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Die telepathische Brille

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 50 Seiten

Zusammenfassung

Alfred Bekker
Die telepathische Brille

Der erfolglose Journalist und Möchtegern-Schriftsteller Schroeder A. Schroeder gelangt auf einem Flohmarkt in den Besitz einer Brille mit ganz besonderen Eigenschaften.

Von da an gerät er in einen Strudel aberwitziger Ereignisse.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Die telepathische Brille

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von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 29 Taschenbuchseiten.

Der erfolglose Journalist und Möchtegern-Schriftsteller Schroeder A. Schroeder gelangt auf einem Flohmarkt in den Besitz einer Brille mit ganz besonderen Eigenschaften.

Von da an gerät er in einen Strudel aberwitziger Ereignisse.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Sein Name war Schroeder. Einfach Schroeder mit oe. Das war nicht ganz so gewöhnlich wie Meyer mit ey oder Meier mit ei oder gar Müller mit ü - aber es kam immer noch häufig genug vor.

Schroeder, ein Name, den man sich nicht mehr merken musste, seit der Kanzler so hieß - wenngleich der nur einer der gewöhnlichen Schröders mit ö war.

Schroeder hatte auch einen Vornamen. Arnold. Es war der Name seines Großvaters. Eine andere Begründung konnte es auch kaum geben, sein Kind mit einem solchen Namen zu strafen. Arnold. Das klang wie von vorgestern, so hatte Schroeder immer gefunden. Aber glücklicherweise hatte er nicht allzu sehr unter seinem Vornamen zu leiden gehabt, weil ihn seine Altersgenossen kaum benutzt hatten. Sie hatte ihn einfach Schroeder genannt - nach Schroeder von den Peanuts, der ja mit Vornamen so hieß. Allerdings konnte der Schroeder von den Peanuts immerhin Klavierspielen, während Arnold Schroeder keinerlei besondere Fähigkeiten zu haben schien. Schroeder als Vorname, das war schon was. Schroeder als Nachname, das war nichts Besonderes. Davon gab es in der kleinen Stadt, in der er wohnte allein schon zwanzig im Telefonbuch. Und das waren nur die Schroeders mit oe, die mit ö musste man eigentlich noch dazurechnen.

Schroeder war einfach Schroeder gewesen. Immer schon. Die wirklich Großen hatten nur einen einzigen Namen - aber leider war man noch nicht unbedingt wirklich groß, wenn man nur einen einzigen Namen hatte. Inzwischen war auch der Name Arnold etwas moderner geworden, zumindest seit Arnold Schwarzenegger in Hollywood Furore gemacht hatte. Jetzt zogen manche seiner Bekannten ihn damit auf, dass sie ihn Arnie nannten und dabei kicherten.

Arnie.

Mein Gott, Arnie.

Schroeder kannte Arnold Schwarzeneggers Namen noch aus den Zeiten, als er auf den Rückseiten von Perry Rhodan- und Kommissar X-Heften Reklame für Kraftfutter gemacht und seine damals schon beachtlichen Muskeln gespannt hatte.

Vielleicht hätte ich mal was von dem Zeug probieren sollen, hatte Schroeder inzwischen tausendmal gedacht, denn er war von seiner äußeren Erscheinung her das genaue Gegenteil eines bodygebildeten Kleiderschranks wie Arnold Schwarzenegger. Schroeder war kaum 1,70 m groß und ziemlich schmächtig. Schroeder war Anfang dreißig und hatte es noch zu nichts gebracht, und so wie es aussah würde er es auch in Zukunft zu kaum etwas Bedeutendem bringen. Der Zug war wohl einfach abgefahren.

Er hatte mal geglaubt, dass aus ihm ein passabler Schriftsteller werden könnte. Das Problem dabei:

Für einen Roman war er bis heute einfach zu faul gewesen.

Und für Kurzgeschichten fehlten ihm die Ideen.

Auf dem Weg zum Literaten waren das natürlich zwei wesentliche Handicaps.

Also hatte er gedacht, dann könnte er wenigstens ein passabler Journalist werden.

Journalisten brauchten keine Ideen, die schrieben ja schließlich nur das auf, was irgendwo in der großen weiten Wirklichkeit passierte. Eine Traumkarriere hatte er sich ausgemalt. Skandale aufdecken und sonntags im Presseclub klug herumschwadronieren. Das war doch ein feines Leben. Er hatte mal in einer Gehaltstabelle nachgeschaut, was Redakteure so im Schnitt verdienten und da hatte sein Entschluss festgestanden.

Ja, das war etwas.

Aber mit dem Traum war es irgendwie nichts geworden. Vielleicht hätte Schroeder doch erst mal studieren oder zumindest ein etwas besseres Abi machen sollen. Und vielleicht hätte er auch besser daran getan, sich um ein Volontariat zu bewerben, was er nicht getan hatte, weil er dann seine Unterlagen hätte zusammensuchen müssen, was für einen so chaotischen Menschen wie ihn ein nicht zu unterschätzendes Problem gewesen wäre. Vielleicht lag es auch an den gehirnzersetzenden Folgen jugendlichen Alkoholkonsums. Entschuldigungen ließen sich viele finden. Jedenfalls hielt Schroeder sich bislang mit dem Abfassen von Artikeln für die hiesige Lokalredaktion über Wasser. Als freier Mitarbeiter, was bedeutete, dass er sich ziemlich abstrampeln musste.

Seine Artikel zeichnete er mit dem Kürzel schroe.

In seinen Tagträumen sah er sich Leitartikel zu den aktuellen Fragen von Politik und Zeitgeschichte schreiben, tiefsinnige Essays - und ein Buch, das einen Skandal erster Güte aufdeckte und die Republik erschütterte.

Aber er würde dann nicht mit Arnold Schroeder zeichnen.

Das war zu gewöhnlich, zu vulgär, zu wenig wichtig.

Schroeder dachte an die Peanuts.

Warum nicht Schroeder auch als Vorname?

Schroeder A. Schroeder, das klang nach etwas. Wenn er ehrlich war, dann waren die Peanuts nicht die Einzigen gewesen, die ihn auf die Idee gebracht hatten, den Nachnamen als Vornamen zu nehmen. Die Idee zu Schroeder A. Schroeder war ihm gekommen, als er auf den Schriftsteller Jerome K. Jerome gestoßen war.

Aber wer kannte den schon?

Es las ja ohnehin niemand mehr, wenn man dem Fernsehen glauben konnte.

Schroeder A. Schroeder.

Schroeder fand die Vorstellung berauschend. Nur zu schade, dass sie nicht Realität war und auch keine sehr große Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie je Realität werden würde.

Die Realität, die hieß einstweilen noch schroe - kleingeschrieben und in Klammern, dahinter ein Schrägstrich mit dem Vermerk: eig.ber.

(schroe/eig.ber.)

Selbst Clowns hatten schönere Pseudonyme. Und dabei konnte er noch froh sein, dass Maria Schnellmeyer, die Chefin der Lokalredaktion nicht einfach ihr eigenes Kürzel über seinen Bericht machte. Auch das wäre nicht branchenunüblich gewesen.

Schroeder A. Schroeder würde über politische Skandale schreiben und die Schweinereien der ganz Großen aufdecken.

(schroe/eig.ber.) kümmerte sich derweil um den heimatlichen Flohmarkt oder das Turnier der Judomädchen oder die jährliche Sitzung des Kaninchenzüchtervereins.

Kurz gesagt, er machte alles, wozu seine Chefin keine Lust oder keine Zeit hatte, was sich meistens irgendwie zu decken schien.

Und heute war eben der der Flohmarkt dran. Zweimal im Jahr fand er statt und er war natürlich einen Artikel wert. Mindestens hundert Zeilen, denn im Moment passierte sonst nichts in der Gegend.

Vielleicht passierte noch ein Unfall oder etwas in der Art, dann würde seine Chefin seinen Artikel zusammenstreichen.

Schroeder ging etwas missmutig zwischen den Ständen umher und ließ sich die pralle Sonne auf die beginnende Glatze scheinen.

"Machen Sie was Feuilletonistisches draus", so hatte er seine Chefin noch im Ohr. "Etwas Flottes, Abwechslungsreiches."

Blablabla, dachte Schroeder ärgerlich. Es war Samstag und wäre da nicht die bedrohliche Ebbe auf seinem Konto gewesen, so hätte es für Schroeder überhaupt keinen hinreichenden Grund gegeben, sich zu bewegen.

Aber er war von der Chefin abhängig.

Sie hatte das nie gesagt, aber wenn er zu viele Zicken machte, dann würde sie einfach einem anderen 'Neger' den Auftrag für den Flohmarkt geben. Neger, so nannte sie Leute wie Schroeder ganz offen, den hehren Leitartikeln ihrer Zeitung zum Trotz, die jeglichen Rassismus geißelten, wo immer er sich vermeintlich - oder tatsächlich - zeigte.

Wahrscheinlich hatte Maria Schnellmeyer diese Artikel auch nie gelesen. Schließlich war sie arbeitsmäßig chronisch überlastet und hatte sicher nicht den Drang danach, sich Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Und genau das wäre es es wohl gewesen, wenn sie beim Frühstück noch in einer Zeitung geblättert hätte - noch dazu in derjenigen, an der sie selbst mitschrieb.

Neger!, klang es in Schroeders Hirn nach und ihm drohte die Galle überzugehen. Zu allem Überfluss war er ziemlich bleich und wurde nicht einmal dann richtig braun, wenn er sich wochenlang in der Sonne oder unter der Höhensonne geaalt hätte.

Wenn ich ein Neger bin, was bist du denn dann? Sklavenantreiberin? Frankensteins Braut? Alles viel zu nett, du alte Hexe!

"Ich meine das natürlich nicht rassistisch, das mit dem Neger", hatte sie dann noch hinzugesetzt, als sie Schroeders ziemlich perplexes Gesicht gesehen hatte.

"Nein?"

"Nein. Ich meine es halt nur so, wie es ist."

"Ach so."

"Genau."

"Und so, wie's is, isses eben, nicht wahr?" In diesem Moment hatten sie beide ein dummes Gesicht gemacht, nur dass Schroeder sein eigenes halt nicht sehen konnte. War auch besser so. Sein Selbstbewusstsein war schon angeknackst genug gewesen. Und jemand wie seine Chefin würde den Teufel tun und es ein bisschen aufpolieren. Nichtmal für einen Hunderter. Da war sie unbestechlich in ihrer Grantigkeit.

"Ich bin auch lange Neger gewesen", so hatte Schroeder ihre Worte noch im Ohr. "Fast zehn Jahre lang. Bis mein Vorgänger in den Ruhestand gegangen ist. Ich musste auch alles machen, wozu mein Chef keine Lust hatte und der hatte zu fast nix Lust. Hat es mir geschadet?"

Willst du darauf wirklich eine Antwort, Sklaventreiberin?, grollte es stumm in Schroeder, während die Schnellmeyer fortfuhr: "Sie können nur lernen dabei, Herr Schroeder. Wirklich. Sie können nur lernen dabei."

Schroeder hatte ein ziemlich dummes Gesicht gemacht und erwidert: "Ja, aber Sie waren ja auch ein fest angestellter Neger, Frau Schnellmeyer."

Sie hatte die Schultern gezuckt und Schroeder ein mitleidiges Lächeln geschenkt.

"Tut mir leid für Sie, dass unser Verlag seine Neger nicht mehr fest anstellt. Sparmaßnahmen, Sie verstehen. Überall sind die Mittel knapp. Ich habe auch darunter zu leiden. Früher waren wir drei hier in der Lokalredaktion, mein Chef, ich und der Willy Müller vom lokalen Sport. Jetzt sind wir halt nur noch zwei Festangestellte und ich muss sehen, wie ich rumkomme."

"Ja, ja ..."

"Nun jammern Sie mal nicht, andere sitzen ganz auf der Straße. Und steuerlich sind Sie doch als Selbständiger auch viel besser dran."

"Sie meinen, wenn man nichts verdient, dann braucht man auch keine Steuern zu zahlen. Das ist allerdings wahr", hatte Schroeder zugeben müssen.

"Hören Sie auf zu meckern. Ich schustere Ihnen jede Menge Aufträge zu, also beklagen Sie sich nicht, sondern liefern Sie mir bitte Artikel mit weniger Rechtschreibfehlern."

Schroeder fühlte etwas Hartes unter seiner Schuhsohle und merkte dann, dass es ein fremder Fuß gewesen war. Das holte ihn aus seinen Überlegungen in die Wirklichkeit zurück.

Auch das noch!

"Entschuldigung", zischte er zwischen den Lippen hindurch und blickte in das grobschlächtige Gesicht eines rauchenden Riesen, der kurz das Gesicht verzog und zu ihm hinabblickte. Wie gut, dass er seine im Vergleich zu ihm winzige Freundin im Arm hält, überlegte Schroeder unwillkürlich. So hatte der Kerl wenigstens nicht die Hände frei, um ihn am Kragen zu packen.

Der Riese grunzte noch etwas vor sich hin, dann wurden er und Schroeder in dem dichten Menschenmeer soweit auseinandergetrieben, dass für eine direkte Konfrontation keinerlei Gefahr mehr bestand.

Du hast geträumt,Junge, sagte Schroeder zu sich selbst. Und dabei sollte er doch seine Sinne jetzt beisammen haben.

'Am vergangen Samstag fand wieder einmal der halbjährliche Flohmarkt statt', so dichtete Schroeder im Geiste - aber besonders Feuilletonistisch klang das nicht. Es musste ja nicht der geschwollene Stil der Aspekte-Redaktion sein, aber ...

Ach, soll die alte Hexe froh sein, wenn sie die hundert Zeilen gefüllt bekommt. Und wenn es nicht ganz hinkam, dann konnte sie das Foto etwas vergrößern. Dann würde die Seite auch voll werden.

Das Foto ...

Schroeder spürte den Fotoapparat um seinen Hals baumeln. In diesem Moment fühlte er sich an wie ein Mühlstein. Ein Foto ... Er brauchte noch ein Motiv. Irgendetwas. Aber sein Kopf war wie leer. Seine Gehirnzellen schienen ihm an diesem heißen Nachmittag den Dienst zu verweigern.

Er fragte sich, was seine Chefin jetzt wohl machte?

Wahrscheinlich saß sie in einem angenehm kühlen Wohnzimmer und sah sich das Kinderprogramm im Fernsehen an, während sie mit der einen Hand ein Leckeis, mit der anderen einen Cool Drink hielt.

Eine üble, demoralisierende Vorstellung.

Schroeder schüttelte sich innerlich.

Und dann dachte er, mit dem Fotoapparat in der Hand: Bring's jetzt endlich hinter dich und knip's irgendwas. Er ließ den Blick schweifen und fand einen Stand, der ein hinreichend pittoreskes Bild abgab, um die Überschrift Flohmarkt zu illustrieren.

Hinter dem Tapeziertisch, auf dem eine Unmenge von Krimskrams herumlag, der auf einen Käufer wartete, stand außerdem ein Bekannter.

Jürgen Pahl, der mit Schroeder zusammen zur Schule gegangen war. Jürgens Abi war etwas besser gewesen als Schroeders. Außerdem war er frühzeitig in die richtige Partei eingetreten und hatte außerdem einen Vater, einen Onkel und einen Bruder vorzuweisen, die auch schon in der richtigen Partei waren. So hatte er dann den Job auf dem Sozialamt bekommen. Schroeder wusste von Klassenkameraden, die weit bessere Noten gehabt hatten als Jürgen und sich ebenfalls für die Stelle beworben hatten - erfolglos. Einfach nicht genügend Vitamin B.

"Hallo, Jürgen."

"Hallo, Schroeder. Wie geht's? Na, denkst du dir gerade wieder ein paar Lügen für die Zeitung aus?"

"Haha."

"War nicht so gemeint."

"Ich weiß. Willst du in die Zeitung, Jürgen? Ein schönes Bild von dir in der Montagsausgabe, wie wäre das?"

Jürgen zuckte die Achseln.

"Wenn sich's nicht vermeiden lässt", meinte er und strich sich sicherheitshalber aber doch einmal mit der Hand über das strähnige, ziemlich fettige und ziemlich dünn gewordene Haar.

Ungestylt aufs Foto, das wollte heute niemand mehr. Weder Udo Lindenberg noch Oma Berta im Altersheim zu ihren hundertsten Geburtstag.

Ehe Jürgen noch irgendetwas sagen konnte, hatte ich meine Kamera ein Stück gehoben und ein paar mal abgedrückt. Klick, klick, klick. Jürgen verzog das Gesicht und Schroeder konnte von Glück sagen, wenn die ersten beiden Aufnahmen was geworden waren. Wer wollte schon die gnadenlos lächelnde Grimasse eines städtischen Verwaltungsangestellten in der Zeitung sehen?

Aus dem Leben gegriffen sollte es sein.

"Nun ist es aber gut", meinte Jürgen.

"Sag mal, was verkaufst du hier eigentlich?", fragte Schroeder, während er sich auf dem Tapeziertisch umsah. Auch dahinter gab es einiges zu sehen. Da stand eine ganze Wohnzimmergarnitur. Protzige Polstermöbel und ein dicker Eichenschrank. "Ist das dein Hausrat? Mal was Neues, was? Na ja, Geld genug hast du ja wohl. Und so kommen die Steuermittel, die auf dein Konto gelangen wieder zurück in den Wirtschaftskreislauf."

Jürgen schüttelte den Kopf und beugte sich etwas vor.

"Nein, das Zeug gehört nicht mir."

"Wem dann? Dass du es jetzt schon nötig hast, am Wochenende auf Flohmärkte zu gehen und Sachen zu verhökern, wundert mich schon ein bisschen. Schließlich verkaufst du doch auch noch während deiner Arbeitszeit Autoversicherungen ..."

"Du kennst doch den Peter, oder?"

"Peter Brix, der Leiter vom Sozialamt?"

"Ja. Oder besser: nein."

"Ja, was denn nun: Ja oder nein?"

Schroeders Journalistenseele war erwacht. Sein Spürsinn für Neuigkeiten, sein Sinn für den Skandal. SCHROEDER A.SCHROEDER, dachte Schroeder und sah es vor seinem geistigen Augen auf dem Umschlag eines Spiegel-Buches. SCHROEDER A.SCHROEDER. Man sollte es wirklich in Großbuchstaben schreiben, das wirkt irgendwie besser ...

"Peter Brix ist nicht mehr Leiter des Finanzamtes", drang in diesem Moment Jürgens Stimme an sein Bewusstsein.

"Was?"

"Ja, du hast richtig gehört."

Schroeder war verwirrt. Rächte es sich jetzt vielleicht, dass er statt der Zeitung, für die er schrieb, nur den Sportteil der Bild-Zeitung las?

"Brix hat doch eine ganz steile Karriere gemacht!", stellte Schroeder fest.

"Ja", nickte Jürgen. "Und dann kam der genauso steile Abstieg. Von einem Tag auf den anderen."

"Was ist passiert?"

"Hast du wirklich noch nichts davon gehört?"

"Nee."

Jürgen seufzte.

"Brix ist verrückt geworden. Völlig plemplem. Und jetzt ist er bei den Türmchen untergebracht, in der Klapsmühle.

Bei den Türmchen - das hieß eigentlich Westfälische Landesklinik für Psychiatrie.

Schroeder pfiff zwischen den Zähnen hindurch oder besser: Er bemühte sich, zwischen den Zähnen hindurchzupfeifen, denn es klappte nicht richtig.

Und Jürgens Blick schien zu sagen: Na, kannst du das noch immer nicht richtig?

Aber er enthielt sich eines Kommentars und grinste stattdessen nur ganz kurz. Dann deutete er auf den Krempel, den er zu verkaufen versuchte.

"Das ist Brix' Hausrat", erklärte er.

"Kommt er denn nicht wieder?"

"Nein. Die Diagnose ist so niederschmetternd ... Die nächsten Jahre wird Peter Brix in der Klinik verbringen. Schwere Schizophrenie oder so was. Kaum Heilungschancen."

"So plötzlich?"

Schroeder war wirklich erstaunt. Er hatte Brix oft um die Mittagszeit im Stehcafé gesehen. Peter war nie besonderes groß gewesen und er hatte früh damit begonnen, seine Haare zu verlieren.

"Wir waren auch alle ganz überrascht", meinte Jürgen Pahl schulterzuckend. "Aber so ist das eben. Heute noch ein Ass, morgen schon ein Fall fürs Irrenhaus. Wahrscheinlich ist ihm einfach alles über den Kopf gewachsen."

"Ja, wahrscheinlich ..."

"Aber er war wirklich ein Ass. Wem der alles auf die Schliche gekommen ist. Das war manchmal schon richtig unheimlich. Einen Steuersünder nach dem anderen hat er sich zur Brust genommen. Weißt du, er setzte dann seine Brille auf, blickte einen Moment lang ganz in sich gekehrt, und dann sprang er plötzlich auf, als hätte er eine Hummel auf seinem Sessel. Und die Ideen die er dann hatte, waren immer todsichere Tipps. Ich weiß nicht, woher er plötzlich wusste, wie die Leute ihre Steuern hinterzogen, aber er wusste es einfach. Manchmal habe ich schon fast geglaubt, er wäre ein Hellseher oder so ..."

Schroeder zuckte die Achseln.

"Wahrscheinlich hatte er spezielle Informanten."

"Ja, wahrscheinlich."

"Ein Denunziant war Peter nämlich in der Schule schon."

"Ach ..."

"Soo'n Arschloch halt ..."

Jürgen zuckte die Achseln. "Ein bisschen komisch war er immer schon, wenn du mich fragst. Aber das fällt einem immer erst im Nachhinein auf."

"So isses."

Und wie's is, so isses eben, fügte Schroeder in Gedanken noch hinzu.

Schroeder ließ den Blick über Peter Brix' Krempel gleiten, während er Jürgen Pahl nur noch mit einem Ohr zuhörte. "Tja, und dann hat er nur noch wie ein Wilder herumgeschrien. Man musste ihn Zwangseinweisen und da er auf Jahre hinaus in der Anstalt bleiben wird, musste jetzt sein Haushalt aufgelöst werden. Richtige Freunde hatte Brix ja nie, und da hab ich das halt übernommen ..."

Schroeders Blick blieb bei er etwas extravaganten Brille hängen. Es war eine Hornbrille mit dickem Gestell, aber dünnen Gläsern. Fensterglas, dachte Schroeder. Wahrscheinlich eine Renommierbrille.

Am rechten Bügel hatte sie einen kleinen Diamanten.

Einen falschen natürlich.

Liberace für Arme, dachte Schroeder und nahm die Brille in die Hand. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein Amtsleiter mit so etwas herumlief, wo es doch Besseres und Schöneres oder doch zumindest Moderneres bei einer bestimmten Optikerkette bereits gab, ohne dass Papi etwas dazuzahlte.

Und Peter Brix wäre mit Sicherheit in der Lage gewesen, einiges dazuzuzahlen. Schroeder kannte Verkäuferinnen, die sich für jede Kleidergarnitur auch eine passende Brille leisteten - und Peter Brix soll so ein unappetitliches Stück Plastik als Sehhilfe benutzt haben?

Schroeder setzte sie, einem plötzlichen Impuls folgend, auf und war überrascht.

Er hatte gedacht, durch Fensterglas zu sehen oder doch zumindest durch Linsen, die Fensterglas sehr nahe kamen.

Aber stattdessen sah er seltsame Bilder vor seinen Augen flimmern ...

Schroeder riss sich die Brille augenblicklich wieder vom Gesicht und hörte, wie Jürgen über ihn lachte. Er lachte ziemlich schallend und plötzlich wusste Schroeder, dass sein Gegenüber nur darauf gewartet hatte, dass er die Brille auf die Nase setzte.

"Na, so ein Spielzeug hast du noch nicht gesehen, was?" meinte Jürgen.

"Nee", musste Schroeder zugeben.

"Muss wohl so eine Art Gameboy für Erwachsene sein", fuhr Jürgen fort. "Ich habe auch mal kurz durchgeguckt, es aber gleich wieder abgenommen. Wird einem ja schwindelig dabei."

"Was sind das für - Bilder, die man da sieht?"

Jürgen zuckte die Achseln.

"Keine Ahnung. Ich habe verzweifelt den Aus-Knopf gesucht, aber es scheint keiner dran zu sein. Na ja, irgendwann werden sicher die Batterien alle sein. Willst du das Ding haben?"

"Was soll ich denn damit?"

"Na, ein Journalist ohne Brille ist doch wie ein Fisch ohne Fahrrad!"

"Da hast du auch wieder recht."

Schroeder hörte seine eigenen Worte fast wie die eines Fremden. Er war verwirrt, auch wenn er nicht so recht einzuordnen imstande war, weshalb eigentlich. Er wischte sich über die Augen.

"Ist nicht gut für die Augen, dieses elektronische Spielzeug", meinte Jürgen. "Ich sag das meinen Kindern auch immer, hört jedoch niemand drauf. Aber es kann einfach nicht gut sein. Diese Strahlen aus den Apparaten ..."

Schroeder achtete nicht auf den Wortschwall, der jetzt über Jürgens Lippen kam. Stattdessen setzte er die Brille noch einmal auf.

Er wendete den Kopf in Jürgens Richtung.

Aber er sah ihn nur im Hintergrunds. Davor tanzten Bilder in schneller Folge. Ein Film, dachte Schroeder. Oder besser: Ein Clip. Es ging rasend schnell, viel schneller als alles, was er kannte, und so musste Schroeder sich erst an diese Geschwindigkeit gewöhnen.

Zunächst war da nur ein einziges Chaos, ein Bildersalat.

Aber ein paar Augenblicke später sah er klarer.

Die Bilder zeigten Jürgen. Er saß an seinem Schreibtisch, aber anstatt über den Steuerunterlagen der geschätzten Untertanen zu sitzen, hatte er etwas ganz anderes auf seinem Schreibtisch. Es waren die Steuerformulare eines Bekannten, für den er offenbar illegalerweise die Steuerklärung abfasste. Und das während der Dienstzeit ...

Schroeder konnte sogar den Namen des Bekannten lesen.

Er nahm die Brille ab.

"Ich nehm das Ding", sagte er. "Was willst du dafür haben?"

"Halt, halt, so schnell geht's nun auch nicht!" Jürgen hob abwehrend die Hände.

"Du willst doch nicht auch noch handeln wegen dem Ding! Wo es doch so gefährlich ist - wegen den Strahlen und so. Da solltest du eigentlich froh sein, wenn es dir jemand abnimmt."

"Willst du mich jetzt auf den Arm nehmen, Schroeder?"

"Also – wie viel?"

"Du kriegst es umsonst - wenn du die Möbel nimmst."

"Was?"

Schroeder glaubte, sich verhört zu haben. Was sollte er mit dem ganzen Plunder? Seine Wohnung war voll genug, da passte nichts mehr rein. Schroeder atmete tief durch. Es war reine Erpressung, was Jürgen da veranstaltete. Reine Erpressung. Er wollte sich wenig Arbeit machen und den ganzen Haufen möglichst auf einmal losschlagen.

Er grinste.

"Ich mache dir auch einen guten Preis, Schroeder. Du wirst nicht meckern können."

"Ich meckere ja auch gar nicht."

"Also abgemacht, ja?"

"Nein."

"Was?"

"Ich will nur die Brille", sagte Schroeder sachlich."Sonst nichts, kapiert?"

Jürgen grinste.

"Mann, du scheinst ja mächtig hinter dem Spielzeug her zu sein", staunte er. Das Grinsen, das plötzlich um seine Mundwinkel herumspielte, verhieß Schroeder nichts Gutes.

Schroeder grinste zurück, wenn auch etwas säuerlich.

"Du unterschätzt die Macht der Medien", sagte er.

"Ach, ja?"

"Ja."

"Was willst du machen?"

"Ich könnte in meinem Artikel am Montag schreiben, dass es auch Wucherer auf dem Flohmarkt gab, die das Gedinge kaputtmachen und für wertlosen Plunder mit fragwürdigen Verkaufsmethoden ..."

"Ach, komm, hör auf", lachte Jürgen. "Du spinnst doch, Schroeder. Außerdem: deine Frau Schnellmeyer würde dir doch die entsprechenden Passagen sofort aus dem Artikel streichen - schon deshalb, weil sie meine Patentante ist."

Das hatte Schroeder nicht bedacht.

Ein wirklich hartes Argument, das sich nicht so leicht entkräften ließ. Es zählte wahrscheinlich noch sehr viel mehr als das Interesse der Leser oder gar das der Anzeigenkunden - und das waren normalerweise heilige Kühe.

"Also", unternahm Jürgen einen erneuten Versuch, Schroeder seine Vorstellung von dem Handel nahezubringen.

Jürgen Pahl schien heute in Handelslaune zu sein, aber noch ehe er etwas sagen konnte, setzte Schroeder ihm eine glatte Breitseite vor den Bug.

"Machst du das eigentlich umsonst - ich meine, dass du für die Firma Kesselring die Steuererklärung machst ..."

Jürgen wurde blass.

"Woher ..."

"Ist doch toll für dich, dass du so etwas während der Dienstzeit machen kannst."

"Ich ..." Jürgens Stimme war auf einmal sehr heiser geworden und die Worte blieben ihm buchstäblich im Halse stecken.

"Kriege ich die Brille?", fragte Schroeder frech.

"Sicher."

Schroeder langte in die Tasche seiner Jeans. Da war noch ein Fünfmarkstück. Er holte es raus und zeigte es Jürgen. "In Ordnung?"

"Meinetwegen, ja."

"Gut."

Schroeder hielt die Brille mit völlig verkrampften Fingern fest. Ein seltsames Gefühl der Erregung durchflutete ihn. Der Flohmarkt und seine Chefin und was er am Abend in das Redaktionsterminal hacken und als Artikel abliefern würde - das alles interessierte ihn im Moment nicht mehr.

Eine seltsame Brille, offenbar mit einer erstaunlichen Eigenschaft.

"Tschüss, Jürgen", sagte er.

"Heh, Schroeder, nicht so schnell ..." Er kam hinter dem Tapeziertisch hervor und fasste Schroeder bei der Schulter. Schroeder fühlte sich irgendwie bedrängt, schon auf Grund von Jürgens körperlicher Größe.

"Was ist noch?"

"Woher wusstest du das mit Kesselring?"

"Stimmt es denn tatsächlich?" Schroeder zuckte die Achseln und lächelte dünn. Dann meinte er: "Ich habe schlicht geraten."

Und damit ließ er den ziemlich verdatterten Jürgen einfach stehen.

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Schroeder wartete damit, die Brille das nächste Mal aufzusetzen, bis er endgültig außer Jürgens Reichweite war. Er drängte sich zwischen den Müttern vorbei, die mit ihren leeren Kinderwagen um das Karussell herumstanden. Er trampelte zwischen den kleinen Ständen der Kinder herum, die auf Decken einen Teil ihres ausgedienten Spielzeugs feilboten.

"Passen sie doch auf!", wurde er von einer dicken Frau angeranzt, die gerade eine Currywurst verschlang.

"Entschuldigung", murmelte Schroeder.

Die Dicke stopfte sich indessen den nächsten Bissen in den Mund. Schroeder hielt die Brille noch immer krampfhaft in der Hand. Ganz langsam hob er sie ein wenig, dann klappte er die Bügel auseinander und setzte sie ganz vorsichtig auf die Nase.

Es war Zufall, dass er gerade zur Würstchenbude schaute.

Er sah auch den lustlos wirkenden Würstchenverkäufer, aber davor tanzten die Bilder vor Schroeders Augen. Und plötzlich wusste Schroeder, dass der Würstchenverkäufer gerade auf der Toilette gewesen war. Nicht auf einem frisch gewienerten Nobel-Klo, nein, in den öffentlichen Toilette der Stadt, die aussah, als würde sie einmal in zehn Jahren gereinigt. Er hatte sich nicht die Hände gewaschen, weil der Wasserhahn kaputt war und es keine Steuermittel gab, um ihn zu reparieren. Mit seinen Klohänden fasste er nun die Brötchen an, aus denen er Hotdogs machte.

Diese Brötchen hatten schon schimmelige Stellen gehabt, die der Würstchenverkäufer mit dem Messer abgekratzt hatte.

Schroeder sah es vor seinem geistigen Auge. Er schluckte.

Und er sah noch mehr.

Er sah, wie Hühnerfedern zermahlen und der breiigen Masse zugemengt wurden, aus der die Würste gemacht worden waren ...

Das war der Moment, in dem Schroeder, die Brille abnahm, die offenbar die Eigenschaft hatte, zu zeigen, was hinter den Kulissen geschah. Eine Art Röntgenbrille, die die wohlfeile Fassade zu durchdringen imstande war und die Wahrheit sichtbar machte, die dahinter verborgen war.

Schroeder fühlte bei dem Gedanken sein Herz bis zum Hals schlagen. Faszinierend, dachte er. eine Wahrheitsbrille ...

Faszinierend und absurd zugleich.

Sein Atem ging, dann hob er erneut die Brillengläser vor seine Augen.

Er sah dem Strom der Bilder zu. Viele waren verwirrend und Schroeder konnte nichts mit ihnen anfangen. Aber die meisten sprachen für sich, und je länger er durch die Gläser schaute, desto besser schienen sich seine Augen an die Geschwindigkeit zu gewöhnen, mit dem dieser Bilderstrom auf ihn eindrang. Eine Invasion für Schroeders träges Bewusstsein. Aber diese Invasion schien ihn auf irgendeine Weise sehr zu beleben.

Er sah, dass der dicke Mann, der gerade zum Würstchenstand ging und einen Hamburger bestellte, seine Frau, seine Freundin, seine andere Freundin, das Finanzamt und seine Firma betrog. Schroeders Röntgenblick schweifte über die spielzeugverkaufenden Kinder auf ihren Wolldecken und einen Sekundenbruchteil später war ihm klar, dass keines von ihnen seine Schularbeiten gemacht hatte und einige von ihnen auch gar nicht die Absicht hatten, sie noch zu machen.

Es kann nicht nur an den Bildern liegen, wurde es Schroeder langsam klar. Es musste mehr sein ... Aber was? Telepathie vielleicht? Aber das war ausgemachter Unfug. So etwas gab es nicht, davon war Schroeder überzeugt. Schon von Hause aus. Jemand, der an Telepathie oder Ufos oder das Bermuda-Dreieck glaubte, konnte niemals im seriösen Journalismus Fuß fassen, sondern allenfalls ein Erich von Däniken für Arme werden und sich dann Johannes von Buttlar nennen.

Aber das war nichts für Schroeder A. Schroeder alias (schroe/eig.ber.).

Fakten, Fakten, Fakten, so hatte das mal jemand wunderschön gesagt.

Aber die Brille war ein Faktum.

Wie auch immer sie funktionieren mochte, sie zeigte Dinge, die eigentlich niemand wissen konnte.

Die Wahrheit, dachte Schroeder. Ein großes Wort, eine hässliche Brille, aber das musste es sein.

Schroeder ging wie ein Schlafwandler über den Flohmarkt. Er merkte bald, dass er sich auf einzelne Menschen und Dinge konzentrieren musste, wollte er nicht in einem unendlichen Bilderstrom ertrinken.

Fakten, Fakten, Fakten ...

Was auf Schroeder einströmte, war zu furchtbar, um es ohne Pause ertragen zu können und so nahm er er zwischendurch das Gestell von der Nase und rieb sich die Augen.

Man muss ja nicht alles wissen, ging es ihm durch den Kopf.

Er fragte sich, wer solche Brillen wohl produzierte, aber dann fand er, dass diese Frage angesichts der Tatsache, dass ihm eine solche Brille gehörte, doch nicht so wichtig war.

Schroeder dachte über die ungeheure Möglichkeiten nach, die eine solche Brille bot.

Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt bei dem Gedanken daran.

Diese Brille war ein Werkzeug, das wie geschaffen schien für die Arbeit eines investigativen Journalisten ...

Schroeder beschlich ein seltsames Gefühl.

Vielleicht sollte ich mich mal kneifen, dachte er und holte das gleich nach. Aber Schroeder träumte nicht. Er war wach, vielleicht wacher als in seinem gesamten vorherigen Leben.

Eine fast fiebrige Erregung hatte ihn erfasst. Er ging über den Flohmarkt, ohne auch nur noch einen einzigen Gedanken an seinen Artikel zu verschwenden. In mehr oder minder regelmäßigen Abständen setzte Schroeder die Brille auf, aber immer nur kurz, denn er hatte bald gemerkt, dass man sie besser nicht zu lange auf der Nase hatte.

Und zwar nicht wegen der Strahlen, wie der einfältige Jürgen Pahl gemeint hatte.

Sondern wegen der Dinge, die die Brille zeigte.

Wegen der Wahrheit, dachte Schroeder. Zu viel Wahrheit war für den menschlichen Geist anscheinend schädlich, aber gut dosiert wirkte sie wie ein Lebenselixier, das die Neugier befriedigte.

Die Umstehenden sahen einen Mann, der seine Brille immer kurz aufsetzte und sie sich wenige Sekunden später wieder von der Nase riss. So mancher Flohmarktbesucher schüttelte den Kopf darüber. Man brauchte keine Wahrheitsbrille, um den Chor der Gedanken förmlich hören zu können. "So ein Spinner", sang dieser Chor.

Schroeder war es gleichgültig.

Er war viel zu fasziniert von dem neuen Spielzeug, das er abwechselnd auf der Nase und in der Hand hatte, als dass er sich noch um so etwas Läppisches wie die Reaktionen seiner Umwelt kümmern konnte.

Schroeder sah den Stadtdirektor des Weges kommen, einen hoch aufgeschossenen Mann, aber mit biegsamen Rückgrat und einem zwar modischen, aber um mindestens fünf Zentimeter zu kurzen Jackett.

Striegel hieß er. Die Öffentlichkeit kannte ihn vor allem daher, dass er es irgendwie immer schaffte, auf jedem Zeitungsfoto mit dabei zu sein. Ganz egal, ob eine Besuchergruppe aus einer Partnerstadt in Russland eintraf oder der örtliche Fußballklub doch noch den Abstieg in die unterste Klasse verhindern konnte. Striegel war immer dabei. Ein Hansdampf in allen Gassen, einer, der erklärtermaßen auf das Amt des hauptamtlichen Bürgermeisters schielte und auch bisher ganz gute Aussichten gehabt hatte, diesen Posten eines Tages zu bekommen. Aber dann war der Bürgermeister vor ein paar Wochen gestorben. Man hatte Striegel das Amt angeboten, aber der hatte dankend abgelehnt. Seine Pension war nicht durch. Daran, dass der Amtsinhaber sein Amt vorzeitig (und sei es aus biologischen Gründen) aufgeben musste, hatte Striegel in seiner Karriereplanung nicht gedacht.

Als Schroeder auf Striegel aufmerksam wurde, war dieser gerade wieder bei seiner Lieblingsbeschäftigung - Lächeln und Händeschütteln. Händeschütteln und Lächeln. Schroeder fragte sich, ob es irgendeine Schule gab, in der man das in dieser Perfektion lernen konnte. Lächeln an, Lächeln aus. Perfekt.

Wenn man den Striegel mal nicht mehr in der Verwaltung gebrauchen kann, könnte er eine Schule des Lächelns aufmachen, ging es Schroeder unwillkürlich durch den Kopf. Er konnte dann seine Fähigkeit in Kursen weitergeben, die sicher über kurz oder lang für Politiker, Showmaster und Pfarrer unverzichtbar waren.

Mit seinen Beziehungen konnte Striegel sicher auch die städtische Verwaltung dazu bewegen, ihre Beamten und Angestellten zu entsprechenden Kursen zu schicken.

Alles im Zeichen der Bürgernähe.

Schließlich war ein lächelnder Mensch, der einem auf dem Ordnungsamt begegnete ja um ein Vielfaches angenehmer, als ein beamteter Griesgram. Dass das Lächeln letztlich nicht umsonst war und die Bürger mit ihren Steuern dafür bezahlen mussten, dass sie angelächelt wurden, würde den meisten sicher nicht auffallen.

Nein, Schroeder, was bist du gehässig, tadelte er sich selbst.

Noch bist du nicht Schroeder A. Schroeder, der so etwas schreiben oder sagen oder denken darf. Noch bist du (schroe/eig.ber.), und das heißt, dass du brav bleibst, denn obwohl die Partei, die diesen Stadtdirektor installiert hat, nicht die ist, die deine Zeitung am liebsten hat, kennt man sich persönlich und ist gegenseitig aufeinander angewiesen ...

Schroeder atmete tief durch.

Er fühlte den Bügel der Brille in seiner Hand.

Striegel kam auf ihn zu. Er wühlte sich förmlich durch die Menge, so wie ein Schwimmer durch das Meer. Das Meer der Menschen ging ihm kaum bis zur Schulter. Er überragte alle.

Und dann sah er Schroeder.

Knips und sein Lächeln war da. Zwei Reihen makelloser Zähne blitzten im gleißenden Sonnenlicht. Einen guten Zahnarzt musste man schon haben, wenn man die Schule des Lächelns besucht hatte.

Um ein Haar hätte Schroeder jetzt seinen Fotoapparat gezückt und den wild gewordenen Dauerlächler auf den Film gebannt, aber dann besann er sich und ließ die Kamera da, wo sie war.

Nein, dachte er trotzig.

Nicht noch ein Foto mit Striegel.

Er würde ohnehin in der Montagsausgabe schon mindestens dreimal zu sehen sein und das reichte ja auch wohl, oder?

Oder sollte man es ihm auch noch gestatten, dem Flohmarkt die Schau zu stehlen?

Nein.

Schroeder ballt die Linke zur Faust, damit sie nicht die Kamera ergreifen konnte.

Und dann hatte Striegel ihn auch schon erreicht. Es war einfach nicht zu verhindern gewesen. Unaufhaltsam hatte der Stadtdirektor und durch das Pensionsrecht verhinderte Bürgermeister den Weg dahin gefunden, wo er seiner Meinung nach hingehörte. Ins Zentrum der Öffentlichkeit, in den Blick der Medien.

Und dieser Blick, das war im Moment Schroeders Blick.

"Guten Tag, Herr ..."

"Schroeder."

"Ah, ja, richtig. Ich erinnere mich."

Trotz seiner professionellen Lächelei konnte er nicht verhehlen, dass er lieber Schroeders Chefin gesprochen hätte.

"Ne Menge los hier, was?"

"Ja."

Da konnte Schroeder nicht widersprechen.

Und dann bewegte sich - fast wie von selbst - seine Hand aufwärts. Die Hand mit der Brille. Einen Augenblick später hatte Schroeder sie auf der Nase sitzen und blickte den Stadtdirektor an.

Die Bilder tanzten vor Schroeders Augen und ihm wurde ganz schwindelig bei diesem Strom von Szenen und Gedanken. Dass nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war, als Striegel sein Eigenheim mitten in ein Waldgebiet hineingebaut und dafür auch eine Baugenehmigung bekommen hatte, war Schroeder immer schon klar gewesen.

Dazu brauchte man nicht Schroeder A. Schroeder zu sein. Das pfiffen die Spatzen vom Dach. Und jeder, der einmal einen Blick auf den Bebauungsplan geworfen hatte, wusste Bescheid.

Jetzt weiß ich es also genau, dachte Schroeder.

Neu war ihm nur, dass das Ganze mit dem Sohn des betreffenden Beamten vom Bauamt zusammenhing, der jetzt plötzlich trotz der Tatsache, dass er nur mit Mühe die Mittlere Reife geschafft hatte, eine Anwärterstelle in der Stadtverwaltung bekommen hatte.

Nichts Ungewöhnliches, dachte Schroeder. So etwas machte doch jeder oder zumindest fast jeder. Das konnte man noch nicht einmal richtig als Korruption bezeichnen, eher als Händewaschen. Eine die andere.

Aber da war noch etwas anderes, was Schroeder gesehen hatte.

Er hatte gesehen, wie Hans Neumann, der Inhaber der Neumann Bau GmbH, Striegel einen Umschlag mit Geld gegeben hatte und dafür die Zusicherung bekam, dass bei der Ausschreibung für den Ausbau der Tiefgarage unter dem Rathaus das Angebot der Neumann GmbH besonders wohlwollend geprüft werde.

Was wohl auch geschehen war, denn Neumanns Arbeiter waren seit ein paar Wochen am Werk.

Schroeder nahm die Brille ab.

"Hat sich ganz schön gemacht, unsere Stadt ..." hörte er Striegel sagen, der mit selbstzufriedenem Lächeln um die dünnen Lippen den Blick schweifen ließ.

"Ja, ja", murmelte Schroeder - noch ganz unter dem Eindruck dessen, was ihm seine Brille gezeigt hatte.

Wenn das stimmte, dann war es ein Skandal.

Und es war die Wahrheit, davon konnte Schroeder ausgehen. Blieb nur die Schwierigkeit, alles zu beweisen, aber wenn man wusste, wo man nachzuforschen hatte, war das kein Problem. - Schroeder A. Schroeder stürzt den Stadtdirektor!, dachte Schroeder.

Die Vorstellung gefiel ihm, obwohl es sicher karrierefreundlicher war, einen Bundeskanzler zu stürzen.

Oder wenigstens einen Ministerpräsidenten, so wie Stefan Aust, der in grauer Vorzeit Filbinger gestürzt hatte.

Zur Not tat es auch ein Minister.

Na ja, dachte Schroeder. Und für mich muss eben Striegel reichen.

Der Gedanke hatte ihn förmlich elektrisiert. So sehr, dass er völlig abwesend schien und gar nicht mehr auf seinen Gesprächspartner achtete. Der Smalltalk, den Striegel automatisch über die Lippen brachte, hallte in Schroeders Bewusstsein wie ein fernes Echo nach.

"Ist irgendetwas?", riss ihn Striegels Stimme dann wieder in das Hier und Jetzt.

"Wieso. Was soll denn sein?"

"Ich dachte nur."

"Nö, es ist nix!"

"Ich dachte, Sie sahen so weggetreten aus."

"Ich?"

"Wenn Ihnen nicht gut ist, Herr Schroeder - dahinten haben wir den Stand des THW ... Es ist ja auch wirklich furchtbar heiß ..."

"Es geht schon."

Und außerdem, so setzte Schroeder in Gedanken hinzu, wirst du es bald sein, den man auf einer Bahre des THW davontragen muss, wenn Schroeder A. Schroeder mit dir fertig ist und dich als das entlarvt hat, was du schon immer warst: ein korrupter Karrierist.

Und die waren in Schroeders Augen schon aus dem Grund hassenswert, weil er selbst keine Karriere gemacht hatte.

Und zweitens war ein Journalist ein Jäger, und Jäger brauchten Wild. Und je größer das Wild, desto größer die Ehre für den Jäger. Oder? Dumpf erinnerte sich Schroeder daran, dass es auch Tiere gab - große Tiere - die unter Naturschutz standen, aber darüber wollte er jetzt nicht weiter nachdenken.

Ein bisschen freundliches Geplänkel noch mit dem Stadtdirektor beziehungsweise Stadtdirektor a.D. in Spe, so wie Schroeder ihn sah, nachdem er ihn durch die Wahrheitsbrille gesehen hatte, dann ging der große oder doch zumindest recht lange Mann davon. Gemessenen Schrittes natürlich. Es hatte etwas Monarchisches an sich.

Für eine Sekunde waren seine Mundwinkel nach unten gezogen, aber dann hatte er offenbar wieder jemanden entdeckt, den er kannte.

Und wen kannte einer wie er nicht?

Knips.

Die Mundwinkel waren oben, das Lächeln eingeschaltet. Toll, wie er das konnte. Da konnte sich Schroeder A. Schroeder drei Scheiben abschneiden.

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3

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Später saß Schroeder vor seinem Homecomputer und hackte ziemlich lustlos die hundert Zeilen in die Tastatur, die er über den Flohmarkt schreiben sollte.

Hundert Zeilen wurden es, aber feuilletonistisch?

Bemüht.

Breit gekaut wie Kaugummi.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738918595
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
brille

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Die telepathische Brille