnell herumgesprochen und wäre als Zeichen von Unsicherheit angesehen worden. Und das passte nicht zu einem, der Anführer aller Orks sein wollte.
Rhomroor erreichte schließlich den Kopf. Der Lindwurm hob ihn dabei aus dem Wasser heraus, denn inzwischen hatte er wohl trotz seiner dicken Schuppen bemerkt, dass ein Ork auf ihm herumtrampelte.
Rhomroor stockte. Er sah auf die drei herzförmigen Hornplatten, die sich genau zwischen den Augen des Lindwurms befanden. Jede dieser Platten maß etwa zwei Ork-Schritte.
Jetzt ist Fingerspitzengefühl nötig!, dachte Rhomroor. Das war eine Redensart unter Menschen, die ihm während seiner Zeit, die er am Königshof von Aladar unter diesen schwächlichen Geschöpfen verbracht hatte, gut gefallen hatte.
Und in der Ork-Sprache gab es dafür keine passende Übersetzung, die genau dasselbe zum Ausdruck gebracht hätte. Aber das hatte wohl damit zu tun, dass orkische Krallenpranken einfach etwas anderes waren als die zarten Finger eines Menschen.
Rhomroor schlug mit aller Kraft auf die mittlere der drei Hornplatten. Dieser Schlag musste sitzen. Wenn er zu schwach schlug, schüttelte der Lindwurm einfach seinen Kopf und Rhomroor flog in hohem Bogen ins Meer. Vielleicht hielt ihn einer der anderen Lindwürmer für eine Fischmahlzeit, die ihm mitsamt dem Salzwasser von der Flut ins Maul gespült wurde.
Wenn Rhomroor jedoch zu hart zuschlug, konnte es passieren, dass der Lindwurm bewusstlos wurde und seinen Kopf einfach hängen ließ. In dem Fall wäre Rhomroor ebenfalls im Wasser gelandet.
Der Lindwurm brüllte laut und voller Wut auf. Die Hornplatte verfärbte sich dunkelrot. Ein gutes Zeichen!, dachte Rhomroor. Während der Lindwurm ruckartig seinen Kopf drehte, um den Ork abzuschütteln, sprang Rhomroor erst auf die linke, dann auf die rechte Hornplatte und schlug jedes Mal mit seiner zur Faust geballten Pranke wie mit einem Hammer zu. Auch diese Hornplatten färbten sich rot. Der Lindwurm brüllte noch lauter und wütender auf. Er reckte den vorderen Teil seines Körpers hoch empor, sodass Rhomroor nun in schwindelerregende Höhen getragen wurde – höher als die höchste Mastspitze der großen Segelschiffe aus Carabor. Gleichzeitig schwenkte das Geschöpf zur Seite und Rhomroor musste sich festhalten. Der Kopf des Lindwurms schwoll etwas an. Dort wo alle Hornplatten eigentlich zusammenstießen, bildete sich eine Vertiefung – gerade so groß, dass man eine große Ork-Faust hineinstecken konnte.
Genau das tat Rhomroor. Er stieß seine Faust mit aller Kraft in die Vertiefung hinein, die bis zum Gehirn des Lindwurms reichte. Rhomroors Arm verschwand darin bis zur Schulter. Blitze sprühten hervor, tanzten seinen Arm entlang und bildeten eine Fontäne aus Licht. Rhomroor musste seine Augen abwenden, um nicht geblendet zu werden. „Gehorche mir!“, rief Rhomroor.
Der Lindwurm konnte natürlich kein Wort der Ork-Sprache verstehen. Aber wenn man ihn an dieser speziellen Stelle zwischen den Hornplatten am Kopf berührte, so vermochte er die starken Gedanken eines starken Orks wahrzunehmen.
Irgendeine Magie, die kein Ork je genauer erforscht hatte, sorgte dafür, dass der Lindwurm sie verstand.
Dieser warf noch zweimal den Kopf herum, dann wurde er ruhiger.
Die beste Methode, um einen Gedanken möglichst stark zu machen, war, ihn laut herauszuschreien. Zumindest dachte man das in den drei Orkländern. „Folge meinem Willen!", schrie Rhomroor daher mit aller Kraft. Ein starker Schrei, ein starker Gedanke. Diese Ork-Weisheit schien sich in diesem Moment zu bewahrheiten, denn das wütende Brüllen des Lindwurms verwandelte sich in ein unterwürfiges Winseln.
Der Lindwurm zog sich daraufhin völlig aus dem Wasser zurück, wirbelte förmlich herum. Sein Hinterteil schlug gegen einen anderen Lindwurm, der seinen Kopf noch zum Trinken unter Wasser hielt.
Gurgelnd und sichtlich wütend kam er jetzt hervor. Aber da Rhomroor sich den weit und breit größten Lindwurm ausgesucht hatte, wagte der angerempelte Artgenosse keinen Angriff, sondern zog sich stattdessen selbst ein Stück zurück.
Ich muss vorsichtiger sein!, durchfuhr es Rhomroor, schließlich waren es seine Gedanken, die den Lindwurm, auf dem er ritt, jetzt lenkten – fast so, als wäre der Körper des Ungetüms sein eigener.
Aber eben nur fast.
Der Lindwurm kroch über den flachen Strand auf die Dünenkette zu.
Die Orks, die dort wie gebannt zugeschaut hatten, erwachten jetzt aus ihrer Erstarrung. Sie stoben nach allen Seiten davon, denn jeder von ihnen wusste, dass ein Lindwurm, der sich einmal in Bewegung gesetzt hatte, nicht einfach so wieder anhielt. Auch wenn er auf die Gedanken eines Reiters hörte, so geschah es doch nicht mit der Genauigkeit, wie das beim Lenken einer Hornechse möglich war, ganz zu schweigen von den menschlichen Reitern und ihren Pferden.
Niemandem aus der großen Ork-Schar stand schließlich der Sinn danach, von diesem gewaltigen Ungeheuer einfach in den Boden gewalzt zu werden.
Hier und da hörte man die Rufe und Schreie der Ork-Krieger.
„Er hat es geschafft! Rhomroor hat es geschafft!“ Sicherlich sind das Rufer aus dem West-Orkreich, dachte Rhomroor, denn normalerweise gaben die Orks des Ost-Orkreichs ungern zu, wenn ein Auswärtiger bewies, dass er die schwierigste Prüfung bestehen konnte, die man sich in diesem Teil der drei Orkländer nur vorstellen konnte. Lindwurmreiten, das konnten eigentlich nur Orks, die damit von klein auf groß geworden waren – so lautete die allgemein verbreitete Meinung zu diesem Thema.
Rhomroor hatte bewiesen, dass auch ein Fremder es so gut konnte wie ein Bewohner des Ost-Orkreichs.
Während der riesige Koloss durch den Sand der Dünen kroch und sie dabei mehr oder minder einebnete, wurde er langsamer und langsamer. Schließlich blieb er sogar ganz stehen.
Rhomroor hatte ihn mit einem Gedankenbefehl dazu gebracht. Den lauten Schrei dazu hatten viele von ihnen gehört und so sahen sie gebannt zu, wie der Lindwurm tatsächlich gehorchte. Er hielt an, obwohl er gerade erst aufgebrochen war – das war wirklich eine Leistung, vor der jeder Respekt hatte.
Mehrere hundert Orks begannen nun von allen Seiten die schuppige Haut des Lindwurms zu erklimmen. Orks waren allgemein gute Kletterer und es war für sie nun wirklich nicht schwieriger, in den Zwischenräumen der Schuppen Halt zu finden, als in den kleinen Ritzen und Spalten der Felsen.
Der Lindwurm wartete geduldig ab, aber das dumpfe Knurren, das aus der Tiefe seines gewaltigen Körpers hervordrang, war ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr es ihm missfiel, dass er anhalten und darauf warten musste, dass all die Orks ihm auf den Rücken stiegen.
Brox und Worror gehörten zu denen, die als erste oben ankamen und schließlich auch den Kopf erreichten.
„Du hast es geschafft, Rhomroor!“, stieß Brox hervor. „Alle Achtung, das hätte ich dir ehrlich gesagt nicht zugetraut!“ Brox hatte das Singende Schwert und die Streitaxt mitgebracht, die Rhomroor ihm zur Aufbewahrung gegeben hatte. Weil er beim Erklettern des Lindwurms freie Pranken brauchte, steckten sie unter dem Gurt, den er wie eine Schärpe um die Brust trug. Zusammen mit seinen eigenen Waffen war er daher nun ziemlich bepackt, sodass man sich nur wundern konnte, mit welcher Leichtigkeit er trotzdem emporgeklettert war. „Ich hoffe, du trägst dein Zeug jetzt wieder selber – so wie es eines Ork-Herrn würdig ist!“, meinte er daher.
„Ein bisschen Geduld noch!“, sagte Rhomroor. „Ich muss den Lindwurm erst sicher auf den Weg gebracht haben, dann kann ich meine Pranke aus dieser Öffnung herausnehmen!“
„Du bist ein würdiger Anführer“, fand auch Worror, trommelte sich dabei mit den Fäusten auf die Brust und stieß einen Schrei aus, in den zwanzig oder dreißig andere Orks mit einfielen.
Rhomroor konnte all diese Verehrung natürlich so gut wie überhaupt nicht genießen. Sein Arm steckte immer noch bis zur Schulter in der Öffnung zwischen den drei herzförmigen Hornplatten und nun durchlief ihn ein kribbelndes Gefühl, das unangenehm schmerzte. Jetzt, so dachte er, will der Gigant den Spieß umdrehen und mich mit seinen Gedanken beeinflussen, anstatt umgekehrt, wie es sich gehört.
Wie zur Bestätigung wurde das dumpfe Knurren des gewaltigen Geschöpfs etwas lauter. Ein zischender Laut mischte sich dazu, der Rhomroor überhaupt nicht gefiel.
Vor Rhomroors Augen drehte sich alles. Und im nächsten Moment ritt Rhomroor nicht mehr auf einem viele Meter hohen Lindwurm, sondern auf einem Pferd. Er sah auf die Hände, die die Zügel hielten und sich dabei am Sattelknauf festhielten und dachte: Nein, nicht auch das noch! Nicht ausgerechnet jetzt!
Es waren Menschenhände. Rhomroor stieß einen Schrei aus, der sich eigenartig schwächlich anhörte und es zur Gewissheit machte: Er steckte wieder im Körper eines Menschen.
3
Rhomroors Schrei erschreckte das Pferd, auf dem er saß, dermaßen, dass es sich augenblicklich auf die Hinterbeine stellte und laut wieherte.
„Ho!“, rief eine tiefe Stimme, die Rhomroor bekannt vorkam und gleich darauf ein paar Worte in der Elbensprache murmelte. Worte, die sicherlich zu einer magischen Formel gehörten.
Das Pferd beruhigte sich wieder.
Rhomroor jedoch nicht. Das schwache Menschenherz in seiner Brust schlug ihm bis zum Hals. Er dachte daran, dass er jetzt eigentlich ganz woanders gebraucht wurde. Gerade hatte er den Lindwurm einigermaßen unter Kontrolle gebracht und nun das!
Um ein Haar wäre er noch aus dem Sattel gerutscht. Er konnte sich gerade noch halten. Es war ja nun wirklich nicht das erste Mal, dass er in den Körper von Prinz Candric, dem Thronfolger des Königreichs Beiderland, versetzt worden war, während die Seele des jungen Prinzen zeitgleich in seinem Ork-Körper steckte. Bislang hatten Rhomroor und Candric das Beste aus dem Fluch gemacht, der sie dazu verurteilte, dass immer zu Vollmond ihre Seelen in den Körper des anderen versetzt wurden. Manchmal nur für wenige Augenblicke, aber in anderen Fällen auch für Tage oder noch länger. Es war unberechenbar. Dieses Mal lag der Vollmond bereits drei Tage zurück und Rhomroor hatte schon geglaubt, dass vielleicht einmal ein Monat ohne Seelentausch verginge. Aber da hatte er sich getäuscht. Genau in dem Moment, als er schon nicht mehr damit gerechnet hatte, dass es noch geschehen würde, war es doch noch passiert.
Rhomroor zügelte sein Pferd, sah sich um und erblickte einige bekannte Gesichter. Da war Lirandil, der Fährtensucher von Elbenkönig Péandir, der wohl mit einer magischen Formel dazu beigetragen hatte, dass sein Pferd den Schrecken einigermaßen überstanden hatte, den Rhomroors Schrei ausgelöst hatte. Zu seiner Linken ritt Kara, Candrics vertraute Freundin, die ihn jetzt mit einem Stirnrunzeln ansah. Ihnen folgte eine Schar von zwölf schwer bewaffneten Reitern, die König Hadran ihnen mitgegeben hatte, damit sie den Thronfolger begleiteten und beschützten.
„Bist du zurzeit noch Candric? Oder schon wieder Rhomroor?“, fragte Kara.
„Rhomroor“, seufzte er.
„Drei Tage nach Vollmond – eigentlich dachten wir ...“
„Ich auch“, murmelte Rhomroor und hob die vergleichsweise schmalen Menschenschultern von Prinz Candric. Die Kleidung eines Menschenprinzen war sehr empfindlich. Und selbst das lederverstärkte Wams, das er im Moment trug, zerriss allzu leicht, wenn man sich mal richtig darin bewegte und bei dem schrecklich schmalen Schwert, das der Prinz am Gürtel trug und das Rhomroors Meinung nach sowieso nicht zum Kämpfen geeignet war, musste man darauf Acht geben, dass es nicht aus Versehen zerbrach.
„Wie ist das möglich?“, fragte Kara.
„Ich habe keine Ahnung“, sagte Rhomroor. „Und mich fragst du da am besten sowieso nicht, denn ich lese keine Bücher wie Candric und du – und ich habe auch ehrlich gesagt nicht die leiseste Ahnung von Magie wie unser Freund Lirandil!“
„Wir sind unterwegs zu Asanils Turm“, erklärte Kara. Als Candric und Rhomroor das erste Mal die Seelen getauscht hatten, weil Moraxx, der damalige Herr der drei Orkländer, mithilfe gestohlener Elbenmagie unbedingt eine Ork-Seele in den Körper des Thronfolgers versetzen wollte, um auf diese Weise und vor allem völlig unbemerkt die Herrschaft über das wichtigste Menschenreich zu erringen, war es Kara gewesen, die als erste begriffen hatte, dass mit Prinz Candric etwas nicht stimmte. Sie kannte Candric am besten und man konnte ihr in dieser Hinsicht einfach nichts vormachen.
„Ich weiß“, sagte Rhomroor. „Candric und ich sind schließlich zwischenzeitlich immer wieder geistig miteinander verbunden gewesen, auch wenn jeder von uns in seinem richtigen Körper steckte.“
„Dann weißt du ja sicher auch, was wir dort wollen!“
„Im Augenblick muss ich mich auf etwas anderes konzentrieren!“, sagte Rhomroor und stieß dabei ein orkisches Knurren aus, das sehr seltsam klang, wenn es aus dem Mund von Prinz Candric kam. Das glatte Gesicht des Prinzen verzog sich dabei auf eine Weise, die Kara sehr befremdlich vorkam.
Rhomroor sprang einfach aus dem Sattel und ließ das Pferd weitertraben. Es war genauso irritiert wie Lirandil und Kara. Aber im Moment hatte Rhomroor wirklich andere Sorgen, als sich mit guten Bekannten zu unterhalten.
„Candric, um aller Ork-Vorväter willen, lass die Hand am Hirn des Lindwurms!“, rief er laut und stampfte dabei mit dem Fuß auf. Dann schloss er die Augen, um sich vollkommen zu konzentrieren, denn sein Freund Candric brauchte in diesem Moment so dringend seine Hilfe wie vielleicht niemals zuvor. Und dabei konnte Rhomroors Seele nicht die geringste Ablenkung gebrauchen. Deswegen war es auch unmöglich, gleichzeitig noch ein Pferd zu lenken. Mach jetzt bloß keinen Hornechsenmist!, dachte er und hoffte, dass Candric seine Gedanken auch verstand.
4
Prinz Candric glaubte, der Arm würde ihm verbrennen – so stark und schmerzhaft kribbelten die Blitze, die bis in seine Schulter fuhren. Er schrie auf und erschrak über seinen eigenen Schrei, dem nichts Menschliches anhaftete. Es war der dröhnende Schrei eines Orks, in den sofort mindestens hundert weitere Orks einfielen.
Prinz Candric hatte ja schon oft genug und auch über längere Zeit in Rhomroors Körper gesteckt, sodass er die Sitten und Gebräuche dieses Volkes recht gut kennengelernt hatte. Daher wusste er natürlich, dass unter den Orks galt, dass niemand für sich allen schreien sollte. Da außerdem noch der Lindwurm zu brüllen begann, herrschte ein unbeschreiblicher Krach, der selbst für orkische Verhältnisse außergewöhnlich war.
Candrics erster Gedanke war es, den Arm aus der Vertiefung zwischen den herzförmigen Panzerplatten herauszuziehen.
„Die Hand ans Lindwurmhirn und mit deinen Gedanken zwingen, dass er dir folgt!“, drang derweil Rhomroors Gedanke in seinen Geist. „Sonst hat das schlimme Folgen!“
Candric kannte die Folgen. Sie hatten sich noch vor kurzem gedanklich ausgetauscht, als zu Vollmond der Seelentausch überraschenderweise ausgeblieben war. Und so wusste Candric, welche Bedeutung das Reiten eines Lindwurms für Rhomroor und seine Position als oberster Ork-Herr hatte.
Daher vertraute er dem gedanklichen Rat seines Ork-Freundes.
Er ließ den Arm in der Vertiefung, versuchte dabei nicht auf die Blitze zu achten, die ihm entgegenschlugen, und gleichzeitig einen Gedanken zu formen, der den Lindwurm unter seine Herrschaft zwang.
Schrei es laut heraus!, sandte ihm Rhomroor seine Gedanken. Das hilft!
Candric ließ daraufhin Rhomroors mächtige Ork-Stimme so laut losschreien, wie er nur konnte.
Der Lindwurm versuchte mit dem Schwanzende seines Körpers um sich zu schlagen und die Orks zu treffen, die sich inzwischen zu Hunderten an seinem Rücken festkrallten. Wie mit einem gewaltigen Peitschenschlag sauste das immer dünner werdende Schwanzende des Lindwurms nieder.
Diesmal schrien die Orks nicht aus Verbundenheit mit ihrem Anführer, sondern aus purer Angst.
Einen Schlag mit einem Lindwurmschwanz konnte auch der widerstandsfähigste Ork-Körper nicht überleben. Und so sprangen die ersten von ihnen einfach von dem Rücken des riesenhaften Geschöpfs hinab.
Im letzten Moment konnten Candrics Gedanken den Schlag jedoch abbremsen. Dicht neben ihm berührte die Schwanzspitze bereits eine der herzförmigen Knochenplatten und strich an ihr entlang. Doch dann sorgte der Prinz dafür, dass der Lindwurmschwanz wieder zurückgeworfen wurde. Krachend peitschte er auf den Boden und verwandelte eine Düne in eine Staubwolke. Der Lindwurm knurrte jetzt so tief, dass der Boden vibrierte und diejenigen unter den Orks, die bei ihren Hornechsen geblieben waren, Mühe hatten, eine Panik unter ihren Reittieren zu vermeiden. Die Hornechsen scharrten mit ihren Vorderfüßen in der Erde und schnaubten. Es war ihnen deutlich anzumerken, dass sie am liebsten einfach Reißaus genommen hätten. Hier und da musste einer der Orks sein Tier bei den Hörnern nehmen und zu Boden reißen, um genau das zu verhindern. Hornechsen waren nämlich genau wie Pferde im Grunde ihres Herzens schreckhafte Herdentiere, die bei einer Gefahr zuerst an Flucht dachten. Daran änderten auch die furchteinflößenden Hörner und der Knochenschild an ihrem Kopf nichts.
Candric spürte, dass der Schmerz in seinem Ork-Arm nachließ. Weniger Blitze sprühten jetzt aus der Öffnung heraus. Blitze, die offenbar geradewegs aus dem Gehirn des Lindwurms kamen. „Lass dich von dem Biest nicht unterkriegen!“, empfing Candric dabei Rhomroors Gedanken.
„Leichter gedacht als getan!“, gab der Prinz zurück.
„Konzentrier dich, du ... Mensch!“, wies ihn Rhomroors Geist zurecht. „Deine Gedanken dürfen jetzt nur auf eins gerichtet sein! Du musst den Lindwurm beherrschen! Sein Körper muss dir gehorchen wie dein eigener!“
„Tja, wenn es denn mal mein eigener Körper wäre, dann ...“
„Candric! Tu einfach, was ich sage!“
Prinz Candric gab es ungern zu, aber Rhomroor hatte in diesem Moment natürlich recht. Fragen stellen und Zweifel äußern konnte er immer noch. Jetzt ging es nur darum, den Lindwurm zu beherrschen. Denn wenn er das nicht schaffte, das spürte Candric genau, dann drehte dieses mächtige Geschöpf den Spieß einfach um. Lindwürmer mochten nicht besonders schlau sein und Candric hatte in seiner Zeit bei den Orks auch hin und wieder gehört, wie man sich Witze über ihre Dummheit erzählte. Aber jetzt begriff er, dass dies wohl in erster Linie deshalb geschah, weil man diese Kreaturen in Wahrheit fürchtete, es aber nicht zugeben mochte. So dumm ein Lindwurm auch war, so stark war er auf der anderen Seite. Und das galt nicht nur für die riesenhaften Körper dieser Kolosse, sondern genauso für die Gedanken, die aus ihren Hirnen herausblitzten. Entweder ich beeinflusse ihn oder er mich!, erkannte Candric. Einen Mittelweg gab es nicht.
„Endlich hast du es kapiert!“, nahm er Rhomroors Gedanken wahr. „Es ist ein Duell des Geistes – auch wenn eine Menschenseele wie du uns Orks so etwas vielleicht nicht zutraut!“
So versuchte Candric alle gedankliche Kraft, die in ihm war, zusammenzureißen und zu bündeln. Sein Wille musste stärker sein als der des Lindwurms, sonst hatte er verloren.
Das große Geschöpf furchte den weichen Untergrund und wirbelte dabei eine Fontäne aus Sand und Dreck vor sich her. Für eine Weile umgab den Lindwurm eine so dichte Staubwolke, dass keiner der Orks, die sich an seinem Rücken festklammerten, auch nur zwanzig Schritt weit sehen konnte. Von der ganzen Ork-Streitmacht mit ihren Hornechsen war nichts mehr zu sehen. Alles wurde von der Staubwolke verdeckt.
Doch dann wurde der Lindwurm langsamer und Candric spürte, wie sich das Wesen seinem Willen unterordnete. Bis sich die Staubwolke gelegt hatte, war seine Geschwindigkeit so weit abgebremst, dass diejenigen unter den Orks, die dem Peitschenschlag mit dem Schwanzende ausgewichen waren oder es einfach noch nicht geschafft hatten, auf den Lindwurmrücken zu steigen, ihm nun problemlos folgen und an seinem Rücken emporklimmen konnten. Einige trieben ihre Hornechsen zu einem Spurt an und sprangen dann vom Rücken ihres Reittieres ab, krallten sich in den Zwischenräumen der Lindwurmschuppen fest und kletterten dann weiter hinauf.
„Lass ihn nicht noch einmal vollkommen zum Stillstand kommen!“, warnten Rhomroors Gedanken. „Er muss schließlich auf seinen Weg kommen ...“
„Was für einen Weg?“, fragte Candric.
„Wir müssen in das Innerste der Inneren Hornechsenwüste. Ich habe dir doch von den Gerüchten erzählt, die es über dieses Gebiet gibt ... Gerüchte von Monstern, die es dort zuvor nie gegeben hat und Himmelserscheinungen, die vermutlich nur durch Magie hervorgerufen werden können!“
„Moraxx!“, entfuhr es Candric und dieser Gedanke war so gegenwärtig, dass er ihn laut ausgesprochen hatte. Und laut hieß in diesem Fall, da er Rhomroors Ork-Stimme benutzt hatte: wirklich laut.
„Eine große und noble Geste, dass du in diesem Moment an deinen verschwundenen Vorgänger als Herr der drei Orkländer denkst!“, meinte daraufhin Worror, der das natürlich gehört hatte. „Du scheinst tatsächlich das Zeug zu einem guten Anführer zu haben! Falls du jetzt auch noch die letzte Prüfung bestehst!“
5
Die letzte und größte Prüfung bestand darin, den Arm aus der Vertiefung zwischen den herzförmigen Hornplatten zu nehmen. Der Lindwurm musste dann die Orks auf seinem Rücken dulden, ohne dass einer von ihnen dauernd die Pranke an seinem Gehirn hatte und ihn mit seinen Gedanken beeinflusste. Denn für die nächsten tausend Meilen kannte der Lindwurm den Weg viel besser als jeder Ork, der auf ihm ritt. Erst wenn sie ihr Ziel, das innerste Innere der Hornechsenwüste, erreicht hatten, würde der Anführer der Orks dann den Lindwurm wieder auf direkte Weise lenken müssen.
Vorausgesetzt natürlich, dass er den Willen des Ork-Anführers wirklich akzeptiert hatte und in Wahrheit nicht nur auf eine Gelegenheit wartete, all die ungebetenen Reiter auf seinem mächtigen Rücken einfach abzuschütteln oder mit seinem Schwanzende zu vertreiben.
„Es ist noch zu früh. Lass deine Pranke noch dort, wo sie ist!“, riet Rhomroor.
Und es gab natürlich für Candric keinen Grund, etwas anderes zu tun. Währenddessen stiegen noch weitere Orks auf den Rücken des Lindwurms. Insgesamt waren es etwa tausend Krieger. Die anderen blieben bei den Hornechsen und würden an der Lindwurmküste darauf warten, dass ihr Anführer und sein Gefolge von ihrer Reise ins Innerste der inneren Hornechsenwüste zurückkehrten.
„Ich glaube auch, dass es Moraxx ist, der da in der Hornechsenwüste sein Unwesen treibt!“, sandte Rhomroor einen Gedanken. „Schließlich dürfte er der einzige in allen drei Orkländern sein, der über die nötigen magischen Fähigkeiten verfügt, um solche Monstren herbeizurufen oder die Himmelserscheinungen zu erzeugen, von denen mir berichtet worden ist. Und was immer er auch für einen finsteren Plan schmieden mag, der Anführer aller Orks muss etwas dagegen unternehmen. Ganz egal, wer von uns beiden nun auch in seiner Haut stecken mag!“
Es dauerte noch eine Weile, bis Candric von seinem Ork-Freund das Signal bekam, dass er die Pranke nun aus der Vertiefung ziehen konnte. Kein einziger Blitz zischte aus der Öffnung. Der Lindwurm setzte seinen Weg ruhig fort, beschleunigte dabei etwas, ohne jedoch irgendwie zu versuchen, die Reiter auf seinem Rücken abzuwerfen.
Brox gab ihm nun endlich seine Waffen.
„Du hast es allen gezeigt!“, meinte er. Dabei stieß er ein rülpsendes Gelächter aus, in das auch Worror und die anderen Orks mit einstimmten.
6
Rhomroor atmete tief durch. Er hatte sich dazu die obersten Knöpfe seines Wamses geöffnet, was ganz und gar unprinzlich aussah. Am liebsten wäre Rhomroor nun erst einmal zur Erholung in eine Schlammgrube gesprungen. Es duftete nach Sumpf. Selbst mit der Menschennase, mit der er zurzeit zufrieden sein musste, konnte er das riechen. Lirandil hatte davon gesprochen, dass sie zum Turm des Asanil unterwegs waren – und der lag an der Küste des zum Königreich Beiderland gehörenden Sumpflandes zwischen dem Ostufer des langen Fjordes und dem Grenzgebirge zu den Ländern der Orks. Also gab es bestimmt in der Nähe ein gemütliches Schlammloch, in dem man sich richtig suhlen konnte. Aber Rhomroor war lange genug bei den Menschen gewesen, um zu wissen, was sich für einen Thronfolger des Königreichs Beiderland gehörte.
Und so riss er sich zusammen. Er dachte einen Moment lang darüber nach, dass zumindest Kara und Lirandil vielleicht Verständnis für seine Lage hatten.
„Wir sind auf dem Weg zu Asanils Turm, weil ich überzeugt bin, dass nur die Magie der Elben dem Fluch ein Ende bereiten kann, der über dir und Candric liegt“, sagte Lirandil. „Und Asanil ist nun mal der wahrscheinlich fähigste aller Elbenmagier, auch wenn er sich mit König Péandir zerstritten hat und viele in unserem Volk der Ansicht sind, seine Magie sei unnütz.“
„Ich weiß, warum ihr zu Asanils Turm unterwegs seid“, sagte Rhomroor.
„Es wird Zeit, dass euer Fluch endlich ein für alle Mal beendet wird und ihr nicht mehr davon überrascht werdet, euch plötzlich im falschen Körper wiederzufinden“, fügte Kara hinzu. Lirandil rief unterdessen mit einem kaum hörbaren Pfiff das Pferd herbei, auf dem der Prinz bis dahin geritten war.
Das Pferd gehorchte sofort. Rhomroor schwang sich wieder in den Sattel. „Um Candric braucht sich jedenfalls niemand von euch Sorgen zu machen“, erklärte Rhomroor. „Zumindest nicht im Moment.
„Was heißt, nicht im Moment?“, wollte Kara wissen, während die drei ihren Weg fortsetzten.
Rhomroor berichtete in knappen Worten von der Aufgabe, die vor dem Anführer der Orks lag. „Moraxx der Fünfzahnige ist spurlos verschwunden. Es scheint ihm nicht zu passen, dass nun ein Anderer Herr der Orks ist. Und davon abgesehen, ist nicht nur er selbst auf rätselhafte Weise verschwunden, sondern auch alles, was er an magischen Schriften in der Orkherrenhöhle gesammelt hatte.“
„Schriften, die er den Elben geraubt hat!“, fügte Lirandil erzürnt hinzu.
Rhomroor nickte heftig und merkte schon im nächsten Moment, dass es für menschliche Verhältnisse zu heftig gewesen war, denn sein Nacken tat ihm weh. Er war einfach nicht mehr daran gewöhnt, im zarten Körper des Prinzen zu leben.
„Immer schön vorsichtig!“, warnte Kara, die sofort begriffen hatte, was los war, als Candric sich den Nacken rieb. „Es ist ein Menschenkörper, in dem du dich befindest – und der ist empfindlich, verträgt keine Stürze und Verrenkungen und ...“
„Ja, ja ich weiß!“, unterbrach Rhomroor sie.
„... und er ist schnell tot, wenn man zu grob mit ihm umgeht!“, ließ sich Kara nicht davon abhalten, ihren Satz zu beenden.
„Ich werde schon vorsichtig sein und darauf achten, dass dem empfindlichen Prinzenkörper nichts geschieht“, gab Rhomroor etwas beleidigt zurück. „Schließlich bin ich ja nicht zum ersten Mal ein Mensch und habe schon einige Erfahrung damit.“
„Aber eine gute Erfahrung möchte ich das nicht unbedingt nennen!“, erwiderte Kara.
„Habe ich es mir vielleicht ausgesucht, jetzt auf einem Pferd anstatt auf einem Lindwurm zu sitzen und so was hier tragen zu müssen“ – dabei umfasste er den Griff seines Schwertes – „was man unter Orks noch nicht einmal als Zahnstocher benutzen würde!“
„Nun lasst es gut sein“, mischte sich Lirandil ein. „Um euer Elend zu beenden, sind wir ja schließlich auf dem Weg zu Asanil. Möglicherweise finden wir ja eine Lösung.“
„Ich hätte nichts dagegen“, bekannte Rhomroor. „Obwohl ...“
„Obwohl was?“, hakte Kara nach.
„Nun, ich glaube fast, dass ich es vermissen würde, wenn Candric und ich nicht mehr in Gedanken verbunden wären ... Auf alles andere könnte ich allerdings getrost verzichten!“
„Du hast vorhin von Moraxx gesprochen“, lenkte Lirandil das Gespräch nun wieder auf ein anderes Thema. „Was glaubst du, was er vorhat?“
„Moraxx geht es immer nur um eins“, sagte Rhomroor, „um die Macht. Er hat es nicht verwunden, dass er nicht mehr Herr der Orkländer ist. Insgeheim träumt er vermutlich immer noch davon, der Herrscher von ganz Athranor zu sein! Nur aus diesem Grund hat er doch schließlich mit seinem Zauber dafür gesorgt, dass mein Körper in den Körper des Thronfolgers gelangte ...“
„... womit die ganze Misere begann!“, vollendete Kara.
„Ja, das stimmt“, nickte Rhomroor – diesmal vorsichtig genug, um sich dabei nicht seinen prinzlichen Menschenhals zu verrenken. „Obwohl ich zugeben muss, dass ich anfangs von Moraxx' Plan ziemlich begeistert war. Allerdings hat sich das sehr schnell gelegt.“
„Auf jeden Fall wirst du auf Moraxx achten müssen, wenn du weiterhin Herr der Orks bleiben willst!“, gab Lirandil zu bedenken.
Rhomroor sah den Elbenkrieger an und konnte gerade noch ein lautes Protestrülpsen unterdrücken. „Bleiben will?“, echote er. „Ich wollte niemals Herr der Orks werden. Das war alles mehr oder weniger ein Missverständnis! Purer Zufall! Wenn ich nicht durch den Zauber am Weltentor die Drachen fortgelockt hätte, würde niemand glauben, dass ich ein mächtiger Drachenbezwinger bin, und es hätte mich niemand zum Herrn der Orks gemacht!“
„Mag sein“, meinte Lirandil hintergründig lächelnd.
„Ich bin weder mächtig noch stark und eigentlich auch viel zu jung für diese Aufgabe! Jeden Tag denke ich, dass meine Ork-Brüder eigentlich merken müssten, dass sie von jemandem angeführt werden, der dazu überhaupt nicht geeignet ist! Aber aus einem unerfindlichen Grund ist das bis jetzt nicht passiert! Im Gegenteil! Jetzt habe ich sogar einen Lindwurm bezwungen und das bedeutet, dass nun erst recht niemand wagen wird, mich zu verdrängen.“
„Vielleicht bist du besser als Anführer der Orkländer geeignet, als du selbst für möglich hältst!“, meinte Lirandil.
„Es braucht nur jemand wie Worror aus dem Ost-Orkreich mich zum Kampf herausfordern. Der wirft mich doch mit der linken Pranke in die Schlammgrube, wenn er will – und wenn er den Mut dazu fassen würde! Aber diesen Mut hat er nur deshalb nicht, weil er die Geschichten über das gehört hat, was am Tempel der Steinriesen geschehen ist, wo ich den Orks als mächtiger Magier und Drachenkämpfer erschienen bin, obwohl nichts davon wahr ist und genau genommen Candric gerade in meinem Körper steckte.“
„Rhomroor, ein so schlechter Anführer kannst du nicht sein, denn sonst wärst du längst abgesetzt worden!“, widersprache ihm Lirandil. „Und davon abgesehen ist doch der wahre Grund dafür, dass niemand den Mut fasst, gegen dich anzutreten, der, dass jeder, der dich zu verdrängen versucht, weiß, dass sehr viele Orks von dir und deinen Fähigkeiten überzeugt sind!“
Rhomroor seufzte.
Zumindest klang es wie ein Seufzen, wenn es aus Candrics Mund kam. Wenn Rhomroor in einem Ork-Körper gewesen wäre, hätte es sich vermutlich eher wie ein dumpfes Dröhnen angehört. „Ihr habt gut reden, Lirandil!“
„Weshalb?“
„Na, weil von Euch keine Horde von Orks alle möglichen Wunderdinge erwartet!“
„Auf jeden Fall glaube ich, dass du ein besserer Ork-Herr bist, als es Moraxx je sein könnte.“
„Ganz ehrlich, Lirandil: Manchmal wünschte ich mir die alten Zeiten herbei, als ich nur ein junger Ork war, dessen einzige Sorge es war, bei den Übungskämpfen möglichst viele andere Orks in die Schlammgrube unseres Stammes zu werfen!“
„Niemand kann die Zeit zurückdrehen, Rhomroor.“
„Das weiß ich!“
„Und in den Augen deiner Ork-Brüder bist du jetzt nun mal ein großer Held – und nicht mehr einfach nur irgendein Ork, der nichts anderes im Kopf zu haben braucht als sein Schlammbad und eine leckere Mahlzeit aus gegrillten Riesenschrecken!“
„Tja, so wird es wohl sein, Lirandil. Aber wenigstens wünschen kann ich es mir doch, dass man die Zeit zurückdrehen könnte, oder?“
7
Sie ritten auf einem Weg, der von der Sinkenden Stadt aus nach Süden und den Großteil der Strecke parallel an der Küste des Langen Fjords entlang verlief.
Es war später Nachmittag, als sie in der Ferne den Turm des Magiers Asanil auftauchen sahen. Dieser Turm lag am Ausgang des Fjords, direkt am Wasser.
Das Himmelsschiff des Magiers lag nicht an der in der Nähe des Turms befindlichen Anlegestelle, sondern schwebte bereits in der Luft. Der Zauber der Gewichtslosigkeit, der es in die Höhe steigen ließ, war offenbar bereits in Kraft gesetzt worden. Blitze zuckten über das starre, vollkommen unbewegliche Segel und der Affe Hugonil, dem der Magier bisher vergeblich versucht hatte, das Sprechen beizubringen, schwang sich in den Seilen der Takelage herum. Was genau er dort zu tun hatte, würde wahrscheinlich das Geheimnis von Asanil bleiben. Jedenfalls verknotete der Affe mal hier ein Seil und verband anderswo zwei lose Enden miteinander. Er war dabei so beschäftigt, dass er die Ankömmlinge zunächst gar nicht zu bemerken schien.
„Die gute Nachricht ist, dass Asanil offenbar zu Hause und nicht auf großer Fahrt ist“, stellte Lirandil fest.
„Und was ist Eurer Meinung nach die schlechte?“, fragte Kara.
„Dass er sich gerade darauf vorbereitet, eine Fahrt zu unternehmen und wir ihm vermutlich ungelegen kommen“, entgegnete Lirandil.
„Wie kommt Ihr zu diesem Schluss?“, wollte Kara wissen. „Meint Ihr, weil das Himmelsschiff bereits schwebt und nicht im Wasser liegt?“
„Du hast es erfasst, Kara. Ich hoffe nur nicht ...“
Lirandil sprach nicht weiter und gerade das erregte Karas Neugier.
„Nun, vielleicht ist meine Befürchtung ja auch völlig unbegründet.“
„Was für eine Befürchtung?“
„Du fragst ja hartnäckiger nach als die Richter am höchsten Gericht der Elbenheit in der Blauen Stadt!“, entfuhr es Lirandil, der sichtlich verwundert darüber war, dass sich das Mädchen einfach nicht davon abbringen ließ, ihre Frage genau beantwortet zu bekommen.
„Ihr vergesst, dass mein Vater ein Hofbeamter in Aladar ist – und er hat mich gelehrt, wie sehr es auf Genauigkeit ankommen kann!“
„Das will ich nicht bestreiten“, lächelte Lirandil.
„Aber Ihr wollt ablenken! Und nur weil ich ein kurzlebiges Menschenmädchen bin und Ihr ein Elb, der sich jahrtausendelang mit der Beantwortung einer Frage Zeit lassen kann, bis alle gestorben sind, die sich noch daran erinnern, worum es ging, heißt das noch lange nicht, dass ich lockerlassen werde! Was befürchtet Ihr?“
„Das würde mich ehrlich gesagt auch interessieren“, bekannte Rhomroor.
„Also gut, dann will ich euch beiden antworten. Asanil erwähnte mir gegenüber vor einiger Zeit, dass er irgendwann in nächster Zukunft eine Reise plant, die tausend Jahre dauern und ihn bis in die fernsten Länder führen soll. Da in seinem Turm viele magischen Schriften lagern, will er diesen dann versiegeln und mit einem Zauberbann versehen, sodass niemand in ihn hineinzugelangen vermag, um die Bücher zu stehlen, die dort zu finden sind.“
„Aber in nächster Zeit bedeutet doch nicht unbedingt, dass er das jetzt vorhat“, warf Kara ein. „Bei Euch Elben kann eine solche Zeitangabe doch auch ‚in hundert Jahren‘ bedeuten. Oder ‚in fünfhundert‘.“
„Durchaus“, gab Lirandil zu. „Aber dann bräuchte Asanil nicht schon jetzt seinen Affen Reisevorbereitungen treffen zu lassen. Und genau das tut er, wenn ihr mal genau hinseht!“
„Also mir fällt ehrlich gesagt nur dieser ziemlich hektisch wirkende Affe auf, der ja auch bisher Asanils ständiger Begleiter war“, meinte Kara.
„Asanil hat mich nie in die letzten Geheimnisse seiner Magie eingeweiht“, gestand Lirandil, „und wahrscheinlich würde er das auch nicht einmal dann tun, wenn wir uns schon ein Jahrtausend lang kennten. Aber ich verstehe doch genug von der Elbenmagie, um zu ahnen, wozu all die Seilverbindungen dienen, die er durch seinen Affen knüpfen lässt.“
„So?“, fragte Rhomroor. „Also für mich sprecht Ihr in Rätseln, Lirandil!“
„All das hängt damit zusammen, dass er mit Hilfe des blitzenden Segels magische Kräfte sammelt, die für den Zauber der Gewichtslosigkeit gebraucht werden ... Die Art und Weise, in der die Seile miteinander verknüpft werden, hängen damit irgendwie zusammen. Und so, wie es mir aus der Ferne scheint, sammelt er Kräfte für eine sehr, sehr lange Reise ...“
„Dann wollen wir hoffen, dass Ihr Euch irrt, Lirandil“, meinte Kara. Einer der berittenen Soldaten des Königs setzte sein Horn an die Lippen und kündigte die Ankunft des gesamten Trupps auf dieser Reise bereits an.
„Das dürfte überflüssig gewesen sein, denn schließlich ist Asanil ein Elb“, meinte Lirandil an den Hauptmann gewandt, der noch sehr jung war. Er war ein Sohn von Graf Berno vom Drachenstein und hieß ebenfalls Berno, weswegen man ihn auch Berno den Jüngeren nannte. Sein Vater hatte ihn in die Hauptstadt Aladar zur Ausbildung gegeben und nun hatten es König Hadran und Königin Taleena für angebracht gehalten, ihn zum Hauptmann der Garde zu machen, die Prinz Candric zu Asanils Turm bringen sollte. Lirandil hatte zwar angemerkt, dass er allein die Sicherheit des Prinzen viel besser gewährleisten könne, weil sie dann nicht so auffallen würden, aber Candrics Eltern waren in diesem Punkt anderer Meinung gewesen. Es hing einfach zuviel davon ab, dass Candric eines Tages den Thron bestieg. Durch die Heirat seiner Eltern war das Königreich Beiderland überhaupt erst entstanden. König Hadran von Westanien und Königin Taleena von Sydien hatten damit die beiden wichtigsten Menschenreiche vereinigt – aber erst ihr Sohn Candric würde der erste wahrhaft gemeinsame König des Beiderlandes sein. Und das war auch der Grund dafür gewesen, weshalb der ehemalige Ork-Herrscher Moraxx sich Prinz Candric als Ziel seines magischen Anschlags ausgesucht und seine Seele mit der eines Orks vertauscht hatte. Ein Anschlag, dessen Folgen leider bis auf den heutigen Tag nicht endgültig rückgängig zu machen waren.
Doch genau in diesem Punkt musste nun eine Lösung her. Das zumindest war Candrics Wille gewesen, denn es ging einfach nicht an, dass der junge Thronfolger immer wieder abrupt aus seinem Körper herausgerissen und seine Seele durch einen wilden Ork ersetzt wurde.
Dabei spielte es auch keine Rolle, dass Candric und Rhomroor inzwischen längst gut befreundet waren und viel voneinander gelernt hatten.
8
Sie erreichten schließlich den Turm. Hauptmann Berno ließ den Reitertrupp stoppen.
„Kümmert euch um unsere Pferde“, wandte sich Lirandil an ihn.
„Sehr wohl, werter Lirandil“, sagte Berno.
„Der sieht aus wie eine jüngere Ausgabe seines Vaters“, flüsterte Kara an Rhomroor gewandt. Auf ihrer Reise zur Drachenküste von Westanien waren sie Graf Berno begegnet. „Warst du damals eigentlich Rhomroor oder Candric?“, fügte das Mädchen noch hinzu.
„Na, wenn selbst du dich daran nicht mehr erinnern kannst, dann heißt das, ich gebe inzwischen einen so überzeugenden Menschenprinzen ab, dass man meine Ork-Seele schon gar nicht mehr bemerkt!“ Wie selbstverständlich unterstrich Rhomroor die Bedeutung seiner Worte mit einem kräftigen Rülpsen, woraufhin er die Hand vor den Mund legte und Hauptmann Berno die Stirn runzelte.
Rhomroor vergaß immer wieder, wie sehr es unter Menschen üblich war, seine Gefühle und Gedanken zurückzuhalten. Nur ganz schwache, zurückhaltende Äußerungen waren erlaubt. Man rülpste und brüllte nicht einfach, man hüstelte allenfalls. Wenn er unter Menschen war, konnte er sich manchmal nur darüber wundern, wie es überhaupt möglich war, dass sie bei ihren Unterhaltungen verstanden, was der jeweils andere wirklich meinte. Aber andererseits kam es unter diesem empfindlichen Volk ja auch zu genügend Missverständnissen, die Rhomroors Ansicht nach nur daher kamen, dass man sich so zurückhielt.
Lirandil wies inzwischen auf einen Stein hin, der sich nur ein paar Schritt von der Mauer des Turms entfernt im feuchten Gras befand. Dieser Stein war mit magischen Zeichen bemalt. Wenn man genau hinsah, konnte man feststellen, dass diese Zeichen aufleuchteten, sobald sich der Blick darauf richtete. „Das bestätigt meine Befürchtungen“, murmelte der Fährtensucher des Elbenkönigs.
„Wieso?“, fragte Kara.
„Weil das ein Bannstein ist. Er dient dazu, sein Eigentum für die Zeit der Abwesenheit zu sichern. Noch ist der Bann nicht in Kraft gesetzt, aber allein die Tatsache, dass dieser Stein offenbar frisch dort platziert wurde, zeigt, wie weit die Reisevorbereitungen von Asanil bereits fortgeschritten sind!“
„Ein Elbenmagier hat von einer Sache doch nun wirklich genug: Zeit“, gab Kara zurück. „Und darum bin ich überzeugt davon, dass Asanil sich auch Zeit für Candrics Problem nehmen wird! Ein bisschen habe ich ihn ja auch schon kennengelernt. Er wirkte auf mich nie wie jemand, der von übermäßiger Eile angetrieben wird!“
„Da scheinst du sein Wesen aber nur zum Teil erkannt zu haben“, erwiderte Lirandil.
„So?“
„Wenn Asanil davon erfüllt ist, einen seiner Pläne zu verwirklichen, dann kann er manchmal so eilig wirken, dass man ihn für einen kurzlebigen Menschen hält, der weiß, dass er nicht einmal hundert Jahre Zeit hat, um alles zu schaffen, was er sich in seinem Leben vorgenommen hat!“
In diesem Augenblick öffnete sich die große, schwere Tür des Turms, in dem Asanil schon seit langer Zeit lebte.
„Wer glaubt da, mein innerstes Wesen erkannt zu haben?“, fragte eine Stimme.
Ein hochgewachsener Mann mit weißem Bart trat durch die Tür. Er trug ein Gewand aus fließender Elbenseide, an der kein Schmutz haften blieb. An seinem Gürtel hingen alle möglichen Taschen und Beutel, in denen sich vermutlich irgendwelche magischen Essenzen, elbische Heilkräuter und dergleichen mehr befanden.
Um den Hals hing dem Elbenmagier ein Amulett, das zumindest für Lirandil ein weiterer Hinweis darauf war, wie weit Asanils Pläne zum Aufbruch bereits fortgeschritten waren. Auf dem Amulett waren nämlich magische Elbenrunen zu sehen, die die Elementargeister von Wind und Wetter günstig stimmen sollten, damit einem die Reise nicht im wahrsten Sinn des Wortes verhagelt wurde.
„Seid gegrüßt!“, sagte Asanil, auf dessen trotz seines enormen Alters glatter Elbenstirn sich eine Falte gebildet hatte. „Was verschafft mir die Ehre dieses königlichen Besuchs?“
„König Hadran hatte Euch einen Boten gesandt, der Euch anwies, zum Palast in Aladar zu kommen“, sagte Kara, noch bevor Lirandil das Wort ergreifen konnte.
„So, wirklich?“, fragte Asanil. „Ja, ich erinnere mich dunkel. Da war irgendetwas. Aber war das nicht erst gestern?“
„Es ist Wochen her!“
„Nun, mit dem Zeitempfinden des Elbenvolkes ist das so eine Sache ...“
„Aber in anderer Hinsicht richtet Ihr Euch doch auch nicht nach den Gewohnheiten Eures Volkes“, stellte Kara fest.
Asanil lächelte mild. Ihm war sehr wohl bewusst, worauf Kara hinauswollte. Immerhin trug Asanil ganz gegen die Sitte der Elben einen langen Bart und lebte seit langem weit abseits vom Fernen Elbenreich. Auf den ersten Blick, wenn nicht gerade seine spitzen Ohren durch das grauweiße Haar hindurchstachen, konnte man ihn fast schon für einen Menschen halten, so sehr hatte er zumindest äußerlich die Gewohnheiten dieses Volkes angenommen.
„Mit dem Zeitempfinden ist das etwas anderes als mit einem Bart“, sagte Asanil. „Man kann sich nicht einfach nach Lust und Laune eines wachsen lassen. Und so mögen Prinz Candric und sein Vater mir verzeihen, wenn ich der Botschaft nicht gefolgt bin. Ich vergesse immer wieder die Hast, die so typisch für die Menschen ist, Majestät!“ Doch als er den Gesichtsausdruck des Prinzen sah, erkannte Asanil sogleich, was im Moment mit diesem los war. „Oder sollte ich lieber sagen: schlammverschmierter Anführer aller Orks? Ich fürchte nur, dass ich kein besonders ausdrucksstarkes Rülpsen hinbekomme, das diese Anrede würdevoll genug unterstreichen könnte!“
„Das ist schon in Ordnung“, meinte Rhomroor.
„Vielleicht bittet Ihr uns erst einmal zu Euch in den Turm“, schlug Lirandil vor.
„Oh, verzeiht, werter Lirandil! Selbstverständlich! So kommt herein! Ihr müsst schon etwas Nachsicht mit mir haben, denn ich bin im Begriff, zu einer langen Reise aufzubrechen, die ich schon seit geraumer Zeit geplant habe! Und wenn ich in diesem Fall von geraumer Zeit spreche, dann meine ich das auch an den Maßstäben meines Volkes gemessen!“
„Vielleicht werdet Ihr Eure Reise etwas verschieben müssen“, sagte Kara. „Allerdings vermutlich nur für kurze Zeit – gemessen an den Maßstäben Eures Volkes!“
Das Stirnrunzeln des Magiers verstärkte sich. „Wer bist du eigentlich, dass du glaubst über mich und meine Zeit verfügen zu können, Mädchen? Nicht einmal dem König der Elben habe ich mich unterworfen! Und eine Botschaft von König Hadran beantworte ich nach Gutdünken und ohne dass ich mich von der Menschenhast anstecken lasse! Da werde ich mich doch nicht von dir hetzen lassen!“
„Wie gesagt, es gibt Wichtiges zu besprechen“, mischte sich nun Lirandil ein und bedachte Kara mit einem tadelnden Blick. „Und das sollten wir tatsächlich in aller Ruhe tun.“
9
Asanil führte Kara, Rhomroor und Lirandil in das Innere seines Turms. Sie stiegen eine Wendeltreppe hinauf, gelangten in einen Raum, in dem mindestens ein Dutzend schwerer Truhen stand. Rhomroor wusste, dass Elben und Menschen dazu neigten, viele Dinge mitzunehmen, wenn sie auf Reisen gingen. Asanils Vorbereitungen für seine große Fahrt schienen tatsächlich schon so weit fortgeschritten zu sein, dass er einen Großteil der Sachen bereits gepackt hatte.
„Ihr seht, dass es hier etwas ungemütlich ist“, erklärte Asanil.
„Es sieht so aus, als würdet Ihr auf Dauer dieses Land verlassen“, meinte Rhomroor und bemühte sich dabei redlich darum, sich so auszudrücken, wie es sich für einen Prinz des Beiderlandes gehörte.
„Was heißt schon auf Dauer, Ork-Seele!“, erwiderte Asanil.
Sie gingen ein weiteres Stockwerk hinauf. Dort stapelten sich die Bücher zu schiefen Türmen, so als hätte der Magier sie alle aus den Regalen hervorgeholt, um nach einigen ganz bestimmten Schriften zu suchen.
„Eure Bibliothek nehmt Ihr auch mit?“, fragte Lirandil.
„Nein, nur ein paar Bücher, die ich vermutlich benötigen werde“, erklärte der Elbenmagier. „Alle mitzunehmen wäre nicht möglich, dazu ist meine Sammlung an magischen Schriften einfach zu umfangreich.“
„Und wie verhindert Ihr, dass diejenigen, die Ihr hier zurücklasst in falsche Hände geraten?“, wollte Rhomroor wissen. „Ich denke an jemanden wie Moraxx, der nichts anderes als die Vermehrung seiner persönlichen Macht im Sinn hat.“
„Ich gebe zu, dass das ein Problem ist“, meinte Asanil. „Schließlich werde ich nicht nur für eine kurze Zeit fort sein. Es ist kein Hundert-Jahre-Ausflug, den ich vorhabe, sondern etwas viel Größeres! Da kann natürlich viel mehr passieren, als wenn man nur mal kurz ein paar Jahre nicht in seinem Turm ist.“
„Ich nehme an, der Bannstein, den ich vor dem Turm bemerkt habe, ist ein Teil Eurer Sicherheitsmaßnahmen“, erklärte Lirandil.
Asanil nickte. „Ja, das trifft zu. Ich werde mich wohl weitgehend auf Magie verlassen müssen.“
„Und das haltet Ihr in Anbetracht all der magischen Schätze, die Ihr im Laufe der Zeit hier zusammengetragen habt, wirklich für ausreichend?“, fragte Lirandil. Der Zweifel, der in seinen Worten mitschwang, war unüberhörbar.
„Welche andere Möglichkeit bleibt mir?“, fragte Asanil und hob dabei die Schultern. „Ihr wisst doch so gut wie ich, dass selbst die stärksten Mauern, die sich errichten ließen, kein wirklich vollkommen sicherer Schutz vor Dieben wären. Da kann man mit Magie schon wesentlich mehr ausrichten. Übrigens ist das auch einer der Hauptgründe, weshalb ich noch nicht aufgebrochen bin und all die Bücher hier so durcheinander herumliegen.“
„Ihr sucht noch nach dem richtigen Bannspruch?“, schloss Lirandil.
„Ich suche nicht nur nach dem richtigen Bannspruch, sondern genauer gesagt nach der richtigen Kombination aus verschiedenen Bannsprüchen! Denn nur so bin ich sicher davor, dass nicht eines Tages irgendein ehrgeiziger Magierkollege aus dem Fernen Elbenreich anreist, um sich meines gesammelten Wissens zu bemächtigen.“
„Es gibt kaum noch ehrgeizige Magier im Elbenreich“, meinte Lirandil. „Und überdies wird die Magie der Elben ohnehin langsam aber stetig schwächer.“
„Nun, ein übler Menschenmagier oder jemand wie dieser ungehobelte Bücherdieb Moraxx könnten auch viel Schaden anrichten“, gab Asanil zu bedenken.
Sie gingen noch eine weitere Wendeltreppe hinauf und kamen in einen großen, runden Raum, von dem aus man auf einen kleinen Balkon hinaustreten konnte, an dem das Himmelsschiff des Magiers festgemacht war. Der Affe Hugonil war darauf noch immer unermüdlich damit beschäftigt, irgendwelche Seile miteinander zu verknüpfen.
Durch hohe verglaste Fenster fiel Licht in den Raum. Hugonil kletterte mit schier traumwandlerischer Sicherheit vom Schiff herunter auf den Balkon und presste sein Gesicht gegen eines der Fenster, um zu sehen, was sich im Inneren des Turms abspielte.
Asanil machte ihm ein Zeichen. „Sei nicht so neugierig!“, rief er ihm zu, woraufhin der Affe kreischend zurück auf das Himmelschiff kletterte. „Tja, ihm oder einem seiner Artgenossen das Sprechen beizubringen, gehört wohl zu den wenigen Dingen, die ich in meinem Magierleben trotz aller Anstrengungen vielleicht nicht mehr erreichen werde.“
„Aber habt Ihr nicht mehr als genug Zeit dafür?“, hielt Kara dem entgegen.
„Ja – aber wenn etwas unmöglich ist, dann nützt einem alle Zeit der Welt und auch ein langes Elbenleben nicht dabei, es in die Tat umzusetzen.“
„Aber hat man nicht auch gesagt, dass es unmöglich sei, ein Himmelsschiff zu bauen – und Ihr habt es dennoch geschafft?“
„Nein, die wenigsten unter den Elben haben behauptet, dass es unmöglich sei. Sie hielten es einfach für sinnlos – allen voran König Péandir.“
„Ihr dachtet doch sicher daran, vor Eurem Aufbruch, noch einmal ins Elbenreich zu fliegen, um Euch endgültig mit König Péandir auszusöhnen“, mischte sich nun Lirandil ein.
Asanil wandte den Blick in Lirandils Richtung und schwieg eine Weile. Lirandil hatte wiederholt zwischen den beiden vermittelt und im Prinzip hatte König Péandir dem abtrünnigen Elbenmagier längst verziehen.
Aber die eigentliche Versöhnung hatte Asanil immer wieder hinausgeschoben. Schließlich gab es doch keinerlei Grund zu übertriebener Eile? Überdies lebte Asanil schon so viele Zeitalter unter den Menschen, dass er sich manchmal schon gefragt hatte, ob ihn überhaupt noch etwas mit dem Fernen Elbenreich und dem Hof auf Péandirs Burg verband. „Nein, werter Freund Lirandil. Eigentlich hatte ich das nicht vor.“
„Ihr würdet König Péandir sehr enttäuschen“, erklärte Lirandil. „Und nicht nur ihn! Es gibt viele andere, die Euch sicherlich gerne sehen würden.“
„So? Wer sollte das denn zum Beispiel sein?“
„Als ich zuletzt auf Péandirs Burg war, erzählte ich zum Beispiel dem jungen Prinzen Eandorn von Euch – und er war voller Bewunderung und Interesse für Eure Magie und Eure Ansichten!“
„Prinz Eandorn? Habe ich diesen Namen schon irgendwann einmal gehört?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich erinnere mich nicht.“
„Prinz Eandorn ist König Péandirs Sohn, der Thronfolger.“
„Werter Lirandil, die Bewohner des Fernen Elbenreichs interessieren sich schon seit langem kaum noch für irgendetwas, was außerhalb der Grenzen ihres Reiches geschieht. Ihr seid eine der wenigen Ausnahmen. Aber allzu viele gibt es davon nicht. Und wenn sich die Bewohner von König Péandirs Reich nicht für den Rest der Welt – oder wenigstens für den Rest von Athranor – interessieren, weshalb sollte dann irgendjemand, der nicht hinter den Gipfeln des Elbengebirges lebt, Interesse für sie aufbringen?“ Ein müdes Lächeln glitt über Asanils Gesicht. „Nehmt es mir nicht übel, Lirandil. Das ist nicht gegen Euch gerichtet. Wir beide haben inzwischen schon zu viele Abenteuer miteinander erlebt, als dass ich es Euch übel nehmen könnte, im Dienst von König Péandir zu stehen.“
„Vielleicht lasst Ihr Euch diese Angelegenheit doch noch einmal durch den Kopf gehen, werter Asanil!“
Asanil legte Lirandil eine Hand auf die Schulter. „Um Euretwillen werde ich das gerne tun, Lirandil. Aber ich habe das Gefühl, der Hauptgrund für Euren Besuch ist nicht die endgültige Versöhnung mit König Péandir!“
„Nein, da habt Ihr recht“, gestand der Fährtensucher des Elbenkönigs.
„So nehmt Platz. Auch wenn ich nicht viel Zeit habe, da ich bald aufbrechen möchte, werde ich doch immer Zeit genug haben, um mir Eure Anliegen anzuhören.“
„Es geht um ein altbekanntes Problem, für das wir bisher keine befriedigende Lösung finden konnten.“
Asanil wandte den Kopf und bedachte Rhomroor mit einem nachdenklichen Blick. „Ich ahne schon, worum es geht!“.
10
Candric hatte sich derweil wieder einigermaßen an seinen Ork-Körper gewöhnt. Der Lindwurm kroch mit gemäßigter Geschwindigkeit über den flachen Boden – und dort, wo sich kleinere Anhöhen und Hügel erhoben, walzte er sie einfach nieder, es sei denn, der Untergrund war hart genug, um seinem Gewicht und seiner Kraft zu widerstehen.
Der Lindwurm war allerdings immer noch sehr viel schneller als es jede Hornechse gewesen wäre. Und auch die Riesenskorpione, auf deren Rücken die Stämme der Skorpionsenke ihre Dörfer errichteten, um mit ihnen kreuz und quer das Gebiet zwischen den Aschedünen und den Ufern des Blutflusses zu durchstreifen, waren nicht so schnell.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (ePUB)
- 9783738918823
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2018 (März)
- Schlagworte
- sturm elbenreich