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Der Fall McKee

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 400 Seiten

Zusammenfassung

Der Fall McKee – Die Trilogie
Drei Romane von Alfred Bekker (Henry Rohmer) in einem Thriller Sammelband.

Der Umfang dieses Ebook entspricht 420 Taschenbuchseiten.

Ein irrer Killer hat es auf den FBI-Chef abgesehen - und für die Ermittler beginnt ein Wettlauf mit dem Tod.

Dieses Ebook enthält folgende drei Romane:

Maulwurfjagd

Caravaggio verschwindet

Stirb, McKee!

Henry Rohmer ist das Pseudonym eines Autors, der unter dem Namen Alfred Bekker vor allem als Autor von Fantasy-Romanen und Jugendbüchern bekannt wurde. Daneben war er Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair , Kommissar X und Ren Dhark.

Covermotiv: STEVE MAYER

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Maulwurfjagd

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Thriller von Alfred Bekker

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1

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Der Tod kam lautlos.

Und blitzschnell.

MPis knatterten los. Die Schussgeräusche dröhnten ohrenbetäubend durch den stillgelegten U-Bahn-Tunnel.

Todesschreie gellten.

Binnen Sekunden lagen zwei blutüberströmte Leichen neben dem Lagerfeuer. Die Projektile fetzten durch die stockigen Matratzen, auf denen die beiden Obdachlosen gelagert hatten.

Blitzartig riss ich die Pistole unter dem abgewetzten Parka hervor, feuerte zweimal und warf mich dann zur Seite. Hart kam ich auf den Boden, rollte mich herum, während die Maskierten einen wahren Bleihagel in meine Richtung prasseln ließen.

Projektile peitschten neben den Schienenstrang auf den Boden und streiften die Stahlgleise.

Funken sprühten.

Ich riss die SIG Sauer P226 empor. Dreimal schoss ich kurz hintereinander in die Dunkelheit hinein. Dann rappelte ich mich auf, sprang über die Gleise und feuerte erneut. Sekunden später hatte ich die Tunnelwand erreicht. In einer Nische fand ich Deckung. Ich presste mich gegen den Beton.

Das Feuer verebbte.

Schritte waren zu hören.

Und knappe Befehle.

Ich steckte in der Falle.

Ich tauchte aus meiner Deckung hervor. Im Schein des Lagerfeuers sah ich einige Maskierte. Es waren mindestens ein Dutzend Mann.Sie trugen Sturmhauben und Nachtsichtgeräte.

Ein Schuss zischte an mir vorbei, ritzte den Beton des Tunnels. Ich feuerte zurück, erwischte einen der Kerle am Arm und hechtete hinter eine ausgediente Schrankwand, die von den Obdachlosen hier hinuntergeschafft worden war. Eine MPi-Salve ließ die Spanplatten zersplittern.

Ich schnellte hoch.

Vor mir lag der lange dunkle Tunnel, zwei, drei Stockwerke unterhalb der Bowery gelegen. Die Dunkelheit machte meinen Verfolgern nichts aus. Sie waren dafür ausgerüstet. Ich nicht - und das hatte einen ganz einfachen Grund. Ich war im Undercover-Einsatz. Die Männer, mit denen ich am Lagerfeuer gesessen hatte, hatten nicht gewusst, dass ich ein Special Agent des FBI war. In dem Fall hätten sie auch kaum ein Wort mit mir geredet.

Wenn ich ein Nachtsichtgerät getragen hätte, wären sie misstrauisch geworden.

Ich hatte auch keinen Dienstausweis dabei. Nur die Dienstpistole vom Typ SIG Sauer P226. Aber die war so verbreitet, dass nicht jeder, der das Ding zu Gesicht bekam, gleich auf einen Cop schloss.

Oder einen G-man, wie mich.

Ich rannte um mein Leben, denn die Killer würden kein Erbarmen kennen.

Und gleichzeitig arbeitete es in meinem Hirn fieberhaft.

Wer hatte diese Mörder ausgesandt?

Ich lief in geduckter Haltung, dann erreichte ich endlich die Abzweigung. Das war meine Rettung. Die Kerle folgten mir.

Ich hörte ihre Schritte und ihre Stimmen.

Sie waren davon überzeugt, mich zur Stecke bringen zu können. Und sie hatten allen Grund für ihre Zuversicht. Sie waren in der Überzahl und hatten die bessere Ausrüstung. Und sie kannten sich hervorragend in dem unterirdischen Labyrinth aus Subway-Tunneln und Abwasserkanälen aus, das man im Verlauf der letzten 140 Jahre in den Boden der Riesenstadt New York City hineingegraben hatte.

Wie die Gänge eines Maulwurfbaus durchzogen diese Katakomben den Erdboden, viele Meter unterhalb von Broadway und den schicken Läden der 5th Avenue.

Und ein großer Teil dieses Maulwurfbaus war mehr oder minder vergessen. Stillgelegte U-Bahnschächte, Abflusskanäle, deren Funktion längst und lange von anderen Leitungen übernommen worden waren. Manche von ihnen wurden zu reißenden Flüssen, wenn es regnete.

'Mole People' - Maulwurfsmenschen - nannte man die Menschen, die in diesen Gewölben zwischen verrußtem Beton, morschen Schwellen von Subway-Gleisen und Ratten ihr Dasein fristeten.

Auf etwa 5000 schätzte die Stadtverwaltung ihre Zahl - was eigentlich nur bedeuten konnte, dass sie weitaus größer sein musste. Ausgestoßene, Obdachlose und Gescheiterte waren hier zu finden. Manchmal auch psychisch Kranke, die die Welt 'da oben' ausgespuckt hatte.

Welche Gründe es im Einzelfall auch immer dafür geben mochte, in diesen unterirdischen Betongewölben zu hausen, nichtsdestotrotz sie waren Menschen.

Und es hatte niemand das Recht, sie einfach über den Haufen zu schießen, so wie es vor wenigen Augenblicken mit Sid und Brett geschehen war - den beiden Männern, mit denen ich am Feuer gesessen hatte.

Ich holte Atem, drehte mich vorsichtig um. Die Luft war feucht. Von irgendwoher war ein kratzender Laut zu hören.

Ratten.

Ich drehte mich kurz herum.

Jeden Augenblick mussten meine Verfolger auftauchen.

Vor mir lag tiefschwarze Dunkelheit, in der man nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Ich holte die Taschenlampe aus der Parka-Tasche. Kein Modell, das hier unten irgendjemanden neidisch gemacht hätte.

Das konnte nämlich lebensgefährlich sein.

Ich lief weiter und stolperte über die dicken Schwellen zwischen den Gleisen.

Ich versuchte mich an der Betonwand zu orientieren, denn ich wusste, dass hier irgendwo das zu finden war, wonach ich suchte.

Etwas, das mein Leben retten konnte.

Ich tastete die Wand entlang. Die P226 hatte ich wieder in die Taschen des fleckigen Parkas gesteckt, den ich für meine Underground-Mission trug. Mit der Waffe konnte ich jetzt ohnehin kaum etwas ausrichten.

Und dann hatte ich es gefunden!

In einer Nische befand sich der Zugang zu einem Abflusskanal, der dafür sorgen sollte, dass die Subway nicht unter Wasser stand, wenn es über der Erde schüttete.

Ich rollte den Betondeckel zur Seite, stieg hinunter. Die Röhre, in der ich mich befand, war gerade groß genug für mich. Vorsichtig rutschte ich den Deckel wieder an seinen Ort. Dann stieg ich an den rostigen Sprossen hinab.

Von oben hörte ich die Schritte der Verfolger.

Einer schien zu glauben, mich gesehen zu haben und ballerte im Tunnel herum.

Ich stieg weiter hinab.

Sid und Brett hatten mir diesen Fluchtweg gezeigt. Für sie war ich einer der ihren gewesen und so hatten sie mich und meinen Kollegen Milo Tucker in dieses Geheimnis eingeweiht.

Oft genug durchstreiften Jugendbanden die Katakomben New Yorks. Die waren dann für gewöhnlich einfach nur auf Konfrontation aus und machten Jagd auf die 'Mole People'. Und da konnte so ein Fluchtweg sehr wichtig sein.

Ich hatte keine Ahnung, wo Milo jetzt war.

Zusammen mit Crazy Joe, einem anderen Bewohner dieser Untergrund-Stadt, war er aufgebrochen, um einen Mann zu finden, den hier alle den Tunnel King nannten und der uns möglicherweise wichtige Informationen liefern konnte.

Ich hoffte nur, dass Milo und Crazy Joe der Killer-Bande nicht geradewegs in die Arme gelaufen waren...

Ich erreichte das Ende des röhrenförmigen Abflusses. Er mündeten in einen großen Kanal. Ich stand bis zu den Knien im schlammigem Wasser. Aus der Dunkelheit heraus kam ein heimtückischer Schlag. Ich sah ihn erst im letzten Moment, versuchte noch auszuweichen, aber es war zu spät.

Ein Gewehrkolben erwischte mich in der Seite. Hart kam ich gegen die Betonwand. Während der Lichtkegel meiner Taschenlampe herumwirbelte, sah ich schlaglichtartig ein halbes Dutzend Waffenmündungen, die direkt auf mich zeigten.

Und die maskierten Gesichter...

Mit den Nachtsichtgeräten wirkten sie wie Aliens.

Ritsch! Ratsch!

Jemand hatte eine Pumpgun durchgeladen und rammte mir die Mündung in den Bauch.

"Wenn du auch nur zu atmen wagst, du Bastard, bist du nur noch 'n blutiger Fleck an der Wand!" zischte mir einer entgegen. Seine Stimme war leise und sehr heiser. Er kicherte und fuhr fort: "DEN Fluchtweg kannten wir auch..."

"Worauf wartest du?", meinte ein anderer. "Mach das Schwein alle..."

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2

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Einige Wochen waren Milo und ich schon im Undercover-Einsatz bei den 'Mole-People'. Es dauerte eine Weile, bis man das Vertrauen der scheuen Bewohner dieses städtischen Höhlensystems erringen konnte.

Sobald einer von ihnen auch nur ahnte, dass wir Special Agents des FBI waren, hätten wir keinen von ihnen je wiedergesehen.

Sie misstrauten jedem, auch denen, die ihnen helfen wollten. Und ihre Erfahrungen mit Cops und Behörden waren nicht gerade so, dass sie jedem Polizisten oder Streetworker gleich ihr Herz ausschütteten. Das Problem der Tunnelmenschen, wie man sie auch nannte, war erst in letzter etwas stärker ins Bewusstsein der Behörden gerückt.

Wir vom FBI kümmerten uns um die 'Mole People', seit eine mysteriöse Mordserie unter diesen Menschen die Homicide Squads mehrerer New Yorker Polizeireviere zum Rotieren gebracht hatte.

Das Leben in den Katakomben war außerordentlich hart. Neben der Kälte im Winter, sowie unbehandelten und daher meist tödlichen Infektionskrankheiten forderten auch immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen ihre Opfer.

Aber das, womit wir uns hier auseinanderzusetzen hatten, ging weit über alles hinaus, was bisher bekanntgeworden war.

Dutzende von Tunnelmenschen waren im Verlauf von Monaten zunächst verschwunden und später tot aufgefunden worden.

Das Besondere war, dass irgendjemand ihnen alle lebenswichtigen Organe entnommen hatte. Den meisten fehlten die Nieren, die Leber, das Herz... Bei manchen auch die Hornhaut der Augen. Die Obduktionen hatten ergeben, dass die Toten nach allen Regeln der Kunst anästhesiert und operiert worden waren.

Aus ihrer Betäubung hatte es für die Opfer kein Erwachen mehr gegeben.

Todesursache: Das Fehlen lebenswichtiger Organe.

Andere waren mit Genickschüssen getötet worden, bevor man ihren Leichen einige Organe entnommen hatte.

Die Umstände dieser Morde ließen eigentlich nur einen einzigen Schluss zu.

Wer immer auch hier unten auf Menschenjagd ging - die Killer hatten es auf die Organe abgesehen. Und die Vorgehensweise richtete sich offenbar jeweils danach, welches Organ benötigt wurde und ob es möglich war, die Transplantation auch noch einige Zeit nach dem Ableben durchzuführen oder nicht.

Es war grauenvoll, was diese Unbekannten mit den Mole People taten. Die Mörder schienen zu glauben, dass der Tod eines dieser Tunnelmenschen an der Oberfläche niemanden interessierte. Auch die Cops nicht.

Aber da hatten sie ihre Rechnung ohne uns G-men gemacht!

Illegaler Handel mit menschlichen Organen zur Transplantation war längst ein eigenständiger Zweig des organisierten Verbrechens, genauso profitabel wie der Drogenhandel oder die Schutzgelderpressung. Manche dieser Organe stammten von chinesischen Todeskandidaten, deren Hinrichtungstermine in eigenartigem Zusammenhang mit den Operationstagen gewisser Privatkliniken standen. Anderes 'Material', wie die Händler das nannten, wurde Verzweifelten in der Dritten Welt für ein paar Dollar abgekauft. Und es schien offenbar in diesem dreckigen Gewerbe auch Leute zu geben, die in den 'Mole People' nichts weiter als ein menschliches Ersatzteillager sahen...

Gerüchte über diese grausamen Jäger kursierten in den Katakomben. Aber keiner, der ihnen begegnet war, hatte das überlebt.

Wochenlang hatten wir uns auf die Lauer gelegt.

Wir waren dabei auf uns allein gestellt gewesen. Eine groß angelegte Aktion hätte nichts bewirkt. Die Täter hätten sich einfach zurückgezogen - und die möglichen Opfer auch.

Ein risikoreicher Einsatz.

Selbst das Handy funktionierte in weiten Teilen der unterirdischen Labyrinthe nicht, weil die vielen Meter Beton und Erde den Kontakt zum Funknetz unterbrachen.

Und jetzt stand ich einigen Männern gegenüber, die mit hoher Wahrscheinlichkeit an diesen bestialischen Menschenjagden beteiligt waren...

Und wie es schien, würde es mir nicht sehr viel besser ergehen, als all denen, die zuvor schon ihre Wege gekreuzt hatten.

Ich überlegte fieberhaft.

Sinnlos, jetzt die Pistole aus dem Parka herauszureißen.

Mit Glück hätte ich einen oder zwei der Maskierten ausschalten können. Spätestens dann wäre ich von einer Bleigarbe so durchsiebt worden, dass es den Kollegen der Gerichtsmedizin später schwergefallen wäre, mich zu identifizieren.

Sie packten mich, drückten mich gegen Beton.

Ihre Hände wanderten durch meine Taschen. Sie nahmen die P226, meine Taschenlampe und was ich sonst noch so an Kleinigkeiten in den Taschen hatte.

"Hey, ist er nun ein G-man oder nicht?", krächzte der Heisere.

Diese Stimme...

Ich schwor mir, sie nicht zu vergessen.

Jemand versetzte mir einen furchtbaren Fausthieb, der mich ächzen ließ. Ich bekam einen Augenblick keine Luft mehr.

Einer der Kerle packte mich. Ich wurde zu Boden geschleudert und fiel in die stinkende Brühe.

"Hey, immer vorsichtig", zischte der Heisere. "Wenn wir ihn töten, dann machen wir das auf die saubere Weise. So dass nichts beschädigt wird, was man noch verwenden kann..."

"Er hat nichts bei sich", meldete sich der andere.

"Keinen Ausweis, kein Führerschein..."

"Genau wie die beiden, die wir an dem Lagerfeuer erledigt haben..."

"Könnte sein, dass uns da jemand zum Narren halten wollte..."

"Die Pistole ist jedenfalls eine Cop-Waffe!"

"Die kann jeder im Laden kaufen!"

Der Heisere trat auf mich zu.

Er leuchtete mir mit meiner eigenen Taschenlampe direkt ins Gesicht, so dass ich völlig geblendet war.

"Wer bist du?", zischte er.

"Ich heiße Billy", log ich.

"Wie lange lebst du schon hier unten bei den Ratten."

"Ein halbes Jahr."

Der Schlag kam ohne Vorwarnung und traf mich mitten im Gesicht. Das Blut schoss mir aus der Nase, während ich zu Boden ging.

"Du bist ein gottverdammter Lügner", knurrte es mir entgegen. Ich erhob mich wieder. Mein Parka war tropfnass von dem schlammigen Abwasser.

"Was wollt ihr von mir?", fragte ich.

Wieder strahlte mich eine Lampe an. "Er ist der Richtige", stellte der Heisere dann fest. "Special Agent Trevellian. Der Drei-Tage-Bart täuscht etwas..."

Diese Männer waren von Anfang an davon ausgegangen, einen G-man zu fangen, und ich zermarterte mir das Hirn darüber, wie sie überhaupt auf diesen Gedanken kommen konnten. Milo und ich waren bei dieser Undercover-Mission extrem vorsichtig gewesen.

Die Tatsache, dass sie sogar meinen Namen wussten, machte mich völlig perplex.

In was für eine verdammte Todesfalle war ich hier nur hineingeraten?

Und wer hatte sie aufgestellt?

Einer der Kerle setzte mir den Lauf einer MPi an den Kopf.

"Wo ist dein Partner, du Ratte?"

"Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst..."

"Ich dachte, du wärst vernünftig, G-man!"

"Ihr werdet mich doch so oder so umbringen. Ganz gleich, was ich sage..."

"Man kann auf sehr unterschiedliche Weise sterben..."

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3

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Milo hielt die P226 in beiden Händen, während er durch das kniehohe Wasser watete. Es stank erbärmlich. Die Abwasserkanäle New Yorks waren nichts für Menschen mit empfindlichen Sinnen.

Milo Tucker hörte die Stimmen in dem dunkle Betongewölbe widerhallen. Im Schein einer Taschenlampe sah er für den Bruchteil eines Augenblicks das Gesicht seines Kollegen Jesse Trevellian!

Vorsichtig schlich Milo voran.

Seine eigene Lampe musste er ausgeschaltet lassen, um nicht sofort eine Zielscheibe abzugeben. Das bedeutete, dass er fast wie ein Blinder agierte.

Milo hatte die Schüsse gehört. Die waren durch das unterirdische Tunnelsystem unter dem Big Apple buchstäblich meilenweit zu hören. Natürlich kannte er den Fluchtweg in die Kanäle und inzwischen wusste er auch gut genug hier unten Bescheid, um über Schleichwege möglichst schnell dorthin zu gelangen, wo er mich höchstwahrscheinlich treffen würde...

Unglücklicherweise kannten sich die Maskierten hier unten mindestens ebenso gut aus.

Milo hörte die Stimmen der Unbekannten.

Die Lichtkegel mehrerer Taschenlampen waren zu sehen.

Ganz ohne Licht funktionierten auch Nachtsichtgeräte nicht.

Und hier unten herrschte ansonsten das, was man als absolute Finsternis bezeichnen konnte.

Milo arbeitete sich vorsichtig weiter voran.

Er konnte im Augenblick nichts tun, das war ihm klar. Es wäre reiner Selbstmord gewesen, jetzt einzugreifen.

Er musste auf seine Chance warten...

Vorsichtig pirschte er sich näher.

Ein dumpfes Geräusch drang herüber.

Und ein unterdrücktes Stöhnen.

"Lassen wir das Theater", knurrte einer der Männer. "Machen wir den Kerl kalt, ob er nun ein G-man ist oder nicht!"

"Genickschuss?"

"Ja, aber halt die Waffe gerade, sonst gibt es wieder 'ne Sauerei, und wir bekommen nichts mehr für die Netzhäute seiner Augen..."

Milo packte die P226 mit beiden Händen.

Er war zu allem entschlossen.

Sekunden blieben ihm...

Und dann hallte seine heisere Stimme durch das Kanalgewölbe.

"Hier spricht das FBI! Sie sind umstellt! Waffen fallenlassen!"

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Durch den Halleffekt klang Milos Stimme sehr verfremdet. Ich erkannte sie dennoch sofort wieder.

Milo klang so gewaltig, als hätte er durch ein Megafon gesprochen.

Die Lichtkegel der Maskierten wanderten suchend an den Betonwänden entlang. Einen Augenblick lang herrschte komplette Verwirrung. Und zweifellos war das Milos Absicht gewesen.

Zwei Kerle hielten mich an den Armen.

Ich befreite den linken Arm mit einem Ruck und ließ die Faust zur Seite schnellen. Sie landete einen Sekundenbruchteil später mitten in einem Gesicht. Ich hörte den schmerzerfüllten Aufschrei, während ich gleichzeitig mit dem zweiten Bewacher niederstürzte. Ich versetzte ihm dabei einen schnellen Hieb.

Wir fielen zusammen in die schlammige, stinkende Brühe.

Über uns hinweg pfiffen die Kugeln durch die Dunkelheit.

Immer wieder blitzte es auf. Die Maskierten waren von Panik erfüllt. Sie schossen wild umher. Irgendwo in der Ferne, von der anderen Seite des Kanals her, blitzte eine einzelne Waffe mehrfach auf. Eine schwache Antwort auf die gebündelte Feuerkraft der Maskierten. Aber immerhin reichte es, um sie durcheinanderzubringen. Und außerdem wurden sie so dazu gezwungen, sich in Deckung zu begeben.

Mein Gegner und ich stürzten in die schlammige Brühe und wälzten uns darin. Ich versuchte, ihm die Waffe zu entreißen, eine kurzläufige Maschinenpistole. Er trug sie an einem Riemen um die Schulter. Seine Rechte hielt den Griff umklammert.

Er war stark. Er packte mich am Hals, hielt mich unter Wasser, bis ich glaubte, nicht mehr Atmen zu können. Dann gelang es mir, mich aus seiner Umklammerung zu befreien.

Ich drückte ihn zur Seite, schnellte empor und vollführte einen Hechtsprung, der mich wieder im Wasser landen ließ.

Mein Bewacher riss die Waffe hoch, richtete sie dorthin, wo ich im dunklen Wasser untergetaucht war.

Er drückte ab.

Eigentlich hätte im nächsten Moment eine ganze Bleisalve in das Wasser über mir einschlagen müssen... Aber das geschah nicht. Die MPi blockierte. Vielleicht, weil zuviel Wasser eingedrungen war. Dann erwischte es den Kerl an der Schulter. Er schrie auf, taumelte zurück.

Ich blieb unter Wasser, bewegte mich kriechend vorwärts.

Das Wasser wurde jetzt tiefer. Für mich bedeutete das zusätzlichen Schutz. Kurz tauchte ich an die Oberfläche. Die Schüsse blitzten noch immer durch den Kanaltunnel. Die Situation war verworren. An mehreren Stellen zuckten die Mündungsfeuer blutrot aus den Läufen heraus. Ich tauchte erneut und als ich dann wieder an die Oberfläche kam, war es stockdunkel. Selbst die Hand vor Augen war nicht zu sehen.

Kein Lichtkegel irgendeiner Lampe mehr. Nicht einmal die Kontrollleuchte einer Digitaluhr.

Ich lauschte.

Das Wasser plätscherte.

Aber ansonsten war sekundenlang nichts zu hören. Kein Schritt, kein Laut, kein Atmen.

Ich bewegte mich vorsichtig weiter. Wenn die Maskierten sich noch hier im Tunnel befanden, dann waren sie genau so blind wie ich. Denn ihre Nachtsichtgeräte funktionierten wie die Augen einer Katze. Das Restlicht wird gebündelt. Aber hier gab es kein Restlicht.

Wie blind ging ich weiter. Irgendwann würde ich die Betonwand erreichen und an der konnte ich mich dann orientieren. Das Wasser reichte mir nur noch bis zu den Knien. Das bedeutete, dass es bald soweit war. Die Vertiefung in der Mitte des Kanals hatte ich hinter mir.

Ich erreichte die Wand. Meine Hände glitten über den kalten, glitschigen Beton.

Ein Geräusch ließ mich erstarren.

Ratsch!

Ein Laut, so als ob jemand ein Magazin in eine Waffe hineinschob.

Ich hielt den Atem an.

In absoluter Dunkelheit kann man selbst auf eine Distanz von wenigen Metern seine Orientierung verlieren, wenn man nicht als Blinder daran gewöhnt ist, nichts zu sehen. Ich hatte geglaubt, mich von den Maskierten wegbewegt zu haben.

Dorthin, wo ich Milo vermutete.

Aber es war auch möglich, dass ich mich irrte...

Ich hielt inne, rührte mich nicht.

Meine Taschenlampe funktionierte vermutlich nicht mehr, weil sie zu feucht geworden war. Und selbst wenn doch, dann hätten mich vermutlich eine Sekunde, nach dem Aufleuchten ihres Lichtkegels ein Dutzend Projektile zersiebt.

Ich wusste nicht, ob Milo überhaupt noch lebte.

Und es gab auch keine Möglichkeit, das zu erfahren.

Keine Möglichkeit, ohne ihn dabei in Gefahr zu bringen.

Denn wenn ich einfach seinen Namen rief, konnte das bedeuten, dass die Jagd auf ihn eröffnet wurde. Und nebenbei hatten die Maskierten dann auch einen akustischen Anhaltspunkt, wo ich mich befand.

Toter Mann spielen, durchfuhr es mich. Das war im Moment alles, was ich tun konnte.

Milo schien das genauso zu sehen.

Und unsere Gegner ebenso.

Wer sich als erster bewegte, einen Laut von sich gab oder für Licht sorgte, war geliefert.

Jemand bewegte sich auf mich zu... Ich hörte ganz leise die Bewegungen. Der andere orientierte sich genau wie ich an der Betonwand. Sehr vorsichtig schritt er durch das knietiefe Wasser. Ich spürte die kleinen Wellen, die das verursachte.

Der andere hatte sich bis auf wenige Meter genähert...

In meinem Hirn arbeitete es fieberhaft.

Die meisten Menschen sind Rechtshänder. Also nahm ich das auch von meinem Gegenüber an. Wenn der Kerl mich erreicht, musste ich seinen Waffenarm zu fassen kriegen - und zwar sehr schnell. Sonst war es vorbei. Ich verhielt mich absolut ruhig. Die Wellen, die gegen meine Knie schlugen wurden heftiger.

Ich hörte ein Atmen.

Und dann schnellte ich vor.

Ich spürte eine menschliche Gestalt, etwa ebenso groß wie ich selbst. Ich drückte mein Gegenüber gegen die Wand und bekam tatsächlich den rechten Arm zu fassen. Ich bog ihn zur Seite. Grell blitzte es auf, als sich ein Schuss löste.

Eine Sekunde später brach die Hölle los.

Aus mindestens einem Dutzend Rohren wurde geschossen.

Mündungsfeuer zuckten gelbrot aus den Mündungen heraus. Der Mann, mit dem ich gerungen hatte, duckte sich genau wie ich selbst. Und mir war plötzlich klar, wen ich vor mir hatte.

"Runter, Jesse!", brüllte Milo.

Er feuerte nicht.

Stattdessen schob er mich vor sich her, die glitschige Wand entlang.

Unsere Gegner ballerten einfach drauflos, in der Hoffnung, dass irgendeine ihrer zahlreichen Kugeln uns schon erwischen würde. Sie waren zwar in der Überzahl und hatten eine überlegene Ausrüstung. Trotzdem hatten sie Angst. Sie wussten nicht, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun hatten. Und diese Ungewissheit war unser Verbündeter.

Milo hatte die Maskierten erfolgreich geblufft.

Blieb nur die Frage, wann ihnen das auffiel...

Wir pressten uns in eine Nische hinein. Auf der anderen Seite wurde das Feuer eingestellt. Hier und da waren Stimmen zu hören. Ärgerliche Stimmen. Taschenlampen wurden eingeschaltet. Die Lichtkegel suchten die Kanalwände systematisch ab. Wir verhielten uns ruhig, atmeten kaum.

"Noch ein paar Meter, Jesse", flüsterte Milo. "Da muss ein Aufgang sein..."

Die Stimmen der Maskierten wurden lauter.

Ihre Angst war gewichen.

Wir bewegten uns vorsichtig weiter.

Ein Lichtkegel erfasste uns. Für den Bruchteil einer Sekunde waren wir deutlich zu sehen. Eine Maschinenpistole knatterte los, eine zweite folgte kurz darauf. Die Kugeln schlugen rechts und links von uns in den Beton, rissen kleine Löcher hinein und brachen hier und da ein ganzes Stück aus dem Mauerwerk.

Geduckt und halb im Schlammwasser kriechend schnellten wir voran. Milo schoss ein paar Mal in Richtung der Lichter. Dann erreichte ich eine rostige Metallsprosse und umfasste sie.

Darüber waren weitere Sprossen, an denen Mann hinaufsteigen konnte.

"Hier ist es!", rief ich heiser.

"Los, rauf, Jesse!", erwiderte Milo und feuerte.

Ich zählte in Gedanken immer mit...

Sein Magazin musste bald leer sein...

Ich kletterte hinauf, Milo folgte mir und schoss dabei. Um Haaresbreite verfehlten uns die Kugeln. Immer höher ging es hinauf, bis wir in einen röhrenartigen Aufgang gelangt, der von dem großen Kanal, den wir gerade verlassen hatten, senkrecht nach oben abzweigte. Das rostige Metall schnitt in die Hände. Die Luft war stickig.

Ich blickte hinauf und sah...

...Licht!

Nur ein paar kleine Punkte. Ich zögerte.

"Weiter!", drängte Milo.

"Hast du eine Ahnung, wo wir da rauskommen?"

"Ich weiß, wo wir herkommen", erwiderte Milo.

Augenblicke später hob ich einen schweren Gullideckel aus Beton zur Seite, in dem sich kleine Abflusslöcher befanden.

Wir kletterten an die Oberfläche und befanden uns an einem unterirdischen Subway-Bahnhof an der 23. Straße, wie die Anzeigen verrieten. Hunderte von Passanten drängte sich auf dem Bahnsteig, zwängten sich in die Triebwagen oder strebten aus den Zügen heraus.

Nachdem Milo auch herausgestiegen war, schloss ich den Gulli wieder.

"Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich über diesen Anblick freue", meinte Milo.

"Das da unten war ganz schön knapp", sagte ich. "Die wollten mich umbringen. Du hast mir in letzter Sekunde das Leben gerettet. Sid und Brett hatten leider nicht so viel Glück..."

"Was ist mit ihnen?"

"Die Maskierten haben sie einfach über den Haufen geschossen."

"Verdammt..." Milo ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. "Die beiden waren vielleicht - gemessen an der großen Masse der New Yorker - so etwas wie abgedrehte Freaks, aber sie waren auch nette Kerle. Ich will, das wir diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die so etwas tun. Die in den Menschen da unten nichts anderes als Tiere sehen. Ein Ersatzteillager für menschliche Organe bestenfalls."

Ich nickte. "Das werden wir", sagte ich. Wir sahen uns kurz an. Wir wussten beide, dass das nicht einfach so dahingesagt war. Es war ein Versprechen.

"Heh, verschwindet hier!", fuhr uns ein breitschultriger Beamter der City Police an, der zusammen mit einem Kollegen gerade hier unten auf Streife war. "Wollt ihr die Fahrgäste erschrecken?"

Milo und ich sahen wirklich nicht besonders gut aus. Unsere Sachen waren ohnehin abgetragen. Jetzt troffen sie von stinkendem Abwasser. Meine Haare klebten mir im Kopf, und ich starrte vor Dreck.

"Ich bin FBI Special Agent Jesse Trevellian, dies ist mein Kollege Agent Tucker", sagte ich meinen Spruch auf und wollte schon reflexartig unter meinen Parker greifen, als mir einfiel, dass ich meinen Dienstausweis ja ausnahmsweise mal nicht dabei hatte.

Die beiden Cops waren sehr nervös.

Sie griffen zu den Dienstpistolen.

Nur eine Sekunde später blickten Milo und ich in die blanken Mündungen ihrer SIGs.

"Schön ruhig ihr beiden, ja?", meinte der Breitschultrige.

Sein Kollege war etwas schmächtiger und mindestens zehn Jahre jünger. Er musste noch ziemlich neu beim NYPD sein.

Jedenfalls wirkte er sehr nervös.

"Hören Sie, das ist ein Missverständnis", sagte ich. "Bitte benachrichtigen Sie umgehend das Hauptquartier des FBI Districts New York. Eine Etage unter uns befindet sich eine Meute gefährlicher und schwerbewaffneter Killer... Das Gebiet muss weiträumig abgeriegelt werden und..."

"Zeigen Sie erstmal Ihren Ausweis!", zischte der Dürre.

"Haben wir im Moment nicht dabei", erwiderte ich kleinlaut.

Die folgende Prozedur konnte ich mir gut genug ausmalen, um zu wissen, wie zeitraubend das Ganze werden würde. Bis dahin waren die Maskierten längst verschwunden. Es blieb ein schwacher Trost, dass sie uns bis hier her nicht verfolgen konnten, geschweige denn an einem belebten U-Bahnhof über den Haufen schießen. Die Polizeibewachung, die wir jetzt genossen, trug dazu natürlich ein übriges bei.

"An die Wand stellen, Beine auseinander..."

"Sprechen Sie mit Mister McKee, dem District-Chef", meinte ich. "Sie gefährden eine Undercover-Mission..."

"Ja, und der letzte Freak, der hier den Bahnhof unsicher machte, war Napoleon oder Jesus Christus."

Es war nichts zu machen.

Milo und ich waren so überzeugend in unseren Undercover-Rollen, dass die beiden Cops uns für Mole People hielten. Und als einer der beiden wenig später noch die SIG Sauer P226 aus Milos Kleidern herausholte, war die Sache sowieso gelaufen.

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Es war später Nachmittag, als Milo und ich im Büro unseres Chefs saßen. Natürlich hatten wir uns in der Zwischenzeit geduscht und umgezogen. Mister Jonathan D. McKee, Chef des FBI-Districts New York im Rang eines Special Agent in Charge setzte sich uns gegenüber. Auf dem Tisch dampfte der vorzügliche Kaffee seiner Sekretärin Mandy. Ein Kaffee, der im gesamten FBI-Headquarter an der Federal Plaza 26 berühmt war und einfach seinesgleichen suchte.

Während wir hier saßen, befanden sich unsere Kollegen Caravaggio und Medina mit mehreren Dutzend weiterer Beamten von FBI, City Police und Scientitific Research Division unten in den Tunneln und Kanälen, denen Milo und ich mit knapper Not entronnen waren.

Natürlich fahndeten sie nach den Maskierten - ohne dass wir uns in der Hinsicht viel Hoffnung machten.

Aber sie suchten auch dort nach Spuren, wo diese Unbekannten Sid und Brett einfach niedergeschossen hatten.

Die beiden hatten schließlich das Recht darauf, dass man ihren Mord genauso akribisch untersuchte wie den eines Wall Street Managers. Auch wenn Sid und Brett davon jetzt nicht mehr allzuviel hatten.

Wir hatten am Tatort nichts zu suchen.

Schließlich gab es da immer noch die Legende, die wir uns aufgebaut hatten. Es gab da unten in der Tiefe Leute, die uns einigermaßen vertrauten, weil sie uns eben nicht für FBI-Agenten hielten. Und das durften wir nicht aufs Spiel setzen. Also mussten andere jetzt da unten an die Arbeit...

Obwohl sich die Frage stellte, wie löchrig unsere Legende war.

Trotz all der Vorsichtsmaßnahmen, die wir getroffen hatten.

Mister McKee hörte sich unseren Bericht an. Seine Stirn zog sich in Falten.

"Diese Leute wussten, dass Sie ein G-man sind, Jesse?"

"Sie vermuteten es. Da ich keinen Ausweis bei mir hatte, waren sie sich nicht hundertprozentig sicher. Aber wenn ich zwei und zwei zusammenzähle, dann war es der Sinn ihrer Aktion, Milo und mich auszuschalten."

"Woher hätten Sie wissen können, dass das FBI unter den Mole People mit verdeckten Ermittlern arbeitet?"

"Eine gute Frage, Mister McKee. Tatsache ist aber, dass sie es gewusst haben."

Mister McKee fragte: "Ist es möglich, dass die Leute, mit denen Sie beide Kontakt hatten, vielleicht doch etwas herausgefunden haben?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Halte ich für ausgeschlossen..."

"Jesse, diese Mole People sind sehr misstrauisch. Die dürften eine Art sechsten Sinn entwickelt haben, um offizielle Vertreter der Oberwelt zu erkennen... Vielleicht auf Grund der Fragen, die Sie und Milo gestellt haben."

Ich zuckte die Achseln, lehnte mich im Sessel zurück.

"Wir sind wirklich verdammt vorsichtig gewesen", murmelte ich.

"Es macht Ihnen auch niemand einen Vorwurf, Jesse."

"Ich mache mir selbst einen", erklärte ich. "Sid und Brett sind tot. Sie starben, weil die Killer es auf Milo und mich abgesehen hatten. So sehe ich das. Dass die beiden Obdachlosen ums Leben kamen, das war für diese Leute einfach nur eine Begleiterscheinung. Nicht der Rede wert... So denken die!"

Mister McKee nickte mit ernstem Gesicht.

"Trotzdem. Denken Sie an die Möglichkeit, dass die beiden Sie verraten haben. Vielleicht haben sie auch nur einen Verdacht geäußert. Jesse, Sie haben mir selbst gesagt, wie schnell Neuigkeiten da unten die Runde machen."

"Ich denke die ganze Zeit über nichts anderes nach, als wie das passieren konnte", sagte ich. "Und natürlich auch darüber, wo wir uns vielleicht eine Blöße gegeben haben aber ich finde nichts!"

"Glauben Sie, dass es wirklich Sinn hat, wenn Sie nochmal da hinunter gehen - zu den Tunnelmenschen?"

"Natürlich! Unsere Mission war noch nicht beendet!"

Und Milo ergänzte: "Ich glaube, dass wir kurz vor einem Erfolg gestanden haben..."

Mister McKee hob die Augenbrauen. "Sie sprechen von diesem Tunnel King?"

Milo nickte.

"Ja."

"Haben Sie eine Ahnung, um wen es sich da handelt?"

"Nein, aber Crazy Joe meint, dass diese Killer dort unten niemals operieren könnten, ohne dass der Tunnel King davon zumindest weiß. Crazy Joe meint sogar, dass er mit den Mördern zusammenarbeitet..."

"Dieser Crazy Joe sollte sie doch mit dem Tunnel King zusammenbringen", sagte Mister McKee.

Milo zuckte die Achseln und nahm einen Schluck Kaffee. "Der Tunnel King hat uns leider versetzt. Auf dem Rückweg zum Lager hörte ich dann die Schüsse..."

"Wo war dieser Crazy Joe, als Sie versucht haben, Jesses Leben zu retten?"

"Plötzlich verschwunden..."

"Könnte er der Verräter sein, Milo?"

Milo wirkte sehr nachdenklich. Dann schüttelte er energisch den Kopf. "Ich traue diesem Kerl alles Mögliche zu - nur wüsste ich einfach nicht, wie er an diese Information gelangt sein sollte!"

Mister McKees Blick wanderte zwischen mir und Milo hin und her.

"Sie wissen, dass es lebensgefährlich ist, wenn Sie noch einmal dort hinuntergehen..."

"Wir passen schon auf uns auf", versprach ich.

"Ich gebe nur sehr ungern meine Zustimmung dazu. Schließlich bin ich dafür verantwortlich, das meine Agenten nur den Risiken ausgesetzt werden, die nicht zu umgehen sind. Andererseits..."

"...ist dieser Tunnel King eine der wenigen Spuren, die es in dem Fall gibt", vollendete ich.

"Ja."

"Also haben wir Ihr Okay!"

Mister McKee nickte. "Das haben Sie."

Wir erhoben uns, tranken unsere Kaffeebecher leer und wandten uns in Richtung Tür. Wir hatte die schlichte Sitzecke gerade hinter uns gelassen, da fiel mein Blick auf Mister McKees Schreibtisch. Mehrere Telefone gab es dort. Aber mein Blick wurde durch etwas anderes gefesselt. Ein Blatt Papier, das mit Buchstaben vollgeklebt war, die jemand aus einer Zeitschrift herausgeschnitten hatte.

Mister McKee bemerkte meinen Blick.

Er ging zum Schreibtisch und drehte das Blatt zu mir herum.

"Dann brauchen Sie nicht auf dem Kopf zu lesen, Jesse..."

JONATHAN MCKEE, DU RATTE!, stand dort. BALD BIST DU TOT!

"Wissen Sie, wer dahintersteckt?", fragte Milo besorgt.

Mister McKee machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Wir wissen nur, dass es sich um einen Leser des NEW YORKER  handelt. Daraus sind nämlich die Buchstaben, wie unsere Innendienstler meinen. Fingerabdrücke gibt leider nicht. Und es ist leider nicht der erste Brief dieser Art, den ich erhalte."

Ich hob die Augenbrauen. "Scheint, als hätte ich in letzter Zeit einiges nicht mitgekriegt..."

"Sie waren selten hier, Jesse." Mister McKees Lächeln wirkte etwas gezwungen. Er versuchte, die Sache mit dem Brief an sich abprallen zu lassen, aber das gelang ihm nicht völlig.

Ich kannte ihn einfach zu gut, als dass er mir etwas vormachen konnte. Mister McKee nahm die Sache sehr ernst. Und wenn Mister McKee sich über etwas Sorgen machte, dann war das nicht die Lappalie, als die er es darzustellen versuchte. "Kein Grund sich aufzuregen", meinte der Special Agent in Charge leichthin. "Sie kennen das doch! Jeder von uns, der mehr als drei Dienstjahre hat, hat doch schon mal derartige Verehrer-Post von Leuten bekommen, denen man irgendwann mal auf die Füße getreten ist..."

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6

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Milo und ich saßen wenig später in unserem Dienstzimmer, das wir uns seit ewigen Zeiten teilten. Der Computerschirm flimmerte, und wir stöberten etwas in den Datenbänken herum, die uns über EDV-Verbund zur Verfügung standen.

"Wir müssen diesen Tunnel King sprechen", meinte Milo plötzlich, "es führt kein Weg daran vorbei..."

"Warum hat er dich versetzt, Milo?"

"Er muss auf seine Weise ziemlich eingebildet sein, Jesse."

"Du meinst, er empfindet sich als eine Art Herr der New Yorker Unterwelt... Trotzdem... Crazy Joe hat versprochen, dich zu ihm zu führen."

"Vielleicht wollte Crazy Joe sich einfach nur wichtig machen", meinte Milo.

"Wir knöpfen ihn uns morgen vor", schlug ich vor. Inzwischen kannten wir uns gut genug dort unten aus, um ihn auftreiben zu können. Wir wussten, wen man fragen musste und wo Crazy Joe für gewöhnlich unterkroch. Kein Mensch konnte allein und auf sich gestellt da unten, in den Kanälen überleben. Das hatten wir schnell gelernt. Man war auf andere angewiesen. Und wer niemanden hatte, für den war es schnell zu Ende.

Max Carter, einer unserer Innendienstler schneite herein.

"Gibt es schon was von den Ärzten und Krankenhäusern?", fragte ich. Schließlich war ich mir sicher, dass einer der Gangster eine Schusswunde abbekommen hatte. Und selbst, wenn es nur ein Streifschuss war, so musste sie ärztlich behandelt werden.

"Alle medizinischen Einrichtungen und Privat-Praxen der Stadt sind unterrichtet und gewarnt", sagte Carter.

"Allerdings würde ich mir in dieser Hinsicht kaum Hoffnungen machen, Jesse. Wenn es sich wirklich um Leute handelt, die mit illegalen Organhändlern in irgendeiner Weise zusammenarbeiten, könnte ich mir denken, dass die genügend medizinische Kapazitäten haben, um eine Schusswunde behandeln zu lassen..."

"Ja, das steht leider zu befürchten", gab ich zu.

"Unsere Ermittlungen, was Krankenhäuser und Arzt-Praxen angeht, die vielleicht dafür in Frage kommen könnten, in den Fall verwickelt zu sein, laufen natürlich weiter. Aber wir stehen da vor einem riesigen Datenberg. Transplantationen waren mal was besonderes. Heute sind sie in manchen Bereichen schon so sehr Routine, wie vor dreißig Jahren eine Blinddarmoperation."

"Mal was anderes, Walt", unterbrach ich Carter. "Der Chef bekommt eigenartige Briefe..."

"Ja, ja..." Carter nickte. "Das geht schon eine ganze Weile so. Täglich kommt etwas für ihn..."

"Schon irgendwelche Anhaltspunkte?"

"Wir arbeiten dran. Und das Labor auch." Carter zuckte die Achseln. "Der Chef hat schon Schlimmeres durchgemacht. Ich persönlich denke, es spricht einiges dafür, dass sich da nur jemand sehr wichtig machen will..."

"Hoffentlich hast du recht", sagte ich.

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7

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Der bärtige Mann mit den wachen blauen Augen saß am Feuer und rieb sich die Hände. Sein Lager befand sich im toten Ende eines stillgelegten Subway-Bahnhofs, irgendwo unter den tristen Straßen von Harlem.

Die Betonwände waren mit Graffitis übersäet. Aber inzwischen interessierten sich nicht einmal mehr die Sprayer für diesen Ort. Hier hielt kein Zug mehr. Sie brausten einfach vorbei und hielten einen halben Kilometer weiter.

Manche der Fahrgäste erblickten dann für Sekunden den Bärtigen, der in sich gekauert dasaß und leicht zitterte.

Er hatte Angst.

Jeder Laut ließ ihn zusammenfahren.

Der Bärtige hatte ein paar fette Ratten aufgespießt und drehte sie über dem Feuer. Ratten waren sehr nahrhaft und vor allem gab es hier unten genug davon. Und der Bärtige wusste, wie man sie fing.

Jede Viertelstunde raste ein Triebwagen der Subway am Lager des Bärtigen vorbei. Der Luftzug, der dann entstand, ließ das Feuer hoch auflodern.

Der Bärtige hörte Schritte. Er schreckte auf.

Seine Augen suchten nervös die Umgebung ab.

"Hey, Mann! Hier hast du dich also verkrochen, Crazy Joe!", sagte eine sonore Stimme. Drei Gestalten traten aus dem Dunkel heraus. Crazy Joe fragte sich, wo sie plötzlich herkamen. Vermutlich hatten sie ihn schon länger beobachtet.

Die drei trugen Strickmützen, die bis zum Kinn hinuntergezogen hatten. Für die Augen waren kleine Löcher hineingeschnitten worden. Der Rest ihrer Sachen bestand aus abgetragener Straßenkleidung.

Der Mittlere der drei trug einen abgeschabten Wollmantel.

In den Händen hielt er eine Pump-Gun. Mit einem harten Geräusch lud er das Gewehr durch.

Crazy Joe erbleichte.

"Du hast dich ziemlich rar gemacht, Joe!", sagte der Kerl im Mantel. "Der Tunnel King ist ziemlich beunruhigt..."

"Hört mal, Leute, ich..."

Crazy Joe brach ab. Er wusste, dass jedes weitere Wort verschwendet war.

"Du wirst zum Risiko, Crazy Joe..."

"Was soll das heißen?"

"Nimm's nicht persönlich. Aber wir haben vom Tunnel King einen klaren Auftrag..."

Der Mann mit dem Mantel hob die Pumpgun.

Joe wich ein Stück zurück. Er hatte beinahe die Gleise erreicht, die etwa einen halben Meter tiefer lagen als der ehemalige Bahnsteig.

Joes Hand riss etwas aus der Tasche seiner fleckigen Jacke heraus. Es geschah blitzschnell. Etwas wirbelte durch die Luft.

Ein Messer.

Der Kerl im Mantel ließ die Pumpgun loskrachen. Einen Sekundenbruchteil später griff er sich an den Hals. Er taumelte zurück, ließ die Pumpgun sinken. Eine Hand umfasste den Messergriff, der aus seinem Hals herausragte. Blut schoss unter der Strickmütze hervor. Der Mann im Mantel schlug der Länge nach hin.

Die beiden anderen standen für einen Moment wie erstarrt da.

Damit hatten sie nicht gerechnet.

Crazy Joe machte einen Satz hinunter zu den Gleisen. Er rannte.

Er rannte in den dunklen Tunnel hinein.

Einer der beiden Maskierten griff zur Pumpgun, hob sie auf und lud sie durch.

Dann feuerte er.

Die Kugel erwischte Crazy Joe mitten zwischen den Schulterblättern.

Er sank zu Boden und lag dann mitten über den Gleisen.

"Wenn der Zug kommt, wird nicht viel von ihm übrigbleiben", stellte einer der beiden Männer fest.

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8

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Am nächsten Morgen saßen wir bei Mister McKee im Büro. Außer Milo und mir waren noch die Agenten Clive Caravaggio und Orry Medina anwesend. Max Carter, ein Innendienstler aus der Fahndungsabteilung kam etwas später, zusammen mit einem gewissen Clovis Ortega, den die Scientific Research Division geschickt hatte. Die SRD war der zentrale Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, und auch wir vom FBI nahmen seine Hilfe gerne in Anspruch.

Die Untersuchungen am Tatort in den Tunneln unter der Bowery hatten einige interessante Neuigkeiten erbracht.

Die Kollegen der SDR hatten reichlich Projektile eingesammelt, mit denen die unbekannten Killer ja sehr verschwenderisch gewesen waren.

Außerdem gab es dann ja auch noch die Kugeln, die Sid und Brett getötet hatten.

"Eine der benutzten Waffen ist schon einmal aktenkundig geworden", erläuterte Clovis Ortega. "Unsere ballistischen Tests sind da ganz eindeutig."

"Benutzt?", hakte Mister McKee nach. "Wann und wo?"

"Bei einer Schießerei in der South Bronx vor zwei Jahren, als dort ein Drogenkrieg zwischen den Puertoricanern aus East Harlem und den Jamaikanern tobte", erklärte Ortega. "Vor dem Kaufhaus BIG DEAL in der 166. Straße haben sich die Killer-Armeen beider Seiten eine regelrechte Schlacht geliefert... Wem die Waffe gehörte, konnte nie genauer bestimmt werden. Aber da die betreffenden Kugeln in den Körpern einiger Männer steckten, von denen wir wissen, dass zu zum Syndikat der Jamaikaner gehörten, muss es sich um jemanden gehandelt haben, der für die Puertoricaner gemordet hat."

"Da dürfte die Auswahl reichlich sein", kommentierte unser Kollege Medina etwas gallig und lockerte dabei seine Seidenkrawatte ein Stück.

"Es gab damals Dutzende von Verhaftungen", sagte Max Carter. "Ich habe all diejenigen in einem Dossier zusammengestellt, die in irgendeiner Weise mit der Schießerei in Zusammenhang gebracht werden. Viele mussten wieder auf freien Fuß gesetzt werden, einige sitzen noch auf Riker's Island."

"Soweit ich ich das in Erinnerung habe, wurden damals beide Syndikate zerschlagen", sagte Mister McKee.

Carter zuckte die Schultern.

"Wäre ein Wunder, wenn sich die Überreste nicht inzwischen neu gruppiert hätten und irgendwie wieder aktiv geworden wären..."

"Glauben Sie an eine Verbindung zwischen der Todesserie in den Tunneln und dem Drogenmilieu?", fragte ich an Carter gewandt.

Carter schüttelte den Kopf.

"Nein, das eigentlich nicht. Obwohl man es auf der anderen Seite natürlich nicht ausschließen kann, schließlich sind die Drogenbarone immer bestrebt, ihr schmutziges Geld in anderen Branchen anzulegen."

"Aber das sind doch üblicherweise möglichst legale Branchen, damit aus dem Schmutzgeld blütenweiße Dollars werden", wandte Orry ein.

"Andererseits ist das Betreiben einer Transplantationsklinik eine Branche, die sich ebenso für die Geldwäsche eignet wie zum Beispiel das Glücksspiel", wandte Milo Tucker ein.

"Wie auch immer", ergriff Max Carter wieder das Wort.

"Ich glaube eher an eine andere Möglichkeit. Und die besteht einfach darin, dass die Killer von damals sich einen neuen Arbeitgeber gesucht haben, sofern sie durch die Maschen der Justiz schlüpfen konnten." Carter legte sein Dossier auf den Tisch. Er wandte sich an unseren Chef. "Ich schlage vor, dass wir uns jeden einzelnen dieser Leute noch einmal vorknöpfen, gleichgültig, ob sie nun auf Riker's Island sitzen oder sonstwo zu finden sind. Vielleicht bekommen wir so entscheidende Hinweise auf die Drahtzieher im Hintergrund..."

"Oder der Tunnel King sagt uns, was er weiß...", meinte ich.

"Vorausgesetzt, er will mit Ihnen sprechen, Jesse", gab Mister McKee zu bedenken.

"Wer da unten über längere Zeit lebt, ist wohl zwangsläufig nicht sehr kommunikativ", erwiderte ich.

"Ach Jesse", wandte sich jetzt Carter in meine Richtung. "Ich habe vielleicht etwas über den Mann, der sich dir gegenüber Crazy Joe nannte."

Ich hob die Augenbrauen.

Carter holte aus einem Aktenkoffer eine Mappe hervor, die mit Computerausdrucken gefüllt war. Er öffnete sie. Ich blickte auf ein Foto, das ein bärtiges Gesicht zeigte.

"Ist er das, Jesse?"

Ich nickte. "Ja."

"Er heißt Joseph Kelvin Mendrovsky, wurde in Wichtita, Texas geboren und mit Mitte dreißig in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Er litt unter Verfolgungswahn. Vor fünf Jahren brach er aus dem St. George Sanatorium in Dorset, Kentucky aus. Seitdem fehlt jede Spur von ihm..."

Ich nahm das Dossier an mich, warf einen Blick hinein.

"Ich will dir damit nur sagen, dass dieser Tunnel King vielleicht nur die Fantasie eines seelisch Kranken ist...", fuhr Carter indessen fort.

Ich mochte an diese Möglichkeit einfach nicht glauben.

Schließlich war Crazy Joe nicht der einzige, der vom Tunnel King erzählt hatte. Andererseits konnte es natürlich gut sein, dass auch diese Berichte nur auf dem basierten, was Joe in den Jahren, die er bereits bei den Mole People lebte, an Geschichten ausgestreut hatte. Geschichten, die sich längst verselbständigt hatten...

Ich hatte keine Gelegenheit, länger darüber nachzudenken.

In diesem Augenblick kam Mandy, die Sekretärin unseres Chefs in den Raum. Auf dem Tablett standen dampfende Kaffeebecher und einige geöffnete Kuverts.

Die Post für Mister McKee. Zweifellos hatte sich erst unsere Sicherheitsabteilung damit beschäftigt, um zu verhindern, dass Mister McKee zusammen mit einem dieser Hassbriefe eines Tages auch eine Ladung Sprengstoff auf den Schreibtisch bekam.

"Diesmal war nichts dabei, Mister McKee", sagte Mandy mit sichtlicher Erleichterung. Sie brauchte das nicht näher zu erläutern. Jedem im Raum war klar, wovon sie sprach.

Mister McKee war das Schweigen, das sich plötzlich im Raum ausgebreitet hatte offenbar unangenehm.

"Was ist los?", fragte er. "Unsere Aufgabe ist es, die Schwachen zu schützen - und dabei machen wir uns eben nicht nur Freunde!"

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Es war Nachmittag, als wir in die unterirdische Welt, tief unter dem Big Apple zurückkehrten. Eine Welt, die bis zu zehn übereinandergeschichtete Etagen hatte. Ein Labyrinth, in dem man sich unter Umständen Jahre verstecken konnte, selbst wenn man auf irgendeiner Fahndungsliste stand.

Crazy Joe konnten wir nirgends finden. An keinem der Orte, von dem wir wussten, dass der sympathische Sonderling sich dort ab und zu aufhielt.

Er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Wir suchten den sogenannten Professor auf, einen Bücherwurm und ehemaligen Bibliothekar, der nach dem tragischen Krebstod seiner Frau mehr oder weniger durchgedreht war. Er wohnte in einer Rangiernische, hatte dort sein Feuer und sogar elektrisches Licht. Einer seiner Freunde hatte eine Leitung abgezweigt und hierher verlegt. Es war relativ trocken hier, trotzdem hatte er seine mindestens 3000 Bücher sorgfältig einzeln in Plastik verpackt.

Der Professor hieß eigentlich Simon McDonald.

Er gehörte zu denjenigen Tunnelmenschen, die ihre Flucht in den Bauch der Erde als eine Art Lebensphilosophie ansahen und die nichts auf der Welt dazu hätte bringen können, sich wieder an ein Leben oberhalb zu gewöhnen.

Hier unten in dem Tunnel war der Professor eine bekannte Persönlichkeit. Wir kannten ihn durch eine Sozialarbeiterin.

Und über McDonald hatte wir Crazy Joe kennengelernt.

"Toll", murrte Milo, als wir die Rangiernische erreichten.

"Wir sind wieder am Ausgangspunkt, Jesse."

"Meinst du, mir gefällt das?"

"Was mir noch weniger gefällt ist mein Gefühl in Bezug auf Joe..."

"Was meinst du damit?"

"Dass wir ihn vielleicht vergeblich suchen, Jesse."

"Und wenn er sich versteckt hält?"

"Warum sollte er das tun? Niemand würde versuchen, ihn hier unten aufzustöbern, um ihn wieder in eine Anstalt zu bringen."

"Es muss ja nicht alles vernünftig sein, was er tut", erinnerte ich ihn.

Der Professor sah uns kommen. Wir gingen den Schienenstrang entlang und mussten dabei auf der Hut sein, um nicht von einer vorbeirasenden Subway erfasst zu werden. Immer wieder kamen Mole People durch Züge um.

McDonald blickte uns misstrauisch an.

"Was wollt ihr hier?", fragte er. "Mir meine Konserven leeressen?"

"Wir suchen Crazy Joe", sagte Milo. "Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?"

"Bin ich ein Hellseher?"

Wir setzten uns zu ihm ans Feuer. Er hatte ein paar alte, ziemlich stockige Matratzen ausgebreitet. Eine davon war aufgerissen und Flocken aus gelbem Schaumstoff lösten sich.

"Was ist los, Professor?", fragte ich.

Irgendetwas hatte sich verändert.

Das spürte ich ganz genau.

"Man erzählt sich seltsame Geschichten über euch beide..."

In McDonalds Gesicht zuckte ein Muskel. Er kratzte sich an dem dicken Eitergeschwür links am Hals, etwas unterhalb des Adamsapfels.

"Was denn für Geschichten?", hakte ich nach.

"Ihr gehört nicht hier her..."

Milo und ich wechselten einen kurzen Blick.

"Was soll das?", fragte ich.

"Ich meine es so, wie ich es sage. Jedes Wort. Es gibt einige fiese Gerüchte über euch. Die einen sagen, ihr seid Cops, die anderen meinen, ihr habt irgendetwas mit den maskierten Mördern zu tun, die sich hier unten ihre Opfer holen. Und wieder andere sagen, ihr wärt wahrscheinlich Perverse, die hier unten ihre niederen Instinkte ausleben, weil sie wissen, dass ein Mord hier unten selten aufgeklärt wird..."

"Professor, das ist alles Quatsch!", erwiderte ich.

Innerlich fluchte ich. Das Vertrauen, das Milo und ich uns hier unten mühsam aufgebaut hatten, war weg. Das lag auf der Hand.

McDonalds Nasenflügel zitterten.

Ich sah, dass seine Hand in die Taschen seines fleckigen Mantels aus Wildleder gewandert waren, dessen Originalfarbe kaum noch zu erkennen war.

Ich sah, wie sich seine Muskeln anspannten.

Irgendetwas umklammerte seine Hand.

Eine Waffe. Ein Messer vielleicht, oder ein Revolver.

"Jedenfalls ist Sid und Brett die Bekanntschaft mit euch nicht gut bekommen", stellte er fest.

"Du glaubst, dass wir etwas mit ihrem Tod zu tun haben?", fragte ich.

"Ist das so abwegig?"

"Hör zu, Sid und Brett waren unsere Freunde!"

"Und jetzt sind sie tot. Wie Crazy Joe..."

"Was?"

"Ist auch nur so ein Gerücht... Aber es würde ins Bild passen."

Ich machte eine etwas zu heftige Bewegung.

Der Professor zog etwas Metallisches aus dem Mantel heraus. Eine einschüssige, selbst zusammengelötete Waffe. Lebensgefährlich auch für den Schützen. "Seid schön vorsichtig", zischte er. "Ich weiß nicht, wer ihr seid, aber das ist mir auch ziemlich gleichgültig. Ich schlage vor, ihr verschwindet jetzt und lasst euch nicht mehr blicken..."

"Professor, wir suchen die Kerle, die Sid und Brett auf dem Gewissen haben", versuchte ich ihn zu überzeugen. "Die hätten uns beinahe auch umgebracht..."

"Geht jetzt!"

"Es waren diese maskierten Killer, die hier unten ihr Unwesen treiben... Ist es dir gleichgültig, wie viele Opfer sie noch fordern?"

"Das Leben hier unten fordert jeden Tag Opfer. Was soll dein Gerede also? Solange ich am Leben bleibe, ist mir alles andere egal..."

Ich deutete auf Milo.

"Crazy Joe wollte meinen Freund hier mit dem Tunnel King zusammenbringen."

"Ach, wirklich?"

Er senkte seine Waffe. Ich nahm das mit Erleichterung zur Kenntnis. Diese selbstgebastelten Dinger konnten sehr leicht von allein losgehen. Und selbst, wenn sich kein Schuss löste, sondern die Waffe explodierte, hätten Milo und ich auf die Distanz noch etwas abbekommen.

"Der Tunnel King weiß, wer hinter diesen Killern steckt", behauptete ich.

"Der Tunnel King weiß alles, was hier unten vor sich geht", erwiderte McDonald. "Und ihr werdet ihn kaum finden." McDonald lachte und setzte dann hinzu: "Er wird euch finden!"

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In der Ferne tauchten Lichter auf, die immer greller wurden. Ein Zug kam heran. Das Geräusch wurde geradezu ohrenbetäubend. Die Subway raste an uns vorbei.

Dann quietschte es so schrill, dass es einem fast das Trommelfell zerriss.

Einer der Fahrgäste hatte offenbar die Notbremse betätigt.

Die hell erleuchteten Triebwagen kamen endlich zum Stehen.

Eine der Türen ging auf.

Nacheinander stiegen fast ein Dutzend Männer um die zwanzig aus. Sie trugen schwarze Ledermonturen mit der Aufschrift SILVER DRAGONS.

Eine Gang.

In den Gesichtern stand ein gemeines Grinsen. Mir war sofort klar, was sich hier anbahnte. Diese Typen wollten ihren Spaß - und dazu brauchten sie Opfer. Mole People waren ihnen gerade recht. Der Fahrer des Zuges schaute kurz aus dem Fenster, ließ sein Gefährt dann sofort wieder anfahren. Er dachte gar nicht daran, die Gang dafür zur Rechenschaft zu ziehen, dass die STAR DRAGONS für diesen kleinen Zwischenhalt gesorgt hatten. Wenn wir Glück hatten, meldete er den Vorfall an die Polizei. Der Zug verschwand im Tunnel.

Die Ledergekleideten schwangen die Butterfly-Messer und Schlagstöcke in den Händen.

"Hey, wer sagt's denn! Gleich drei! Ich dachte, hier gibt's nur den alten Mann!", greinte einer. Er griff in die Jackentasche und nahm einen Schluck aus dem Flachmann, den er dort verstaut hatte.

Die Kerle näherten sich.

"Hört mal, wir geben euch Drecksäcke eine faire Chance!", rief einer der Männer. "Ihr kriegt fünf Minuten Vorsprung. Schließlich wollen wir auch unsern Spaß haben..."

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Milo.

Dann raunte ich dem Professor zu: "Benutzen Sie auf keinen Fall ihr selbstgebautes Eisen..."

"Es ist ungeladen", erwiderte er.

"Weshalb?"

"Weil mir mein Pulver nass geworden ist..."

Die STAR DRAGONS bildeten einen Halbkreis. Einige von ihnen ließen die Butterfly-Messer herumwirbeln. Sie kicherten.

Ein großer, leicht übergewichtiger STAR DRAGON hantierte mit einer Stahlschleuder herum. Hier und da blitzten Morgensterne, Schlagringe und Kleinkaliberwaffen auf.

"Hey, wollt ihr euch gar nicht auf die Socken machen?", rief einer und seine Gang-Brüder brüllten vor Lachen.

"Laufen wir um unser Leben", raunte der Professor.

"Kommt nicht in Frage", erwiderte ich. "Dann wären wir geliefert."

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Milo.

Die Kerle kreisten uns weiter ein.

Die Gangs waren ein großes Problem für die Tunnelmenschen.

Oft genug machten sie sich einfach einen Spaß daraus, die Tunnelmenschen zu jagen oder zu schikanieren. Sie rechneten einfach damit, dass keines der Opfer sich an die Behörden wenden würde. Und leider hatten sie oft genug recht damit.

Gleichzeitig rissen Milo und ich unsere SIGs aus den Taschen. Ein Ruck ging durch die STAR DRAGONS.

"Keine Bewegung!", rief ich. "Wir sind Special Agents des FBI. Lasst eure Waffen fallen und nehmt die Hände hoch. Diesmal seit ihr an die Falschen geraten..."

Sie waren unschlüssig darüber, was sie tun sollten.

Wenn sie alle im selben Moment angriffen, hatten wir keine Chance gegen sie. Ich hoffte, dass die STAR DRAGONS nicht zu der Sorte Gang gehörten, bei denen so etwas als Mutprobe galt.

Ich wirbelte ein Stück herum, feuerte die P226 zweimal ab.

Die Kugeln brannten sich vor die Füße eines der Gang-Mitglieder. Der Mann hatte versucht, seine 22er aus dem breiten Gürtel herauszureißen, den er unter seiner Lederjacke trug. Er stand wie erstarrt da, hob dann langsam die Hand.

Die Waffe blieb stecken.

"Sie haben das Recht zu schweigen", zitierte ich den Spruch, den wir bei Verhaftungen immer aufsagen müssen. "Wenn Sie auf dieses Recht verzichten kann alles, was Sie von nun an sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden..."

Der Kerl mit der Schleuder trat einen Schritt vor.

Er starrte mich ungläubig an.

"Hey, Bruder, was haben wir denn gemacht? Gibt's 'nen Paragraphen dagegen, sich hier unten aufzuhalten? Dann müsstet ihr den alten Sack da vorne auch festnehmen!"

"Ihr wolltet hier eine Jagd veranstalten..."

"Hey, Mann, das hast du missverstanden!"

"Und dann wäre da noch Gefährdung des Schienenverkehrs. Schließlich habt ihr den Zug ohne Grund gestoppt..."

Langsam wurde den STAR DRAGONS klar, dass sie sich diesmal wirklich verrechnet hatten. Panik zeichnete ihre Gesichter.

Und dann warf einer plötzlich einen eiförmigen Gegenstand in unsere Richtung.

Eine Gasgranate.

Milo warf sich nach links, ich packte den Professor und riss ihn mit mir. Gemeinsam fielen wir zu Boden, während Schüsse in unsere Richtung krachten. Dann explodierte das eiförmige Ding.

Ein beißender, grauer Nebel quoll heraus und erfüllte innerhalb von Sekunden die Luft.

Ich presste mich an den Boden, feuerte einmal in Richtung der STAR DRAGONS und versuchte, nicht allzu viel von dem Reizgas einzuatmen.

Meine Augen tränten bereits.

Eine zweite Gasgranate wurde gezündet.

Die STAR DRAGONS waren indessen auf der Flucht.

Sie schossen wild in der Gegend herum und hetzten dann in den dunklen Tunnel hinein, in Richtung der nächsten Subway-Station.

Ich stand auf.

Durch den Reizgas-Nebel sah ich Milo dahertaumeln. Er hustete schrecklich.

"Alles in Ordnung?", keuchte er.

"Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen!"

Ich beugte mich über McDonald, der noch immer am Boden lag. Er stöhnte. Ich drehte ihn herum. Sein Mantel war blutbesudelt.

Eine Kugel hatte ein großes Loch hineingerissen.

"Verdammt!" keuchte er und biss die Zähne zusammen.

"Sie müssen in ärztliche Behandlung", sagte ich mit Bestimmtheit.

"Wenn es nicht so weh täte, würde ich jetzt lachen", gab McDonald heiser zurück.

"Wir sorgen dafür, dass sich die Ambulanz um Sie kümmert!"

"Was redest du für einen Mist! Keiner, der hier lebt, hat so etwas wie 'ne Krankenversicherung, geschweige denn genügend Bargeld, um einen Arzt zu bezahlen!"

"Das wird sich regeln lassen", sagte ich zuversichtlich.

"Jedenfalls bist du ziemlich schnell tot, wenn diese Wunde nicht behandelt wird."

McDonald seufzte. Er warf einen Blick zu Milo, dann sah er wieder mich an.

"Seid ihr zwei wirklich G-men?", fragte er dann.

Ich nickte.

"Ja, wir sind Special Agents des FBI. Und wir suchen die maskierten Killer und ihre Hintermänner. Die Leute, die euch Tunnelmenschen als Ersatzteillager für Transplantionsorgane betrachten."

"Das klingt zu schön, um wahr zu sein", meinte McDonald.

"Es ist wahr."

"Na, dann wünsche ich euch viel Erfolg", meinte er mit zynischem Unterton.

"Du bist uns was schuldig, Professor", mischte sich jetzt Milo ein.

McDonald hob die Augenbrauen.

"Ach, ja?"

"Wir haben dein Leben gerettet. Was glaubst du wohl, was die mit dir gemacht hätten..."

"Ich hätte es überstanden."

"Das ist eine Lüge und du weißt es."

McDonald atmete tief durch.

"Was wollt ihr?", fragte er.

"Den Tunnel King", erwiderte Milo.

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Wir sorgten dafür, dass sich die Emergency Ambulance um McDonald kümmerte. Sein Zimmer im St. Joseph's Hospital wurde von einem Polizisten bewacht, obwohl der Professor darauf eigentlich keinen Wert legte. "Ihr wollt nur verhindern, dass ich einfach davonlaufe, ohne meine Rechnung zu bezahlen", witzelte er.

"Glaub mir, es ist besser so, Professor", sagte ich.

"Die STAR DRAGONS dürften nicht allzu gut auf dich zu sprechen sein..."

"Denen werde ich wiederbegegnen, wenn ich wieder da unten bin. Du kannst mich nicht schützen..."

"Wo finden wir den Tunnel King?", fragte ich.

"Wenn ich euch das verrate, bin ich ein toter Mann..."

"Soll das Morden immer weitergehen?", fragte ich.

"Die Welt ist schlecht. Wusstest du das nicht?"

"Ich denke nicht, dass man es hinnehmen sollte", erwiderte ich.

"Wer sagt dir, dass der Tunnel King etwas mit den maskierten Mördern zu tun hat? Du hast nichts weiter als ein paar Gerüchte und das Gerede von Crazy Joe, diesem Narren!"

"Crazy Joe wusste, dass der Tunnel King in irgendeiner Weise mit diesen Killern zusammenarbeitete. Und deswegen müssen wir den King sprechen..."

Jetzt betrat einer der Ärzte das Zimmer.

Wir hatten bereits mit ihm gesprochen. Er hieß Lawson.

"Sie können diesen Mann jetzt nicht länger vernehmen", erklärte er. "Er ist schwer verletzt. Der OP ist vorbereitet... Wenn Sie uns jetzt bitte unseren Job machen lassen würden, Mister Trevellian!"

Ich sah McDonald beschwörend an.

"Bitte, Professor!"

"Kennst du die Subway-Station Canal Street/Seventh Avenue?"

"Sicher."

"Du musst von dort aus ein Stück den Schienenstrang entlanggehen, Richtung Avenue of the Americas. Irgendwann triffst du links auf eine stillgelegte Abzweigung. Von dort gibt es einen Zugang zu den Kanälen sowie zu tiefergelegenen Tunneln. Dort ist das Gebiet des Tunnel King..."

"Wie finden wir ihn dort?"

"Er wird euch finden. Und dann Gnade euch Gott..."

Weißgekleidete Pfleger und Schwestern kamen in den Raum.

McDonald sah mich die ganze Zeit über an, während er rausgefahren wurde.

"Geht nicht dort unten hin!", rief McDonald noch. "Hört ihr? Crazy Joe ist tot, weil er mit euch geredet hat! Und wenn ihr dort auftaucht, seid ihr geliefert!"

Ich sah ihm nach.

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Im Hauptquartier erwartete uns die Nachricht, dass eine Leiche als Crazy Joe identifiziert worden war. Der Mann war erschossen worden. Hinterher hatte ein Zug den Körper erfasst und sehr entstellt.

"Crazy Joe hat es gewusst", stellte Milo fest.

Wir saßen in Mister McKees Büro. Es ging darum den Einsatz in den Tunneln unterhalb der Kreuzung Canal Street/ Seventh Avenue zu planen. Denn unser Chef war alles andere als begeistert von dem Gedanken, dass Milo und ich uns allein dorthin begeben würden.

"Ich möchte, dass Ihnen unsere Leute folgen, Jesse."

"Wissen Sie was passieren wird? Der Tunnel King wird sich einfach zurückziehen. Er kennt sich dort unten aus, wir sind auf Pläne angewiesen, von denen ein Großteil nicht stimmt."

"Dann werden wir wenigstens das Gebiet großräumig absperren und alle Eingänge zum Tunnelsystem im Umkreis mehrerer Meilen bewachen", meinte Mister McKee. "Und Sie beide werden sich mit Abhörmikrophonen ausstatten lassen..."

"Der Empfang könnte da unten zeitweilig abbrechen."

"Und wenn die Leute des Tunnel King das herausfinden?", fragte Milo.

"Dann sind Ihre Kollegen rechtzeitig bei Ihnen", erklärte Mister McKee. Nach kurzer Pause setzte er hinzu: "Zumindest bemühen sie sich darum. Riskant wird es auf jeden Fall..."

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Wir ließen uns von unserem Kollegen Agent Fred LaRocca zur Subway-Station an der Kreuzung Canal Street/ Seventh Avenue bringen. In der Umgebung hatten sich Dutzenden von FBI-Agenten auf den U-Bahnhöfen in der Umgebung postiert. Sie mischten sich unauffällig unter die Passanten, aber im Ernstfall konnten sie schnell eingreifen, wenn ein Verdächtiger versuchte, das Tunnelsystem auf diese Weise zu verlassen. Natürlich gab es noch unzählige weitere Ausgänge, vor allem über die Kanalisation. Die wichtigsten wurden von unseren Leuten bewacht, aber es war uns natürlich klar, dass eine flächendeckende Überwachung unmöglich war.

Wir gingen an den Schienensträngen entlang, die in Richtung der Avenue of the Americas führten, fanden dann die Abzweigung, von der McDonald gesprochen hatte.

Von dort aus gelangten wir über die Kanalisation in tiefergelegene Tunnel.

McDonalds Angaben nach befand sich hier das Revier des Tunnel King.

Die Taschenlampen, die Milo und dabei hatten, erlaubten eine notdürftige Orientierung in dem dunklen Labyrinth.

Es war totenstill hier unten.

Selbst die Mole People schienen diesen Bereich zu meiden, obwohl er an und für sich relativ geeignet war, um zu lagern.

Schließlich war es hier recht trocken.

"Ich frage mich, ob die Angaben des Professors vielleicht schon etwas veraltet waren", raunte Milo mir zu.

"Diese Ruhe hier unten gefällt mir jedenfalls nicht", stellte ich fest.

Wir stießen auf einen Zugang zur Kanalisation, der uns noch weiter hinabführte. Über eine enge Betonröhre, an deren Wand sich Metallsprossen befanden, gelangten wir in einen Hauptkanal, der an mehreren Stellen nicht mehr in Ordnung war. Der Beton war aufgesprungen, der Kanal verlor Wasser.

Der Wasserstand war daher extrem niedrig. Es stank entsprechend bestialisch.

"Ich frage mich, wer ein Motiv hatte, jemanden wie Crazy Joe umzubringen", hörte ich Milo sagen. Seine Stimme hallte an den gerundeten Kanalwänden wider.

"Vielleicht war er doch nicht der Narr, als den ihn alle sahen", erwiderte ich. "Aber vermutlich sind wir schlauer, wenn der ballistische Bericht vorliegt!"

Aus mehreren Nischen sprangen in diesem Moment Vermummte hervor. Sie trugen Strickmützen, die sie über das Gesicht gezogen hatten. Für die Augen waren kleine Löcher herausgeschnitten worden.

Die Kerle waren bewaffnet.

Ratsch!

Eine Pumpgun wurde mit einer energischen Bewegung durchgeladen. Ich wirbelte herum. Meine Hand hatte bereits den Griff der P226 umfasst. Ich war bereit, die Waffe herauszureißen, aber die Übermacht war zu erdrückend.

Fast ein Dutzend Bewaffnete standen Milo und mir gegenüber.

Außer einigen Pumpguns sah ich Revolver, Pistolen und sogar ein Schnellfeuergewehr, das aus Army-Beständen zu stammen schien.

"Stehenbleiben, ihr Ratten!", knurrte einer der Vermummten.

Wir waren eingekreist. Fast hatte ich den Eindruck, als ob diese Leute uns erwartet hatten. Jedenfalls waren sie hervorragend postiert gewesen und hatten uns in aller Ruhe in die Falle gehen lassen.

Einige von ihnen kamen näher.

Die Läufe ihrer Waffen waren die ganze Zeit über auf uns gerichtet. Sie entrissen uns die Dienstpistolen. Einer heulte triumphierend auf. Zwei Pistolen vom Typ SIG Sauer P226 - das war eine Beute ganz nach ihrem Geschmack.

Die Vermummten musterten uns.

Milo und ich tauschten einen schnellen Blick.

Jetzt konnten wir nur hoffen, dass wirklich alles so klappte, wie Mister McKee es vorgesehen hatte.

Ich hatte da so meine Zweifel...

"Los, mitkommen", knurrte ein Mann mit einem 38er Special in der Linken, mit deren kurzen Lauf er aufgeregt herumschwenkte.

"Was meinst du, sind sie das, Tiger?", fragte einer der Vermummten.

Der Mann mit dem 38er nickte.

"Da ist wohl jeder Irrtum ausgeschlossen! Niemand sonst wäre so verrückt, sich hierher zu wagen!" Tiger lachte heiser. "Ihr seid hier, weil ihr zum Tunnel King wollt, was?"

"Schon möglich", sagte ich.

"Ihr werdet ihn kennenlernen! Er wartet schon auf euch..."

Tiger kicherte wie irre. Unter den anderen Vermummten entstand ein Gemurmel.

Dann trat Tiger sehr nahe an uns heran.

Der 38er in seiner Linken war auf meinen Bauch gerichtet.

Die Knöchel seiner Hand waren weiß. Er verstärkte den Druck auf den Abzug.

"Einer von euch hat schon mal versucht, sich mit dem King zu treffen..."

"Leider hat uns der King versetzt", sagte Milo.

"Der King tut, was ihm gefällt", erwiderte Tiger kichernd. "Sonst wäre er nicht der King, verstehst du Rattenhirn das?"

"Klar doch", meinte Milo.

Der Hieb, der meinen Freund dann traf, war so schnell und gemein, dass Milo nicht den Hauch einer Chance hatte, ihn abzuwehren. Tiger schlug voll zu. Seine rechte Faust bohrte sich in Milos Magengrube. Die Linke schnellte hoch. Der kurze Lauf des 38ers erwischte Milo im Gesicht und zog eine blutige Schramme quer über seine Wange.

Ich wollte eingreifen.

Aber innerhalb eines Sekundenbruchteils hatten mich zwei der Vermummten von hinten gepackt. Der Griff dieser Männer glich einem Schraubstock. Ich konnte nichts machen. Milo wankte ächzend und wurde dann auch von zwei Vermummten festgehalten.

Tiger lachte.

"Das ist nur, damit ihr euch von Anfang an den richtigen Respekt angewöhnt." Er deutete mit der Linken in Richtung der Betondecke, die sich über den Kanal spannte. "Da oben seid ihr vielleicht was, aber hier unten seid ihr nur ein Stück Dreck..."

"Ihr habt gewusst, dass wir hier her kommen?", fragte ich.

"Der Tunnel King weiß alles", erwiderte Tiger. "Und jetzt vorwärts!"

Sie stießen uns voran und führten uns den Abwasserkanal entlang.

Schließlich gelangten wir durch einen Lüftungsschacht in einen U-Bahn-Tunnel. Ich fragte mich, ob unsere Leute diesen Weg rechtzeitig finden würden, um uns rauszuhauen.

Der Tunnel machte eine Biegung, dahinter leuchtete etwas hervor. Es wirkte wie ein gleichmäßiges, elektrisches Licht, nicht wie der Schein eines Feuers.

Wir kamen um die Biegung herum.

Ein ganzer Zug stand auf den Gleisen. Er war schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb und rostete hier, auf diesem stillgelegten Schienenstrang vor sich hin. Irgendwie musste es jemandem gelungen sein, eine Stromleitung anzuzapfen und die Innenbeleuchtung der Triebwagen soweit instand zu halten, dass sie nach wie vor funktionierte.

Ein eigenartiger Anblick waren diese Wagen.

Es waren insgesamt fünf.

Vermummte Wächter patrouillierten im Schein der Beleuchtung auf und ab.

Dies musste das Hauptquartier des legendären Tunnel King sein!

Die Vermummten stießen uns vorwärts.

Die Wächter musterten uns.

Aber keiner von ihnen sagte etwas.

Wir gingen an dem ersten Wagen vorbei. Sie führten uns bis zum Eingang des dritten. Es handelte sich um ein besonders großes und gut erhaltenes Exemplar. Eine ächzende Hydraulik sorgte dafür, dass sich eine Schiebetür teilte.

Wir stiegen die wenigen Metallstufen hinauf.

Das Innere des Wagens war einem Wohnzimmer nachempfunden. Zusammengewürfelte Einrichtungsgegenstände waren hier zu finden, so dass es ziemlich eng war. Ein niedriger Eichentisch, zwei dicke Plüschsessel, ein Kleiderschrank. In einem der Sessel saß ein sehr dicker Mann, dessen Kopf vollkommen kahl war.

T-KING hatte er sich auf den Schädel tätowieren lassen.

Unter der Fellweste trug er ein Schulterholster, aus dem der Griff eines 45er Magnum herausragte.

Er blickte auf.

Sein linkes Auge war offensichtlich blind.

Ein breites Grinsen erschien auf seinem totenbleichen Gesicht, das jahrelang keinen Sonnenstrahl mehr gesehen haben musste. Der Mann war höchstens 35 Jahre alt, aber er hatte kaum noch Zähne im Mund.

"Das sind die Beiden, King", sagte Tiger. Er kicherte dabei.

"Freut mich sehr", zischte der Tunnel King.

"Sollen wir sie jetzt abknallen?", fragte Tiger. "Ich persönlich bin ja dafür, Munition zu sparen und es mit dem Messer zu machen... Macht übrigens auch mehr Spaß!

"Halt's Maul, Tiger!"

Der King erhob sich. Er atmete tief durch.

"Mein Freund Crazy Joe hat mir einiges über euch erzählt", wisperte er dann. "Leider konnte ich zur letzten Verabredung nicht kommen. Ich war kurzfristig verhindert... Geschäfte. Das werden Sie verstehen, denke ich." Er kratzte sich am Kinn, musterte uns nacheinander und fuhr dann fort: "Leider muss man sich auch manchmal von Freunden trennen..."

"Sie sprechen von Crazy Joe?", fragte ich.

"Er wurde eine Belastung. Es hat mir weh getan, ihn zu beseitigen. Aber sehen Sie, ich sage mir in diesem Fall, dass eigentlich ihr beide ihn auf dem Gewissen habt..."

"Tut mir leid, da kann ich nicht folgen", erwiderte ich gallig.

"Ach nein? Schließlich habt ihr ihn doch soweit gebracht, bis er euch auf meine Fährte gesetzt habt. Ihr seid gottverdammte G-men, und schon deswegen würde ich euch gerne persönlich den Bauch aufschlitzen. Aber es gibt da jemanden, dem das noch viel mehr am Herzen liegt. Und der auch bereit ist, dafür etwas springen zu lassen, euch lebendig in die Finger zu bekommen!"

"Woher weißt du, dass wir FBI-Leute sind?"

"Ich habe so meine Quellen", lachte er. "Schließlich bin ich der Tunnel King. Hier unten steht alles unter meiner Kontrolle. Niemand atmet hier, ohne dass ich das nicht will. Niemand kann hier überleben, den ich hier nicht haben will. Ich bin der Herr über Leben und Tod in den Tunneln. Kapierst du das? Und das wird auch immer so bleiben..."

"Wer ist es, der an uns interessiert ist?", hakte ich nach.

"Die Fragen stelle ich hier. Kapiert?", knurrte mich der King an.

In diesem Moment brach die Hölle los.

Maschinenpistolen ratterten los. Die Scheiben der Subway-Wagen zersprangen.

Der Mann, der sich Tiger nannte taumelte zurück, während sich auf der Strickmütze, die er über dem Gesicht trug, ein dunkelroter Fleck bildete. Die Wucht des Geschosses nagelte ihn gegen den Kleiderschrank, an dem er dann leblos hinuntersackte.

Milo warf sich seitwärts, gegen einen der anderen Vermummten. Der Kerl war so verdutzt, dass er noch nicht einmal seine Waffe hochgerissen und einen Schuss abgegeben hatte.

Ein Geschosshagel prasselte in Fensterhöhe in den Triebwagen hinein. Die Projektile fetzten durch die zusammengewürfelten Möbel, ließen das Holz splittern.

Ich warf mich nach vorn.

Mit voller Wucht prallte ich gegen den massigen Körper des Tunnel-King, der gerade seinen Magnum Revolver aus dem Schulterholster herausreißen wollte.

Wir landeten hart. Der niedrige Eichentisch brach unter uns zusammen, während von draußen wie wild gefeuert wurde. Die Kugeln gingen zum Teil einfach durch die Außenbleche der Triebwagen durch. Die Projektile stanzten kleine Löcher hinein, bevor sie in den dicken Polstern der Sessel steckenblieben.

Der King ächzte.

Ich war über ihm, hielt mit aller Kraft sein Handgelenk fest. Ein Schuss löste sich aus dem Magnum-Colt und durchschlug auf der anderen Seite des Triebwagens das Außenblech. Die Kugel vom Kaliber 45 riss ein beinahe faustgroßes Loch.

Ich bog den Waffenarm des Tunnel-King zur Seite. Dann riss ich ihm die Waffe aus der Hand. Ich richtete sie auf ihn und er sah mich starr an.

"Keine Bewegung!", schrie ich, um die Schießerei zu übertönen.

Todesschreie gellten und mischten sich in das Geknatter der MPis.

Wer immer da draußen auch diesen erbarmungslosen Angriff gestartet haben mochte - unsere Leute waren das auf keinen Fall!

Ich wandte mich an den Tunnel-King.

"Rühr dich dich nicht von der Stelle!", brüllte ich ihm zu, um die Schussgeräusche zu übertönen.

Er knurrte mir etwas Unverständliches zu. Ich rollte mich über den Boden, bis ich die zerschossene Blechwand erreicht hatte.

Durch die kleinen Löcher hindurch sah ich hier und da Mündungsfeuer aufblitzen. Schreie gellten. Es war ein furchtbarer, verzweifelter Kampf auf Leben und Tod.

Ich tauchte hoch, so dass ich über den Rand des zerschossenen Fensters blicken konnte. Maskierte Gestalten liefen in dem Gewölbe herum, duckten sich, feuerten aus Maschinenpistolen. Ich erkannte an ihrer Ausrüstung sofort, dass es sich um jene maskierten Killer handeln musste, vor denen Milo mich in letzter Sekunde gerettet hatte.

Nur ihre Nachtsichtgeräte hatten sie jetzt nicht angelegt.

Bei der Helligkeit hier war das auch überflüssig.

Die Männer des Tunnel King hatten der geballten Feuerkraft der Maschinenpistolen nichts entgegenzusetzen. Die vermummten Wächter lagen tot auf dem Boden. Nur hier und da wurde aus den verrosteten Subway-Triebwagen heraus noch gefeuert. Aber die Verteidiger verfügten nicht über MPis, die Feuerstöße von 20-30 Schuss pro Sekunde abgeben konnten. Mit Revolvern, Pumpguns und ähnlichem hatte man gegen derartigen Beschuss auf die Dauer kaum eine Chance.

Eine MPi-Salve knatterte in meine Richtung. Ich duckte mich.

Dann gab es eine furchtbare Explosion im Nachbarwagon.

Die Hitze war bis zu uns hin spürbar. Die letzten intakten Scheiben barsten durch den Druck.

Metallteile flogen durch die Luft und prallten gegen die Betondecke des Subway-Tunnels.

Der Lärm war ohrenbetäubend.

Offenbar hatten die Angreifer einen der anderen Wagen kurzerhand in die Luft gesprengt.

Ich hörte Schreie, Schritte, heisere Befehle.

Und dann flog ein eiförmiger Gegenstand durch das Fenster zu uns herein.

Dies war keine Reizgasgranate, wie die STAR DRAGONS sie gegen uns benutzt hatten, um sich der Verhaftung zu entziehen.

Dies war eine reguläre Handgranate, wie sie zur Ausrüstung der Army gehörte.

Sekundenbruchteile und dieser Wagen würde sich in ein flammendes Inferno verwandeln...

Der Tunnel-King stierte mich ungläubig an und stieß dann einen heiseren Schrei aus.

Es blieb keine Zeit, um zu überlegen.

Ich hechtete auf das Teufels-Ei zu. Ein Sekundenbruchteil noch und es konnte explodieren, mich und den ganzen Wagen in Stücke reißen.

Ich griff mit der Linken danach, umfasste es. Mit derselben Bewegung schleuderte ich es durch das zerschossene Fenster.

Im selben Augenblick entstand draußen ein Flammenpilz. Die Hitze war mörderisch. Die Druckwelle riss ein Teil des Daches vom Wagen. Ich presste mich dicht an den Boden.

Und wartete.

Heiser gebrüllte Befehle waren zu hören.

Die Angreifer waren sehr gründlich.

Hier sollte niemand überleben.

Das war ihr Ziel, das sie kompromisslos und ohne jedes Erbarmen verfolgten.

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Die Schießerei verebbte. Ich fürchtete, dass von den Tunnel-King-Leuten kaum jemand überlebt hatte.

Es wurde still in dem Subway-Tunnel.

Ich warf einen kurzen Blick zu Milo hinüber, der einem toten Wächter die Waffe abgenommen hatte. Eine Pumpgun.

Ein Wächter war tot, ebenso der Mann, der Tiger genannt worden war.

Ein Dritter lag schwer verletzt auf dem Boden.

Er blutete stark.

Sein Stöhnen war so schwach, dass es kaum zu hören war.

Von draußen waren Schritte zu hören.

Ein Maskierter stürzte durch die offene Schiebetür. Der Lauf seiner Maschinenpistole wirbelte herum.

"Die Waffe runter! FBI!", schrie ich.

Er ließ mir keine Wahl.

Rot züngelte das Mündungsfeuer aus dem kurzen Lauf der MPi heraus. Die Kugeln gingen jedoch in die Decke, als ein Ruck durch den Körper des Maskierten ging.

Die Kugel des 45er Magnum, die ich dem Tunnel King entrissen hatte, erwischte den MPi-Schützen an der Schulter.

Er taumelte zurück, Milo schnellte hoch und hielt ihm die Pumpgun entgegen.

Dann nahm er dem Maskierten die MPi ab.

Draußen wurde wieder geschossen.

Eine Megafonstimme ertönte.

"Hier spricht das FBI! Legen Sie die Waffen nieder und ergeben Sie sich!"

Das waren unsere Kollegen, die es endlich geschafft hatten, uns bis hier zu folgen.

Ein paar Schüsse gingen noch hin und her.

Durch den enormen Hall in diesem unterirdischen Gewölbe, war das Ausmaß der Schießerei nur schwer einzuschätzen.

Dann verebbte der Kugelhagel.

Männer in kugelsicheren Westen und den Einsatzjacken des FBI stürmten die Subway-Wagons. Ich war froh, als ich Agent Fred LaRocca durch die Schiebetür hereinkommen sah, beide Hände um den Griff seiner Dienstpistole geklammert.

"Alles in Ordnung, Jesse?"

"Ich denke schon."

"Es war gar nicht so leicht, euch hier zu finden..."

"Was ist mit den Angreifern?"

"Wir wissen nicht genau, wie viele es waren. Einige haben wir, der Rest ist geflohen. Mal sehen, ob wir sie hier unten nicht doch noch finden..."

"Es gibt eine Reihe von Verletzten, um die man sich kümmern muss."

"Der Notarzt ist unterwegs, Jesse."

Ich wandte mich an den Tunnel King.

Er hatte nichts abbekommen. Trotzdem war sein Gesicht vom Schrecken gezeichnet.

Mit dieser Entwicklung hatte er nicht im Traum gerechnet.

"Du bist verhaftet, Tunnel-King - oder wie immer dein wirklicher Name auch lauten mag!" sagte ich. "Du hast das Recht zu schweigen. Falls du auf dieses Recht verzichtest..."

"Spar dir deinen Spruch, G-man!", knurrte er.

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Unsere Leute nahmen den Tatort tief unter der Kreuzung Canal Street/ Seventh Avenue genauestens unter die Lupe. Die Erkennungsdienstler der Scientific Research Division sammelten jedes Projektil und jede, noch so unscheinbare Spur auf, während etwa dreißig G-men vergeblich versuchten, die flüchtigen Killer noch zu fassen. Sie waren buchstäblich wie vom Erdboden verschluckt.

Die Möglichkeiten, sich hier unten zu verstecken, waren schier unbegrenzt. Die Zahl der Fluchtwege genau so.

Der Mann, den ich niedergeschossen hatte, war zu schwer verletzt, um vernommen werden zu können. Das gleiche galt auch für den verletzten Wächter aus dem Gefolge des Tunnel King. Er konnte von Glück sagen, sofern er mit dem Leben davonkam.

Die anderen Männer des Tunnel King waren entweder tot oder geflüchtet.

"Was waren das für Leute, die euch angegriffen haben?", fragte ich den selbsternannten King, während er darauf wartete, von einigen unserer Beamten in die Federal Plaza 26 gebracht zu werden. Zu unserem Hauptquartier gehören auch einige Gewahrsamszellen, in denen wir Verdächtige festhalten können.

Der King verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

"Du bist Abschaum, G-man! Kein Wort rede ich mit dir!"

"Du weißt, wer das war!", stellte ich fest. "Die Leute, denen du unsere Köpfe versprochen hast, stimmt's?"

"Halt's Maul!"

"Ist dir das egal, dass deine Leute einfach so niedergemetzelt wurden?"

"Was versteht ihr schon davon!" Während der Tunnel King das sagte, verzog er verächtlich den Mund. Dann sah er mich an und fügte hinzu: "Ich habe doch das Recht zu schweigen... Davon mache ich jetzt Gebrauch! Hast du kapiert, G-man?"

"Es hat keinen Sinn", raunte Fred LaRocca mir zu. "Ich schlage vor, wir lassen ihn jetzt abführen. Unsere Vernehmungsspezialisten werden schon etwas aus ihm rausholen!"

"Na, hoffentlich", murmelte ich.

Ich fuhr mit der Hand über das Gesicht. Da gab es ein paar Gedanken, die mich einfach nicht losließen.

Wir waren erwartet worden, das stand für mich fest.

Der Tunnel-King hatte gewusst, dass wir bei ihm auftauchen würden.

"Was spukt dir im Kopf herum?", fragte Milo.

Wir kannten uns einfach zu gut, als dass ich etwas vor ihm verbergen konnte.

"Ich frage mich, woher der Tunnel-King und seine Leute wussten, wo und wann sie uns in Empfang nehmen mussten..."

"Vielleicht haben anderswo auch noch einige seiner Leute gewartet", gab Milo zu bedenken.

Ich schüttelte den Kopf.

"Das glaube ich nicht. Dazu waren es zu viele..."

"Wir wissen nicht mit Sicherheit, über wie viele Leute der King verfügte."

"Nein, das nicht..."

"Na also!"

Ich atmete tief durch. Irgendwie überzeugte mich Milos Erklärungsversuch nicht so richtig. Milo sah mir meine Zweifel an. Er sagte: "Denkst du etwa, der Professor hat uns reingelegt?"

"Das wäre auch eine Möglichkeit."

"Das würde aber bedeuten, dass der Professor nach dem Überfall der STAR DRAGONS noch einmal Kontakt mit den Tunnel-King-Leuten hatte. Denn sonst ergäbe das keinen Sinn! Und wie du weißt, ist es völlig ausgeschlossen, dass er eine Nachricht abgesetzt hat. Es war ständig jemand bei ihm und er hatte nicht einmal die Möglichkeit zu telefonieren. Wobei ihm das wohl auch kaum etwas genutzt hätte, denn ich habe bei den Tunnel-King-Leuten kein Telefon gesehen. Und wie schlecht Handys da unten funktionieren, wissen wir ja aus eigener Erfahrung. Jesse, diese Möglichkeit scheidet aus."

Milo hatte recht.

Auch nachdem wir den Professor verlassen hatten, wäre es für ihn unmöglich gewesen, eine Nachricht an den Tunnel-King abzusenden. Schließlich wurde er operiert und erwachte vielleicht gerade aus der Narkose...

"Trotzdem", meinte ich. "Wir sollten das nochmal genau überprüfen."

"Jesse..."

"Hör mal, Milo! Die wussten Zeit und Ort, wenn du mich fragst! Das kann kein Zufall sein."

Agent Fred LaRocca hatte aufmerksam zugehört. Er hob die Augenbrauen. Auf seiner Stirn erschienen tiefe Furchen.

"Willst du etwa sagen, dass es bei uns eine undichte Stelle gibt, Jesse?"

"Dann würde einiges plötzlich einen Sinn ergeben", stellte ich fest.

"Ein schwerwiegender Verdacht, Jesse."

"Fred, wir sollten einen umfangreichen Sicherheitscheck durchführen - und wenn es nur dazu dient, diese Möglichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen!"

"Ich hoffe nur, du kannst den Chef davon überzeugen", meinte Agent LaRocca zweifelnd.

Aber mein Instinkt sagte mir, dass ich bei Mister McKee damit offene Türen einrannte.

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Es war schon ziemlich spät, als Milo und ich mit meinem Sportwagen den Broadway hinauffuhren. Wir hatten noch eine ganze Weile in unserem Dienstzimmer vor dem Computerschirm zugebracht. Inzwischen lagen auch schon die ersten Ergebnisse der Spurensicherung vor. Ein Teil der Fingerabdrücke konnte bereits mit den uns zur Verfügung stehenden Datenbanken abgeglichen werden.

Der Tunnel-King saß in einer Gewahrsamszelle und weigerte sich hartnäckig, seine Identität preiszugeben. Unser Psychologe Sam Linell meinte, dass der King sich vielleicht bereits dermaßen mit seiner Rolle als Herr der Unterwelt identifizierte, dass er sein vorheriges Leben völlig verdrängt hatte.

In unseren Datenbanken fand er sich jedenfalls nicht.

Aber das bedeutete eigentlich nur, dass er bisher nicht kriminell geworden und sich auch niemals für einen Job im Staatsdienst beworben hatte.

Nur einer seiner Leute hatte schwer verletzt den Kampf überlebt. Aber der war bis auf weiteres nicht vernehmungsfähig. Seine Fingerabdrücke wurden von AIDS, dem zentralen Computerprogramm zu Erfassung und zum Abgleich von Fingerprints allerdings wiedererkannt.

Allerdings nicht unter der Rubrik CRIMINAL.

Seine Prints waren genommen worden, als er sich bei der Army bewarb. Sein Name war Ethan Perrish. Man hatte ihn bei der Army sogar genommen, allerdings war er nach einem Jahr wieder entlassen worden. Wegen Drogenmissbrauchs.

Dann gab es da noch den Mann, dem ich eine Kugel mit dem 45er in die Schulter gejagt hatte, bevor seine MPi uns zersieben konnte. Auch er war im Augenblick nicht vernehmungsfähig. Zweifellos gehörte er zu der Killertruppe, die Sid und Brett und beinahe auch mich auf dem Gewissen hatten. Er war einer der Männer, die mit Nachtsichtgeräten und MPi ausgerüstet in diese dunklen Gängen unter dem Big Apple auf Menschenjagd gingen...

Seine Vernehmung erwarteten wir mit Spannung.

Schließlich bedeutete die Tatsache, dass wir ihn festgenommen hatten, dass wir vielleicht endlich einen Schritt weiter auf der Suche nach den Hintermännern in diesem schmutzigen Geschäft kamen, das die Überschrift ORGANHANDEL trug.

Seine Identität war schon interessant genug.

Er hieß Luke Montgommery, stammte aus der Bronx. Wir hatten ein umfangreiches Dossier über ihn in unserer Datenbank. Er gehörte zum Dunstkreis jener Kriminellen, die sich vor zwei Jahren die berüchtigte Schlacht vor dem Kaufhaus BIG DEAL in der 166. Straße geliefert hatten...

"Vielleicht finden wir die maskierten Killer tatsächlich unter den Verdächtigen von damals, so wie wir ursprünglich angenommen haben", meinte Milo, während wir auf dem Weg nach Hause noch über den Fall sprachen.

"Leider haben die Ermittlungen von Orry und Clive bislang keine weiteren Anhaltspunkte in diese Richtung ergeben...", gab ich zu bedenken.

"Wenn Montgommery auspackt, wissen wir vielleicht besser, wo wir suchen müssen..."

"Gut möglich."

Wir erreichten die bekannte Ecke, an der ich Milo immer absetzte. Ich hielt den Sportwagen am Straßenrand.

Milo sah mich an.

"Du denkst immer noch darüber nach, wo bei uns das Leck sein könnte, oder?"

"Du nicht, Milo?"

"Jede andere Möglichkeit wäre mir lieber, als dass es bei uns im District eine undichte Stelle gibt."

"Das geht mir genauso."

"Eine andere Frage ist noch, weshalb die Leute des Tunnel-King eigentlich so unbarmherzig angegriffen wurden. Bislang dachten wir doch, dass die Maskierten und die Tunnel-King-Leute zusammenarbeiteten..."

"Bislang hatte ich die Äußerungen des King so gedeutet, dass er das auch dachte", sagte ich.

Milo nickte.

"Schließlich wollte er uns jemanden übergeben."

"Da kann er eigentlich nur die Maskierten gemeint haben."

"Entweder wir irren uns in diesem Punkt oder..."

"...oder da hat jemand Hals über Kopf seine Meinung geändert."

Milo hob die Augenbrauen. "Und warum?"

"Vielleicht um zu verhindern, dass wir den King in die Finger bekommen und ausquetschen..."

"Das ergibt nur Sinn, wenn auch die Maskierten von unserer Aktion gewusst hätten!"

Ich nickte düster.

"Du sagst es."

Eine beunruhigende Erkenntnis.

Hinter uns hupte jemand. Unsere Ecke war nicht gerade ein Ort, der zum Dauerparken geeignet war.

"Bis morgen, Jesse."

"Bis morgen."

Milo stieg aus, winkte mir kurz zu, und ich ließ den Sportwagen nach vorne schnellen.

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Am nächsten Morgen lagen die ersten ballistischen Berichte vor. Und so wussten wir, dass Crazy Joe tatsächlich von einem der Tunnel King-Leute umgebracht worden war.

Nur über das Motiv wussten wir nichts.

Der King saß in einem unserer Vernehmungszimmer. Sein massiges Gesicht wirkte in sich gekehrt und abwesend. Agent Baker, einer unser Verhörspezialisten trank bereits die dritte Tasse Kaffee.

Dem King hatte man auch einen Becher angeboten, er hatte ihn nicht angerührt. Inzwischen dampfte er schon nicht mehr.

Ich war auch anwesend.

Der King war eine äußerst harte Nuss, selbst für einen so erfahrenen Spezialisten wie Agent Baker, der seit Jahrzehnten Verhöre durchführte und genau wusste, wie man ein Gespräch führen musste, um dem Verhörten zu einer Aussage zu bringen.

"Hör zu, Tunnel King, du hängst ganz in einer Mordsache drin", begann Baker zum x-ten Mal von vorne. "Einer deiner Leute hat Crazy Joe umgebracht und da diese Männer dir treu ergeben waren, wird man dich deswegen auch drankriegen!"

"Ihr könnt mir gar nichts!", tönte der King und donnerte die Fäuste auf den Tisch. Sein Gesicht wurde hochrot.

"Außerdem ist da noch die Entführung von zwei FBI-Agenten. So etwas sehen Staatsanwälte gar nicht gerne und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich jetzt endlich den Mund aufmachen und mich kooperativer zeigen."

Er presste die Lippen aufeinander.

Dann kratzte er sich unterhalb seines blinden Auge.

"An wen wolltest du meinen Kollegen und mich ausliefern?", fragte ich dann in gedämpftem Tonfall.

"Wer sagt, dass ich das vorhatte?"

"Du hast es gesagt - mein Kollege und ich können das bezeugen."

Baker ergänzte: "Nun mach schon den Mund auf - oder willst du warten, bis Montgommery das macht?"

"Montgommery?", fragte der King.

"So wie es aussieht, ist das der einzige von deinen Leuten, der überlebt hat...", erklärte Baker.

"Er wird nicht reden", sagte der King.

"Ach, nein?"

"Er ist kein Verräter..."

"So wie Crazy Joe!" Baker sah den Tunnel King scharf an.

Dieser schluckte.

"Verräter sterben", sagte er dann gedehnt. "Das ist das Gesetz."

"Wessen Gesetz?"

"MEIN Gesetz!", dröhnte er und riss dabei den zahnlosen Mund weit auf. Sein Gesicht war eine Grimasse geworden. "MEIN Gesetz! Das Gesetz der Unterwelt, das Gesetz der lichtlosen Höhlen...." Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Ein irres Lachen kam über seine Lippen. Dann blickte er auf. "Ich habe keine Angst", sagte er. "Vor niemandem. Vor euch nicht, vor keinem, der über der Erde lebt..."

"Da UNTEN geschah nichts, ohne, dass du es weißt, nicht wahr?", fragte ich.

"Nichts, ohne dass ich es ZULASSE!", korrigierte er mich.

"Okay, geschenkt", erwiderte ich. "Und wenn dort in den Tunneln jemand in großem Stil auf Menschenjagd geht, Männer und Frauen gefangennimmt und tötet, um ihnen Organe zu entnehmen... Wie sollte so etwas geschehen, ohne dass du es erlaubt hast, Tunnel King?"

Er sah mich an.

Sein Mund öffnete sich halb. Er schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders.

Er wich meinem Blick aus.

Ich hätte eine Menge dafür gegeben, jetzt zu wissen, was in seinem tätowierten Schädel vor sich ging.

In sich zusammengesunken saß er da.

"Du hast mit diesen Mördern zusammengearbeitet", stellte ich fest. Er widersprach mir nicht. "Das Wichtigste, wenn man zu den Mole People gehört, ist der Zusammenhalt, habe ich recht?"

"Allein kannst du nicht überleben", sagte der Tunnel King. "Du schaffst es nicht einmal eine Woche, wenn du niemanden hast, auf den du vertrauen kannst..."

"Und das schlimmste sind Verräter!"

"JA!" Er fauchte es mir geradezu entgegen.

"Dann verstehe ich nicht, wieso du Verräter schützt, Tunnel King!"

"Das tue ich nicht."

"Ach, nein?"

"Ich bestrafe sie. Ich lösche sie aus, ich zerreiße ihnen die Gedärme..."

"Ich spreche nicht von Crazy Joe", wandte ich ein, "sondern von den maskierten Killern, die deine Leute niedergeballert haben und uns beinahe in die Luft gejagt hätten. Du hast mit ihnen zusammengearbeitet, du hast ihnen vertraut, du wolltest ihnen zwei G-men liefern, die diese Killer suchten... Zum Dank haben sie alles zerstört, was du dir aufgebaut hattest. Ist das kein Verrat?"

Ein Ruck ging durch den Tunnel King.

Er blickte auf.

In seinem sehenden Auge blitzte es.

"Doch", gab er dann zu. "Das ist Verrat."

"Du wirst diese Leute nicht mehr bestrafen können. Aber wir können es."

"Zur Hölle mit ihnen!"

"Was weißt du über sie?"

Er nahm den Kaffeebecher, nippte an dem kalt gewordenen Getränk.

"Nicht viel", sagte er dann. "Ich habe nie ihre Gesichter gesehen. Sie tauchten eines Tages in den Tunneln auf. Es gab Schwierigkeiten zwischen ihnen und meinen Leuten. Und dann schlugen sie vor, sich mit uns zu einigen. Sie konnten uns viele Dinge geben, die wir dringend brauchten..."

"Und ihr habt ihnen freie Hand gelassen."

"Ja."

"Ihr wusstet, dass mein Kollege und ich bei euch auftauchen würden", stellte ich fest. "Ihr wusstet sogar den Weg..."

"SIE wussten es."

"Wer sind SIE?"

"Mein Gott, wenn ich das wüsste! Ich sagte doch, dass ich nie ein Gesicht gesehen habe."

"Und doch hast du ihnen vertraut?"

"Sie waren gut bewaffnet, wenn wir mit ihnen nicht zusammengearbeitet hätten, wären unsere Tage gezählt gewesen."

"Von IHNEN habt ihr also die Informationen über unseren Einsatz bekommen?"

"Ja."

"Wie lautete die Information genau?"

"Dass zwei G-men auf dem Weg zu uns wären und dass sie den Weg durch den Professor wüssten. Wir sollten euch gefangennehmen, wenn nötig auch töten. Was die mit euch gemacht hätten, weiß ich nicht..."

"Vielleicht hätte man uns als ausgeweidete Leichen irgendwo gefunden", vermutete ich. "Ohne Leber, Nieren und Augen..."

"Damit habe ich nichts zu tun!"

"Warum haben sie euch plötzlich angegriffen. Ich dachte, ihr habt in IHREM Auftrag gehandelt. Das macht doch keinen Sinn."

Der Tunnel King fuhr sich mit der flachen Hand über den tätowierten Schädel. Verzweiflung stand in seinem Blick. Er schnaufte hörbar. "Mein Gott, ich weiß es doch auch nicht!"

"Sie haben euer Vertrauen missbraucht."

"Ja."

"Sie sind Verräter."

"Ja."

"Du willst, dass sie bestraft werden?"

"Ja."

"Dann versuche dich jetzt an jede Einzelheit zu erinnern, die dir bei diesen Leuten aufgefallen ist. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein."

Er schloss die Augen, saß da wie ein buddhistischer Mönch in tiefster Meditation.

Er sagte keinen Ton.

"Denk an deine Leute", sagte ich. "Denk daran, wie diese Bestien sie einfach niedergemetzelt haben..."

"Ich denke an nichts anderes", knirschte der Tunnel King zwischen den blassen Lippen hervor. Dann öffnete er wieder die Augen, sah mich an und meinte: "Der Kerl, mit dem ich verhandelt habe, hatte, glaube ich, an der rechten Hand keinen kleinen Finger."

"Glaubst du?", echote ich.

"Er trug Lederhandschuh. Aber der kleine Finger wirkte irgendwie...", er suchte nach dem richtigen Wort, "...schlaff!"

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Mister McKee machte ein sehr ernstes Gesicht, als wir etwas später in seinem Büro platzgenommen hatte. Orry Medina und Clive Caravaggio waren auch anwesend. Fred LaRocca verspätete sich etwas. Außerdem hatten auch noch Max Carter aus der Fahndungsabteilung sowie die EDV-Spezialistin Karen Galway in den schlichten Ledersesseln platzgenommen.

Karen Galway hatte erst vor kurzem die FBI-Akademie in Quantico absolviert. Aber obwohl ihre Berufserfahrung noch nicht sonderlich groß war, war sie auf ihrem Gebiet eine Spitzenkraft.

Ihre Anwesenheit hatte ihren Grund.

Ein Grund, der keinem von uns gefallen konnte...

"Ich muss Sie über eine sehr beunruhigende Tatsache informieren", begann Mister McKee. Er wandte sich an mich. "Sie hatten einen Sicherheitscheck angeregt, Jesse. Die entsprechenden Abteilungen haben auf Hochtouren gearbeitet. Das Ergebnis ist niederschmetternd..." Er deutete auf Karen.

"Special Agent Galway glaubt Anzeichen dafür entdeckt zu haben, dass Unbefugte Zugriff auf unsere internen Datenbanken und Computersysteme hatten..."

"Einsatzpläne und Personaldaten?", fragte ich.

"Das Ausmaß ist noch nicht ganz ermittelt", erklärte Karen Galway anstelle von Mister McKee. "Allerdings wird mit Hochdruck daran gearbeitet."

"Aber es wäre möglich, dass jemand die Einsatzpläne, Einsatzprotokolle und so weiter angezapft hat?"

"Es ist leider sehr wahrscheinlich", korrigierte mich Karen. "Hacker sind schon in die Zentralrechner des Pentagon eingedrungen - und die sind weitaus stärker abgeschirmt, als unsere Computer. Außerdem stehen wir laufend in Kontakt mit zahlreichen Datenbanken und Verbundsystemen."

Wenn sich der Verdacht bestätigte, dann handelte es sich beileibe nicht um den ersten Hacker-Angriff dieser Art auf den FBI. So umfangreich die Sicherheitsvorkehrungen auch waren, es gelang immer wieder Computer-Freaks, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

So war es erst ein paar Monate her, dass ein Hacker die Internet-Seiten des FBI-Districts Chicago verändert hatte.

Statt Fahndungsfotos von gesuchten Verbrechern konnte man daraufhin nur noch Micky-Maus-Gesichter sehen.

Um einen vergleichsweise harmlosen Spaßvogel dieser Art hatten wir es jedoch wohl nicht zu tun.

"Besteht die Chance, den Hacker zu ermitteln?", fragte Mister McKee an Karen Galway gewandt.

"Eventuell - und mit etwas Glück", erwiderte die EDV-Spezialistin. "Wenn der Täter noch einmal aktiv wird, stehen die Chancen gar nicht so schlecht, schließlich benutzt er vermutlich das normale Telefonnetz, um sich sich per Modem bei uns einzuklinken. Sollte derjenige jedoch seine Zelte hier abgebrochen haben, bekommen wir ihn vermutlich nie..."

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Craig Lopez ließ die Billardkugel über den grünen Filz rollen. Schnurgerade zog sie ihre Bahn und beförderte zwei andere Kugeln rechts und links in die Löcher.

Lopez grinste zufrieden.

Er juckte sich an der rechten Hand, wo ihm der kleine Finger fehlte. Es war Jahre her, seit er den Finger in eine Kreissäge bekommen hatte. Aber die Wunde juckte noch immer, vor allem wenn sich das Wetter änderte.

Lopez bereitete den nächsten Stoß vor, während im Hintergrund Heavy Metal Musik lief.

Lopez liebte es, allein zu spielen.

Das beruhigte ihn.

Seiner Ansicht gab es ohnehin kaum jemanden, der mit ihm mithalten konnte.

Lopez setzte zum nächsten Stoß an. Die Kugeln setzten sich in Bewegung, wie von unsichtbaren Fäden gezogen.

Lopez verfolgte fasziniert ihre Bahn...

Eine blasse, sehr zierliche Männerhand griff nach einer der Kugeln, hob sie vom Filz auf, bevor sie ihren sicheren Weg ins Loch finden konnte.

"Mierde! Caramba!", schimpfte Lopez, blickte auf und erstarrte.

Er war so in sein Spiel vertieft gewesen, dass er den blassgesichtigen, hageren Mann im grauen Zweireiher gar nicht bemerkt hatte.

Das einzige was dem Gesicht dieses Mannes Konturen gab, war der dünne Oberlippenbart, der kaum mehr als ein dunkler Flaum war.

"Tag, Mister Lopez", sagte er so leise, dass es kaum durch die Hintergrundmusik drang.

"Sanders! Ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet..."

"Ach nein?"

"Wissen Sie..."

"Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass Sie mir aus dem Weg gehen, Lopez!"

Lopez kratzte sich erneut an der Hand.

Seine Lederjacke hatte er dummerweise über einen Stuhl gehängt, um besser spielen zu können. In der Innentasche der Jacke befand sich ein zierlicher 22er, wenn es hart auf hart ging. Lopez legte den Ceue auf dem grünen Filz ab und zum Stuhl. Er zog die Jacke an. Mit der Waffe darin fühlte er sich einfach wohler.

Sanders traute er alles zu.

Sogar, dass er ihn in aller Öffentlichkeit über den Haufen schoss und dem Barmixer anschließend klarmachte, dass er sich besser blind stellte, wenn er nicht genau so enden wollte.

Angeblich hatte Sanders so etwas in anderen Fällen sogar schon getan.

Lopez hatte allerdings nie mit letzter Sicherheit herauskriegen können, ob es sich dabei um Gerüchte oder Tatsachen handelte. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

"Komm, setzen wir uns, Lopez!", sagte Sanders.

Er sprach wie jemand, dem man nicht zu widersprechen wagte.

Sie gingen zu einem der kleinen, runden Tische.

"Hören Sie, Mister Sanders, es ist 'ne Menge passiert und ehrlich gesagt, ich möchte mich erstmal für 'ne Weile aus dem Geschäft zurückziehen!"

"Ach! Verdienen Sie zuviel Geld, Lopez?" Sanders verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln. "Immer dasselbe Problem. Aber jetzt hören Sie mir mal gut zu..." Sein Zeigefinger fuhr hoch wie die Klinge eines Butterflys. "Das ist kein Job, aus dem man einfach so aussteigt, wann es einem passt, kapiert?"

"Mister Sanders, ich..."

"Meine Kunden warten auf die Ware. Es geht um verdammt viel Geld, das sollten Sie inzwischen begriffen haben!"

"Es gibt Probleme. Ich denke, wir sollten 'ne Weile auf Tauchstation gehen..."

In Sanders' Gesicht zuckte ein Muskel unterhalb des rechten Auges. "Soll ich das vielleicht den Leuten sagen, denen es ein paar hunderttausend Dollar wert ist, wenn sie nicht erst auf eine Warteliste gesetzt werden, um eine neue Niere oder ein Herz zu bekommen?"

"Das FBI ist uns auf den Fersen. Den Tunnel King haben sie hops genommen, einen unserer Leute hat es erwischt. Er liegt schwer verletzt in einem Gefängnishospital."

"Ich dachte, Sie waren vorsichtig..."

"Das waren wir auch."

"Und was weiß dieser Tunnel-King über Sie?"

"Nichts."

"Kann er Sie beschreiben."

"Nein, er hat keinen von uns gesehen. Aber er weiß, wie das Geschäft läuft. Wir haben versucht, ihn auszuschalten, bevor er dem FBI in die Hände fallen konnte..."

"Warum hat das nicht geklappt?"

"Weil diese Hunde im letzten Moment den Einsatzplan geändert haben. Eigentlich sollten nur zwei Special Agents ihre verdeckten Ermittlungen weiterführen, aber dann haben die 'ne Riesenaktion daraus gemacht."

Sanders atmete tief durch. Er lehnte sich zurück.

Unter der linken Achsel beulte sich sein eng sitzendes Jackett verdächtig aus.

Eine Waffe!, dachte Lopez.

"Was weiß das FBI über euch?"

"Ich würde sagen, noch sind wir sicher. Es gibt keine Spuren, die zu uns hinführen könnten..."

"Na, also! Was stellen Sie sich dann so an!"

"Einige Leute, die ich kenne, sind von den G-men befragt worden."

"Ach!"

"Ich glaube nunmal nicht an Zufälle, Sanders. Und ich habe wenig Lust, eines Tages auf einer Liege festgeschnallt zu werden und eine Giftspritze injiziert zu bekommen..."

"Ich kann Ihnen nur empfehlen, die Abmachungen einzuhalten", sagte Sanders. Er sprach leise. Trotzdem schwang eine unverhohlene Drohung in seinen Worten mit. "Wir hatten gedacht, mit Ihnen jemand gefunden zu haben, der gute Nerven hat. Das scheint nicht der Fall zu sein..."

"Hören Sie..."

"Sparen Sie sich Ihr Geschwätz, Lopez! Ich will, dass Sie liefern! Wenn das Material nicht fristgerecht eintrifft, werden Sie es bereuen..."

Er sagt Material, wenn er von menschlichen Körpern spricht, ging es Lopez durch den Kopf.

Lopez war ein hartgesottener Kerl, der keinerlei Skrupel hatte, jemanden umzubringen, wenn er ihm im Weg war.

Dennoch...

Die Art und Weise, wie Sanders darüber sprach, ließ ihn für einen Moment schaudern.

"Wir haben noch einiges im Depot", sagte Lopez. "Aber nicht immer das Richtige!"

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"Das ist er", stellte Agent Max Carter aus der Fahndungsabteilung fest.

Wir saßen in dem Dienstzimmer, das Clive Caravaggio und Orry Medina sich teilten und starrten auf den Computerschirm.

Im Schnellverfahren waren wir noch einmal die Liste derjenigen durchgegangen, die im Zusammenhang mit der BIG DEAL-Schießerei vor zwei Jahren erkennungsdienstlich behandelt worden waren.

Wir suchten nach jemandem, mit dessen kleinen Finger an der rechten Hand etwas nicht stimmte.

Und jetzt hatten wir ihn.

Er hieß Craig Lopez und wohnte East Harlem, 123.Straße, Hausnummer 456.

"Was die Schießerei vor dem BIG DEAL angeht, hatte er damals ein Alibi", meinte Carter. "Mehrere Personen haben bezeugt, dass er zur selben Zeit in einer Bar in Newark war. Aber an der Richtigkeit dieser Aussagen gab es immer Zweifel."

"Sehen wir zu, dass wir ihn uns schnappen!", kommentierte Clive.

Wenige Minuten später brausten wir mit mehreren unauffälligen Fords und Chevys aus unserer Fahrbereitschaft Richtung Norden.

Der Wohnblock, in dem Craig Lopez wohnte, befand sich mitten in East Harlem, einem Stadtteil, in dem man groß werden konnte, ohne ein Wort Englisch zu sprechen. Hier lebten fast ausschließlich Puertoricaner und Einwanderer aus Lateinamerika. Als ANGLO WHITE AMERICAN war man hier der Exot.

Wir stellten den Wagen am Straßenrand ab.

Agent Fred LaRocca war mit und Milo und mir gefahren. Orry und Clive stellten ihren Ford fünfzig Meter weiter ab.

Fred nahm sein Funkgerät heraus, um mit den Agenten zu sprechen, die sich auf der anderen Seite des Wohnblocks postieren wollten.

Insgesamt waren etwa ein Dutzend G-men im Einsatz.

Wenn Lopez der Mann war, den wir suchten, dann war er äußerst gefährlich.

"Lopez wohnt im Penthouse", meinte Milo, während ein weiterer Wagen mit unseren Agenten nach einem Parkplatz suchte. Drei G-men stiegen wenig später aus einem gelben Mazda. Sie blickten kurz zu uns hinüber.

"Okay, dann los!", meinte LaRocca und überprüfte den Sitz seiner Dienstwaffe.

Der Wohnblock, in dem Lopez das Penthouse gemietet hatte, war ein Apartmenthaus der gehobenen Klasse. Ein luxusmodernisierter Altbau mit klassischer Brownstone-Fassade. Die Zeiten, in denen es in East Harlem nur Arme und Gescheiterte gab, waren längst vorbei.

Wir erreichten den Eingang, traten in das Foyer, das von Kameras überwacht wurde. Bewaffnete Security-Männer patrouillierten hin und her.

In einem Kasten aus Panzerglas befand sich eine Telefonzentrale, bei der sich Gäste anmelden konnten.

Wenn der betreffende Bewohner des Apartment-Hauses den Besuch nicht empfangen wollte, wurde dieser von den Security-Männern freundlich aber bestimmt hinausbugsiert.

Wir hatten allerdings keineswegs vor, uns anzumelden.

"Que desea, Senores?", fragte ein finster dreinblickender Security-Mann.

Ich hielt ihm den Ausweis unter die Nase, während sich Fred LaRocca um die dunkelhaarige Schönheit kümmerte, die in dem Panzerglas-Büro saß.

Auf keinen Fall durfte Lopez gewarnt werden...

"Zu wem wollen Sie?", fragte der Security-Mann dann, während er sich noch meinen FBI-Dienstausweis eingehend ansah. Ich nahm ihn wieder an mich.

"Zu Mister Lopez."

"Soweit ich weiß, ist der nicht zuhause..."

"Davon möchten wir uns gerne selbst überzeugen!"

"Aber..."

"Wir haben einen Durchsuchungs- und einen Haftbefehl, Sir. Und jetzt machen Sie uns bitte Platz!"

Einige unserer Leute postierten sich an strategisch günstigen Stellen im Foyer.

Die Eingänge und die Aufzüge mussten bewacht werden.

Zusammen mit Orry und Clive fuhren Milo und ich hinauf zum Penthouse. Während der Aufzug uns hinauftrug, zogen wir die Dienstwaffen und überprüften die Ladung.

Dann traten wir in den Flur hinaus.

Einige Augenblicke später standen wir vor Lopez' Wohnungstür.

Ein automatisches Kamera-Auge war auf uns gerichtet.

"Mister Lopez scheint ein ängstlicher Mann zu sein, wenn er so wohnt", kommentierte Clive Caravaggio.

Und Orry setzte hinzu: "Kein Wunder, bei seiner Vergangenheit. Ich schätze, da gibt es noch einige, die mit ihm eine Rechnung offen haben."

Ich betätigte die Klingel.

Nichts rührte sich.

Kein Laut drang aus der Gegensprechanlage.

Nur die Kamera bewegte sich surrend.

Milo holte seinen Ausweis hervor und hielt ihn vor die Linse.

"Machen Sie die Tür auf, Mister Lopez! Hier ist das FBI!"

Keine Reaktion.

"Vielleicht ist er ja wirklich nicht zu Hause", meinte Orry.

Ich zuckte mit den Schultern. "An Lopez' Stelle würde ich dem Wachmann hundert Dollar geben, damit er diese Antwort jedem gibt, der nach ihm fragt."

Wir machten einen letzten Versuch.

Keine Reaktion.

Orry zog sein edles Schurwolljackett aus und warf es hinauf zur Kamera. Der feine Stoff hing jetzt über der Linse.

Milo nahm zwei Schritte Anlauf.

Sein gewaltiger Tritt ließ die Tür aufspringen und zur Seite fliegen.

Mit der P226 in der Faust stürmte er in das Penthouse.

Ich folgte ihm.

Unsere Blicke suchten den Empfangsraum ab.

Nichts deutete darauf hin, dass Lopez in der Wohnung war.

Die Tür ins Wohnzimmer stand halb offen.

Milo und ich pirschten uns heran.

Orry nahm sich indessen die Küche vor.

Ich trat ins Wohnzimmer, die Pistole in beiden Händen.

Auch hier war niemand.

Das Fenster stand auf. Ein kühler Luftzug wehte herein. Die Gardinen wehten als lange, weiße Fahne in den Raum hinein.

Von dem Penthouse aus hatte man Zugang zu einem Dachgarten.

Milo deutete auf die Tür zu einem weiteren Raum.

Ich schlich mich heran, Milo sicherte von hinten. Meine Schritte verursachten auf dem weichen Teppichboden so gut wie keinen Laut.

Die Tür zu dem Nachbarraum war angelehnt. Ich öffnete sie mit einem kräftigen Schub. Meine Waffe schnellte hoch.

Ich blickte auf ein breites Wasserbett.

Eine rothaarige Schönheit stand daneben.

Ihre Haare waren nass. Und sie war vollkommen nackt. Ihr Körper bildete eine schwindelerregende Silhouette.

Mit ihren grazilen Händen umfasste sie den gewaltigen Griff eines Magnum Colts, Kaliber 45, dessen Mündung direkt auf mich zeigte.

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Einen Augenblick lang geschah nichts. Die Schöne wirkte sehr nervös. Der Druck ihres Zeigefingers auf den Abzug verstärkte sich, die Fingerknöchel traten weiß hervor.

"Die Waffe runter! FBI!", rief ich.

"Das kann jeder sagen!", rief sie.

Ihre Stimme vibrierte.

Mein Instinkt sagte mir, dass sie nicht schießen würde.

"Hier ist mein Ausweis", sagte ich und griff danach.

"Schön langsam!", zischte sie.

Ich zog den Dienstausweis aus der Jackentasche und hob ihn hoch.

Sie atmete tief durch.

Ihre Brüste hoben und senkten sich dabei.

Sie ließ den Magnum sinken.

"Ich hatte gedacht..."

Milo trat auf sie zu und nahm ihr die Waffe ab. Sie ließ es widerstandslos geschehen.

"Was hatten Sie gedacht?", fragte ich.

"Nichts", murmelte sie.

"Wo ist Lopez?"

"Ich weiß es nicht. Was wollen Sie von ihm?"

"Ziehen Sie sich etwas an", forderte ich.

Milo griff indessen zum Funkgerät, um unsere Kollegen davon zu unterrichten, dass Lopez nicht in der Wohnung war.

Wir machten uns daran, die Wohnung gründlich zu durchsuchen. Orry blätterte in Lopez' Telefonregister herum. Ein paar bekannte Namen standen darin. Namen, die uns im Zusammenhang mit der Schießerei vor dem BIG DEAL ein Begriff waren.

Die Rothaarige warf sich einen Kimono über und setzte sich in einen der Wohnzimmersessel.

"Wer sind Sie?", fragte ich sie, während ich die Schubladen eines kleinen Schränkchens durchsuchte.

Sie antwortete nicht.

"Sie gewinnen nichts, wenn Sie uns Steine in den Weg legen", erklärte ich. "Sie haben FBI-Agenten mit einer Waffe bedroht. Das kann man als Verbrechen ansehen..."

"Ich wusste nicht, dass Sie FBI-Agenten sind!"

"Sie heißt Elizabeth Clansy", meldete sich Clive Caravaggio zu Wort. Er hatte die Handtasche der Schönen gefunden, in der sich ihre Papiere befanden. "Ich werde mal im Hauptquartier anrufen. Die sollen diesen Namen durch den Computer jagen."

Elizabeth Clansy errötete. Sie strich sich das Haar zurück.

"Sie können sich die Mühe sparen", sagte sie. "Sie werden es ja doch herausfinden..."

"Was?", hakte ich nach.

"Dass ich vorbestraft bin."

"Welches Delikt?"

"Prostitution. Die ist in New York State ja immer noch strafbar."

"Seit wann kennen Sie Lopez?"

"Seit einem Jahr."

"Wie gut?"

"Wie man eben jemanden kennt, mit dem man ab und zu schläft."

"Lopez lässt Sie hier allein in seiner Wohnung?"

"Warum nicht? Er vertraut mir."

"Wann kommt er zurück?"

"Ich habe keine Ahnung. Was wollt ihr überhaupt von ihm?"

"Wir suchen ihn wegen seiner Beteiligung an mehreren Morden."

"Nein!"

Sie zuckte förmlich zusammen.

"Unseren Ermittlungen nach geht er in den Tunneln und U-Bahnschächten unter der Stadt auf Menschenjagd... Er tötet Obdachlose oder nimmt sie gefangen, um ihre Körper an Organ-Händler zu verkaufen."

Miss Clansy warf den Kopf in den Nacken. "Ich wusste gar nicht, dass sich das FBI mit diesem Abschaum beschäftigt", sagte sie dann spitz.

Ich warf ihr einen eisigen Blick zu.

"Ich nehme zu Ihren Gunsten an, dass Sie mit Abschaum die Täter gemeint haben - und nicht die bedauernswerten Opfer."

Miss Clansy schluckte.

"Ich sehe einige dieser Mole People manchmal an der Station am Times Square herumlungern... Man sollte sie aus ihren Löchern jagen! Die bringen doch nur Kriminalität und Drogen mit!"

"Jedenfalls verfolgen wir den Mord an jedem von ihnen mit derselben Intensität, mit der wir den an jemanden wie Ihnen verfolgen würden. Wussten Sie von Lopez' Killerjob?"

"Was reden Sie da! Das ist doch Unsinn. Ich habe damit nichts zu tun."

"Aber Sie wissen, wo er jetzt ist, Miss Clansy. Und Sie sollten es uns sagen, wenn Sie nicht in die Sache mit hineingezogen werden wollen..."

Sie atmete tief durch.

"Haben Sie 'ne Zigarette?"

"Ich habe mir das Rauchen abgewöhnt", erwiderte ich.

Sie zuckte die Achseln. "Zu dumm."

"Reden Sie!"

Orry kam in diesem Moment aus einem der Nachbarräume heraus. "Hier Jesse, das war in einem Wandschrank..." Der Special Agent indianischer Abstammung hielt in der einen Hand eine Maschinenpistole der Marke Heckler & Koch, in der anderen eines jener Nachtsichtgeräte, wie ich sie bei den maskierten Killern gesehen hatte.

Orry hatte sich Latexhandschuhe übergestreift, um keine Spuren zu zerstören.

Er legte die Gegenstände auf den Tisch.

"Scheint, als wären wir hier an der richtigen Adresse", kommentierte Milo.

"Wenn ich aussage, kann ich dann gehen?", fragte Miss Clansy plötzlich.

"Sie sind nicht verhaftet", stellte ich klar. "Aber es könnte sein, dass wir Sie noch zu einem späteren Zeitpunkt erneut befragen müssten..."

"Verstehe..."

Sie sah mich an.

Ich las die unausgesprochene Frage in ihren Augen und beantwortete sie kurzerhand, um die Prozedur abzukürzen.

"Wir sind nicht von der Vice-Abteilung des hiesigen NYPD-Reviers", stellte ich klar. "Womit Sie Ihr Geld verdienen, interessiert uns nicht. Wir wollen Lopez!"

"Ich weiß wirklich nicht, wo er jetzt ist. Wir waren gerade...", sie zögerte, bevor sie weitersprach,

"...beschäftigt, da klingelte es an der Tür. Craig hat geöffnet. Ich hörte, wie er mit einem Mann redete."

"Worum ging es?"

"Keine Ahnung. Craig hat die Tür geschlossen. Wenig später kam er wieder rein und sagte, er müsste nochmal weg. In einer halben Stunde sei er wieder hier... Die Zeit ist längst um."

In diesem Moment meldete sich einer unserer Kollegen über Funk.

"Lopez kommt gerade ins Foyer..."

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Lopez hatte das Foyer gerade betreten, da spürte er instinktiv, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte.

Er ließ den Blick schweifen.

Ein paar Männer standen in der Nähe der Aufzüge, jemand anderes senkte die Zeitung und musterte ihn.

Etwas abseits ließ jemand ein Funkgerät in die Jackentasche gleiten.

Und die Security-Leute sahen ihn an wie einen Außerirdischen. Da wusste Lopez Bescheid.

Für solche Dinge hatte er einen sechsten Sinn.

"Mister Craig Lopez!", rief eine heisere Stimme.

Lopez griff unter seine Lederjacke.

Er riss einen kurzläufigen Revolver heraus.

Ohne Vorwarnung feuerte auf den Mann, bei dem er das Funkgerät gesehen hatte. Dessen Hand war seitwärts geglitten, hatte das Jackett zurückgeschoben. Er schaffte es gerade noch, den Griff seiner Dienstwaffe zu umfassen, als sich mitten auf seiner Stirn ein kleines, rotes Loch bildete, das rasch größer wurde.

Der G-man sackte gegen die glatte Aufzugtür und rutschte leblos an ihr herunter.

Weitere Schüsse krachten kurz hintereinander aus seinem 22er heraus. Rot züngelte das Mündungsfeuer aus dem kurzen Lauf.

Lopez lief zur Tür.

Eine Kugel erwischte ihn am Arm. Er schrie auf, schoss erneut, stürzte ins Freie und taumelte die wenigen Stufen an der Eingangstür hinunter.

Passanten stoben schreiend auseinander.

Als Lopez einem Mann auf der anderen Straßenseite eine verdächtige Bewegung machen sah, feuerte er erneut.

Ein paar Schritte nur lagen zwischen dem Flüchtenden und dem gelben Taxi, mit dem er gekommen war.

Der Fahrer machte gerade seine Essenspause, aß ein Sandwich und hörte sich dabei die Staumeldungen aus der City an.

Lopez riss die Tür auf, warf sich auf den Beifahrersitz und richtete den 22er auf den Fahrer.

Der starrte den Amokläufer entgeistert an, blickte dann kurz auf die blutende Wunde an Lopez' Arm.

"Losfahren!", knurrte Lopez zwischen den Zähnen hindurch.

Der Fahrer reagierte nicht gleich.

Der letzte Bissen seines Sandwichs blieb ihm buchstäblich im Hals stecken.

"Na los, bist du taub?"

Er setzte dem Mann den brandheißen Lauf des 22ers an die Schläfe.

Der Fahrer schwitzte.

Lopez ließ den Blick schweifen.

Er sah, dass binnen weniger Augenblicke sämtliche Passanten die Umgebung geräumt hatten. Bewaffnete gingen in Stellung.

G-men!, schoss es Lopez grimmig durch den Kopf.

"Fahren Sie endlich!", zischte Lopez. "Solange Sie tun, was ich Ihnen sage, sind sie nicht in Lebensgefahr. Weder durch mich, noch durch die da draußen..."

Der Fahrer ließ den Motor an.

Seine Hände zitterten, als er das Lenkrad herumdrehte, um aus der engen Parklücke auszuscheren.

Lopez schwenkte ruckartig die Hand mit dem 22er.

Er richtete die Waffe auf die Funkanlage.

Einen Sekundenbruchteil später feuerte er.

Der Fahrer zuckte mit einem Schrei zusammen.

"Sorry, aber so habe ich ein besseres Gefühl", meinte Lopez und bleckte dabei die Zähne wie ein Raubtier.

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"Agent Curruthers hat es erwischt!", rief Fred LaRocca mir entgegen, als sich die Fahrstuhltür vor mir öffnete.

Curruthers' Augen blickten starr ins Nichts.

Der rote Punkt zwischen den Augen sagte alles.

"Er ist tot", sagte LaRocca.

"Verdammt!", presste ich hervor.

"Der Kerl ist hinausgerannt... Außerdem hat er selbst eine Kugel abbekommen. Eigentlich müsste er unseren Leuten in die Arme laufen."

Mit wenigen Sätzen war ich bei der Tür und ließ sie zur Seite fliegen.

Milo war mir dicht auf den Fersen.

Orry und Clive waren oben in Lopez' Wohnung geblieben, um die Durchsuchung zu beenden. Außerdem mussten Miss Clansys Personalien noch aufgenommen werden.

Wir stürzten auf die Straße, die Pistolen im beidhändigen Anschlag.

Ein halbes Dutzend unserer Kollegen waren in Stellung gegangen.

Ein Taxi raste die Straße entlang.

Ein Lieferwagen kam ihm entgegen, hupte, wich dann aus. Er krachte in eine Reihe parkender Pkw hinein. Blech und Plastik wurden knackend zerdrückt. Das Taxi schnellte voran. Ein Schuss peitschte aus dem Wagen heraus. Die hintere Scheibe zersprang. Scherben regneten auf die Straße.

"Er hat eine Geisel!", rief uns jemand zu.

"Hinterher!", zischte ich Milo zu.

Wir rannten über die Straße zum Wagen.

Zwei unserer Agenten brausten bereits mit ihrem Ford hinter dem entführten Taxi hier. Sie hatten das Blaulicht auf das Dach gesetzt.

In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören.

"Lopez darf uns nicht entkommen", knurrte Milo, als er die Fahrertür des Chevys öffnete.

Wir stiegen ein.

Milo startete.

"Willst du nicht drehen?", fragte ich, während ich das Blaulicht hervorholte.

"Nein", meinte Milo. "Versuchen wir, ihm den Weg abzuschneiden..."

"Ich hoffe nur, dass du dich hier gut genug auskennst..."

"Für wen hältst du mich?"

Der Chevy-Motor heulte auf, als Milo über die 123. Straße jagte.

Im Rückspiegel sah ich, dass sich ein weiterer unserer Dienstwagen auf den Weg machte, um sich an die Fersen des Entführers zu heften.

"Lopez steht das Wasser bis zum Hals", meinte ich. "Der wird alles auf eine Karte setzen!"

"Das letzte Ass, das er im Ärmel hat.."

"Und was sollte das für ein Ass sein? Der Kerl ist verletzt..."

"Als wir unten bei den Mole People mit diesen Killern gekämpft haben, hat es auch einen von ihnen erwischt. Aber bislang sind alle Anfragen bei Krankenhäusern und Ärzten ohne Ergebnis geblieben..."

Mir kam ein Gedanke.

Ich griff zum Handy und wählte Clive Caravaggios Nummer.

Der flachsblonde Italo-Amerikaner meldete sich.

"Hallo, Jesse, was gibt's?"

"Ich nehme an, ihr seid noch in Lopez' Penthouse..."

"Sicher.

"Schaut doch mal in seinem Telefonregister nach, ob ihr die Nummer eines Arztes findet..."

"Kann 'ne Weile dauern, Jesse. Die Namen sind hier nur abgekürzt... Ich melde mich."

"Danke, Clive."

Milo ließ den Chevy eine Seitenstraße entlangbrausen, bog dann scharf ab und beschleunigte noch einmal.

Über Funk bekamen wir von den Kollegen, die sich an das Taxi drangehängt hatten, die ungefähre Position durchgegeben.

Ein Hubschrauber war angefordert worden. Die Kollegen der City Police sorgten dafür, dass im weiten Umkreis nach dem Taxi gefahndet wurde.

"Ich wette, er will zum Franklin D. Roosevelt-Drive", war ich überzeugt.

Milo erwiderte: "Ich hoffe nur, dass er dort erwartet wird..."

Dann kam über Funk die Meldung, die wir gefürchtet hatten.

"Wir haben ihn verloren!"

"Wo?", fragte ich.

"Ecke 117. Straße Ost/ Second Avenue. Vielleicht ist er auf der Hundertsechzehnten!"

"Sollte das der Fall sein, kommen wir ihm entgegen", sagte Milo.

Mit Blaulicht und Sirene raste unser Chzevy in den dichten Verkehr auf der 116. Straße Ost. Wagen fuhren zur Seite, wichen uns aus.

Die Leute waren ziemlich vernünftig.

Angestrengt glitt mein Blick über die Blechlawine.

Ein gelbes Taxi stach hervor.

Und dann sah ich es!

Es parkte am Straßenrand im Halteverbot.

Wir mussten auf die andere Straßenseite. Wagen stoppten. Es dauerte trotzdem etwas, bis wir mit dem Chevey die Fahrbahn gegen jede Fahrtrichtung überquert hatten.

Wir mussten uns vorsichtig hinübertasten, um keinen Massenunfall zu provozieren.

Endlich hatten wir es geschafft.

Ich sprang aus dem Wagen, noch ehe Milo den Chevy richtig gestoppt hatte. Mit der P226 in der Faust rannte ich auf den Wagen zu.

Das Innere des Taxis lag im Schatten.

Man konnte kaum sehen, was sich im Inneren abspielte.

Ich hielt meinen Ausweis hoch. "FBI! Gehen Sie zur Seite!", rief ich den Passanten zu, von denen einige stehenblieben und wie gebannt auf das Geschehen blickten.

Ich pirschte mich an das Taxi heran. Milo war mir gefolgt. Ich hatte mit halbem Ohr mitgekriegt, dass er unsere Leute verständigt hatte.

Ich sah den Taxi-Fahrer starr hinter dem Steuer sitzen.

Ich riss die Hintertür auf. Lopez war nicht mehr im Wagen.

Blutspuren befanden sich auf dem Sitz.

"Verdammt", sagte Milo und senkte die SIG. "Er hat den Taxi-Fahrer einfach erschossen..."

"Von hinten durch den Sitz", murmelte ich.

Ich atmete tief durch.

Lopez hatte seine Rücksichtslosigkeit unter Beweis gestellt. Er war äußerst gefährlich. Und in seinem gegenwärtigen Zustand war er bereit, buchstäblich über Leichen zu gehen. Er glaubte wohl, nichts mehr zu verlieren zu haben.

Mein Blick suchte den Boden ab.

Auf dem Asphalt entdeckte ich ein paar kleinere Blutspuren.

"Er kann nicht weit kommen", meinte Milo.

Ich blickte auf, sah zu dem Schild hin, das auf die Subway-Station 116.Straße/Lexington Avenue hinwies.

Milo und ich hatten denselben Gedanken und setzten zu seinem kleinen Spurt an.

Wir liefen die Stufen hinunter.

Währenddessen verständigte ich per Handy die Kollegen. Die Züge, die hier in den letzten Minuten gehalten hatten, mussten kontrolliert werden, bevor sie das nächste Mal anhielten.

Vielleicht war das schon zu spät.

Wir erreichten den Bahnsteig.

Es waren nur wenige Leute da.

Ein Obdachloser schleppte ein paar Plastiktüten daher.

Er sah mich an und ich fragte mich, ob ich ihm vielleicht schonmal begegnet war.

Während unserer Zeit bei den Tunnelmenschen.

Ich wusste es nicht mehr.

Sid und Brett hatten uns eine Reihe ihrer Freunde vorgestellt.

Überwachungskameras folgten jeder unserer Bewegungen.

Vielleicht konnte man später anhand der Bänder feststellen, ob Lopez hiergewesen war. Aber bis dahin war er über alle Berge.

Ich nahm nochmal das Handy und erkundigte mich nach dem neuesten Stand der Dinge. Die nächsten Subway-Stationen Richtung Süden lagen an der 110., der 103. und der 96. Straße. NYPD-Beamte hatten an den Ausgängen Kontrollen durchgeführt. Lopez war nicht unter den Passanten gewesen.

Und angesichts der Tatsache, da er mit seiner Verletzung alles andere als unauffällig war, konnte man es wohl ausschließen, dass er den Cops der City Police einfach durch die Lappen gegangen war.

In Richtung Norden und Westen waren die nächsten Stationen auch kontrolliert worden.

Keine Spur von Lopez.

Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Milo deutete in den finsteren Tunnel hinein, in dem sich die Schienenstränge verloren.

"Vielleicht ist er dort", meinte er. "Schließlich dürfte er sich inzwischen in diesem unterirdischen Labyrinth bestens auskennen..."

Mein Handy schrillte.

Clive Caravaggio war am Apparat.

"Hallo Jesse, wir haben hier etwas gefunden."

"Einen Arzt?"

"Unter den Telefonnummern war keiner. Aber wir haben bei Lopez' Unterlagen einige Arztrechnungen und Rezepte gefunden... Er geht offenbar regelmäßig zu verschiedenen Ärzten, leidet unter Bluthochdruck und häufigen Virusinfektionen."

"Ist unter seinen Ärzten ein Chirurg?", fragte ich.

"Dr. Jason Jameson, 70. Straße Ost, Hausnummer 1237."

"Ich wette, er ist auf dem Weg dorthin..."

"Ist doch irgendwie merkwürdig, Jesse... Lopez hat sich von einem Chirurgen Antibiotika und Grippemittel aufschreiben lassen."

"Vielleicht ein guter Bekannter von ihm", vermutete ich. "Jemand, mit dem er auch sonst zusammenarbeitet..."

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Lopez taumelte in den Raum hinein. Er ließ sich in einen der weichen Sessel fallen und keuchte. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er presste die rechte gegen die Schulter. Blut rann ihm zwischen den Fingern hindurch. Seine Augen glänzten.

"Sind Sie wahnsinnig, Lopez?", fragte eine kalte, schneidende Stimme.

Sie gehörte einem grauhaarigen Mann mit spitzem Kinn und eisblauen Augen.

"Dr. Jameson...", keuchte Lopez. Seine Stimme klang entsetzlich schwach. "Ich brauche ihre Hilfe..."

"So sehen Sie aus, Lopez..."

"Mir steht das Wasser bis zum Hals."

"Ihre Wunde macht einen üblen Eindruck. Sie werden sich eine Infektion holen."

"Sie werden tun, was Sie können, um mich wieder auf die Beine zu kriegen..."

Jamesons Blick wirkte abweisend.

Er musterte Lopez.

"Was ist passiert?"

"Das FBI sitzt mir im Nacken. Und Sanders. Dieser Narr!"

"Wieso Sanders?"

"Er will, dass geliefert wird. Ohne Rücksicht auf Verluste. Er begreift einfach nicht, dass die Cops was gerochen haben..."

"Wie weit steht Ihnen das Wasser?"

"Die G-men haben auf mich vor meiner Wohnung gewartet. Ich konnte sie nur mit Mühe abhängen..."

"Sie und Ihre Leute waren immer die Männer fürs Grobe. Für die Drecksarbeit. Jetzt stecken Sie selbst im Dreck!"

"Reden Sie nicht so mit mir!", kreischte Lopez. "Sie haben Billy Estevez auch geholfen, als dieser G-man ihn angeschossen hat!"

"Sie sind wahnsinnig, hierher, in meine Privatwohnung zu kommen, Lopez. Damit bringen Sie mich in Gefahr. Es könnte Sie jemand gesehen haben. Früher oder später steht das FBI vor meiner Tür, weil Sie eine Spur direkt hier her gelegt haben..."

"Hören Sie..."

"Sie können nicht erwarten, dass mir das gefällt, Lopez!"

Lopez griff unter die Jacke, riss den 22er heraus. Seine Hand zitterte leicht, als er die kurzläufige Waffe in Jamesons Richtung hielt.

"Sie holen mir jetzt die Kugel aus dem Körper! Fangen Sie an!"

Ein dünnes, zynisches Lächeln erschien auf Jamesons Gesicht.

"Ich hatte immer gedacht, Sie wären ein Profi, Lopez. Aber offenbar sind Sie trotz des kleinen Vermögens, das Sie mit ihrer schmutzigen Arbeit inzwischen verdient haben dürften, immer noch der Straßenschläger, als der Sie mal angefangen haben. Ich habe Sie offenbar überschätzt..."

"Ich warne Sie, Jameson!"

Dr. Jameson deutete auf die Waffe. "Stecken Sie das Ding weg, Sie werden sich nur selbst verletzen. Ich werde tun, was ich kann. Haben Sie schon überlegt, wie Sie außer Landes kommen?"

Lopez ließ den 22er sinken.

"Sanders wird mir helfen."

"Wie schön für Sie..."

Das Telefon auf dem Schreibtisch schrillte.

Jameson ging hin und erstarrte dann, als Lopez mit der Waffe herumfuchtelte.

"Was soll das? Wollen Sie, dass irgendjemand Verdacht schöpft, der mich dringend erreichen will?"

Jameson nahm ungerührt das Telefon ab.

Lopez keuchte. Die Waffe sank nieder. Er hatte höllische Schmerzen.

Jameson sagte zweimal kurz hintereinander "Ja!" bevor er wieder auflegte. Mit einer schnellen Bewegung riss er die Schublade seines Schreibtischs auf.

Eine langläufige Automatik mit Schalldämpfer lag dort.

Jameson hatte die Waffe blitzschnell in Anschlag gebracht.

Rot züngelte das Mündungsfeuer wie eine rote Drachenzunge aus dem Schalldämpfer heraus.

Das Schussgeräusch war nicht lauter, als ein kräftiges Niesen.

Zweimal kurz hintereinander feuerte Jameson. Lopez zuckte. Der 22er entglitt seiner schlaffen Hand. Sein Blick wurde starr. Er sank in den Sessel zurück. Eine der Kugeln hatte die Schläfe durchschlagen und war direkt ins Gehirn gefahren. Die zweite erwischte Lopez dicht oberhalb des Herzens.

Wer hätte gedacht, dass meine Grundausbildung bei der Army irgendwann mal zu etwas gut sein würde, dachte Jameson mit einem zynischen Lächeln. Seine medizinische Karriere hatte er einst mit einer Sanitäter-Ausbildung bei Uncle Sam begonnen.

Jameson verzog das Gesicht, als er sah, wie sich das Blut in das weiche Sesselpolster saugte.

Der Chirurg griff zum Telefonhörer.

"Ross?", fragte er. "Kommen Sie bitte schnell. Es gibt hier einiges wegzuräumen..."

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25

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Wir befanden uns vor der Hausnummer 1237 in der 70. Straße Ost.

Es handelte sich um ein mehrstöckiges Brownstone-Reihenhaus. Außer der Privatwohnung von Dr. Jason Jameson befanden sich darin auch - mit separatem Eingang die Räume einer chirurgischen Praxis.

Ich betätigte die Sprechanlage.

"Sie wünschen bitte?", fragte jemand ziemlich mürrisch.

"Hier ist das FBI", sagte Milo. "Wir würden gerne mit Mister Jameson sprechen..."

"In welcher Angelegenheit?"

"Das besprechen wir ungern an der Tür."

Einen Augenblick lang geschah nichts. Es knackte im Lautsprecher der Sprechanlage. Dann hieß es: "Kommen Sie herein!"

Die Tür wurde geöffnet.

Ein riesenhafter Kerl stand uns gegenüber. Er war mindestens einen Kopf größer als ich, hatte gelocktes, bis auf die Schultern reichendes Haar und die Figur eines Bodybuilders.

Ich hielt ihm den Ausweis entgegen.

"Special Agent Jesse Trevellian. Sind Sie Dr. Jameson?"

"Mein Name ist Ross", erwiderte er. "Ich bringe Sie zu Dr. Jameson..."

Er drehte sich herum. Wir folgten ihm durch eine modern und luxuriös eingerichtete Wohnung. Ross führte uns in ein sehr weiträumiges Büro. Ein grauhaariger Mann saß hinter einem klobigen Eichenschreibtisch.

Er erhob sich, trat auf uns zu und grüßte knapp. "Ich bin Dr. Jameson, was kann ich für Sie tun?"

Er warf nur einen flüchtigen Blick auf unsere Ausweise.

Phi griff in die Innentasche seiner Jacke und hielt Jameson den Computerausdruck eines Fahndungsfotos unter die Nase.

"Kennen Sie diesen Mann?", fragte Milo.

Jameson nahm das Foto, runzelte die Stirn.

Er blickte auf, schien zu überlegen, wie groß die Chance war, bei einer Lüge auch erwischt zu werden. Jameson war Realist genug, um dieses Risiko nicht einzugehen.

"Einer meiner Patienten", erklärte er. "Ich kenne ihn flüchtig. Sein Name müsste... Helfen Sie mir!"

"Craig Lopez", ergänzte ich.

"Ja, richtig."

"Sie haben ihm des öfteren Grippemittel verschrieben."

"Woher haben Sie das denn?", erwiderte er mit einem eisigen Lächeln.

"Das geht aus seinen Abrechnungen hervor. Mit einem Blick in Ihre Dateien wäre das sicher auch nachweisbar!"

"Wozu Sie keinerlei Recht haben", sagte Jameson schroff.

"Mister Lopez hat sich mit Waffengewalt einer bevorstehenden Festnahme entzogen. Er tötete einen FBI-Agenten und zog sich sich selbst eine Verletzung zu, die vermutlich dringend einer ärztlichen Behandlung bedarf..."

"Und da dachten Sie, er kommt direkt hier her?"

"Ja."

"Tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie sich im Irrtum befinden,. Mister..."

"Trevellian."

Er verzog das Gesicht. Die Handbewegung, die er dann vollführte, wirkte nervös.

"Ist es eigentlich üblich, sich bei einem Chirurgen Medikamente für Bagatellekrankheiten aufschreiben zu lassen?", fragte ich.

"Wir leben in einem freien Land, Mister Trevellian. Jeder kann den Arzt wählen, den er will. Und wenn Sie wollen, können Sie Ihren Fußpilz vom Gynäkologen behandeln lassen..."

"Ich will darauf hinaus, dass Sie Lopez gut kennen, Mister Jameson. Und dass die Verbindung zwischen Ihnen nicht nur der eines Arztes und einem Patienten entspricht!"

"Jetzt bin ich aber gespannt!"

"Wissen Sie, was Mister Lopez zur Last gelegt wird?"

"Polizistenmord, das sagten Sie gerade..."

"Er führt eine Gruppe von Killern an, die in den Subway-Tunneln und Abwasserkanälen unter der Stadt auf Menschenjagd gehen. Sie töten und entführen, um an Transplantationsorgane zu kommen..."

"Und was soll ich damit zu tun haben?"

"Ich dachte, dass Sie mir dazu vielleicht etwas sagen könnten..."

"Jetzt gehen Sie aber zu weit, Mister Trevellian. Ich möchte Sie bitten, mein Haus zu verlassen."

"Nicht, bevor wir uns nicht davon überzeugt haben, dass Lopez wirklich nicht hier ist..."

"Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?"

"Den zu bekommen dürfte in dem Fall nicht schwer sein..."

Ich griff nach dem Handy und klappte das Gerät aus.

Es brauchte nur zwei Knopfdrücke, um die Nummer des Headquarters an der Federal Plaza 26 über das interne Menue anzuwählen.

Aber dazu kam es nicht mehr.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738918779
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
fall mckee

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Der Fall McKee