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Wolfram und die Raubritter

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 140 Seiten

Zusammenfassung

Wolfram und die Raubritter
Tatort Mittelalter Band 3

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 112 Taschenbuchseiten.

Wolfram, Page auf Burg Wildenstein, und sein Freund Ansgar, der bereits Knappe ist, müssen eine wichtige Botschaft für Baron Wildenstein überbringen. Doch dabei werden sie von Raubrittern überfallen. Ansgar wird gefangen genommen und Wolfram kann fliehen. Ihr Burgherr ist nicht bereit, das geforderte Lösegeld zu bezahlen, doch Wolfram tut alles, um seinen Freund zu befreien.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Wolfram und die Raubritter

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TATORT MITTELALTER Band 3

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 112 Taschenbuchseiten.

Wolfram, Page auf Burg Wildenstein, und sein Freund Ansgar, der bereits Knappe ist, müssen eine wichtige Botschaft für Baron Wildenstein überbringen. Doch dabei werden sie von Raubrittern überfallen. Ansgar wird gefangen genommen und Wolfram kann fliehen. Ihr Burgherr ist nicht bereit, das geforderte Lösegeld zu bezahlen, doch Wolfram tut alles, um seinen Freund zu befreien.

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Copyright

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EIN CASSIOPEIAPRESS Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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1

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DIE BEIDEN REITER ERREICHTEN den Kamm des Hügels. Einer von ihnen zügelte sein Pferd und drehte sich im Sattel herum - ein zehnjähriger Junge, für den der hochbeinige Apfelschimmel ziemlich groß war.

Der Blick des Jungen ging zurück. In der Ferne lag auf einer Anhöhe Burg Wildenstein. Die grauen Mauern wurden von den Strahlen der Morgensonne in ein ganz besonderes Licht getaucht. Hier und da hingen auf den Wiesen noch Nebelbänke.

Es war kühl. Der Junge auf dem Pferd zog sich seinen Umhang enger um die Schultern.

„Nun, komm schon, Wolfram! Worauf wartest du noch?“, fragte der zweite Reiter, der inzwischen ebenfalls sein Pferd gezügelt hatte.

Der zehnjährige Wolfram wandte den Kopf in Richtung seines Gefährten.

„Auf gar nichts“, sagte er.

„Dann weiß ich nicht, weshalb du angehalten hast! Schließlich sollen wir doch vor Einbruch der Dunkelheit die Mühle am Krötenbach erreichen! Oder hast du vielleicht Lust dazu, bei Finsternis durch die Wälder zu irren?“

„Nein...“

„Na, also!“

Wolfram diente seit drei Jahren als Page auf Burg Wildenstein und durchlief damit die erste Stufe der Ausbildung zum Ritter. Zusammen mit seinem Freund Ansgar war er in aller Frühe aufgebrochen, um für Baron Norbert, ihren Burgherrn, eine Botschaft zur Mühle am Krötenbach zu überbringen.

Ansgar war vierzehn und damit schon eine Stufe weiter auf dem Weg zum Ritterschlag, den er zwischen seinem achtzehnten und einundzwanzigsten Lebensjahr erhalten würde – falls sich mindestens drei Ritter fanden, die bestätigten, dass er sich in der Zwischenzeit als würdig erwiesen hatte, in den Ritterstand aufgenommen zu werden.

Während Wolframs Aufgaben noch überwiegend darin bestanden, den Burgherrn und die Burgherrin zu bedienen und zu lernen, wie man sich an einem Burghof ritterlich benahm, so war es Ansgars Aufgabe, sich um das Pferd, die Waffen und die Rüstung seines Ritters zu kümmern. Sobald er etwas älter war, durfte er ihn auch in die Schlacht begleiten.

Wolfram übte sich zwar auch schon fleißig im Umgang mit dem Schwert und der Lanze, aber im Gegensatz zum älteren Ansgar musste er mit Holzwaffen trainieren, wie es für Pagen seines Alters üblich war.

Ansgar hatte sich schon des Öfteren deswegen über seinen Freund lustig gemacht.

Wolfram konnte das natürlich nicht leiden und ärgerte sich jedes Mal furchtbar darüber. Schließlich eiferte er in allem seinem älteren Freund so gut es ging nach.

Gleichgültig, ob es um den Faustkampf oder das Bogenschießen ging – Wolfram versuchte Ansgar ebenbürtig zu sein.

Das war natürlich kaum möglich.

Schließlich war Ansgar vier Jahre älter und dementsprechend größer und stärker.

Trotzdem gab Wolfram nie auf und wenn er dann von seinem Freund ausgelacht wurde, war das besonders verletzend für ihn.

Ansgars Stirn umwölkte sich, als Wolfram noch immer keine Anstalten machte, seinem Pferd endlich die Hacken in die Weichen zu stoßen und das Tier voranpreschen zu lassen.

Der Weg zur Mühle am Krötenbach war weit und es war alles andere als ein Vergnügen, zu dieser Jahreszeit in den düsteren Wäldern jener Gegend nach Anbruch der Dunkelheit herumzuirren.

Es war bereits November und die Tage waren schon spürbar kürzer geworden. Die Sonne ging früh unter und schon aus diesem Grund mussten sich die beiden Jungen beeilen, um die Mühle am Krötenbach doch noch vor Einbruch der Nacht zu erreichen.

Wolfram knurrte etwas Unverständliches vor sich hin.

Er ließ sein Pferd erneut den Hügel empor traben, von dem aus Wolfram noch immer zurück zur Burg blickte.

„Ist dein Gaul festgewachsen – oder was ist sonst geschehen?“, rief Ansgar.

„Einen Moment noch!“, erwiderte Wolfram und streckte dabei den Arm aus.

„Siehst du es nicht? Da kommt Kaspar!“

Ansgar blickte angestrengt in Richtung der Burg. Dann sah auch er, wie sich im hohen Gras etwas bewegte. Augenblicke später kam ein Hund mit grauem, zotteligen Fell aus dem Gras hervor und rannte schwanzwedelnd auf Wolfram und Ansgar zu.

Wolfram stieg aus dem Sattel und machte das Pferd an einem Strauch fest, um den Hund zu begrüßen. Kaspar sprang ihm an den Beinen hoch und schien sich unbändig darüber zu freuen, ihn gefunden zu haben. Das graue, ziemlich verfilzte Tier war ein Streuner, den es immer dann zur Burg Wildenstein hinzog, wenn er hoffen durfte, dort etwas von den Küchenabfällen bekommen zu können.

Manchmal war er tagelang verschwunden und streifte dann auf eigene Faust durch die Wälder und Wiesen des Wildensteiner Landes.

Für Wolfram und Ansgar war der Hund inzwischen zu einem treuen Gefährten geworden, der ihnen schon in manch brenzliger Situation geholfen hatte.

„Ist ja gut, Kaspar! Wir nehmen dich mit“, redete Wolfram auf das Tier ein.

„Ist das wirklich dein Ernst?“, fragte Ansgar inzwischen. Der Knappe war alles andere als begeistert von der Aussicht, dass der Hund sie auf ihrem Ritt zur Mühle am Krötenbach begleiten würde.

„Natürlich!“

„Der wird uns nur aufhalten, wenn er sich einen Dorn in die Pfote tritt und humpelt.“

„Ach, Ansgar, das passiert schon nicht!“

„Und wenn er plötzlich einen Hasen riecht und ihn die Jagdleidenschaft packt? Du weißt genau, dass er dann nicht zu halten ist und wir können in dem Fall erst einmal darauf warten, dass er wieder auftaucht!“

„Ich glaube, es ist ganz gut, einen Hund bei sich zu haben, wenn man durch die dunklen Wälder rund um den Krötenbach zieht“, war Wolfram überzeugt. „Außerdem haben wir ohnehin keine Wahl.“

„Wieso?“

„Na, dann versuch doch mal, dem Tier klar zu machen, dass es uns nicht einfach folgen soll!“

„Witzbold!“

„Du kennst Kaspar doch. Er ist schließlich kein abgerichteter Jagdhund, der seinem Herrn aufs Wort folgt, sondern hat seinen eigenen Willen!“ Ansgar atmete tief durch und machte anschließend eine wegwerfende Handbewegung.

„Mach doch, was du willst, Wolfram – aber komm jetzt endlich!“ Der Knappe ließ sein Pferd vorangaloppieren. Wolfram schwang sich wieder auf den Rücken seines Apfelschimmels und folgte dem Freund. Kaspar hechelte nach kurzem Zögern hinter den beiden Reitern her.

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2

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GEGEN MITTAG MACHTEN sie in einem Dorf kurz Rast, dass auf ihrem Weg lag.

Sie tränkten die Pferde am Dorfbrunnen, aßen etwas von ihrem mitgenommenen Proviant und ritten dann rasch weiter, da sie keine Zeit zu verlieren hatten.

Als sie die Wälder erreichten, durch die der Krötenbach floss, dämmerte es bereits und die ersten Nebelschwaden krochen aus den Wiesen heraus, die die Waldgebiete hin und wieder unterbrachen.

Es wohnten nicht viele Menschen in diesem abgelegenen Zipfel des Wildensteiner Landes. Dass der Müller der Krötenbach-Mühle sich in diese Gegend zurückgezogen hatte, lag einfach daran, dass es kaum einen besseren Platz gab, um eine Wassermühle zu betreiben.

Dafür nahm er es dann auch in Kauf, dass das Korn einen langen Weg zu ihm hatte.

Ansgar zügelte sein Pferd, als sie erneut ein düsteres Waldstück hinter sich gebracht hatte und eine Lichtung erreichten.

Er drehte sich im Sattel herum.

„Jetzt sag bloß, du weißt den Weg nicht mehr“, meldete sich Wolfram zu Wort. Der ältere Ansgar war bereits einmal vor fast einem Jahr zusammen mit Ferdinand von Walden, dem Ritter, dem er zugeteilt war, hierher geritten und hatte vor Baron Norbert von Wildenstein damit geprahlt, dass es kein Problem für ihn sei, die Mühle zu finden.

Wolfram hatte die Worte seines Freundes noch gut im Ohr. „Nein, es ist nicht nötig, dass uns einer der Ritter oder Knappen begleitet! Ich kenne den Weg fast wie im Schlaf, wie Ihr sehen werdet, Herr! Höchstens in der Dunkelheit könnte man sich dort verirren, aber bis zu deren Einbruch werden wir längst dort sein!“ Sicherheitshalber hatte Baron Norbert von Wildenstein seinem Knappen den Weg dann noch einmal ausführlich und mit sehr eindringlichen Worten beschrieben.

Wolframs Ohren waren dabei natürlich ebenfalls weit offen gewesen.

Je mehr er sich von den Worten des Barons merken konnte, desto besser, war ihm klar gewesen.

Der Auftrag, den die beiden Jungen auszuführen hatten, bestand darin, dem Müller vom Krötenbach ein Dokument zu übergeben, mit dem er zu einem der Hoflieferanten des Barons ernannt wurde.

Ansgar trug dieses Dokument in einer Tasche bei sich, die ihm um die Schultern hing.

„Sag bloß, du bist dir jetzt nicht mehr sicher, wo es lang geht!“, meinte Wolfram.

Obwohl Ansgar vor dem Baron so sehr angegeben hatte, war Wolfram jetzt kein bisschen Schadenfroh. Schließlich wäre es auch für ihn ein großes Unglück gewesen, wenn sie die Mühle nicht vor Einbruch der Dunkelheit fanden.

Wie ein graues Tuch legte sich die Dämmerung über das Land. Die Sonne versank hinter den Baumkronen, an denen inzwischen kaum noch Blätter waren.

Der kühle Wind aus Nordosten ließ beide Jungen leicht frösteln. Wolfram erinnerte sich an die unheimlichen Geschichten, die man sich über die Wälder am Krötenbach erzählte. Angeblich waren dort in früherer Zeit Räuberbanden zu Hause gewesen, aber das war lange her. Seitdem Baron Norbert die Burg Wildenstein und das umliegende Land als Lehen übertragen bekommen hatte, war weder einer der Kornfahrer noch irgendein Händler überfallen worden.

„Nun sag schon, wohin wir reiten sollen!“, forderte Wolfram, nachdem Ansgar einige Augenblicke lang suchend den Blick über das dichte Unterholz hatte schweifen lassen. Mit einer Handbewegung gebot Ansgar Wolfram zu schweigen und der Jüngere merkte sofort, dass es dem Knappen jetzt auf einmal sehr ernst war.

Irgendetwas musste geschehen sein, was Wolfram bisher noch nicht bemerkt hatte.

Auch Kaspar wirkte auf einmal sehr aufmerksam und unruhig. Er hob immer wieder den Kopf und hielt die Nase hoch, so als versuchte er Witterung aufzunehmen.

Ein krächzender Schrei durchdrang die Stille.

Schwarze Schwingen erhoben sich von einer Baumgabel. Ein Greifvogel breitete sein Gefieder aus und erhob sich in die Lüfte. Zunächst flog er hoch empor, zog einen weiten Bogen durch die Luft und befand sich schließlich hoch über den Wipfeln der schon ziemlich kahlen Bäume.

Dann stürzte er hinab und verschwand im dichten Geäst des Unterholzes.

„Da ist irgend jemand“, raunte Ansgar. „Und vielleicht beobachtet er uns.“

„Aber...“

„Hast du den Falken gesehen?“

„Ja, aber erst als er empor geflogen ist. Vorher war er so perfekt getarnt, dass man sein Gefieder nicht von der Rinde des Baumes unterscheiden konnte, auf dem er saß.“

„Das war kein gewöhnlicher, wild lebender Greifvogel – sondern ein Tier, das zum Jagen abgerichtet wurde! Da können wir wetten! Die Art, wie er plötzlich zu Boden stieß....“

„Er könnte doch auch Beute entdeckt haben und deshalb von seinem Platz weggeflogen sein!“

„Der Waldboden unter dem dichten Unterholz dürfte selbst für den Falken kaum zu sehen ein! Außerdem hätte er sich im dichten Gestrüpp womöglich verletzt.“ Ansgar schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Beute hätte er auf der Lichtung machen können – es sei denn im Unterholz hat er seinen Herrn entdeckt, der ihm im Falknerhandschuh ein Stück Fleisch entgegenhielt.“ Die Jagd mit Greifvögeln war weit verbreitet und das dressieren dieser eigensinnigen Tiere galt als eine der höchsten Künste und wurde Beize genannt.

Außerdem war es die einzige Form der Jagd, die vielerorts auch den Nichtadeligen gestattet war. Falkner gehörten zu den angesehenen Männern an den Burghöfen und für einen gut abgerichteten Falken konnte man ein halbes Vermögen ausgeben.

Allerdings konnte man nicht einfach mit irgendeinem Greifvogel auf die Jagd gehen. Das war nämlich in der so genannten Hackordnung genau festgelegt.

Danach war der Adler dem Kaiser vorbehalten.

Nur er durfte mit seiner Hilfe Hasen und Rebhühner erlegen! Ein König ging mit einem etwas kleineren Geierfalken auf die Jagd, Prinzen und Grafen benutzen Wanderfalken und ein Baron wie Norbert von Wildenstein musste sich mit einem vergleichsweise kleinen Bussard begnügen. Dessen einfache Ritter wiederum jagten mit den als weniger edel geltenden Würgfalken. Diese „Hackordnung“ entsprach genau der Rangfolge auf der Burg. Ganz unten in dieser Rangfolge stand der Leibeigene, dem für die Jagd lediglich ein winziger Turmfalke zur Verfügung stand, so fern er sich diesen überhaupt leisten konnte. Dabei war es nicht so schwer, an einen dieser winzigen Falken heranzukommen. Viel aufwändiger war es, ihn ausbilden zu lassen und für seine Ernährung zu sorgen. Ohne genügend frisches Fleisch tat auch ein abgerichteter Greifvogel nämlich gar nichts – zumindest nicht das, was sein Herr von ihm verlangte. Der Vogel reagierte nur auf Belohnung, nie auf Bestrafung. Bestand keine Aussicht auf diesen Lohn in Form von Leckereien und vor allem frischen Fleischstückchen, konnte es sein, dass auch ein sehr edles Tier wie der Bussard des Barons, einfach auf und davon flog und für lange Zeit nicht wiederkehrte.

Neben genügend frischem Fleisch musste jemand, der auf Falkenjagd gehen wollte noch etwas anderes aufbringen, das mindestens genauso wichtig war: Viel Zeit. Um aus einem Falken einen treuen Jagdgefährten zu machen, musste man täglich mindestens eine Stunde mit ihm trainieren.

Ansgar ließ das Pferd ein paar Schritte über die Lichtung traben und zügelte es dann erneut.

Wolfram folgte ihm.

Kaspar rannte weiter in Richtung Waldrand, aber irgendetwas veranlasste ihn dann dazu, ziemlich abrupt zu stoppen. Der Hund duckte sich, klemmte den Schwanz ein und kehrte zurück.

Auch er spürt, dass dort jemand ist!, durchzuckte es Wolfram.

Aber wer?

Ganz sicher nicht eine Jagdgesellschaft der Ritter von Burg Wildenstein, denn dann hätten Wolfram und Ansgar davon zweifellos gehört.

„Der Vogel – ich glaube, ich habe so einen schon mal gesehen!“, war Wolfram plötzlich überzeugt.

„So, wo denn?“, zischte Ansgar kaum hörbar zwischen den Zähnen hindurch.

„Der Falkner Hardewind hat mehrere davon dressiert und verkauft. Ich habe ihn gefragt, wie diese Sorte heißt, und er hat geantwortet, es seien Hühnerhabichte!“ Ansgar atmete tief durch.

Bis zu diesem Augenblick hatte seine rechte Hand den Griff des langen Dolchs umfasst, den er an seinem Gürtel trug. Jetzt ließ er ihn los.

„Ein Hühnerhabicht? Bist du dir sicher?“

„Wieso?“

„Weil es sich dann bei dem Jäger nach der Hackordnung um einen freien Bauern handeln muss – und nicht um einen fremden Ritter!“ Ein fremder Ritter, der in das Wildensteiner Land gelangt wäre, hätte der Höflichkeit entsprechend zunächst einmal auf der Burg nachgefragt, ob es dem Baron recht wäre, wenn er in dessen Wäldern auf die Jagd ging.

Ein freier Bauer hingegen, der in diesem Land beheimatet war, hatte jederzeit das Recht, der Falkenjagd nachzugehen, so fern diese nicht gerade durch den jeweiligen Burgherrn eingeschränkt wurde. Das geschah immer dann, wenn der Wildbestand knapp war. Die wenigen Hasen und Rebhühner, die in schlechten Jahren noch durch die Wälder und Wiesen streiften, sollten dann für die hohen Herrschaften reserviert werden.

Mit der Zeit waren immer mehr Adelige dazu übergegangen, auch die Falkenjagd ihrer Untergebenen einzuschränken. Die Jagd mit Pfeil und Bogen oder Speer war dem einfachen Volk ohnehin verboten. Sehr zum Verdruss der Bauern, denn das Jagen von Wildschweinen, die auf den Feldern großen Schäden anrichteten, war mit einem Falken nun einmal nicht möglich.

Immer wieder kam es daher vor, dass Wilderer die Verbote der Adeligen missachteten.

Bei der Bevölkerung waren diese Wilderer beliebt, denn erstens sorgten sie dafür, dass es weniger Großwild gab, das die Felder schädigte und zweitens hatte das Recht, auch mit Pfeil und Bogen zu jagen, schließlich früher allen zugestanden.

Die Erinnerung daran hatten die Adeligen nicht auslöschen können. Sie lebte in vielen Erzählungen fort. Viele Bauern fürchteten nun, dass ihnen eines nicht mehr fernen Tages auch die Jagd mit dem Hühnerhabicht oder dem Turmfalke nicht mehr erlaubt sein würde.

Jetzt ertönte erneut ein Geräusch.

Etwas raschelte im Unterholz.

Zweige bewegten sich.

Kaspar bellte einmal laut, beugte den Kopf, knurrte zunächst und wich dann jedoch noch etwas weiter zurück, sodass er sich schließlich sogar noch hinter den Pferden der beiden Jungen befand.

Einen mutigen Hund haben wir da!, dachte Wolfram. Kaum zu glauben, dass er in anderen Situationen schon gezeigt hat, dass man sich voll und ganz auf ihn verlassen kann!

Aber im Moment sah es wirklich nicht danach aus.

Die Büsche teilten sich und ein breitschultriger Mann in einem graubraunen Wams trat hervor.

Schon sein Äußeres verriet, dass es sich tatsächlich um einen Bauern handelte.

Das Haar war über den Ohren abgeschnitten. Nur Adeligen war es schließlich erlaubt, lange Haare zu tragen. Und was die schmucklose graubraune Kleidung anging, so entsprach sie der geltenden Kleiderordnung. Gefärbte Kleidung durften nur höhergestellte Personen tragen. Jeder hatte seinen Platz in der Gesellschaft, so hatte es auch Wolfram gelernt. Und das bedeutete unter anderem auch, dass man einem jeden schon vom Äußeren her ansehen sollte, ob er Graf, Baron, Ritter oder nur ein Bauer war.

Der Mann trat noch einen Schritt nach vorn.

Der Hühnerhabicht saß auf dem Falknerhandschuh, mit dem er die linke Hand und den Unterarm schützte. Er war aus dickem Schweinsleder gefertigt, denn die Krallen des Habichts waren ja schließlich scharf genug, um einen Hasen zu erlegen.

Auf der anderen Seite hing dem Mann eine Tasche über der Schulter, in der sich zweifellos die Fleischbrocken befanden, mit denen der Bauer den Hühnerhabicht belohnte.

Der Raubvogel breitete die Flügel aus.

Er wirkte etwas nervös.

Sein Besitzer hatte ihm eine Haube über den Kopf gezogen, die seine überaus scharfen Augen bedeckte. Das diente dazu, den Vogel zu beruhigen, wie Wolfram sehr wohl wusste. Auch wenn der Umgang mit Jagdfalken noch nicht Teil seiner Ausbildung gewesen war, so hatte er doch des Öfteren schon Ansgar und die älteren Jungen dabei beobachten können, wie einer der Falkner von Burg Wildenstein ihnen ein paar Kniffe zeigte, mit denen die eigenwilligen Greifvögel zu treuen Jagdgefährten wurden.

Der Bauer verneigte sich.

„Verzeiht, hohe Herren, dass ich Euch erschreckt habe!“, sagte er.

Die Tatsache, dass er ein Erwachsener war und außerdem wahrscheinlich Haus, Hof und Kinder besaß, änderte nichts daran, dass er den beiden Jungen vom Rang her weit untergeordnet war. Schließlich waren Ansgar und Wolfram die Söhne adeliger Ritter und Burgherren, dieser Mann hingegen nur ein Bauer.

Der Mann atmete tief durch.

Er schien aus irgendeinem Grund sehr erleichtert zu sein.

„Wer bist du?“, fragte Wolfram.

„Mein Name ist Sebald und ich bewirtschafte hier in der Nähe einen Hof auf eigenem Grundbesitz.“

„Dann nehme ich an, weißt du auch, wo die Mühle am Krötenbach ist!“, glaubte Wolfram. „Auch wenn mein Freund hier es nicht gerne zugeben will, aber ich glaube, wir sind vom Weg abgekommen.“

Ansgar warf Wolfram einen wütenden Blick zu.

Er fühlte sich von dem jüngeren ziemlich bloßgestellt. Aber ihm blieb nicht viel Zeit, sich über Wolframs Worte zu ärgern.

Der Bauer antwortete mit ruhiger und vertrauenserweckender Stimme.

„Wenn ihr eine Weile in östliche Richtung reitet, müsstet ihr auf den Krötenbach stoßen. Und dem braucht ihr dann nur gegen die Strömung zu folgen, dann könnt ihr die Wassermühle von Meister Lamphart gar nicht verfehlen.“

„Ich danke dir!“, erwiderte Wolfram. „Dann werden wir es ja vielleicht doch noch vor Einbruch der Dunkelheit bis zur Mühle schaffen!“ Doch das Gesicht des Bauern Sebald blieb sehr ernst. Er blickte sich um, so als müsste er ständig vor irgendetwas oder irgendjemandem auf der Hut sein.

„Normalerweise hättet Ihr recht, junger Herr“, sagte er.

Wolfram runzelte die Stirn.

„Normalerweise?“, echote er.

„Im Augenblick würde ich Euch nicht empfehlen, diesen Weg zu nehmen!“

„Aber wieso nicht?“

„Um die Wahrheit zu sagen, ich würde Euch sogar raten, die Mühle am Krötenbach ganz zu meiden und einen weiten Bogen um sie herum reiten!“

„Das geht nicht, wir haben dort für den Baron von Wildenstein eine Botschaft zu überbringen“, mischte sich nun Ansgar in das Gespräch ein, dem es sichtlich missfiel, dass sein jüngerer Freund sich in den Vordergrund gespielt hatte.

„Jedenfalls soll niemand hinterher sagen können, dass ich Euch nicht gewarnt hätte“, erwiderte Sebald. „Ich bin einer Gruppe fremder, bewaffneter Reiter begegnet.“

„Ritter?“, hakte Wolfram nach.

Sebald lachte heiser.

„Ihrer Kleidung und Bewaffnung nach ja! Und ihre Wappen und Feldzeichen an den Lanzen und den Satteltüchern der Streitrösser sprachen auch dafür, dass es sich um Ritter handelte – aber ritterlich kann ihr Benehmen wohl nicht gewesen sein. Sie trieben Kühe und Schafe vor sich her, die mit den Zeichen der Wildensteiner Bauern versehen waren! Ein Händler mit seinem Handwagen schien ihr Gefangener zu sein und ich zweifle nicht einen Augenblick daran, es mit Raubrittern zu tun gehabt zu haben.“

Wolfram und Ansgar wechselten einen entsetzten Blick.

Selbst sie hatten davon gehört, dass es mancherorts Ritter gab, die es mit den ritterlichen Tugenden nicht so genau nahmen. Ritter, die vergessen hatten, dass es eigentlich ihre Pflicht war, die Schwachen zu schützen, anstatt ihnen ihr Eigentum wegzunehmen.

„Bist du diesen Raubrittern selbst begegnet?“, wollte Wolfram von dem Bauern wissen.

Dieser machte eine wegwerfende Handbewegung. „Zum Glück konnte ich das vermeiden und mich im Unterholz verbergen. Als ich Euch beide über die Lichtung reiten sah, glaubte ich erst, dass Ihr auch zu ihnen gehört. Deshalb habe ich mich zunächst versteckt.“

„Sag uns noch, ob du irgendwelche Wappen oder Feldzeichen erkannt hast!“, forderte Wolfram.

Sebald nickte. „Zwei gekreuzte Hellebarden in einem Kreis – dieses Wappen habe ich auf einer ganzen Reihe von Satteldecken und Lanzenbannern gesehen. Kennt Ihr dieses Zeichen?“

Die beiden Jungen sahen sich kurz an.

„Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte das Wappen des Grafen von Schnellenberg sein“, sagte Ansgar. „Wolfram, erinnere dich doch mal! Im letzten Jahr – oder war es im vorletzten? – da kam doch mitten im Winter einer der Ritter des Grafen von Schnellenbergs bei Eis und Schnee auf die Burg Wildenstein und Baron Norbert gewährte ihm fast eine Woche lang seine Gastfreundschaft.“ Wolfram nickte.

„Ja, ich erinnere mich. Das Wetter wurde dann besser und der Ritter zog seines Weges. Hieß er nicht Herwig?“

„Richtig!“, bestätigte Ansgar. „Sein Lautenspiel war fürchterlich. Sein Instrument schien stets ungestimmt zu sein.“

„Ich glaube eher, er hatte einfach keinen Sinn für den Gesang“, ergänzte Wolfram.

Der Junge erinnerte sich noch an die Abende, an denen der Ritter auf Burg Wildenstein geweilt und seine Gesänge zum Besten gegeben hatte.

Ein besonderes musikalisches Talent hatte Ritter Herwig zwar nicht gehabt, aber die langen Winterabende konnten auf einer kalten und ungemütlichen Burg sehr lang werden, da war jedwede Abwechslung willkommen.

„Ich muss jetzt nach Hause!“, sagte der Bauer schließlich. „Wer weiß, was aus dem Hof geworden ist und was diese Raubritter meiner Frau und meinen Kinder angetan haben könnten!“, meinte er. Mit der flachen Hand strich er sich über das Gesicht und schüttelte voll tief empfundener Verzweiflung den Kopf. „Wie gesagt, ich habe Euch junge Herren gewarnt! Hört auf mich! Und was die Botschaft an den Müllermeister vom Krötenbach angeht: Wer sagt Euch denn, dass der nicht auch längst mitsamt seiner Familie in die Wälder entflohen ist, um sein Leben und das Leben seiner Familie zu retten?“

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MIT DIESEN WORTEN ZOG der Bauer davon.

Die beiden Jungen sahen im etwas ratlos nach. Wenige Augenblicke später war er im dichten Unterholz verschwunden. Hin und wieder hörte man zunächst noch, wie ein Ast knackte. Dann machte es den Eindruck, als wären die beiden Jungen ihm nie begegnet.

Einen Augenblick hatte Wolfram das Gefühl, geträumt zu haben.

Nein, die ist die Wirklichkeit!, durchfuhr es ihm.

„Wir können nur hoffen, dass die Raubritter einen anderen Weg nehmen“, meinte Wolfram.

Ansgar lachte heiser.

„Und die einzige Mühle im weiten Umkreis dabei auslassen? So etwas kann doch nur ein kleiner Knirps vermuten, der von nichts Ahnung hat.“ Wolfram ging auf Ansgars Bemerkung nicht weiter ein. Die Streiterei hatte jetzt einfach keinen Sinn. Wenn die Raubritter noch in der Nähe waren, konnte die Lage für die beiden Jungen schnell brenzlig werden.

Andererseits hatten sie den unmissverständlichen Auftrag ihres Burgherrn, die Mühle am Krötenbach aufzusuchen und ihre Botschaft auszurichten.

„Wir werden uns doch so schnell nicht einschüchtern lassen“, sagte Ansgar voller Entschlossenheit. „Ich glaube jedenfalls nicht, dass Baron Norbert es als ehrenwert erachten würde, wenn wir jetzt einfach davon reiten würden.“

„Aber wenn wirklich Raubritter im Wildensteiner Land ihr Unwesen treiben, dann wäre es doch vielleicht besser, zurück zu reiten und den Baron darüber so schnell wie möglich zu informieren!“, erwiderte Wolfram.

„Und was, wenn dieser Bauer uns nur Angst machen wollte oder die Lage falsch eingeschätzt hat?“

„Das glaube ich nicht. Was er sagte, klang für mich überzeugend!“

„Du bist ja auch noch kleiner Naseweis und leicht zu beeindrucken!“, höhnte Ansgar. „Hör zu, lass es uns so machen: Wir reiten zur Mühle am Krötenbach und überbringen unsere Botschaft. Vielleicht hat der Müllermeister ja auch schon irgendetwas von den Raubrittern gehört. Anschließend kehren wir dann so schnell wie möglich nach Burg Wildenstein zurück, um den Baron zu informieren.“

„Gut“, stimmte Wolfram zu.

Wahrscheinlich hätte es auch im Augenblick gar keinen Sinn gemacht, Ansgar von etwas anderem überzeugen zu wollen. Als der Ältere hatte er einfach das Gefühl, diese Sache entscheiden zu können.

„Aber wir sollten einen weiten Bogen zur Mühle reiten“, beharrte Wolfram. „So, wie der Bauer es uns geraten hat!“

Ansgar machte eine wegwerfende Handbewegung und trieb sein Pferd bereits in Richtung des Waldrandes.

„So ein Unsinn!“, meinte er. „Die fremden Ritter werden längst weiter gezogen sein – und da keiner von uns vorherzusagen vermag, wohin ihre Reise ging, können wir auch genauso gut dem Weg am Krötenbach folgen, anstatt einen Bogen zu reiten!“ Ansgar dachte offenbar auch in dieser Sache nicht im Traum daran, mit sich reden zu lassen.

Wahrscheinlich hat er in Wahrheit nur Angst, dass er den Weg erneut verliert, wenn er einen Bogen reiten muss, anstatt einfach dem Bach zu folgen!, überlegte Wolfram.

Aber was blieb im übrig, als seinem Freund zu folgen?

Sie ritten in den Wald hinein.

Die Pferde stapften durch die herabgefallenen braunen Blätter. Nebel kam auf und es wurde empfindlich kalt. Die Dämmerung schritt rasch voran und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Dunkelheit einsetzte.

Etwa nach einer Stunde erreichten sie endlich den Krötenbach, der seinem Namen alle Ehre machte. Die quakenden Laute waren aus der schlammigen Uferzone deutlich zu hören. Der Krötenbach schwoll um diese Jahreszeit immer durch die herbstlichen Regenfälle zur doppelten oder gar dreifachen Breite an und überschwemmte in manchen Jahren sogar ein paar Wiesen in Ufernähe.

Jetzt stand eine graue Nebelwand auf dem Wasser, aus der Schwaden den beiden Reitern entgegenwaberten. Diese Nebelschwaden erinnerten Wolfram an die Arme eines Ungeheuers, dessen wahre Gestalt man nicht erkennen konnte. Viele Geschichten erzählte man über diese Gegend. Von Geistern, bösen Hexen und Dämonen, die hier in manchen Nächten ihr Unwesen trieben.

Hin und wieder waren Wanderer und Reisende verschwunden, so hieß es.

Angeblich waren sie von Hexen verzaubert in den Morast gelockt worden. Was dort mit ihnen geschehen war, malten sich die Bewohner des Wildensteiner Landes in den grausigsten Farben aus.

Wolfram hatte einmal Pater Ambrosius, einen Mönch aus dem in der Nähe der Burg gelegenen Kloster St. Ingbert danach gefragt, was er von diesen Geschichten halte. Wolfram besuchte den Mönch regelmäßig, um bei ihm die Kunst des Lesens und Schreibens zu lernen und der gelehrte Mönch war seitdem für ihn eine Art großväterlicher Freund geworden, auf dessen Urteil er vertraute. Und wenn jemand etwas über die Mächte des Teufels wissen konnte, dann doch zweifellos ein Mönch, der in der Bibliothek des Klosters Zugang zu den Abschriften vieler weiser Bücher hatte.

Wolfram erinnerte sich genau an das heisere Lachen des Paters, als der Junge ihn nach den geheimnisvollen Begebenheiten in den Wäldern am Krötenbach befragt hatte.

„Das ist alles Aberglaube“, war Pater Ambrosius überzeugt. „Die Menschen geben damit ihrer Furcht vor Krankheit, Tod, Krieg und all den anderen schrecklichen Dingen, die jeden Tag über sie hereinbrechen können, eine Gestalt. Aber ich glaube nicht, dass diese Geschichten wahr sind. Du weißt doch, wie das ist! Einer erzählt sie dem anderen weiter, schmückt sie noch ein bisschen mehr aus und wenn sie dann zum zehnten Mal weitererzählt wurde, hört man ein Schauermärchen, das mit dem ursprünglichen Bericht gar nichts mehr zu tun hat.“

„Ihr glaubt, dass man sich nicht zu fürchten braucht, wenn man durch die Wälder am Krötenbach streift?“, hatte Wolfram sich noch mal vergewissert.

„Man sollte sich dort nur vor den Dingen fürchten, die auch sonst gefährlich sind: Tollwütige Tiere zum Beispiel oder der Morast am Flussufer! Davor sollte man sich in Acht nehmen. Aber das ist auch schon alles.“

Immer wieder vergegenwärtigte sich Wolfram diese Worte des Paters. Er ließ die damalige Szene noch einmal vor seinem inneren Auge erstehen und stellte fest, dass er dadurch ruhiger wurde.

Es gibt keinen Grund, warum Ambrosius nicht auch diesmal recht behalten sollte!, sagte sich der Page.

Schließlich war Pater Ambrosius einer der gelehrtesten Männer des Wildensteiner Landes.

In den morastigen, feuchten Untergrund am Flussufer kamen die beiden Reiter nicht schnell genug vorwärts und so zeichnete es sich schon recht bald ab, dass sie es unmöglich bis zur Mühle schaffen konnten, bevor es dunkel wurde.

Aber immerhin blieb ihnen der Bach als Orientierung.

Der Wasserstand war so hoch, dass sich an manchen Stellen Abzweigungen gebildet hatten und das Wasser in tiefer gelegene Tümpel abfloss, die ansonsten wahrscheinlich den gesamten Sommer über kaum Wasser führten.

Das Gelände stieg an. Der Untergrund war rutschig und erschwerte das Vorankommen zusätzlich.

Inzwischen wurde es dunkel.

Der fahle Mond stand am Himmel und spendete etwas Licht.

„Es wundert mich, dass wir von diesen fremden Rittern gar keine Spur gefunden haben!“, meinte Wolfram.

„Was erwartest du denn?“

„Zum Beispiel eine platt getrampelte Wiese oder so etwas!“

„Vielleicht haben sie einen anderen Weg genommen.“

„Das wollen wir hoffen!“

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IRGENDWANN TAUCHTE aus dem Nebel ein dunkler Umriss auf.

Ein großer Schatten.

Erst als die beiden Jungen sich noch weiter näherten, war zu sehen, dass es sich um die Wassermühle am Krötenbach handelte. Der Krötenbach hatte hier ein hohes Gefälle und so erfüllte ein ohrenbetäubendes Rauschen die Luft. Der Bach bewegte das Wasserrad der Mühle und diese Kraft sorgte wiederum dafür, dass die Mühlsteine sich aneinander rieben und das Korn der Bauern zu feinem Mehl verarbeiteten.

Mehl, das in Zukunft auch an den Burghof geliefert werden sollte.

Zwar lag die Mühle am Krötenbach ziemlich abseits und es bedeutete einen erhöhten Aufwand für den Baron, Wagen hier her zu schicken, um die Mehlsäcke abzuholen, aber die letzte Ernte im Wildensteiner Land war schlecht gewesen und so war man auf der Burg darauf angewiesen, zusätzliche Vorräte aufzukaufen.

Die beiden Jungen stiegen von ihren Pferden und machten sie an einer Querstange vor dem Mühlengebäude fest, die eigens für diesen Zweck angebracht worden war.

Das Rauschen des Baches übertönte alles andere.

Die Fensterläden der Mühle waren geschlossen. Wolfram und Ansgar gingen zur Tür und klopften.

„Meister Lamphart!“, rief Wolfram – und seine Stimme hatte dabei große Mühe, das Rauschen des Wassers zu übertönen. „Meister Lamphart! Hier sind die Boten des Barons von Wildenstein!“

Es gab keine Antwort.

„Hier stimmt doch etwas nicht!“, war Ansgar überzeugt.

Seine Hand schloss sich um den Griff des kurzen Dolches, den er am Gürtel trug.

Sein Blick schweifte umher, aber er konnte nichts erkennen, was ihm verraten hätte, was hier los war. Er machte ein paar Schritte, suchte am Boden nach Spuren von Pferde und Wagen – und fand sie schließlich.

„Hier!“, sagte er. „Die Spur von einem zweispännigen Wagen und mindestens einem weiteren Pferd führen nach Norden. Wenn das nicht die Raubritter waren! Eine Mühle dürfte ein lohnendes Ziel für dieses Gesindel gewesen sein!“

„Der Bauer Sebald hat uns aber eine viel größere Gruppe beschrieben“, wandte Wolfram ein.

„Wahrscheinlich hat er einfach nur übertrieben, weil er das Herz in der Hose hatte!“

„Es könnte aber auch sein, dass dies die Spuren von Meister Lamphart und seinen Gesellen sind, die vielleicht von den fremden Rittern gehört und sich noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben! Das würde erklären, warum die Fenster und Türen geschlossen sind und sie offenbar noch von niemandem einfach aufgebrochen wurden!“

Ansgar knurrte etwas vor sich hin.

Er wollte natürlich nicht zugeben, dass die Argumente des Jüngeren stichhaltiger waren.

Er ging noch einmal zur Tür, holte den Dolch aus dem Gürtel und umfasste ihn mit seiner Faust.

Mit dem Knauf hämmerte er dann lautstark gegen das Holz. „Meister Lamphart!“, rief er, so laut, dass sich seine Stimme dabei heiser anhörte. Aber auch er erhielt keine Antwort.

Ansgar steckte den Dolch wieder weg und rüttelte an der Tür. Sie ließ sich nicht öffnen.

„Jetzt bräuchte man einen dieser Schlüssel, die man Dietrich nennt und mit denen sich alle Schlösser zu öffnen vermögen!“

„Trotzdem sollten wir uns da drinnen mal umsehen. Vielleicht finden wir ja irgendeinen Hinweis darauf, was nun wirklich los ist. Außerdem brauchen wir einen Platz zum übernachten – oder willst du da draußen in diesem Geisterwald auf dem nassen, schlammigen Boden schlafen. Ein Bett aus feuchten, glitschigen Blättern – na ich danke!“

„Und wie sollen wir das anstellen? Was glaubst du, was passiert, wenn es stimmt was du gesagt hast und Meister Lamphart sich vor den Raubrittern in Sicherheit brachte? Er könnte jederzeit zurückkehren und wäre wohl nicht sehr begeistert, wenn wir seine Tür beschädigt hätten!“

„Wer will denn die Tür beschädigen?“, widersprach Wolfram. „Vielleicht lässt sich eins der Fenster öffnen!“

Sie umrundeten die Mühle.

Die Fenster waren recht hoch angebracht.

Wolfram hatte einen Vorschlag.

„Wenn ich auf deine Schultern steige, müsste ich herankommen“, meinte er.

„Aber die Fenster werden von innen verriegelt sein!“

„Dann gib mir deinen Dolch. Die Klinge ist dünn genug um in den Spalt zwischen den geschlossenen Fensterläden hindurchzupassen – und vielleicht gelingt es mir so, den Riegel hochzuschieben.“

Ansgar seufzte.

Einen Augenblick noch kämpfte er innerlich mit sich, dann gab er dem Jüngeren nach. „Gut, wir versuchen es. Aber, dass du mir nicht die Dolchklinge abbrichst!“

„Nein, natürlich nicht!“

„Du weißt, was mir die Waffe wert ist!“

„Ja, sicher!“

Vor einer Weile hatte Ansgar ein abgelegtes und schon recht rostiges Schwert bekommen, um damit zu üben. Aber während einer dieser Übungskämpfe war die rostige Klinge unter dem Gelächter der anderen Knappen zerbrochen.

Zum Trost hatte er diesen Dolch erhalten, aber ein wirklicher Ersatz war das natürlich nicht. Schwerter waren wertvoll und bis Ansgar erneut die Chance bekam, eine echte Metallklinge zu tragen, würde es wohl noch etwas dauern. Er empfand es sehr demütigend, bis dahin erst einmal wieder wie ein Page mit Holzwaffen üben zu müssen.

„Im Moment ist einfach keine Waffe übrig, die im Ernstfall nicht von einem Ritter oder einem Burgmannen getragen werden muss“, hatte Baron Norbert ihm gesagt und ihm dann zum Trost den Dolch überlassen. Ein schwacher Trost, wie Ansgar fand.

Aber immer noch besser als gar nichts, so war Wolframs Sicht der Dinge.

Und was den Dolch anging, so war er doch eigentlich nicht dazu da, wie ein heiliger Gegenstand unbenutzt hinter dem Gürtel getragen zu werden!

Die beiden Jungen stellten sich an die Mauer. Ansgars Hände bildeten einen Tritt, in den Wolfram seinen rechten Fuß setzen konnte. Nach kurzer Zeit saß er bei seinem Freund auf den Schultern. Den Dolch trug er zwischen den Zähnen, denn seine Hände brauchte er, um sich festzuhalten.

Wolfram rüttelte am Fensterladen.

Wie erwartet, war er verriegelt. So nahm er das Messer, führte es durch den Spalt zwischen den Läden und hob damit den Riegel empor, der den Laden von innen verschloss.

Augenblicke später ließ sich das Fenster öffnen.

Wolfram kletterte hinein.

„Mein Dolch!“, rief Ansgar, dem es eigentlich nicht recht war, dass sein Gefährte ihn zunächst behalten hatte.

„Vielleicht brauche ich ihn noch!“, erwiderte Wolfram, der sich inzwischen im Inneren der Wassermühle umsah. Ansgar konnte ihm nicht folgen, denn allein war es dem Knappen nicht möglich, die Mauer emporzusteigen.

Es war ziemlich dunkel im Inneren des Mühlenhauses. Nur durch das offen stehende Fenster kam etwas Mondlicht herein. Wolfram brauchte einige Augenblicke, um sich daran zu gewöhnen. Dann erkannte er die großen Mühlsteine und die gewaltigen Zahnräder, die dazu bestimmt waren, die Kraft von dem im Wasser hängenden Schaufelrad zu übertragen. Im Augenblick war die Mühle natürlich nicht in Betrieb.

Eine Truhe fiel Wolfram auf.

Er trat an sie heran.

Das fahle Mondlicht erleuchtete zumindest eine Hälfte von ihr. Sie war geöffnet und leer.

Für Wolfram fügte sich nun alles zu einem Bild zusammen.

Der Müllermeister und seine Gesellen hatten die Mühle offenbar tatsächlich verlassen und zuvor möglichst viele Dinge aus ihrem persönlichen Besitz mitgenommen.

Wolfram untersuchte noch das Schloss der Truhe, wodurch er in dieser Auffassung bestätigt wurde, denn es waren keinerlei Spuren zu erkennen, die darauf hingewiesen hätten, dass die Truhe gewaltsam geöffnet worden war.

Nein, wie geplündert sah die ordentlich aufgeräumte Mühle nun wirklich nicht aus!

Die Werkzeuge, mit denen der Müller das Räderwerk regulieren konnte, hingen säuberlich aufgereiht an ihren Haken.

Kaspars Bellen durchdrang das Rauschen.

Er knurrte drohend.

Ansgar versuchte, den Hund zu beruhigen.

Irgend etwas stimmt da nicht!, durchfuhr es Wolfram. Ihm war, als ob ein Kloß in seinem Hals steckte.

Ein Geräusch ließ Wolfram zusammenzucken.

Das Wiehern von Pferden drang zusammen mit dumpfem Hufschlag durch das Rauschen des Wassers. Männerstimmen mischten sich in diese Geräuschkulisse hinein.

Wolfram rannte zum Fenster.

Aus den im Unterholz wabernden Nebelschwaden drangen dunkle, zunächst nur als Umrisse erkennbare Gestalten hervor.

Daneben erschienen aber geisterhaft wirkende Lichter.

Das fahle Mondlicht schien auf Ritter mit Schild und Lanze, dazu Fußsoldaten mit Hellebarden und Pieken.

Manche von ihnen trugen brennende Fackeln. Mehrere Wagen waren auch dabei, die von Ochsen oder Pferden gezogen wurden.

Das mussten die Raubritter sein! Die Beschreibung, die Bauer Sebald von diesen Halunken gegeben hatte, passte haargenau.

Und das Wappen stimmte auch!

Zwei gekreuzte Hellebarden in einem Kreis.

Wolfram stand wie erstarrt da.

Der Schatten verbarg ihn.

Es gab weder für Ansgar noch für ihn eine Möglichkeit zur Flucht.

Ein Ritter ließ sein Pferd auf Ansgar zu preschen. Es stellte sich auf die Hinterbeine und wieherte. Ansgar wich zurück, presste sich mit dem Rücken gegen die alte Steinwand der Mühle.

Kaspar bellte.

Die Pferdehufe senkten sich wieder in den schlammigen Boden.

Der Ritter brachte das Tier wieder unter seine Kontrolle. Dann schob er das Visier seines Helms hoch, der durch einen bunten Federbusch verziert wurde.

Im Mondlicht war sein Gesicht zu sehen. Er trug einen schwarzen Bart.

„Na, wen haben wir denn da?“, fragte er und stieg vom Pferd.

Die Zügel übergab er einem jungen Mann von 16 oder 17 Jahren. Das musste wohl sein Knappe sein.

Der bärtige Ritter trat auf Ansgar zu.

Kaspar wollte diesen verteidigen und knurrte den Fremden an. Der Bärtige trat nach dem Hund und traf ihn auch, sodass er aufjaulte.

Einer der anderen Ritter nahm eine Fackel und drückte sie gegen Kaspars Fell.

Winselnd zog das Tier davon und verschwand im Unterholz. Ein Kerl, der einen mannsgroßen Langbogen trugt, schoss ihm noch einen Pfeil hinterher, der zum Glück nicht traf, sondern zitternd in der Rinde eines Baumes stecken blieb.

Wolfram, der die ganze Szene durch das Fenster beobachtete, fühlte ohnmächtige Wut in sich aufsteigen.

In der Rechten hielt er Ansgars Dolch, aber auch der nützte ihm im Moment gar nichts.

Wie man die Sache auch drehte und wendete, er konnte nichts tun, außer sich verborgen zu halten. Er presste sich seitlich gegen die Innenwand der Mühle und blickte vorsichtig durch das geöffnete Fenster. Aber sowohl Ansgar als auch der Ritter befanden sich jetzt außerhalb seines Blickfeldes und so konnte er nur erahnen, was jetzt geschah.

Der Ritter packte Ansgar am Kragen, drückte ihn gegen die Wand und griff nach einem Dolch, den er neben seiner langen, zweischneidigen Klinge am Gürtel trug.

Die Dolchspitze setzte er dem zitternden Ansgar an die Kehle.

„Nun red’ schon, wer bist du!“, fuhr er den Knappen des Barons von Wildenstein an. „Und erzähl mir nicht, dass du zu dieser Mühle hier gehörst! Für einen Müllergesellen trägst du die falsche Kleidung und hast die Haare zu lang!“ Er verzog das Gesicht. „Aber ich kann dir deine Adelsmähne gerne stutzen, sodass du aussiehst wie ein unfreier Bauer!“

Die anderen brachen in Gelächter aus.

„Na, los, erstecht einen Unbewaffneten!“, sagte Ansgar trotzig. „Ihr tragt das Wappen des Grafen von Schnellenberg, wenn ich mich nicht irre! Wenn Graf Richard von Eurer Ehrlosigkeit erfährt, wird er Euch mit Schimpf und Schande aus seinem Dienst entlassen, denn Ihr seid es nicht würdig, ein Ritter genannt zu werden!“ Inzwischen hatte sich ein Kreis von Bewaffneten um Ansgar und den Angreifer gebildet. Sowohl Ritter waren darunter, als auch Männer, bei denen es sich wohl nur um einfache Burgmannen und Leibwächter handelte, die nicht dem Adel entstammten und ihrem Burgherrn auch nicht aus Lehnstreue, sondern für Geld dienten.

„Rede nur weiter, Junge!“, grinste der bärtige Ritter.

„Wenn Ihr Ehre hättet, würdet Ihr mir eine Waffe geben und Euch mir in einem Duell stellen, dass von den Grundsätzen der Ritterlichkeit geprägt ist!“, rief Ansgar.

„Aber das kann man von Gesindel wie Euch wohl nicht erwarten! Euer Lehnsherr wird vor Euch ausspucken, wenn er erfährt, was Ihr hier tut!“ Das Grinsen des Bärtigen verschwand. Sein Gesicht wurde ernst.

„Ich selbst bin Richard von Schnellenberg“, sagte er. „Dein hohles Geschwätz kannst du dir sparen! Und jetzt heraus damit! Wer bist du?“

„Sicher ein hochwohlgeborener Rittersohn, der gerade seine Ausbildung als Knappe auf der Burg eines Bekannten seiner Familie absolviert!“, mischte sich einer der anderen Ritter in das Gespräch ein. Er war ebenfalls von seinem Pferd gestiegen.

Eine Filzklappe bedeckte sein rechtes Auge, von dem anzunehmen war, dass er es in einem Kampf verloren hatte. „Seine Kleidung ist edel, die Stiefel gut verarbeitet...

Vielleicht können wir Lösegeld für ihn fordern!“

„Wir müssten uns hier bereits im Grenzgebiet des Wildensteiner Landes befinden“, knurrte Richard. „Es ist anzunehmen, dass dieser Junge bei Baron Norbert als Knappe dient!“

Ansgar war nun natürlich entschlossen, um keinen Preis zu verraten, wer er war, denn damit würde er die Aussicht der Raubritter, ihn gefangen zu nehmen und Lösegeld für ihn zu fordern nur unterstützen.

Der Blick des Grafen wurde starr.

Er hatte etwas entdeckt. Im nächsten Moment riss er an der Kette, die um Ansgars Hals hing. Ein Amulett kam zum Vorschein. Mit einem Ruck riss es der Graf an sich.

„Seht an“, sagte er, „was haben wir denn da? Ein Amulett mit einem Wappen darauf.

Ein Andreaskreuz, kombiniert mit einem Falkenkopf.“ Richard von Schnellenberg wandte sich an den Einäugigen und ließ Ansgar los. „Kennt Ihr dieses Zeichen, Siegmund?“

Der Angesprochene nahm das Amulett an sich und nickte schließlich. „Es ist das Wappen des Barons Gottfried von Bärenbach, das hier zu sehen ist!“, schloss der einäugige Siegmund. „Ich bin mir sicher, denn vor langer Zeit ritten Gottfried und ich zusammen im Heer des Kaisers.“

„Dann ist dieser junge Mann hier der Sohn von Baron Gottfried!“, stellte Richard fest. „Gib es zu – denn falls du es nicht bist, sollten wir dich einfach abstechen! Wozu solltest du uns dann von Nutzen sein?“

Ansgar atmete tief durch, während Graf Richard von Schnellenberg ihm erneut die Dolchklinge entgegen hielt. Der Knappe zweifelte längst nicht mehr daran, dass dieser Ritter skrupellos genug war, um seine Drohung tatsächlich in die Tat umzusetzen.

„Ja, Ihr habt Recht“, gab Ansgar schließlich zu. „Ich bin Ansgar von Bärenbach!“

„Das rettet dir das Leben, Knappe!“, erklärte Richard und streckte den Dolch weg.

„Wir werden einen Boten zu deinem Vater schicken und ein schönes Sümmchen in Goldtalern für deine Freilassung verlangen. Nun sieh uns nicht so an! Es ist nichts Ehrenrühriges daran, Gefangene zu machen und für sie Lösegeld zu fordern!“ Ansgar war außer sich vor Wut über diese Niedertracht.

„Ja, wenn man diese Gefangenen im Kampf gemacht und zuvor den Fehdehandschuh geworfen hat, mag das zutreffen! Aber was Ihr hier vollbringt, ist ein feiger, hinterhältiger Überfall!“

„Die Zeiten ändern sich!“, erwiderte Richard. „Sie sind hart geworden und wir müssen uns ihnen anpassen.“ Er zuckte mit den Achseln. „In den letzten Jahren waren die Erträge aus meinen Ländereien nicht besonders gut. Wir hatten Missernten, Hagelschlag auf das Korn und eine Seuche unter dem Vieh. Viele Bauern waren selbst unter Androhung schwerster Strafen nicht mehr in der Lage, ihren Zehnten zu leisten.

Aber wovon soll ich meine Burg unterhalten, die Wachmänner bezahlen und für die Sicherheit in meinen Ländereien sorgen?“

„Und da seid Ihr auf den Gedanken gekommen, wie ein Räuberhauptmann durch die Lande zu ziehen und zu plündern!“, stellte Ansgar bitter fest.

„Hüte deine Zunge!“, erwiderte Graf Richard wütend.

Inzwischen machte sich der Einäugige an Ansgars und Wolframs Pferden zu schaffen.

Er untersuchte die Sättel und fand schließlich das Dokument, mit dem der Müller vom Krötenbach zum Hoflieferanten des Barons von Wildenstein bestellt werden sollte.

Offenkundig war der Einäugige des Lesens mächtig, was unter Rittern durchaus keine Selbstverständlichkeit war. Baron Norbert von Wildenstein zum Beispiel schätzte es überhaupt nicht, wenn seine Untergebenen sich mit in seinen Augen derartig nutzlosen Dingen wie Lesen und Schreiben beschäftigten.

Das war etwas für Geistliche und solche, die als Hofschreiber Geld verdienen mussten! Aber doch nicht für adelige Herren, die notfalls einen Schreiber bezahlen konnten, wenn sie tatsächlich einmal ein Schriftstück erstellen lassen mussten.

Ansonsten konnte man als adeliger Herr Urkunden ja auch mit einem Federstrich unterzeichnen, wenn man seinen Namen nicht schreiben konnte.

Der Einäugige las seinem gräflichen Herrn den Inhalt der Urkunde vor. Er stockte immer wieder dabei und hatte sichtlich Schwierigkeiten, die Buchstaben zunächst zu entziffern und anschließend auch zu Silben und Wörtern zusammen zu ziehen. Aber die Bedeutung dessen, was da geschrieben stand war eindeutig. „Ich hatte mit meiner Vermutung recht!“, meinte der einäugige Siegmund. „Wenn der Baron von Wildenstein diesen jungen Kerl mit einer Botschaft hier her schickt, steht er in dessen Diensten.“

„Kann uns das nicht gleichgültig sein?“, knurrte Graf Richard ziemlich unwirsch.

„Mich würde eher interessieren, wer auf dem zweiten Pferd geritten ist? Unser Freund hier scheint nicht allein unterwegs gewesen zu sein!“

„Scheint so, als wäre sein Begleiter in den Wald entkommen“, meinte Siegmund.

„Soll er doch! Wir finden ihn jetzt in der Dunkelheit ohnehin nicht, also verschwenden wir besser keine Kraft dafür, ihn zu suchen!“

Richard lachte heiser.

„So schnell gebt Ihr neuerdings auf, Siegmund? So kenne ich Euch ja gar nicht!“ Siegmund ging auf diese Kränkung, die er von seinem Herrn hatte hinnehmen müssen, nicht weiter ein. Stattdessen sagte er: „Ich möchte Euch vorschlagen, zuerst einen Boten nach Wildenstein zu schicken, um eine Geldforderung zu überbringen!“ Richard schien nicht gleich zu begreifen, worauf der Einäugige hinauswollte.

„Worum sollte Baron Norbert ein Lösegeld für den Sohn eines anderen bezahlen?“

„Weil es an seiner Ehre kratzen würde, wenn er das Bürschchen in der Gefangenschaft eines anderen Burgherrn ließe! Schließlich hat er die Ausbildung dieses Knappen übernommen – wenn er da nicht einmal für dessen Sicherheit sorgen kann, was ist er dann für ein Ritter! Aber wenn wir das Geld bekommen haben, schicken wir auch noch einen Boten zu Baron Bärenstein, sodass wir zweimal Lösegeld bekommen können!“

„Ein guter Plan“, glaubte Graf Richard. „So machen wir es! Fesselt ihn!“

„Wir sollten die Nacht über hier bleiben!“, schlug der einäugige Siegmund vor.

„Eine bessere Übernachtungsmöglichkeit werden wir in diesen Wäldern wohl kaum noch finden!“

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5

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WENIG SPÄTER TRAT EINER der fremden Ritter gegen die Tür der Mühle.

Er rüttelte grob daran herum und schimpfte, weil sie sich nicht sofort öffnen ließ.

„Eines der Fenster ist offen! Vielleicht ist es leichter auf diesem Weg hineinzukommen!“, rief eine raue Stimme.

Wolfram wich sofort vom Fenster zurück. Die Gedanken rasten nur so in seinem Kopf. Draußen erhob sich Stimmengewirr.

Bislang war Wolfram offenbar nicht entdeckt worden, aber jetzt musste er so schnell wie möglich irgendwo verschwinden. Er blickte sich um. Lautlos schlich er an den Mühlsteinen vorbei auf den Eingang zum Nebenraum zu.

Harte Schläge wurden unterdessen von außen gegen die Tür geführt. Die Raubritter und bezahlten Burgmannen hatten offenbar wenig Lust, in ihren schweren Kettenhemden durch das Fenster zu steigen und zogen es daher vor, die Tür aufzubrechen.

Eine Streitaxt drang mit einem mächtigen Hieb durch das Holz.

Wolfram gelangte in den Nebenraum.

Eine schmale Leiter führte in den Speicher hinauf. Wolfram überlegte nicht lange, sondern kletterte empor.

Oben war es beinahe stockdunkel.

Der Speicher hatte dem Müllermeister Lamphart offenbar als Abstellraum gedient.

Kisten und Kästen waren hier gestapelt. Leere Kornsäcke bedeckten den Boden.

Wolfram tastete sich voran und zog sich in eine Ecke zurück.

Mit einem krachenden Laut wurde derweil die Mühle gewaltsam geöffnet. Laut grölend stürmten die Raubritter und ihre Helfer herein.

Sie sahen sich überall um, stießen die wenigen Möbel zur Seite und zerschlugen vor Wut darüber, dass sie nichts Wertvolles finden konnten, den einzigen Tisch in der Mühle.

Wolfram verbarg sich unter mehreren leeren Mehlsäcken und erwartete voller Angst, dass Graf Richards Männer auch den Speicher entdeckten.

„Es mache doch mal einer Feuer hier!“, brüllte eine Stimme, von der Wolfram annahm, dass sie dem einäugigen Sigmund gehörte. „Es ist so verflucht dunkel!“

„Holt eine Fackel!“

„Sind hier denn keine Kerzen!“

„Hier ist überhaupt nichts! Die Müllerbrut scheint ausgeflogen zu sein und hat alles mitgenommen, was sich irgendwie versetzen ließe!“

„So ein Mist!“

Schon kam einer der Ritter die Treppe zum Speicher empor.

Er trug in der Rechten eine Fackel.

Es war einer der bezahlten Leibwächter des Grafen. Er trug ein Kettenhemd wie ein Ritter, aber der tellerartige Helm war sehr viel einfacher als die mit Federn geschmückten und einem Klappvisier ausgestatteten Helme der Ritter.

Außerdem war sein Übergewandt mit dem Wappen des Grafen versehen, den gekreuzten Hellebarden in einem Kreis – und nicht etwa mit einem eigenen Zeichen, wie es bei einem Adeligen der Fall gewesen wäre.

Sein Haar war außerdem über den Ohren abgeschnitten, wie es für einen Angehörigen der niederen Stände Pflicht war.

Der Leibwächter hielt die Fackel hoch und ließ suchend den Blick schweifen.

Wolfram blinzelte zwischen den Mehlsäcken hindurch. Jetzt konnte er nur hoffen, dass der Leibwächter sich mit seiner Durchsuchung nicht allzu viel Mühe gab.

Der Mann zog sein Schwert und stocherte damit in einem Haufen von Mehlsäcken herum.

Mit dem Fuß stieß er einige Holzkästen um, die aber allesamt leer waren und von denen sich nicht mehr erahnen ließen, was sie vor dem Aufbruch der Müllersleute enthalten hatten.

„Ist da oben was?“, rief einer der anderen Männer hinauf.

„Nur Plunder!“, antwortete der Leibwächter, der sich wohl deutlich mehr von der Plünderung der Mühle versprochen hatte. Seinen Unmut ließ er an einem der Holzkästen aus, den er mit einem Schwerthieb glatt entzwei schlug.

„Dann pass auf, dass du den Plunder nicht aus Versehen anzündest! Wir wollen schließlich für die Nacht ein Dach über dem Kopf haben!“

„Keine Sorge!“, knurrte der Leibwächter.

Er trat auf den Haufen von Mehlsäcken zu, unter dem sich Wolfram verborgen hielt.

Die Spitze seines Schwertes fuhr durch die Säcke hindurch. Wolfram hielt den Atem an.

Die Klinge ging haarscharf an seinem Bein vorbei. Einer der Säcke blieb an der Schwertspitze hängen und wurde durch die Luft gewirbelt.

„Hier ist wirklich nichts als Plunder!“, murmelte der Leibwächter düster vor sich hin und steckte das Schwert wieder zurück.

Dann kehrte er um und stieg die Leiter hinab. Nachdem der Schein seiner Fackel den Speicher nicht mehr erleuchtete, war es wieder stockdunkel.

Wolframs Herz klopfte ihm bis zum Hals.

Er hatte noch einmal Glück gehabt.

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6

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DIE RAUBRITTER TRANKEN von dem Wein, den sie einem fahrenden Händler weggenommen hatten, wie Wolfram erfuhr, als er den Gesprächen der Männer lauschte.

Irgendwann war die gebieterisch klingende Stimme Richards von Schnellenberg zu hören, der verkündete, dass sie fürs erste genug Beute gemacht hätten, sodass es das Sinnvollste sei, zunächst nach Burg Schnellenberg zurückzukehren.

„Außerdem haben wir einen Gefangenen, der für uns einen wahren Goldsegen bedeuten kann! Da sollten wir uns nicht der Gefahr aussetzen, dass uns jemand folgt und diesen Goldesel wieder abnimmt!“, argumentierte Richard.

„Wir sollten in der Nacht die Wachen verstärken“, riet daraufhin der einäugige Siegmund. „Schließlich wissen wir noch immer nicht, wo der Begleiter dieses Knappen geblieben ist!“

„Aber Ihr werdet doch wohl nicht im Ernst annehmen, dass dieser mysteriöse Begleiter sich allein auf die Lauer legen und versuchen würde, seinen Gefährten zu befreien?“

„Warum nicht?“

„Weil das ein Unterfangen wäre, das von vorn herein zur Erfolglosigkeit verdammt wäre!“ Richard von Schnellenberg schien in dieser Frage seine festen Überzeugungen zu haben. Er fuhr nach kurzer Pause fort: „Nein, dieser zweite Mann wird erst Hilfe holen, bevor er sich an unsere Fersen heftet. Und da wir sein Pferd haben, wird es eine Weile dauern, bis es dazu kommt!“

Heiseres Gelächter folgte.

Der Einäugige blieb skeptisch.

„Habt Ihr gesehen, wie hoch die Steigbügel geschnallt waren?“, fragte er.

„Ich habe nur gesehen, dass der Sattel hervorragend verarbeitet ist und sich wohl gut verkaufen lassen wird!“ Richard stutzte und fragte dann: „Worauf wollt Ihr hinaus, Siegmund?“

„Der zweite Reiter muss ein Kind gewesen sein! Vielleicht ein Page – das heißt, dass sich für ihn Lösegeld erzielen ließe!“

Richard von Schnellenberg erhob sich.

Er hatte zuvor mit einigen anderen Rittern im Kreis auf dem Boden gesessen, den man mit Decken ausgelegt hatte, die aus der Beute der Raubritter stammten.

Jetzt trat der Graf von Schnellenberg auf Ansgar zu, den man zusammengeschnürt in eine Ecke gesetzt hatte.

„Wer ist mit dir geritten?“, fragte Richard. „Antworte besser, sonst...“

„Sonst was?“, fragte Ansgar. „Wollt Ihr mir was antun? Habt Ihr wirklich jeden Rest von Ehre verloren, Graf Richard!“

„Schweig, Knappe! Es steht einem, der noch grün hinter den Ohren ist, nicht zu, so mit mir zu reden!“

„Was glaubt Ihr, wird mit Euch geschehen, wenn Ihr mir auch nur ein Haar krümmt?“

Der Raubritter zog seinen Dolch und setzte ihn Ansgar an die Kehle. „Das lass mal meine Sorge sein! Also los! Antworte!“

Ansgar schluckte. „Also gut.“

„Ich höre!“

„Euer einäugiger Spießgeselle hatte Recht! Mein Begleiter war ein Page. Er wird in den Wald entflohen sein.“

„Wie ist sein Name?“, fragte Graf Richard.

„Wolfram von Hauenfels.“

„Der Name seiner Familie sagt mir etwas.“ Graf Richard drehte sich zu seinen Männern herum. „Ein Kind ohne Pferd! Das dürfte für Euch nicht allzu schwer zu finden sein! Ritter Siegmund! Durchkämmt mit der Hälfte unserer Leute den umliegenden Wald. Wenn Ihr ihn bis Mitternacht nicht gefunden habt, kehrt Ihr zurück.“

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7

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DIE MÄNNER FOLGTEN nur murrend dem Befehl des Grafen. Natürlich hatten sie keine Lust, noch einmal hinaus in die Finsternis des Waldes zu müssen, um Ansgars Begleiter zu finden.

Wolfram wartete in seinem Versteck einfach ab.

Er hörte den Gesprächen zu, in denen die Raubritter überlegten, wo sie den Gefangenen unterbringen sollten. Die Möglichkeit war, ihn auf Burg Schnellenberg ins Verlies zu werfen und stets zu bewachen. Aber vielleicht war es geschickter, den wertvollen Gefangenen an einem anderen Ort unterzubringen, wo weder Baron Norbert noch Ansgars Vater den Knappen vermuten würden. So erfuhr Wolfram, dass Graf Richard zusätzlich zu seiner Burg auch noch ein kleines Schloss besaß, das etwas abgelegen war. Dieses Schloss hatte allerdings den Nachteil, dass es schlechter zu verteidigen war und die Verfolger eine größere Chance besaßen, den Gefangenen zu befreien, falls sie herausgefunden hatten, wo er sich befand. Ein dritter Vorschlag war, Ansgar auf die Burg eines Verwandten zu bringen, der Graf Richard noch einen Gefallen schuldig war.

Von dieser Idee war Richard jedoch überhaupt nicht begeistert, denn er fürchtete, dann auch einen erheblichen Teil des Lösegeldes an diesen Verwandten abgeben zu müssen.

Schließlich entscheid Richard, dass er diese Frage erst einmal zurückstellen wollte.

Jeder der Vorschläge hatte seine Vor- und Nachteile. „Bevor ich das entscheide, möchte ich mich zunächst einmal wieder auf heimischen Boden befinden und nicht dauernd befürchten müssen, dass uns ein Heer von Verfolgern angreift!“, meinte er.

Mit der Zeit wurden die Männer des Grafen müde.

Die ersten schnarchten bereits vor Mitternacht vor sich hin. Sie rollten sich in ihre Decken ein.

Im Kamin war Feuer entzündet worden, das eine behagliche Wärme in der Mühle verbreitete.

Der Suchtrupp unter Führung des Einäugigen kehrte unverrichteter Dinge zurück.

Die Männer waren ziemlich schlechter Laune. Keine Spur habe man in dem morastigen Boden erkennen können und am Ende sogar Mühe gehabt, den Rückweg zur Mühle zu finden.

„Morgen brechen wir in aller Frühe auf“, kündigte der Graf an.

Danach hörte Wolfram kein Wort mehr aus Mund Richard von Schnellenbergs.

Er war offenbar eingeschlafen – so wie wohl die meisten Ritter, Leibwächter und Burgmannen.

Wolfram wartete, bis nur noch das Rauschen des nahen Krötenbachs zu hören war

– und ab und zu draußen die Schritte eines Wachpostens. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wurden die Wachen gewechselt.

Wolfram wartete einen Moment ab, in dem es ganz ruhig zu sein schien.

Er schlich bis zur Leiter und blicke durch die Öffnung in der Decke in den Nebenraum. Eine Fackel hing an der Wand und tauchte alles in ein flackerndes Licht.

Einige der Burgmannen und Ritter lagerten auf dem Boden. Der eine oder andere schnarchte vernehmbar.

Jetzt oder nie!, dachte Wolfram.

Schließlich war nicht ausgeschlossen, dass die Raubritter am anderen Morgen die Mühle einfach aus purer Zerstörungslust anzündeten. Und dann wollte der Page keineswegs mehr auf dem Speicher sein!

Vielleicht ergab sich ja jetzt, in dieser Nacht die Gelegenheit zur Flucht – und zwar nicht für ihn selbst, sondern auch für Ansgar!

Wolfram dachte nämlich nicht im Traum daran, seinen Freund im Stich zu lassen.

Sehr vorsichtig stieg er die Treppe Stufe um Stufe hinunter. Jedes Mal, wenn einer der Raubritter sich im Schlaf herumdrehte, erstarrte der Junge förmlich.

Aber er hatte Glück.

Keiner der Männer erwachte und da die Wachen gerade erst gewechselt worden waren, nahm Wolfram an, dass in nächster Zeit auch niemand von draußen hereinkommen würde.

Auf der letzten Stufe knarrte das Holz der Leiter. Ein ächzender Laut, der nur dadurch nicht so schlimm auffiel, dass im Hintergrund immer das Rauschen des Krötenbachs zu hören war.

Wolfram schlug das Herz bis zum Hals.

Er hielt förmlich den Atem an.

Einer der Männer drehte sich ächzend herum und zog sich die Decke enger um die Schultern.

Aber glücklicherweise erwachte er nicht.

Wolfram setzte den ersten Fuß auf den Boden, dann den Zweiten. Völlig geräuschlos schlich er zwischen den schlafenden Raubrittern und Burgmannen bis zum Hauptraum, in dem sich auch die Mühlsteine befanden.

Das Feuer im Kamin spendete ebenso Licht wie eine weitere Fackel, die in einer Halterung an der Wand steckte.

Ansgar saß zusammengesunken und an Händen und Füßen gefesselt in seiner Ecke.

Der Kopf war nach vorn gefallen. Offenbar war er trotz seiner unbequemen Lage ebenfalls in einen leichten Schlummer gefallen.

Wolfram stieg über die schlafenden Raubritter hinweg und erreichte schließlich seinen Freund.

Er zog Ansgars Dolch aus dem Gürtel, fasste ihn leicht bei der Schulter und weckte ihn damit.

Ansgar blickte ihn erstaunt an.

Wolfram hielt den Dolch empor.

„Siehst du, ich habe ihn gut für dich aufgehoben!“, flüsterte er.

„Wolfram! Verschwinde! Du hast keine Zeit, mich los zu schneiden!“, wisperte der Knappe zurück. „Du kannst froh sein, wenn du ein Pferd erwischst und entkommen kannst!“

„Nein, ich reite nicht ohne dich weg!“

„Geh und hol Hilfe!“, forderte Ansgar, während Wolfram längst damit begonnen hatte, die dicken Seile durchzuschneiden, mit denen Ansgar gefesselt war. Die aus Hanf geflochtenen Seile waren feucht. Wolfram brauchte jeweils einige Zeit, um sie zu durchtrennen.

Einer der schlafenden Ritter drehte sich herum, streckte sich und murmelte irgendetwas im Schlaf vor sich hin.

Dann öffnete er die Augen.

Blinzelte...

Er starrte Wolfram an, als hätte er einen Geist vor sich.

„Hey, Junge, was machst du da?“

Der Ritter griff zu seinem am Boden liegenden Schwert.

Wolfram wusste jetzt, dass er nun alles auf eine Karte setzen musste. Es war unmöglich, Ansgar noch von den restlichen Fesseln zu befreien.

Wolfram sprang auf.

Der Ritter hatte sich inzwischen aufgerappelt. Noch schlaftrunken kam er Wolfram entgegen.

Wolfram wich seinem Schwert aus und schnellte zur Tür.

Der Ritter weckte mit seinem Ruf inzwischen die gesamte Truppe des Grafen von Schnellenberg.

Wolfram riss die Tür auf und rannte hinaus ins Freie.

Der Großteil der Pferde war an der Querstange vor der Mühle festgemacht. Den Tieren waren die Sättel abgenommen worden, aber nicht das Zaumzeug.

Wolfram löste eines der Pferde. Es war nicht der große Apfelschimmel, mit dem er hier her geritten war, sondern ein kleineres, stämmigeres Pferd, das offenbar von einem der Männer des Grafen geritten worden war. Er schwang sich auf dessen Rücken und trieb es voran.

Einer der Wächter kam auf ihn zu und musste zur Seite springen, um nicht die Vorderhufe des Tiers abzubekommen.

Hinter sich hörte Wolfram lautes Stimmengewirr.

Es machte klack und der Bolzen einer Armbrust schoss dicht über seinen Kopf hinweg und blieb in einem dicken Baumstamm stecken.

Wolfram presste sich nun so dicht es ging an den Pferderücken. Augen zu und durch!, dachte er, während er dem Pferd die Hacken seiner Stiefel in die Seiten drückte. Seine Knie klemmte er mit aller Gewalt gegen den Rücken des Gauls. Mit der linken krallte er sich an der dichten Mähne fest, während er mit der rechten die Zügel hielt. Ohne Sattel war es gar nicht so einfach, sich im Galopp auf dem Rücken des Tieres zu halten. Aber nun zahlte es sich aus, dass er seit frühester Jugend daran gewöhnt worden war, auf einem Pferd zu sitzen, dessen Beherrschung für zukünftige Ritter ohnehin in Fleisch und Blut übergehen musste.

Wenige Augenblicke später hatte Wolfram den dichten Wald erreicht. Er drehte sich um, sah Fackeln, hörte das aufgeregte Gewirr von Stimmen und wusste gleichzeitig, dass er jetzt eine gute Chance hatte, zu entkommen.

Er trieb das Pferd voran.

„Na los – auch wenn du sonst einem dieser Schnellenberger Raubitter dienen magst! Jetzt bin ich dein Herr!“, murmelte er vor sich hin.

Das Tier war gut dressiert, so wie man es vom Ross eines Ritters auch erwarten musste. Schließlich brauchte dieser in der Schlacht die Hände, um Schild und Schwert zu halten und musste sich daher absolut auf sein Tier verlassen können. Im günstigsten Fall reagierte es sogar auf den leichten Druck der Schenkel.

Wolfram ritt einfach in das Unterholz hinein. Nebelschwaden hüllten ihn schon bald ein und immer wieder peitschten ihm Äste ins Gesicht.

Das Schlimmste, was ihm jetzt passieren konnte war, dass er die Orientierung verlor und am Ende seinen Häschern direkt in die Arme lief.

Der Mond war jetzt oft nur als ein verschwommenes, schwaches Licht sichtbar, das mal mehr und mal weniger deutlich durch den Nebel hindurchschimmerte. Aber dieses Licht erlaubte Wolfram zumindest eine grobe Orientierung.

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WOLFRAM VERLOR DAS Gefühl für Zeit.

Die Angst sorgte einfach dafür, dass er immer tiefer in den Wald hineinritt.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738918625
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
wolfram raubritter

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Wolfram und die Raubritter