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Leonardo und das Rätsel des Alchimisten

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 120 Seiten

Zusammenfassung

Band 3 von 6 der mysteriösen Abenteuer des jungen Leonardo da Vinci
In dem kleinen Dorf Vinci bei Florenz, 1462: Der Alchimist Vincente will seine Farbrezeptur "Vincentes Blau" dem zehnjährigen Leonardo vererben. Wenig später ist das Testament mitsamt der Rezeptur verschwunden. Hat vielleicht der unheimliche blauhändige Reiter etwas mit der Sache zu tun? Leonardo und Carlo sind sich einig: Der geheimnisvolle Farbendieb muss auf der Stelle geschnappt werden!

Alfred Bekker

Alfred Bekker wurde am 27.9.1964 in Borghorst (heute Steinfurt) geboren und wuchs in den münsterländischen Gemeinden Ladbergen und Lengerich auf. 1984 machte er Abitur, leistete danach Zivildienst auf der Pflegestation eines Altenheims und studierte an der Universität Osnabrück für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Insgesamt 13 Jahre war er danach im Schuldienst tätig, bevor er sich ausschließlich der Schriftstellerei widmete.
Schon als Student veröffentlichte Bekker zahlreiche Romane und Kurzgeschichten. Er war Mitautor zugkräftiger Romanserien wie Kommissar X, Jerry Cotton, Rhen Dhark, Bad Earth und Sternenfaust und schrieb eine Reihe von Kriminalromanen. Angeregt durch seine Tätigkeit als Lehrer wandte er sich schließlich auch dem Kinder- und Jugendbuch zu, wo er Buchserien wie 'Tatort Mittelalter', 'Da Vincis Fälle', 'Elbenkinder' und 'Die wilden Orks' entwickelte.
Seine Fantasy-Romane um 'Das Reich der Elben', die 'DrachenErde-Saga' und die 'Gorian'-Trilogie machten ihn einem großen Publikum bekannt. Darüber hinaus schreibt er weiterhin Krimis und gemeinsam mit seiner Frau unter dem Pseudonym Conny Walden historische Romane. Einige Gruselromane für Teenager verfasste er unter dem Namen John Devlin. Für Krimis verwendete er auch das Pseudonym Neal Chadwick.
Seine Romane erschienen u.a. bei Blanvalet, BVK, Goldmann, Lyx, Schneiderbuch, Arena, dtv, Ueberreuter und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Leonardo da Vincis Fälle Band 3

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Leonardo und das Rätsel des Alchimisten

von Alfred Bekker

Die deutschsprachigen Printausgaben erschienen 2008/2009 im Arena Taschenbuchverlag;

Übersetzungen liegen auf Türkisch, Indonesisch, Dänisch und Bulgarisch vor.

Neu durchgesehene Fassung

© 2008, 2009 by Alfred Bekker

© 2015 AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Ein CassiopeiaPress E-Book

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Der Umfang dieses Buch entspricht 120 Taschenbuchseiten.

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Dieses Buch beinhaltet folgende Kapitel:

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1. Kapitel: Unsichtbare Tinte

2. Kapitel: Das Testament des wunderlichen Vincente

3. Kapitel: Der blauhändige Reiter

4. Kapitel: Wer war der Dieb?

5. Kapitel: Detektiv Leonardo

6. Kapitel: Auf den Spuren des Farbendiebs

7. Kapitel: Der Reiter

8. Kapitel: In der Falle

9. Kapitel: Der Überfall der Straßenbande

10. Kapitel: In der Villa Darenzio

11. Kapitel: „Haltet den Dieb!“

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1.Kapitel

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Unsichtbare Tinte

Der Himmel war grau geworden. Wolken türmten sich zu dunklen Himmelsungeheuern auf und die ersten Regentropfen fielen auf den völlig ausgetrockneten Boden.

Der Reiter zügelte sein Pferd, als er den Hügelkamm erreichte und auf das Dorf Vinci hinabblickte.

Er trug einen Umhang, den er sich enger um die Schulter zog, als der Regen jetzt heftiger wurde. Die Kapuze des Mantels hatte er so tief ins Gesicht gezogen, dass man nur die Spitze seines Kinns sehen konnte. Ein Spitzbart, der an eine Ziege erinnerte, wuchs dort. Und die Hände, mit denen er die Zügel hielt, waren fast vollkommen blau.

„Vorwärts!“, murmelte der Reiter und ließ sein Pferd auf das Dorf zupreschen.

„Jetzt schaut mal alle genau her! Ein großer Augenblick ist gekommen! Der Magier und Alchimist Leonardo da Vinci wird euch jetzt eine einmalige Kostprobe seines Genies geben!“

Der zehnjährige Leonardo machte eine große, ausholende Geste und nahm dann den Federkiel zwischen Daumen-, Zeige-und Mittelfinger.

Genau in diesem Moment donnerte es von draußen dumpf. Durch das offene Fenster des Dachzimmers im Haus von Leonardos Großvater blies ein angenehm kühler Wind. Weitere Blitze zuckten und der Regen prasselte. Es war wahrscheinlich eines der letzten Sommergewitter und normalerweise saß Leonardo dann immer wie gebannt am Fenster, um die Blitze zu beobachten. Aber er hatte die Hoffnung schon so gut wie aufgegeben, dass endlich mal wieder ein Baum getroffen wurde und er mit ansehen konnte, wie er durch den Blitz gespalten wurde.

Sein Freund Carlo deutete mit dem Zeigefinger in die Höhe.

„Vielleicht hat ja jemand da oben etwas gegen deine Magie einzuwenden!“, meinte er. Schließlich hatte es ja genau in dem Moment angefangen zu donnern, in dem Leonardo die Feder aus dem Tintenfass genommen hatte, das auf der rechten Seite des Tisches stand.

„Kann ja sein, dass es sogar Schwarze Magie ist, was Leonardo da macht!“, meldete sich nun Gianna zu Wort. Sie war an diesem Nachmittag die Dritte im Bund. Eine tiefe Furche erschien mitten auf ihrer Stirn. Offenbar war sie ziemlich besorgt. Leonardo kratzte mit der Feder über ein Pergament. Allerdings war dort anschließend nicht ein einziger Buchstabe zu sehen. „Es hat weder etwas mit Weißer Magie noch mit Schwarzer Magie zu tun“, erwiderte Leonardo. „Man nutzt nur ganz einfach die Eigenschaften aus, die ein Stoff ohnehin schon von Natur aus hat!“

Carlo kratzte sich am Kopf und zuckte schließlich mit den Schultern.

„Ich sehe nichts“, bekannte er.

Leonardo konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen.

„Kein Wunder!“, tönte er großspurig. „Dies ist ja auch unsichtbare Tinte!“

„Bei Sachen, die ich mir nur ausgedacht habe und die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, würde ich auch immer sagen, dass sie in Wahrheit unsichtbar sind“, meinte Gianna.

„Sei still!“, sagte Leonardo.

„Das willst du wohl nicht wahr haben, was?“, stichelte Gianna.

„Nein, ich muss mich nur konzentrieren, weil ich ja nicht sehen kann, was ich schon geschrieben habe.“

Leonardo tunkte die Feder noch einmal ins Tintenfass und schrieb das nächste Wort.

„Fertig!“, stieß er dann hervor.

„Eine fantastische Handschrift!“, spottete Gianna. „Und dieser Schwung der Linien!“

Auf dem Blatt war überhaupt nichts zu sehen. Einige Stellen wirkten etwas feucht und Carlo versuchte aus der Nässe Linien, Buchstaben und Worte zu erkennen. Aber es gelang ihm nicht. Ein paar Augenblicke noch und die Flüssigkeit, die Leonardo mit seiner Feder auf das Blatt gebracht hatte, würde völlig getrocknet sein. Leonardo legte ein zweites Blatt auf die Stelle, auf die er geschrieben hatte.

„Und was soll das jetzt?“, fragte Carlo ziemlich ratlos.

„Ich will ja nicht, dass irgendetwas verschmiert“, antwortete Leonardo.

„Ist schon klar“, grinste Gianna. „Bei uns im Gasthof war mal eine Gaukler-Truppe, die dort eine Nacht verbracht hat. Einer der Gaukler führte immer etwas vor, was er Flohzirkus nannte. Dabei tat er mit seinen Bewegungen und Blicken so, als würde er dressierte Flöhe herumhüpfen lassen.“

„Und was hat das mit meiner unsichtbaren Tinte zu tun?“, fragte Leonardo.

„Das kommt mir ähnlich vor. Du machst eine Menge Zirkus um die Sache, aber ich glaube nicht, dass irgendetwas dahinter steckt!“

Der Wind blies nun ziemlich heftig durch das Dachfenster. Er wehte ein paar Blätter durcheinander auf denen Leonardo Farben ausprobiert hatte. Er hatte verschiedene Blautöne zu mischen versucht und sie nebeneinander gelegt, um herauszufinden, welche dem Himmel am ähnlichsten sahen. Jetzt waren sie mit einem Windstoß alle durcheinander geraten.

„Lass uns die Fensterläden schließen“, schlug Carlo vor. „Es regnet schon herein.“

„Dann wird es hier aber ziemlich dunkel“, wandte Gianna ein.

„Ich werde eine Kerze anzünden“, kündigte Leonardo an. „Außerdem brauche ich sowieso etwas Feuer, um die Schrift der unsichtbaren Tinte wieder sichtbar zu machen.“

„Hat dein Großvater dir nicht verboten, jemals wieder ein Feuer hier im Zimmer zu machen?“, erinnerte ihn Carlo. „Nachdem du bei einem deiner letzten Experimente fast das Haus in Brand gesteckt hast, kann man das ja wohl auch verstehen.“

„Ich mache doch kein Feuer!“, erwiderte Leonardo. „Ich zünde nur eine Kerze an – und auch mein Großvater wird wohl nicht von mir erwarten, dass ich bei geschlossenen Fensterläden im Dunkeln sitze!“

Leonardo holte aus einem Tonkrug, in dem sich allerlei Kleinigkeiten befanden, die man nicht so genau zuordnen konnte, einen Feuerstein. Nachdem er in dem Krug noch etwas herumgesucht hatte, kippte er dessen Inhalt schließlich aus. Eine eingetrocknete tote Maus war darunter, außerdem zerkratzte Brillengläser, die man aber trotzdem noch als Vergrößerungsgläser und zum Feuermachen benutzen konnte, indem man das Sonnenlicht hindurch fallen ließ. Zusätzlich waren da noch eine tote Hornisse und ein angefangenes Wespennest sowie ein paar inzwischen vertrocknete Pflanzensamen, die Leonardo eigentlich mal einpflanzen wollte. Allerdings hatte er das wohl zwischendurch vergessen. Ein Dutzend abgewetzter Bleistiftstummel kamen noch zum Vorschein. Leonardo wollte nämlich eigentlich das Blei darin einschmelzen und daraus einen neuen Stift gießen. Aber das Ganze war misslungen. Das Blei war nicht geschmolzen. Es war nur das Holz um die Bleimine herum verkohlt.

Dann war da noch ein zweiter Feuerstein, den Leonardo jetzt unbedingt brauchte. Außerdem noch etwas Zunder – ein leicht brennbarer Pilz, den man allgemein zum Feuermachen benutzte und den man mit etwas Glück im Wald fand. Leonardo war immer auf der Suche danach, denn um Zunder zu kaufen, fehlte ihm das Geld. Leonardo nahm Zunder und Feuersteine. Den Rest der Sachen tat er zurück in den Krug. In einer selbst gezimmerten Holzkiste bewahrte er Späne und gut getrocknete kleine Holzstücke auf. Die hatte er vom alten Frederico, dem Tischler des Dorfes. Damit ließ

sich wunderbar Feuer machen, was Großvater ihm eigentlich streng verboten hatte. Aber Leonardo hatte die Späne trotzdem mitgenommen. Der Tischler war froh, sie loszuwerden und Leonardo hatte überlegt, dass sie sich vielleicht ja doch noch irgendwann zu irgendeinem, Zweck benutzen ließ.

Im Zweifelsfall war Leonardo immer dafür, alles aufzubewahren. Man konnte ja nie wissen... Irgendwann konnte man alles noch einmal gebrauchen!

Auf einem etwas größeren Stein, den Leonardo von draußen mitgebracht hatte, begann er dann Feuer zu machen. Der Stein gehörte eigentlich in die verfallende Umgrenzungsmauer des Dorfes Vinci. Ursprünglich war dieses Dorf nämlich mal ein römisches Kastell gewesen. Aber inzwischen wurden die Reste der verfallenden Mauer als Steinbruch benutzt. Immer, wenn man einen schönen Brocken, mit einigermaßen gerade gehauener Kante brauchte, ging man zur Mauer und holte sich, was man brauchte. Carlo und Gianna sahen Leonardo dabei zu, wie er Feuer machte, schließlich einen Holzspan zum brennen brachte und an dem die Kerze anzündete.

Jetzt konnte man die Fensterläden schließen.

Draußen prasselte der Regen immer heftiger und ein immer stärkerer Wind begann zu tosen. Die Fensterläden anderer Häuser in der Umgebung klapperten.

Innen tauchte nun das Licht der Kerze das ganze Zimmer in ein unheimliches Licht. Die Flamme flackerte, weil es durch viele Ritzen in den Fensterläden zog.

Leonardo stellte die Kerze mitten auf den Tisch. Die anderen sahen gespannt zu.

„Jetzt werdet ihr das Wunder erleben, wie unsichtbare Tinte wieder sichtbar wird!“, verkündete Leonardo feierlich. Gianna verdrehte die Augen.

„Angeber!“, meinte sie.

Aber Carlo war da anderer Ansicht. „Mal abwarten, Gianna“, meinte er. „Leonardo hat eine Menge Tricks auf Lager, von denen ich nie gedacht hätte, dass so etwas überhaupt möglich ist! Also würde ich nicht zu schnell urteilen.“

Gianna zuckte mit den Schultern und blieb skeptisch. Leonardo hielt das Blatt, auf das er mit unsichtbarer Tinte geschrieben hatte über die Flamme. „Man muss die Tinte erhitzen“, sagte er. „Dann wird die Schrift wieder sichtbar.“

Es dauerte eine Weile und tatsächlich wurden nach und nach Buchstaben erkennbar.

„Jetzt lest selbst!“, forderte Leonardo die beiden anderen auf. Er legte das Blatt auf den Tisch und strich es glatt.

„Diese Tinte war unsichtbar“, las Carlo zögernd. Er wandte sich an Gianna. „Du kannst es nicht abstreiten: Leonardo hat es wirklich geschafft!“

Gianna starrte auf die Buchstaben und schüttelte fassungslos den Kopf. „Wie hast du das hingekriegt?“, fragte sie.

„Ein Geheimrezept!“, behauptete Leonardo. „Man verwendet es an vielen Fürstenhöfen Europas. Diese Tinte nennt man auch eine sympathetische Tinte.“

„Eine was bitte?“ Carlo runzelte die Stirn.

„Der Name kommt daher, dass man damit geheime Botschaften an Menschen schicken kann, die man sympathisch findet.“

„Geheime Liebesbriefe also“, schloss Gianna.

„Genau. Aber ich nehme mal an, dass sie nicht nur für Liebesbriefe, sondern auch von Botschaftern, Spionen und Verbrechern benutzt wird! Und natürlich von jedem anderen, der ein Geheimnis aufschreiben möchte, das niemand erfahren darf.“

„Du könntest diese Tinte für deine Konstruktionspläne nehmen!“, schlug Carlo vor. „Damit keiner deine Maschinen einfach nachbaut und hinterher behauptet, dass er der Erfinder sei!“

„Daran habe ich auch schon gedacht!“, nickte Leonardo. Er verbrachte ganze Nachmittage damit, sich fantastische Maschinen auszudenken, die fliegen konnten oder auf Rädern fuhren, ohne dass sie von Pferden gezogen werden mussten. Allerdings war es schon schwierig genug für ihn, ein Wort zu schreiben, dass er nicht sehen konnte. Noch schwieriger war es, eine komplizierte Zeichnung zu erstellen, ohne zwischendurch einen Blick auf die Einzelheiten werfen zu können. Deswegen hatte Leonardo diesen Gedanken erst einmal wieder aufgegeben und baute stattdessen absichtlich kleine Fehler in seine Zeichnungen ein, damit niemand Unbefugtes die Maschinen nachbauen konnte.

„Wollt ihr das auch mal probieren?“, fragte Leonardo, nahm die Feder aus dem Tintenfass und reichte sie zuerst Gianna. Aber die schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein“, sagte sie schaudernd. „Das riecht mir doch alles zu sehr nach Schwarzer Magie! Und am Ende werde ich dann deswegen angeklagt und man verbrennt mich auf dem Scheiterhaufen als Hexe!“

„Das ist keine Magie!“, widersprach Leonardo. „Das Geheimnis ist so einfach... Ich weiß es vom wunderlichen Vincente.“

„Meinst du den weißhaarigen Mann mit dem fleckigen Gewand, der in das alte Haus des Bauern Alessandro gezogen ist?“

„Genau den meine ich“, bestätigte Leonardo. „Ich war schon ein paar Mal bei ihm. Vincente ist Farbenmacher und fabriziert auch Tinte. Es ist sehr interessant in seiner Werkstatt. Viele Maler aus Florenz kommen dort hin, um bei ihm Farben zu bestellen...“

Carlo deutete auf die Blätter, die mit verschiedenen Blautönen angemalt worden waren.

„Man sieht es, wie sehr dich der Mann beeindruckt hat! Offenbar versucht du schon, ihm nachzueifern...“

„Und was ist jetzt das Geheimnis der unsichtbaren Tinte, wenn es angeblich keine Magie ist?“, hakte Gianna nach.

„Ich will es euch gerne verraten. Dann können wir uns in Zukunft gegenseitig Botschaften schreiben, ohne dass sie jemand anders lesen kann. Man nimmt einfach...“

Irgendwo klapperte ein Fensterladen in Untergeschoss. Deswegen hatte Leonardo zunächst nicht so sehr auf die anderen Geräusche im Haus geachtet. Aber jetzt knarrte die Treppe. Schritte waren zu hören.

„Leonardo?“, fragte eine tiefe Stimme.

„Was ist Großvater?“, rief der Junge.

Er überlegte, ob er die Kerze löschen sollte. Schließlich hatte ihm sein Großvater ja strikt verboten, Feuer zu machen. Aber dann hätten sie alle drei in einem fast stockdunklen Zimmer gesessen. Einen Moment lang zögerte er – und dann war es auch schon zu spät. Die Tür öffnete sich und Leonardos Großvater stand dort. Ein großer, breitschultriger Mann mit freundlichen Augen. Da Leonardo weder bei seinem Vater, dem Notar Ser Piero D’Antonio, noch bei seiner Mutter, der Bäuerin Catarina leben konnte, wohnte er im Haus seines Großvaters, was den Vorteil hatte, dass er dort erstens jede Menge Platz und zweitens viel Freiheit hatte.

Aber so duldsam und nachsichtig Großvater auch war – gewisse Grenzen gab es doch.

Großvater sah auf die Kerze. Noch bevor er etwas sagen konnte, gab Leonardo zu bedenken: „Wir hätten sonst im Dunkeln sitzen müssen!“

„Ihr hättet auch in die Stube im Erdgeschoss kommen können. Da brennt das Kaminfeuer!“

„Ja, schon...“

„Die Kerzen brauchen wir für den Winter, wenn die Tage kürzer werden. Allzu lang dauert das ja nicht mehr... Alles andere ist pure Verschwendung, Leonardo! Ich bin gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten und suche den Essig...“ Sein Blick glitt durch Leonardos Zimmer. Das Kerzenlicht flackerte. Schatten tanzten an der Wand. Der Blick des Großvaters blieb an einer Flasche haften, die mit einem Korken verschlossen war. „Ah, da ist er ja!“, stellte Großvater fest, ging hin und hob die Flasche auf. „Ich hatte den Essig schon überall gesucht. Du hast doch nicht etwas dazugemischt, oder?“

„Nein.“

„Dann ist es ja gut. Macht die Kerze aus und kommt herunter, bis das Gewitter vorbei ist. Ihr seid dann auch sicherer, wenn der Blitz ins Haus einschlagen sollte!“

Großvater ging wieder die Treppe hinunter.

„Tja, eigentlich wollte ich euch ja auch mal mit der unsichtbaren Tinte schreiben lassen“, meinte Leonardo, der stirnrunzelnd mit dem Federkiel im Tintenfass herumstocherte. Da war offensichtlich nicht mehr genug drin, um damit schreiben zu können.

„Hattest du denn nur so wenig von dieser Geheimtinte?“, fragte Gianna.

Leonardo schüttelte den Kopf. „Nein, aber mein Großvater hat gerade den Rest mitgenommen.“

Gianna und Carlo wechselten einen erstaunten, ungläubigen Blick. Carlo nahm daraufhin das Tintenfass und roch daran.

„Tatsächlich!“, stieß er hervor. „Leonardo hat mit Essig geschrieben!“

„Ich sagte ja, dass es ganz einfach ist und mit Magie nichts zu tun hat“, sagte Leonardo. „Man kann Essig nehmen, aber es funktioniert auch mit Milch. Der wunderliche Vincente hat allerdings noch ein paar andere Tintenrezepte auf Lager! Bei manchen sieht man zuerst die Schrift, dann verschwindet sie nach einer Weile und wenn man sie erhitzt kommt sie wieder – aber nur für kurze Zeit.“

Von unten rief Großvater.

„Kommt ihr jetzt herunter?“, rief er.

Leonardo seufzte. „Ja, ja...“

Wenig später saßen sie in der Kaminstube des Hauses. Der Großvater hatte einen Braten über dem Feuer, während sich draußen das Wetter nach und nach beruhigte. Aber es regnete immer noch in Strömen, sodass man keinen Fuß vor die Tür setzen konnte. Eine befestigte Straße gab es in Vinci nicht und so hatten sich nun alle Wege in Schlammlöcher verwandelt, in die man mindestens bis zu den Knöcheln einsank.

Damit der Braten nicht anbrannte, drehte Großvater ihn über dem Feuer. Zwischenzeitlich stach er mal mit einer langen Gabel in das Fleisch hinein um zu testen, ob der Braten schon durch war.

„Heute Abend kommt auch dein Vater zum Essen“, sagte Großvater an Leonardo gewandt, der aus seinem Zimmer das Blatt mitgenommen hatte, auf dem er Gianna und Carlo die Wirkung der Geheimtinte gezeigt hatte. Leonardos Eltern waren nicht verheiratet. Sein Vater lebte in einem eigenen Haus am Rande von Vinci als Notar, der für die Leute der Gegend Verträge und Urkunden schrieb. Ursprünglich war Ser Piero mit seiner sehr jungen, erst 15 Jahre alten Frau dort eingezogen, während Leonardos Mutter Catarina einen Bauern geheiratet hatte. Leonardo konnte jedoch bei keinem der beiden Familien bleiben. Inzwischen war Ser Pieros junge Frau allerdings schon verstorben. Eine Krankheit hatte sie in ein paar Wochen dahingerafft und kein Arzt hatte ihr helfen können. Seit dem aß Ser Piero des Öfteren bei Großvater – wenn er nicht gerade in den Dorfgasthof ging. Denn um selbst zu kochen hatte er bei seiner vielen Arbeit keine Zeit – vor allem seit er für Cosimo de’ Medici, den mächtigsten Mann der Stadt Florenz arbeitete, zu deren Herrschaftsgebiet auch das Dorf Vinci gehörte.

„Komm, dreh du mal den Braten!“, wies der Großvater Leonardo an. Der alte Mann schien einfach zu ungeduldig zu sein. Leonardo gehorchte. Eher lustlos drehte er den Spieß. Großvater stocherte indessen in der Ofenglut herum. Ein paar kleine glühende Holzspäne wurden empor gewirbelt und schwebten weiter hinauf. Sie sahen aus wie Glühwürmchen, die schließlich verloschen.

Was trägt sie hoch?, fragte sich Leonardo. Die Wärme vielleicht?

Leonardo hielt das Blatt, auf dem er mit Geheimtinte geschrieben hatte, über die Flammen und tatsächlich wurde jenes Ende, das er nicht mit den Fingen festhielt, von der Warmluft empor getragen. Es fing Feuer, weil er zu nahe herangekommen war. Leonardo ließ das Blatt los. Die Flammen verschlangen es und ein paar brennende Schnipsel flogen durch die Luft.

„Was machst du denn da für einen Unsinn!“, schimpfte Großvater, der erst jetzt mitbekommen hatte, was Leonardo tat. „Du und das Feuer, das ist auch wirklich ein eigenes Kapitel! Kannst du nicht einfach den Braten herumdrehen, wie ich es dir gesagt habe? Schau dir das an, jetzt ist da eine angebrannte Stelle! Und Papier ist auch zu schade, um es zu verbrennen und damit irgendwelche Feuerspielchen zu veranstalten, bei denen es am Ende passieren kann, dass das ganze Haus abbrennt.“

Großvater stemmte die Arme in die Hüften und Leonardo wurde aus seinen Gedanken gerissen.

Er stammelte: „Nein, Großvater ich wollte nur...“

Großvater hob eine Hand und unterbrach ihn. „Sag jetzt besser nichts! Es ist noch gar nicht so lange her, da hast du uns beinahe das Dach über dem Kopf angezündet.“

„Das war keine Absicht!“, versicherte Leonardo. Großvater seufzte.

„Das glaube ich dir, Leonardo, aber diese Entschuldigung hätte mir mein Haus auch nicht ersetzt!“

Leonardo hörte gar nicht mehr richtig zu, denn er hatte eine Idee. Sie war so stark, dass er im Moment an gar nichts anderes denken konnte. Eine Idee, durch die man nie wieder einen Braten zu wenden brauchte...

Wenn es wirklich so war, dass die warme Luft aufstieg und dabei die Kraft hatte, ein Papier oder kleine brennende Holzstückchen zu tragen – wieso sollte sie dann nicht auch die stark genug sein, einen Braten herum zu wenden?

Diese lästige Arbeit musste doch auch von einer Maschine zu erledigen sein!

Dieser Gedanke ließ Leonardo einfach nicht los. Eine Maschine, die den Braten wendete und durch aufsteigende Warmluft angetrieben wurde. Da musste doch eigentlich etwas zu machen sein...

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2.Kapitel

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Das Testament des wunderlichen Vincente

Als der Regen nachließ, gingen Gianna und Carlo schließlich nach Hause.

Leonardo bemerkte kaum, dass sie gingen, denn er dachte die ganze Zeit angestrengt darüber nach, wie man eine Maschine konstruieren könnte, die einem die lästige Arbeit des Bratenwendens abnehmen konnte. Es gab im Haushalt des Großvaters nicht oft einen Braten, - aber wenn doch, dann lief es meistens darauf hinaus, dass Leonardo den Spieß drehen musste.

Doch das sollte in Zukunft dein Ende haben!

Ich hätte mir da schon längst mal eine andere Lösung überlegen müssen!, ging es dem Jungen durch den Kopf.

Später saßen Großvater und Leonardo dann gemeinsam am Tisch. Ser Piero fehlte noch.

Er verspätete sich etwas. Das Unwetter hatte auch ihn aufgehalten. Er war geschäftlich in einer der Ortschaften in der Umgebung beschäftigt gewesen und zunächst zu seinem Haus geritten, um dort die völlig durchnässten Kleider zu wechseln.

Als er dann schließlich doch mit ihnen am Tisch saß, berichtete er von seinem Tag. „Heute Morgen kam Vincente della Croce zu mir“, sagte Ser Piero.

„Du meinst den Kerl, den man auch den wunderlichen Vincente nennt“, sagte Großvater.

Ser Piero nickte.

Er wandte sich an Leonardo. „Du bist öfter mal bei ihm?“

„Er kann malen und hat mir ein paar Tricks verraten. Aber vor allem kennt er sich mit Farben und Tinten aus. Er hat mir gezeigt, wie man mit unsichtbarer Tinte schreibt...“

„Er war heute Morgen bei mir, um sein Testament zu machen“, erklärte Ser Piero. „Eigentlich hatte ich gar keine Zeit, weil ich schon zu meinem geschäftlichen Termin aufbrechen musste. Aber er sagte mir, dass das nicht länger aufschieben könnte, und er eigentlich nur einen einzigen wertvollen Besitz habe, über dessen Verbleib er verfügen wolle.“

„Das Rezept zu Vincentes Blau!“, stieß Leonardo hervor. Ser Piero sah ihn ernst an. „Wie ich sehe, weißt du Bescheid!“

Vincentes Blau war ein besonders Farb-Rezept, dessen Zusammensetzung das Geheimnis des wunderlichen Mannes war. Maler aus Florenz oder Pisa – und manchmal auch aus noch weiter entfernten Städten kamen zu Vincente, um sich von ihm dieses Blau herstellen zu lassen. Es hatte einen ganz besonderen Glanz und ließ

jeden gemalten Himmel gleich viel beeindruckender erscheinen. Selbst dann, wenn der Maler gar nicht so genial war.

„Ich bin in letzter Zeit oft bei ihm gewesen“, sagte Leonardo.

„Das hat er mir erzählt“, bestätigte Ser Piero. „Du bist wohl ziemlich wissbegierig gewesen und hast ihn mit allen möglichen Fragen gelöchert.“

„Er hat mir einiges über Malerei erklärt und mir gezeigt, man Farben mischt und sie so auf die Leinwand bringt, dass sie wirklich leuchten. Dafür musste ich ihm seine Pinsel und Tongefäße säubern... Ich habe versucht, sein Blau nachzumachen, aber leider wollte er mir das Geheimnis nicht verraten.“

„Du wirst nach seinem Tod das Rezept erben“, sagte Ser Piero. „Er hat bei mir ein entsprechendes Testament aufsetzen lassen, dem ein versiegeltes Pergament beigegeben ist, auf dem er das Rezept aufgeschrieben hat.“

„Hast du es gelesen?“

„Natürlich nicht! Das wirst du eines Tages! Du allein, denn für dich ist es bestimmt!“

„Für mich?“, murmelte Leonardo erstaunt. „Warum ich?

Ser Piero zuckte mit den Schultern. „Frag nicht mich sondern ihn.“

Nach dem Essen hatte der Regen aufgehört. Ser Piero hatte es sehr eilig, weil er noch ein paar Dokumente mit der Hand kopieren musste.

Leonardo wäre natürlich auch gerne sofort aufgebrochen, um den wunderlichen Vincente näher darüber auszufragen, weshalb er ihm das Rezept vererben wollte. Aber Großvater bestand darauf, dass Leonardo ihm erst noch beim Abräumen half.

Ser Piero schwang sich inzwischen auf sein Pferd, das er so lange in Großvaters Stall gelassen hatte und ritt über den Dorfplatz. Dann nahm er den Weg am Gasthof vorbei, wo Gianna und ihre Eltern wohnten und erreichte schließlich ein das kleine Haus, in dem er gleichzeitig wohnte und sein Schreibbüro als Notar eingerichtet hatte. Ser Piero stieg vom Pferd und machte es an der Querstange vor dem Haus fest. Eigentlich hätte er es zuerst in den Stall gebracht, aber ihm fiel auf, dass die Tür einen Spalt breit offen stand. Hatte er etwa in der Eile vergessen, sie abzuschließen?

Ser Piero schob die Tür etwas an. Sie knarrte ziemlich laut. Er hätte die Scharniere schon längst mal wieder einfetten müssen!

Er trat ein.

Er sah gerade noch einen Schatten.

Dann kam eine blaue Faust sehr schnell von der Seite auf ihn zu. Sie traf ihn hart am Kopf. Alles drehte sich vor Ser Pieros Augen. Er hatte das Gefühl, den Boden unter seinen Füßen zu verlieren und zu fallen.

Sehr undeutlich und wie aus weiter Ferne hörte er Schritte. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

Es dämmerte schon. Leonardo machte sich schließlich doch noch auf den Weg zu Vincentes Werkstatt, die etwas außerhalb von Vinci lag. Dass nach dem Regen alle Wege aufgeweicht waren, störte ihn nicht besonders. Er lief im Sommer und weit in den Herbst hinein sowieso barfuss - und Füße konnte man leicht waschen. Vincente bewohnte das Haus des Bauern Alessandro, der im letzten Jahr das Dorf Vinci verlassen hatte, um sein Glück anderswo zu machen. Seitdem stand das verfallene Haus leer und Vincente hatte sich einfach dort einquartiert.

Wenige hundert Schritt entfernt lagen der Bauernhof und die Töpferei, wo Leonardos Mutter mit ihrem Mann seit fünf Jahren lebte. In dieser Zeit hatte sie noch vier weitere Kinder bekommen und ein fünftes war unterwegs. Leonardo hatte es damals bedauert, dass er nicht in der neuen Familie seiner Mutter leben konnte. Aber inzwischen glaubte er, bei seinem Großvater das bessere Los gezogen zu haben. Schließlich wuchs er dort wie ein Einzelkind auf und hatte sehr viel Freiheit – und das war ganz bestimmt besser für ihn, als mit vier – bald fünf – Halbgeschwistern auf einem Bauernhof groß zu werden, wo man von klein auf mit anfassen musste. Die Tür von Vincentes Haus stand offen, als Leonardo dort ankam. Innen herrschte Halbdunkel. Ein Kaminfeuer brannte. Im Dach waren ein paar Löcher, aber anstatt es zu reparieren, hatte der wunderliche Vincente einfach ein paar Holzkübel unter die Löcher gestellt. Die waren nach dem letzten Regenguss bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Er brauchte ständig Wasser, um irgendwelche Farben zu verdünnen. Das nahm er dann aus den Kübeln.

Ansonsten waren überall in der Werkstatt Tongefäße, Tiegel, Döschen und Holzkisten aller Art und Größe zu sehen. Darin lagerten die Zutaten für die Farbmischungen, für die Vincente bis nach Florenz berühmt war. Eine paar Leinwände hatte er auch aufgestellt. Nicht, weil er selbst ein großer Künstler gewesen wäre! Er probierte dort vielmehr seine Farbrezepte aus. Oft musste man erst abwarten, bis eine Farbe richtig getrocknet war, um sehen zu können, wie sie am Ende wirkte. Es gab auch verschiedene Steinblöcke, die bemalt worden waren. Vincente hatte sie sich von einem Fuhrmann herbeischaffen lassen. Schließlich war es ein Unterschied, ob eine Farbe auf Leinwand, auf Papier oder für eine Wandmalerei auf Stein aufgebracht werden sollte.

„Leonardo! Schön dich zu sehen“, sagte Vincente, der gerade in einem Topf über dem Feuer etwas zusammenrührte. Leonardo war sich dabei nicht sicher, ob es sich um eine Suppe oder vielleicht doch um eine Farbe handelte.

Oder vielleicht auch um etwas ganz anders...

Eigentlich war Vincente nämlich kein Maler und Farben mischte er auch nur deshalb, weil ihm die so gut abgekauft wurden. Er war Alchimist und sein Wissen über die Eigenschaften vieler Stoffe hatte er durch seine Versuche erworben, aus Dreck Gold zu machen. Einst hatte ihn der Rat der Stadt Genua deswegen angestellt. Da es Vincente aber nicht gelang, Gold herzustellen, hielt man ihn für einen Betrüger und er musste auf das Gebiet der Republik Florenz fliehen. So hatte er sich in Vinci niedergelassen.

Vincente hatte Leonardo diese Geschichte ausführlich erzählt und der Junge konnte gar nicht genug von diesen Schilderungen bekommen, denn er interessierte sich für alles, was mit fernen Ländern und Städten zu tun hatte.

„Hat dein Vater dir schon von meinem Testament erzählt?“, fragte Vincente.

Leonardo druckste etwas herum, denn er wusste, dass ein Notar eigentlich nicht über solche Dinge sprechen sollte. „Falls ja, dann hat er nichts Unrechtes getan“, fuhr Vincente fort. „Ich habe es ihm nämlich ausdrücklich erlaubt.“

„Warum?“, fragte Leonardo.

„Damit du einen Ansporn hast weiterzumalen und dein Talent zu vervollkommnen! Im Moment bist du noch nicht so weit, dass dir mein Blau überhaupt etwas nützen würde! Aber das wird in ein paar Jahren schon anders sein! Du hast wirklich Talent als Maler – ich nicht. Ich kann nur Farben zusammenmischen. Das ist meine einzige Begabung. Aber was dich angeht, solltest du sehen, dass dein Vater dich möglichst bald in einer Maler-Werkstatt anmeldet! Du bist zwar im Moment noch etwas jung...“

„Mein Vater hat sich schon in Florenz erkundigt. In ein paar Jahren habe ich eine Chance!“

„Und wenn man dieser Werkstatt dann das Rezept von ‚Vicentes Blau’ anbieten kann, würde dich jeder Meister auch dann nehmen, wenn du zwei linke Hände hättest und nicht mal wüsstest, wo beim Pinsel vorne und hinten ist!“

„Das will ich nicht“, sagte Leonardo. „Wenn ich in eine Maler-Werkstatt gehe, dann nur deshalb, weil ich gut genug bin!“

„Das ist sehr ehrenwert“, sagte Vincente. „Aber vielleicht auch dumm.“

„Wieso?“

„In einer Werkstatt für Malerei wird man doch Lehrling, um gut zu werden, nicht weil man schon gut ist. Ein gewisses Talent ist natürlich die Voraussetzung, sonst hat es gar keinen Sinn. “ Er lächelte. „Bei mir zum Beispiel hätte des wohl wenig genützt, selbst wenn ich hundert Jahre lang bei den größten Meistern in die Lehre gegangen wäre!“

„Man muss natürlich auch das Lehrgeld aufbringen können“, gab Leonardo zu bedenken. „Und gerade bei den besten Meistern kann das sehr hoch sein...“

Vincente machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Darüber würde ich mir keine Sorgen machen“, sagte er.

„Wieso nicht? Ein reicher Mann ist mein Vater nicht gerade!“

„Aber er wird es. Früher oder später jedenfalls – und da nehme ich eher früher an. Er arbeitet doch jetzt schon für den Stadtherrn von Florenz und das wird sicher bald auszahlen. Außerdem lernt er dadurch viele wichtige Leute kennen. Und nicht zu vergessen: Dein Vater ist noch jung! Der kann noch einmal heiraten! Wer weiß, die Hochzeit mit einer Tochter aus einem guten Haus in Florenz... Das könnte seinen Aufstieg beschleunigen!“

Leonardo war da weniger optimistisch. „Das hat er ja schon mal versucht!“, sagte er. „Seine letzte Frau kam ja auch aus Florenz – aber sie ist dann sehr schnell gestorben!“

„Es werden schon nicht alle florentinischen Frauen so kränklich sein, Leonardo... Jedenfalls solltest du aufhören, deine Zeit damit zu verschwenden, tote Tiere auseinander zu schneiden, um zu sehen, wie sie von innen aussehen oder diese eigenartigen Maschinen zu zeichnen, mit denen man fliegen kann... Damit verschwendest du nur deine Zeit! Mach lieber damit weiter!“ Dabei deutete er auf ein Bild, das Leonardo begonnen hatte. Anstatt einer richtigen Leinwand hatte Leonardo ein altes, löcheriges Laken über einen Holzrahmen gespannt. Das angefangene Bild zeigte das Gesicht einer lächelnden Frau. Es sollte seine Mutter sein. „Gut, die Formen stimmen noch nicht so richtig“, sagte Vincente. „Aber die Farben sind schon großartig eingesetzt. Und wenn du den Himmel machst, spendiere ich dir etwas von meinem besonderen Blau!“ Er zwinkerte Leonardo zu und tickte sich dabei mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. „Ein Blau, dessen Geheimnis es nur an zwei Orten gibt: Hier oben in meinem Kopf und in dem Brief, den ich deinem Vater zur Aufbewahrung gegeben habe.“

„Ist es nicht ein Risiko, das Rezept aufzuschreiben?“, fragte Leonardo.

Aber Vincente zuckte nur mit den Schultern. „Natürlich ist das ein Risiko und jahrelang habe ich meine wichtigsten Rezepte alle nur im Kopf behalten, aus Angst, dass sie mir jemand stehlen könnte. Aber ich bin inzwischen alt geworden und die eine oder Krankheit plagt mich, gegen die es keine Medizin gibt, sodass...“ Vincente unterbrach seinen Satz, weil er ganz fürchterlich husten musste. Diesen Husten hatte er schon gehabt, als er nach Vinci gezogen war – und er war seitdem kein bisschen besser geworden, sondern immer nur schlimmer. Er war wohl nicht mehr heilbar. „Du hörst es ja. Es kann durchaus sein, dass ich eines Tages nicht mehr aufwache. Und es wäre doch ein Jammer, wenn man dieses wunderbare Blau, dass ich erfunden habe, nicht mehr benutzen könnte! Stell dir all die Gemälde vor, die jetzt in den Malerwerkstätten von Florenz mit meinem Blau angefangen worden sind und die vielleicht nie vollendet werden können, weil es von dieser Farbe eines Tages keinen Nachschub mehr gibt!“

„Na ja, ich denke, die würden dann ein anderes Blau nehmen“, vermutete Leonardo.

Aber dafür erntete er vom wunderlichen Vincente nur einen ärgerlichen Blick. „Das kann doch nicht dein Ernst sein, Junge!“, meinte er. „Du hast dieses Blau gesehen und weißt, wie es leuchtet!

Wie es selbst einen schlecht gemalten Himmel zum Strahlen bringt! Wie es Augen so erscheinen lässt, als würden sie einen wirklich aus dem Bild heraus ansehen! Den Unterschied sähe man doch sofort! Was glaubst du denn, weshalb die ganzen Maler wohl hier her kommen und mich auf Knien und mit ein paar Silberstücken in den Händen darum bitten, dass ich ihnen noch etwas mehr von dieser Farbe anrühre?“ Der wunderliche Vincente schüttelte energisch den Kopf und deutete dann noch einmal auf das angefangene Bild von der lächelnden Frau. „Also wirklich! Etwas mehr Stilempfinden hatte ich dir inzwischen allerdings zugetraut!“ Er zwinkerte Leonardo zu.

„Nicht, dass ich meine Erbschaft noch mal rückgängig machen muss! Einem Banausen würde ich das Rezept nämlich niemals vermachen!“

Leonardo hob die Augenbrauen. „Was ist ein Banause?“

„Jemand, der nichts von Kunst versteht und kein Empfinden dafür hat!“

Der Alchemist trat in eine Pfütze, die sich neben einem der Wasserbottiche gebildet hatte, als dieser etwas übergelaufen war. Vincente blickte zu dem darüber liegenden Loch im Dach auf und meinte schließlich: „Vielleicht sollte ich mir dafür auch noch etwas anders überlegen.“

„Es gibt hier im Dorf einen Mann, der heißt Marco. Man nennt ihn Marco den Älteren, weil es auch noch einen jüngeren Marco und einen Marco ohne Haare in Vinci gibt. Marco der Ältere kann Dächer reparieren.“

„Aber dessen Dienste sind nicht billig!“

„Dafür ist er ein guter Handwerker, der dein Dach wieder richtig in Schuss bringen könnte!“, hielt Leonardo dem entgegen. Vincente seufzte. „Ja, vielleicht leiste ich mir das mal, wenn es mir doch noch gelungen ist, aus Dreck Gold zu machen. Diesen Plan habe ich ja nie aufgegeben...“

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3. Kapitel

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Der blauhändige Reiter

Als Leonardo zum Haus seines Großvaters zurückkehrte, war er ziemlich in Gedanken versunken. Er dachte darüber nach, ob der wunderliche Vincente vielleicht Recht hatte und er seine Zeit wirklich damit verschwendete, sich Maschinen auszudenken oder die Natur zu erforschen, die ihn nun mal brennend interessierte. War Leonardo wirklich ein so großes Maltalent, wie der Alchimist meinte?

Und wenn ja – konnte er dann vielleicht trotzdem Dinge tun, für die er vielleicht nicht so begabt war, die ihm dafür aber einfach Spaß

machten? Wer sagte überhaupt, dass man sich nur auf eine Sache konzentrieren und die wirklich gut erlernen konnte?

Inzwischen stand der Mond am Himmel. Es war später geworden, als es Leonardos Absicht gewesen war. Erstens hatte er sich noch eine ganze Weile mit dem wunderlichen Vincente unterhalten. Und zweitens hatte er auf dem Rückweg ziemlich getrödelt, da er über alles Mögliche nachdenken musste.

Der Hufschlag eines Pferdes riss ihn aus seinen Gedanken jäh heraus, als der Dorfplatz gerade in Sichtweite kam. Ein Reiter mit wehendem Mantel kam den Weg entlang, der zum Dorfgastwirt führte. Die Kapuze trug er tief ins Gesicht gezogen, sodass darunter kein Gesicht zu sehen war. Nur Dunkelheit. Er riss das Pferd herum und ließ es nun an Großvaters Haus entlang direkt auf Leonardo zupreschen.

Da sich Leonardo im Schatten einiger Sträucher befand, die den Frühling und Sommer über kräftig gewachsen waren, konnte der Reiter ihn wohl zunächst nicht sehen.

Er jagte den schon zur Hälfte wieder getrockneten Weg entlang. Leonardo konnte sich gerade noch zur Seite werfen. Das Pferd wieherte und stieg auf die Hinterbeine.

Leonardo rollte sich auf dem Boden ab, drehte sich um die eigene Achse und rappelte sich wieder auf.

Er blickte mit vor Angst geweiteten Augen empor, sah über sich die durch die Luft fahrenden, scharfen Vorderhufe. Das fahle Mondlicht fiel auf den Reiter. Es erhellte nicht den Schatten unter der Kapuze – aber es schien auf die Hände, die unter dem Mantel hervorschauten und an den Zügeln rissen. Die Hände waren blau gefärbt!

Die Hufen senkten sich und kamen dicht neben Leonardo auf den Boden. Erde wurde aufgewühlt und in die Höhe geschleudert. Der Reiter hatte Mühe sein Pferd unter Kontrolle zu bringen. Es stellte sich erneut auf die Hinterbeine und wieherte laut. Leonardo stolperte davon. Haarscharf gingen die Hufe an seinem Kopf vorbei. Dann stieß der Reiter dem Tier die Hacken in die Seiten, sodass es einen Satz nach vorn machte. Es preschte voran. Leonardo bekam ein paar Klumpen Erde ab.

Der Reiter mit den blauen Händen ritt in Richtung Florenz aus dem Dorf hinaus. In den Schatten zwischen den Sträuchern und Bäumen am Wegesrand verschwand er für einige Zeit. Nur noch der Hufschlag war zu hören. Dann tauchte er noch einmal kurz im Mondlicht auf, bevor er mit wehendem Mantel hinter einer Hügelkette verschwand.

„Dieser Verrückte!“, rief Leonardo ärgerlich.

Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre schwer verletzt worden oder sogar umgekommen! Nur weil dieser Kerl so rücksichtslos daher geritten war!

Das Herz schlug Leonardo bis zum Hals.

Er atmete tief durch. Seine Knie zitterten.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte.

Es waren nur etwa hundert Schritt zwischen der Stelle, an der Leonardo von dem geheimnisvollen Reiter beinahe über den Haufen geritten worden war und dem Haus des Großvaters, das direkt am Dorfplatz lag, den man in Vinci auch die Loggia nannte. Als er zur Tür hereinkam, prasselte das Kaminfeuer und Großvater war gerade dabei, den Bratenspieß zu reinigen.

„Stell dir vor, was gerade passiert ist!“, platzte es aus Leonardo heraus. „Da war ein verrückter Reiter, der vom Gasthaus gekommen ist und mich um ein Haar über den Haufen geritten hätte!“

„Ist dir was passiert?“, fragte Großvater besorgt. Leonardo schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich hatte großes Glück, dass mich die Hufe nicht erwischt haben.“

„Hast du den Kerl vielleicht erkannt? Dann könnte ich mal mit ihm reden! Schließlich sollte man hier im Dorf ein Mindestmaß an Vorsicht walten lassen und eigentlich muss man als Reiter immer damit rechnen, dass im Dorf noch jemand nach Sonnenuntergang unterwegs ist!“

„Ich konnte das Gesicht nicht erkennen. Es lag im Schatten seiner Kapuze. Aber er hatte blaue Hände.“

„Dann war das vielleicht einer der Kunden von deinem Bekannten, dem wundersamen Vincente.“ Der Großvater machte eine wegwerfende Handbewegung. „Diese Florentiner! Denken, nur weil sie aus der Stadt kommen, sind sie etwas Besseres!“

Leonardo schüttelte den Kopf.

„Nein, eigentlich kann es keiner der Kunden vom wunderlichen Vincente gewesen sein. Schließlich war ich doch bei ihm und dann wäre ich ihm dort begegnet. Außerdem kam der Reiter aus der Richtung des Gasthofs.“

„Das ist doch Haarspalterei! Er könnte doch vorher, am Nachmittag bei Vincente gewesen sein, ist dann in den Regenguss geraten und hat sich am Kaminfeuer des Gasthauses die Kleider trocknen lassen. Jedenfalls kenne ich niemand sonst, der blaue Farbe herstellt.“

„Ich weiß...“

„Also frag morgen Vincente mal, ob ein Kunde bei ihm war.“

Großvater deutete auf den Tisch. Dort lag eine Ledertasche, die man sich an einem Riemen um die Schulter hängen konnte. Leonardo erkannte sie sofort. Es war Ser Pieros Tasche. Er bewahrte darin wichtige Geschäftsunterlagen auf, wenn er unterwegs war.

„Dein Vater hat seine Tasche liegen lassen“, stellte Großvater fest. „Es wäre schön, wenn du sie ihm noch nach Hause bringen könntest. Ich bin im Moment nicht so gut zu Fuß. Mein Knie macht mir seit ein paar Tagen zu schaffen!“

„Mache ich“, versprach Leonardo.

„Ist mir einfach lieber, wenn diese sicher sehr wichtigen Dokumente nicht in meinem Haus sind... Wenn am Ende irgendetwas verschwunden ist, habe ich den Ärger am Hals.“

„Ich bin gleich wieder zurück!“, kündigte Leonardo an und nahm die Tasche unter den Arm.

„Aber achte auf Reiter, die durch die Nacht preschen!“

„Werde ich!“

Leonardo machte sich also auf den Weg. Ein leichter Wind kam auf und raschelte durch die Sträucher und Bäume rund um Vinci. Das Mondlicht sorgte nur für wenig Helligkeit. Leonardo versuchte den noch weichen, matschigen Stellen des Weges auszuweichen, so gut es ging.

Im Dorfgasthaus, das von Giannas Eltern betrieben wurde, war noch einiges los. Man hörte Stimmengewirr und Musik. Jemand spielte auf einer Laute und ein paar Männerstimmen sangen dazu. Ausgebildete Sänger waren sie allerdings nicht, das konnte man schon von weitem hören.

Schließlich erreichte er das Haus seines Vaters. Dort brannte kein Licht mehr. Was Leonardo allerdings verwunderte, war, dass Ser Pieros Pferd vor der Tür angebunden war. Dass sein Vater einfach zu Bett ging und das Pferd draußen vergaß, anstatt es in den Stall zu bringen und abzusatteln, konnte sich Leonardo eigentlich nicht vorstellen.

Also musste Ser Piero auch noch wach sein – selbst wenn jetzt kein Lichtschein durch irgendeines der Fenster zu sehen war. Leonardo erreichte die Tür und klopfte.

„Vater?“, rief er. „Ich bin’s! Leonardo! Du hast deine Tasche bei uns vergessen!“

Keine Antwort.

Während er klopfte, merkte Leonardo, dass die Tür ein Stück nachgab. Sie knarrte dabei und Leonardo fuhr förmlich zusammen. Leonardo öffnete die Tür ein Stück weiter, dann war da irgendein Widerstand.

Der Junge trat ein.

Es war fast stockdunkel im Raum, denn die Fensterläden waren geschlossen, sodass nur ein wenig Mondlicht durch die Tür herein schien.

Es fiel in das Gesicht von Ser Piero, der ausgestreckt auf dem Boden lag.

„Vater!“, rief Leonardo.

Er kniete neben dem reglos daliegenden Mann nieder und rüttelte ihn an den Schultern, aber Ser Piero rührte sich nicht. Leonardo erschrak. Er überprüfte den Herzschlag. Herzschlag und Atmung setzen aus, wenn jemand nicht mehr lebte – das wusste Leonardo. Im nächsten Moment war er jedoch bereits sehr erleichtert, als er feststellte, dass Ser Pieros Herz noch schlug.

Leonardo rüttelte seinen Vater erneut bei den Schultern. Er stöhnte auf und rührte sich etwas.

„Aufwachen!“, rief Leonardo.

Dann zuckte Leonardos Vater zusammen, riss die Augen auf und starrte Leonardo an, als hätte er einen Geist gesehen.

„Ich bin’s, Vater!“

Ser Piero atmete tief durch. „In der Dunkelheit dachte ich erst...“

„Was?“

Ser Piero richtete sich vorsichtig auf und betastete seinen Kopf, der offenbar sehr stark schmerzte. Er blickte sich nach allen Seiten um, so als befürchtete er, dass noch jemand im Raum sein könnte.

„Ich habe dir deine Tasche hergebracht. Die hattest du nach dem Essen vergessen“, sagte Leonardo.

„Das ist nett“, murmelte Ser Piero.

„Was ist passiert?“, wollte Leonardo wissen.

Ser Piero erhob sich nun. Er hielt sich noch immer den Kopf. „Der Kerl hat einen Fausthieb gehabt... Meine Güte! Wie ein Hammerschlag! Ich bin wohl bewusstlos gewesen!“

„Wer war das?“

„Ich weiß es nicht! Als ich ins Haus kam, sah ich nur noch einen Schatten und bekam den Schlag. Danach war mir nur noch schwarz vor Augen.“

Ser Piero wurde plötzlich von Unruhe getrieben. Weil er so starke Kopfschmerzen hatte, ließ er Leonardo Feuer machen und eine Kerze anzünden. „Zunder findest du in dem Schrank neben dem Fenster, dritte Schublade“, sagte Ser Piero. Er wankte dabei zu einem Stuhl und ließ sich darauf nieder.

Leonardo ließ sich das nicht zweimal sagen.

Er machte Feuer und da es in Ser Pieros Haushalt reichlich Kerzen gab, zündete er gleich mehrere an.

Jetzt wurde deutlich, dass alles durchsucht worden war. Die Schublade des Schreibtischs, an dem der Notar Ser Piero jeden Tag Verträge und Urkunden ausfertigte, war aufgebrochen worden. Dasselbe galt für den Schrank. Überall lagen Papiere und Urkunden auf dem Boden verstreut.

Ein Tintenfass war umgestoßen worden. Die Tinte war über den Tisch gelaufen, hatte Papiere eingefärbt und tropfte auf den Boden. Ser Piero wurde bleich.

„Das darf dich nicht wahr sein!“, stieß er hervor. Er schüttelte fassungslos den kopf.

„Da hat jemand etwas gesucht“, stellte Leonardo fest.

„Aber hier sind doch nur Dokumente und Kaufverträge, von denen die meisten für einen Dieb doch gar keinen Wert haben! Und Geld lasse ich in größeren Summen nie im Haus! Mal davon abgesehen, dass ich so viel auch gar nicht besitze!“

Ser Piero hatte in den letzten Jahren von seinem Notar-Beruf einigermaßen leben können, besaß aber keine großen Ersparnisse. Wenn dann doch mal etwas übrig blieb, brachte er es nach Florenz auf eine der neu entstandenen Bankhäuser, die immer beliebter wurden. Vor allem natürlich bei Leuten, die sehr reich waren und Geschäfte tätigten, bei denen es um große Summen ging. Bis zur Gründung der ersten Banken in Florenz und einigen anderen italienischen Städten, hatten diese Kaufleute und Händler nämlich schwere Kisten voller Gold-und Silbermünzen zu ihrem Geschäftspartnern karren müssen, was sehr gefährlich war und Räuber anlockte. Die Bankhäuser in Florenz boten da einen Ausweg. Man konnte dort nämlich Gold und Silber gegen Banknoten eintauschen. Das waren Urkunden, auf denen die Bank versicherte, dem Überbringer oder einer bestimmten Person jederzeit den Betrag in Gold oder Silber auszahlen zu können, der auf der Banknote eingetragen war.

„Vielleicht hat der Einbrecher gedacht, dass du sehr reich bist!“, meinte Leonardo.

Ser Piero erhob sich von seinem Platz, hielt sich aber immer noch den Kopf. „Kann ja sein, dass die Leute, für die ich inzwischen zum Teil arbeite, reich sind – aber ich doch nicht!“

Leonardo sah sich um. „Soll ich dir helfen, alles wieder zu sortieren?“

„Gerne.“

„Vielleicht sehen wir dann ja, ob etwas fehlt und sind dadurch schlauer. Es könnte doch sein, dass jemand wissen wollte, was in einer bestimmen Urkunde steht, die bei dir zur Aufbewahrung liegt!“

„Das könnte ja eigentlich höchstens ein Testament sein, dessen Inhalt vielleicht jemand erfahren will, der davon noch nichts wissen soll!“, vermutete Ser Piero.

Ser Piero ging zum Schreibtisch und sah in der aufgebrochenen Schublade nach. Dann sammelte er ein paar Schriftstücke auf, die achtlos auf den Boden geworfen worden waren. Auf einem der Blätter war der Abdruck eines Stiefels.

„Das Testament des wunderlichen Vincente ist nicht mehr da!“, stellte Ser Piero fest. „Ich hatte es in die Schublade gelegt, da bin ich mir ganz sicher!“

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4.Kapitel

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Wer war der Dieb?

Leonardo und sein Vater hoben sie verstreuten Papiere auf und Ser Piero ordnete sie notdürftig. Aber das Testament des wunderlichen Vincente blieb verschwunden.

„Dann ist doch alles klar“, meinte Leonardo.

Ser Piero hob die Augenbrauen. „So? Mir ist gar nichts klar!“

„Ganz einfach: Jemand wollte das Rezept für Vincentes Blau in seinen Besitz bringen, Vater! Vielleicht jemand, der damit Geschäfte machen wollte. Oder ein Maler, der ein halbfertiges Bild auf der Staffelei stehen hat und dem Vincentes Blau ausgegangen ist, sodass er das Bild jetzt nicht vollenden kann! Schließlich würde man den Unterschied sofort sehen, wenn er einfach nur irgendein Blau nehmen würde! Eigentlich kommt jeder in Frage, der diese Farbe dringend braucht und vielleicht nicht genügend Geld hat, um dafür bezahlen.“

Ser Piero wirkte sehr nachdenklich, während er ein paar Dokumente sorgfältig glatt strich.

„Ich weiß nicht... Das würde ja bedeuten, dass der Kerl, der mich niedergeschlagen hat, wusste, dass der wunderliche Vincente nicht nur sein Testament bei mir aufgegeben hat, sondern auch eine Niederschrift seines Farbrezeptes. Also ich habe das bestimmt nicht herumerzählt – und dass Vincente das tun würde, kann ich mir auch nicht vorstellen. Schließlich ist er ansonsten doch auch immer ein richtiger Geheimniskrämer, was seine Farbe angeht.“

„Auf jeden Fall konnte der Täter lesen“, meinte Leonardo. „Sonst hätte er das Testament nicht finden können.“

„Was uns nicht sehr viel weiterhilft“, meinte Ser Piero. „Heute können doch sogar schon viele Kaufleute lesen und schreiben! Eines Tages waren es so viele sein, dass Männer wie ich, die sich ihren Lebensunterhalt dadurch verdienen, dass sie für andere Leute etwas aufschreiben, ohne Arbeit dastehen!“

Leonardo runzelte nachdenklich die Stirn. Konnte es wirklich sein, dass sein Vater nichts von dem Täter gesehen hatte? „Kannst du dich denn an gar nichts mehr erinnern?“, fragte der Junge. „Fällt dir nicht vielleicht irgendeine Einzelheit ein? War der Täter groß oder klein, war er wie ein Edelmann gekleidet oder wie ein einfacher Bauer?“

„Ich sah einen Schatten und...“ Ser Piero zögerte, eher weiter sprach. „Dann war es auch schon passiert! Ich bekam den Schlag und mir wurde schwarz vor Augen. Danach weiß ich gar nichts mehr.“

„Als ich von Vincentes Werkstatt zurückkehrte, hat mich ein Reiter beinahe über den Hafen geritten, der blau gefärbte Hände hatte“, berichtete Leonardo. „So als würde er viel mit Farben hantieren.“

„Also doch! Dann hatte er es auch auf die Farbe abgesehen!“ Ser Piero seufzte und auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Zornesfurche.

„Wahrscheinlich will er selbst damit ein gutes Geschäft machen!“

„Ich werde dem wunderlichen Vincente Bescheid sagen und ihn danach fragen, ob heute irgendjemand bei ihm war, der Farbe von ihm kaufen wollte.“

„Dafür ist es jetzt etwas zu spät“, meinte Ser Piero.

„Außerdem...“ Ser Piero druckste etwas herum, eher er fort fuhr.

„Für mich ist das Ganze natürlich höchst unangenehm! Schließlich ist Vincente zu mir gekommen, damit sein Rezept in guten Händen ist – und noch am selben Tag, an dem er das Testament aufgesetzt hat, und nun glaubt, dass sein Vermächtnis geregelt wäre, geschieht dieser Einbruch! Ich könnte mich dafür verwünschen, dass ich das Rezept nicht an einem sicheren Ort aufbewahrt habe. Aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern.“

„Du würdest Vincente am liebsten gar nichts davon sagen, nicht wahr?“, vermutete Leonardo.

Ser Piero nickte. „Natürlich! Am liebsten wäre mir, man könnte das Rezept zurückbekommen, bevor er davon erfährt. Ich möchte deshalb auch nicht, dass die Sache an die große Glocke gehängt wird. Was glaubst du denn, wer bei mir in Zukunft noch sein Testament aufgeben wird? Gar nicht auszudenken, wenn Cosimo de’ Medici davon erfährt...“

„Aber ohne Vincentes Hilfe wird man kaum herausfinden können, wer das Rezept gestohlen hat“, sagte Leonardo. „Schließlich weiß er allein, wer die Farbe unbedingt brauchte. Und ich bin davon überzeugt, dass es einer von Vincentes Kunden gewesen sein muss!“

„Wahrscheinlich hast du Recht. Ich werde in den nächsten Tagen nach Florenz reiten und die Sache der Stadtwache melden müssen. Wenn dann irgendwo jemand aus dem Nichts auftaucht, der plötzlich ein ganz besonderes Blau anbietet, das den Himmel eines Gemäldes ganz besonders leuchten lässt, können die gleich einschreiten.“

„Als aller erstes sollte man im Gasthaus mal nachfragen, ob dort über das Testament von Vincente gesprochen wurde“, schlug Leonardo vor. „Und ob dort jemand eingekehrt ist, der blaue Hände hatte!“

„Ja, aber auch dazu ist es zu spät“, war Ser Piero überzeugt.

„Außerdem weiß ich nicht, ob ich das wirklich möchte. Schließlich wissen dann alle hier in der Umgebung, was geschehen ist!“

„Das wird sich kaum vermeiden lassen“, war Leonardo überzeugt.

„Übrigens ist der Schaden vielleicht gar nicht so groß, wie du jetzt vielleicht glaubst.“

Ser Piero runzelte die Stirn und sah seinen Sohn ziemlich erstaunt an.

„Wie kommst du darauf?“

„Wenn der wunderliche Vincente mit unsichtbarer Tinte geschrieben hat, kann der Täter doch gar nicht lesen, was auf dem Rezept steht! Und ich wüsste eigentlich keinen Grund, weshalb Vincente nicht mit unsichtbarer Tinte geschrieben haben sollte. Schließlich hat er mir ja auch ausführlich gezeigt, wie man sie herstellt und vor allem, wie man es schafft, dass das Unsichtbare wieder sichtbar wird.“

„Durch Erhitzen“, erwiderte Ser Piero ziemlich trocken. Leonardo sah seinen Vater wie entgeistert an.

„Hat er mit dir auch darüber gesprochen?“ Leonardo musste zugeben, etwas enttäuscht darüber zu sein, dass er offenbar nicht der einzige war, mit dem der Alchimist dieses Geheimnis geteilt hatte. Aber in diesem Punkt irrte sich Leonardo.

Dass sein Vater wusste, wie man die meisten sympathetischen Tinten wieder sichtbar machen konnte, hatte nichts mit Vincente und seinem Testament zu tun.

„Ich selbst habe auch schon solche Tinten verwendet“, sagte Ser Piero. „Und wenn der Täter wirklich jemand war, der auch ein nur ein bisschen von Farben, Tinte und den Eigenschaften verschiedener Stoffe versteht, dann wird er das auch wissen und das Blatt einfach über eine Flamme halten.“

„Hast du das Rezept gesehen?“, fragte Leonardo. Aber Ser Piero schüttelte den Kopf. „Nein, es war zusammengerollt und versiegelt. Anschließend wurde es dann mit dem Testament zusammen noch einmal von mir versiegelt, aber den Wortlaut des Rezepts habe ich nie gesehen.“

Später fanden sie auf dem Boden ein paar Wachsspuren. Der Einbrecher hatte die Siegel mehrerer Urkunden gebrochen, um sie lesen zu können. Anschließend hatte er sie dann einfach auf den Boden fallen lassen.

Beim Rezept für Vincentes Blau war es wohl genauso geschehen. Leonardo sah sich noch einmal gründlich um und fragte seinen Vater Löcher in den Bauch. Eine Frage folgte der nächsten, so dass Ser Piero schon genervt die Augen verdrehte. Aber schließlich war er das bei seinem Sohn ja schon gewohnt. Zum Beispiel wollte er wissen, ob Ser Piero irgendetwas Verdächtiges aufgefallen sei, bevor er das Haus betreten hätte.

Aber Ser Piero schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich mich erinnern könnte.“

„Wenn der Dieb tatsächlich der Reiter mit den blauen Händen war, dem ich begegnete, dann muss irgendwo in der Nähe deines Hauses ein gesatteltes Pferd gestanden haben“, meinte Leonardo.

„Vielleicht bei der Schänke“, vermutete Ser Piero. „Ich habe einfach nicht darauf geachtet!“

„Wenn du nach Florenz gehst, um die Sache zur Anzeige zu bringen, würde ich dich gerne begleiten“, sagte Leonardo.

„Ehrlich gesagt, bin ich mir noch gar nicht sicher, ob ich das tun soll.“

„Wieso denn nicht?“

„Dann würde sich doch auch in Florenz herumsprechen, dass mir ein wichtiges Dokument gestohlen wurde und das wäre nicht gut für meinen Ruf. Ich muss mir das noch überlegen... Allerdings reite ich in den nächsten Tagen ohnehin nach Florenz.“

„Vielleicht nimmst du mich ja trotzdem mit! Ich war ja schließlich schon einmal dort!“

Ser Piero hob abwehrend die Hände. „Erinnere mich nicht daran, wie du und dein Freund Carlo mit einem Pferd, dass ich von einem Schuldner als Pfand genommen hatte, ohne jemanden zu fragen oder wenigstens Bescheid zu sagen, nach Florenz gelangt seit!“

„Ist doch alles gut gegangen!“, verteidigte sich Leonardo.

„Trotzdem – was da alles hätte passieren können! Davon abgesehen hätte ich das Pferd aus meiner Tasche ersetzen müssen, wenn es euch verloren gegangen wäre und der eigentliche Besitzer seine Schulden bezahlt hätte!“

„Aber davon kann dich keine Rede sein!“, erwiderte Leonardo.

„Wir haben die Stute wohlbehalten zurückgebracht – sie steht immer noch in Großvaters Stall.“

Ser Piero sah seinen Sohn an und schien nachzudenken.

„Das wird aber kein Vergnügungsausflug“, erklärte Ser Piero und blickte an seinen Sohn herab bis zu den bloßen Füßen. „Und Schuhe müsstest du tragen. Sonst sieht das einfach zu sehr danach aus, als würde ich ein Straßenkind an meiner Seite führen.“

Als Leonardo das Haus seines Vaters verließ, ging ihm die ganze Sache noch einmal durch den Kopf. Der Gedanke daran, erst am nächsten Tag weitere Schritte unternehmen zu können, um dem Dieb auf die Spur zu kommen, gefiel ihm nicht. Der Kerl war doch bis dahin längst über alle Berge. Möglicherweise machte er sich gleich daran, Vincentes Blau selbst herzustellen oder er verkaufte das Rezept einfach weiter.

Im Gasthof war nichts mehr los. Die Fensterläden waren geschlossen und nicht ein einziges Pferd war an der Querstange vor dem Eingang noch angebunden. Das Stimmengewirr im Inneren war verstummt. Man hörte keinen Laut.

Es musste also wirklich schon sehr spät sein.

Um noch einmal zu Vincente zu laufen, war es wohl wirklich zu spät. Großvater würde sich dann Sorgen machen.

Aber etwas konnte er doch noch tun.

Er schlich zur Rückfront des Gasthofes. Dann suchte er sich einen Stein und warf ihn gegen den Fensterladen des Zimmers, in dem Gianna schlief.

Vielleicht schlief sie ja noch nicht tief genug und hörte ihn noch. Auf den ersten Stein reagierte sie nicht.

Beim zweiten war es dasselbe – erst nach dem dritten Wurf hatte Leonardo Erfolg.

Knarrend öffnete sich der Fensterladen. Der Krach war so laut, dass Leonardo schon befürchtete, auch Giannas Eltern könnten dadurch geweckt werden. Aber die hatten offenbar einen so anstrengenden Tag hinter sich, dass sie wie die Murmeltiere schliefen.

Im Mondlicht sah Leonardo Giannas Gestalt. Das weiße Nachthemd war deutlich zu sehen. Gianna hingegen konnte Leonardo nicht gleich erkennen, da dieser sich in einem dunklen Schatten neben einem Strauch befand.

„Hier bin ich!“, wisperte Leonardo.

Sie sah ihn an. Ihr Gesicht wirkte zornig.

„Bist du verrückt geworden? Was ist denn los?“

„Etwas sehr wichtiges!“

„Das will ich hoffen! Was meinst du, was passiert, wenn ich jetzt erwischt werde? Dann darf ich wahrscheinlich nie mehr zu dir!“

Leonardo grinste. „Dann bist du aber auch sicher davor, eines Tages wegen der angeblichen Schwarzen Magie angeklagt und verbrannt zu werden, die du von mir gelernt hast!“

„Das finde ich nicht lustig!“, erwiderte Gianna sehr ernst. „Magie gibt es nämlich wirklich. Und sie kann sehr gefährlich sein!“

Leonardo bezweifelte auch nicht, dass es Magie wirklich gab. Niemand, den er kannte tat das. Aber er hatte erfahren, dass manches, das wie Magie aussah, in Wirklichkeit nur darauf beruhte, dass man ein Gesetz der Natur ausnutzte. So wie es bei der unsichtbaren Tinte der Fall gewesen war. Im Moment hatte Leonardo jedoch keine Lust, darüber zu diskutieren.

In knappen Worten fasste Leonardo zusammen, was geschehen war. „Vielleicht kannst du mal deine Eltern fragen, ob jemand in Eurem Gasthof gesehen wurde, der blaue Hände hatte.“

„Blaue Hände?“

„Ja. Durch den häufigen Gebrauch von Farbe, die sich nur schwer abwaschen lässt. Dieser Mann hat außerdem ein Pferd gehabt, weil er mich nämlich beinahe über den Haufen geritten hätte.“

„So ein Mann war tatsächlich bei uns im Gasthaus“, bestätigte Gianna. „Ich habe ihn gesehen, als ich nach Hause kam. Die blauen Hände sind mir auch gleich aufgefallen.“

„Hast du sein Gesicht erkannt?“

„Nur undeutlich. Er hatte eine Kapuze auf. Aber das Kinn konnte ich sehen. Er hatte einen Bart, wie der Bart einer Ziege aussah – und zwar dunkelhaarig!“

Also ein jüngerer Mann!, schloss Leonardo. Sonst wäre der Bart schon grau gewesen.

„Mit wem war er zusammen?“

„Ehrlich gesagt habe ich nicht so sehr auf ihn geachtet. Der Regen hatte zwar etwas nachgelassen, als ich vom Haus meines Großvaters aus losgegangen bin, aber ich bin trotzdem total nass geworden. Meine Mutter hat mich gleich zum Kamin geschoben.“

„Versuch dich zu erinnern! Mit wem hat er geredet?“

„Ich habe nur den Tagelöhner Niccolo gesehen. Und der redete irgendetwas daher. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass Niccolo sich eher mit ein paar anderen Männern unterhielt, und dieser Kerl mit den blauen Händen nur in der Nähe saß und zuhörte.“

Leonardo atmete tief durch. „Kannst du dich nicht noch an irgendwelche Einzelheiten des Gesprächs erinnern? Könnte es zum Beispiel um ein Testament gegangen sein?“

Gianna strich sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht. „Das kann schon sein – wie gesagt ich habe nicht genau hingehört. Außerdem hat meine Mutter dazwischengeredet. Sie wollte unbedingt, dass ich mich noch an den Kamin stelle, damit ich wieder trocken werde!“

Nach einer Pause fügte die Tochter des Dorfgastwirts schließlich noch hinzu: „Also, es ging um die Farbe blau, daran erinnere ich mich noch, denn es gab ein paar Bemerkungen wegen der blauen Hände. Und Niccolo...“ Sie zögerte.

„Nun rede schon weiter!“, forderte Leonardo sie auf. „Was war mit Niccolo? Jede Kleinigkeit kann wichtig sein. Versuch dich zu erinnern!“

„Nicht so laut, Leonardo! Du weckst ja noch alle auf!“

„Es ist wichtig, Gianna!“

„Tut mir leid. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich konnte ja nicht wissen, dass das so wichtig werden würde.“

Als Leonardo nach Hause zu seinem Großvater kam, wartete der bereits vor der Tür auf ihn.

„Aber diesmal ist dir nicht zufällig wieder ein Reiter begegnet oder?“, fragte der Großvater.

Leonardo schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Aber dieser blauhändige Reiter hat sehr wahrscheinlich Vater niedergeschlagen, seine Sachen durchwühlt und das Rezept des wunderlichen Vincente geraubt.“

Großvaters Gesicht wurde sehr ernst. „Das sind keine guten Neuigkeiten. Wie geht es ihm? Ist er verletzt?“

„Nein, das Schlimme ist nur das verschwundene Testament! Jetzt wird bald jeder anfangen das Blau von Vincente nachzumachen und der hat dann keine Einnahmen mehr!“

„Jetzt solltest du erst einmal ins Bett gehen. Es ist spät. Und ich gehe noch mal bei deinem Vater vorbei um zu sehen, ob er vielleicht noch meine Hilfe braucht.“

„Ja“, nickte Leonardo. Er hatte sich bereits überlegt, was er tun wolle. Zuerst musste er Vincente danach fragen, ob Niccolo etwas das sein Testament wissen konnte. Dass Ser Piero die Wahrheit nicht bekannt geben wollte, hielt er für einen Fehler. Etwas, das am Ende nur dem geheimnisvollen Täter nützte.

Leonardo ging in sein Zimmer und legte sich ins Bett. Die Fensterläden öffnete er, damit das Mondlicht hereinfiel. Noch war es warm genug dafür. In ein paar Wochen konnte das schon anders aussehen. Viele Gedanken gingen ihm Kopf herum. Eigentlich wäre es jetzt eine Möglichkeit gewesen, sich zu beruhigen, wenn er eine Zeichnung hätte anfertigen können.

Aber dazu war es zu dunkel.

Eine Maschine, die den Braten über dem Feuer wendete! Er hätte jetzt richtig Lust dazu gehabt, sie zu erfinden. Aber das ging bei der Dunkelheit einfach nicht. Also muss ich damit warten, bis es wieder hell wird!, dachte Leonardo.

Er schloss die Augen. Noch einmal spielte sich in seinem Inneren die Szene ab, in der er dem Reiter mit den blauen Händen begegnete. War da nicht vielleicht doch noch etwas aus seinem Gesicht erkennbar gewesen? Er konzentrierte sich so sehr er konnte auf das, was er davon noch in Erinnerung hatte. Aber da war nur die Dunkelheit unter der Kapuze. Ein finsterer Schatten, den nur das Tageslicht hätte durchdringen können.

Wie soll ich mir jetzt die Zeit vertreiben?, dachte er angesichts der Tatsache, dass Zeichnen unmöglich war.

Dann kam ihm eine Idee. Warum träume ich nicht einfach, wie ich zeichne?, dachte er. Dann werde ich es morgen sicher sehr viel leichter haben alles aufs Papier zu bringen.

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5.Kapitel

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Detektiv Leonardo

Am nächsten Morgen erwachte Leonardo schon in aller Frühe. Draußen schien die Sonne, aber es war noch recht kühl. Irgendwo im Dorf Vinci krähte ein Hahn und bekam Antwort von einem anderen Hahn. Aber ansonsten war wohl weit und breit noch niemand wach. Leonardo hatte aber keine Lust, darauf Rücksicht zu nehmen. Der Tag musste genutzt werden, um den Dieb mit den blauen Händen zu entlarven! Und da musste er sich als Erstes zum wunderlichen Vincente aufmachen.

Leonard stieg die knarrende Treppe hinab und hoffte, dass Großvater dadurch nicht geweckt würde.

Wenig später öffnete er die Haustür und trat ins Freie. Damit ihm etwas wärmer wurde, startete er zu einem Dauerlauf. Als er endlich Vincentes Werkstatt erreichte, war er ziemlich außer Atem und musste nach Luft ringen. Und dabei dachte er daran, wie praktisch es doch gewesen wäre, wenn eine der Flugmaschinen, die er sich so im Laufe der Zeit ausgedacht hatte, schon wirklich gebaut worden wäre. Leonardo klopfte an die Tür.

„Vincente! Mach auf!“

Nichts rührte sich und so klopfte Leonardo noch einmal, diesmal heftiger. Von der anderen Seite der Tür war ein gequältes Stöhnen zu hören.

„Einen Moment, ich komme ja schon!“, drang Vincentes Stimme durch die Tür. Er entriegelte die Tür und blinzelte Leonardo an. Im gleichen Moment krähte der Hahn vom Misthaufen des Bauernhofs, auf dem Leonardos Mutter lebte. Vincente zuckte regelrecht zusammen.

„Meine Güte, warum weckst du mich mitten in der Nacht?“, fragte er. „Deine lächelnde Frau kannst du auch noch zu Ende malen, wenn die Sonne wenigstens ganz aufgegangen ist!“

„Ich muss mit dir sprechen, Vincente!“

Vincente gähnte. „Und das ist so dringend, dass du mich dazu aus dem Bett werfen musst?“

„Tut mir leid, aber ich hätte dich am liebsten schon gestern Nacht geweckt.“

Vincentes Augen wurden schmal. Er musterte Leonardo ziemlich skeptisch von oben bis unten. „Na, komm rein. Jetzt bin ich schon mal wach, da kann ich auch gleich auf den Beinen bleiben und dir zuhören, wenn du mir schilderst, was du auf dem Herzen hast.“

„Es ist ganz einfach“, erklärte Leonardo. „Dein Rezept ist gestohlen worden! Verstehst du nicht? Man hat meinen Vater überfallen und niedergeschlagen – und ein Dieb hat das Testament mit dem Rezept an sich genommen! Ich hoffe, du hast es in unsichtbarer Tinte geschrieben.“

Was Leonardo ihm da an Neuigkeiten um die Ohren schlug bewirkte zumindest, dass Vincente von einem Augenblick zum anderen ziemlich blass wurde.

„Du willst mir jetzt keinen Bären aufbinden, oder?“

„Was ich sage, ist die reine Wahrheit! Das Haus meines Vaters wurde durchwühlt, so als hätte der Täter nach etwas ganz bestimmtem gesucht. Und das kann eigentlich nur das Rezept gewesen sein. Dass mich ein Reiter mit blauen Händen fast über den Haufen geritten hätte, kann wohl auch kein Zufall sein... Wovon bekommt man denn wohl blaue Hände?“

„Ich gebe zu, dass es manchmal nicht ganz einfach ist, alles abzuwaschen und man auch die richtigen Mittel verwenden muss. Mit Seife...“

„Aber die ist teuer! Vielleicht hatte dieser Mann nicht das Geld dazu!“

„Das ist doch Unsinn!“

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738918793
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
leonardo rätsel alchimisten

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Leonardo und das Rätsel des Alchimisten