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Sammelband 4 Mitternachts-Thriller: Nur der Tod lebt ewig und andere Romane

©2018 500 Seiten

Zusammenfassung

Sammelband 4 Mitternachts-Thriller: Nur der Tod lebt ewig und andere Romane
Dieses Buch enthält folgende Romane:

Ann Murdoch: Im Namen des Teufels

Ann Murdoch: Wächter der Totenruhe

Ann Murdoch: 13 Eichen

Ann Murdoch: Nur der Tod lebt ewig

Seit einiger Zeit hat das irische Clydesdale eine neue Bewohnerin, Sophie Cochrane. Die Werbegrafikerin hat ein altes Anwesen, das Spensers Lodge, von ihrem Vater geerbt und will es renovieren, um es dann zu verkaufen. Als aufgeklärte Frau glaubt sie nichts von den Spukgeschichten, die sich um den alten Besitzer des Anwesens drehen. Doch als der eines Nachts an sie herantritt und sie auffordert das Anwesen zu behalten und den Bau einer Brücke zum Festland zu verhindern, muss sie ihre bisherige Weltanschauung überdenken..

Cover: Firuz Askin

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Seit einiger Zeit hat das irische Clydesdale eine neue Bewohnerin, Sophie Cochrane. Die Werbegrafikerin hat ein altes Anwesen, das Spensers Lodge, von ihrem Vater geerbt und will es renovieren, um es dann zu verkaufen. Als aufgeklärte Frau glaubt sie nichts von den Spukgeschichten, die sich um den alten Besitzer des Anwesens drehen. Doch als der eines Nachts an sie herantritt und sie auffordert das Anwesen zu behalten und den Bau einer Brücke zum Festland zu verhindern, muss sie ihre bisherige Weltanschauung überdenken..

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COVER: FIRUZ ASKIN

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Firuz Askin

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Im Namen des Teufels

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von Ann Murdoch

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Der Umfang dieses E-Book entspricht 102 Taschenbuchseiten.

Die junge Anwältin Harry Beagle hat einen seltsamen Fall übernommen, bei dem der Angeklagte behauptet, sein Opfer sei vom Teufel besessen gewesen. Zusammen mit dem Journalisten Steve geht sie der Sache näher auf den Grund. Dabei ahnen die beiden aber noch nicht, dass sie schon bald dem Teufel höchstpersönlich gegenüberstehen werden.

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Harry hatte doch etwas Herzklopfen. Sie wusste nicht, ob sie alles richtig machte, viel zu seltsam war die ganze Sache. Aber sie atmete tief durch, schaute noch einmal in die Runde und reckte dann energisch das Kinn nach vorn.

Es war nur der Crown Court und nicht Old Bailey, das traditionsreiche Gericht, vor dem dieser etwas merkwürdige Prozess stattfand. Angeklagt war David Allister, er sollte versucht haben seinen Partner zu töten, weil dieser einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen hätte. Die Verteidigerin Harry Beagle, die als Barrister vor diesem Gericht zugelassen war, hatte diese Behauptung von Anfang für übertrieben gehalten und versucht, ihren Mandaten auf eine vernünftige Linie zu bringen. Doch Allister hatte darauf bestanden und von ihr verlangt, seinen Namen reinzuwaschen. Er hätte nur das Böse selbst bekämpft. Irgendwann hatte sie seinem Verlangen nachgegeben und sich gefragt, wie sie dem Gericht diese Umstände erklären sollte. Sie war selbst nicht der Meinung, dass ihr das bisher gut gelungen war.

„Euer Ehren, dieser Mann hat völlig absurde Vorstellungen, die er selbst jedoch für absolut wahr hält. Es ist traurig, dass ein anerkannter Psychologe ihm dennoch Normalität attestiert. Ich beantrage ein erneutes psychiatrisches Gutachten, das von einem unabhängigen Experten erstellt werden sollte.“ Staatsanwalt Ronald Greene trug wie alle Beteiligten eines englischen Gerichtshofes den langen schwarzen Talar mit unendlich vielen Falten und eine unglaublich altmodische weiße Perücke aus Rosshaar. Tradition hatte gerade vor Gericht einen hohen Stellenwert, und so gab es strenge Regelungen. Das galt auch dafür, in welcher Position sich der Anwalt befand, der den Angeklagten verteidigte. Ein junger Anwalt hatte nicht das Recht, vor dem Gericht zu erscheinen, er hatte zunächst eine Art Lehrzeit abzuleisten. In diesen Jahren lernte ein Anwalt nicht nur den Umgang mit den Mandanten, auch die korrekte Verhaltensweise vor Gericht und die komplizierten Systeme gingen ihm in Fleisch und Blut über.

Auch Barrister Harriet Beagle hatte vier Jahre Lehrzeit als normale Anwältin hinter sich gebracht, bevor sie hier am Crown Court für ihren Mandanten das Wort ergreifen durfte. Jetzt trat sie näher an das Richterpodium heran. Unter der weißen Perücke leuchteten einige Strähnen ihres blonden Haares hervor, und das Gesicht verzog sich zu einer spöttischen Miene.

„Ich weiß nicht, was dieser sinnlose Antrag soll, Euer Ehren. Mein Mandant wurde als geistig normal eingestuft, und das von einem anerkannten Experten. Also muss ich davon ausgehen, dass an seiner Behauptung, sein Partner Patrick Jones habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, etwas Wahres ist. Der Antrag des ehrenwerten Herrn Staatsanwalts ist nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver, mit dem er seine Unwissenheit deutlich machen will.“

Der Staatsanwalt schenkte ihr einen mitleidsvollen Blick. „Wollen Sie jetzt die Existenz des Teufels auf Erden als Tatsache in den Raum stellen?“, fragte er voller Spott.

„In dem gleichen Maße, in dem die Existenz Gottes als Tatsache gilt“, gab sie zurück.

„Das können Sie doch gar nicht vergleichen, Gott ist ...“

„Was ist Gott?“, fragte sie herausfordernd. „In diesem und jedem anderen Gerichtssaal schwören wir bei Gott, das bedeutet seine Existenz anzuerkennen. Wie können Sie dann die Existenz seines Gegenspielers leugnen?“

„Das können Sie doch gar nicht vergleichen“, fuhr Greene auf.

„Und warum nicht? Nur weil es nicht in Ihr Konzept passt?“, fragte sie provozierend.

„Die Anwälte bitte sofort zu mir“, unterbrach der Richter mit Unheil verkündender Stimme. Er sprach leise, als beide Anwälte dicht vor ihm standen.

„Ich werde hier keine theologische Diskussion dulden, ist das klar? Wir sind hier, um über einen Mordversuch zu richten. Es wird keine weitere Untersuchung geben, Herr Staatsanwalt. Ich nehme an, Sie haben Zeugen, mit denen Sie Ihre Anklage untermauern können. Die Existenz von übergeordneten Kräften auf Erden steht hier nicht zur Diskussion, das gilt auch für Sie, Frau Anwältin. Fahren Sie bitte fort.“ Dem ehrenwerten Richter war klar, dass er diese Diskussion nicht ganz unterbinden konnte, dafür war dieser Fall einfach zu absurd. Doch an diesem Montag, dem zweiten Tag der Verhandlung, war es noch üblich, mit endlosen Anträgen die Grenzen abzustecken.

David Allister, der Angeklagte, saß ruhig und fast teilnahmslos auf seinem Stuhl, neben ihm befand sich einer der Anwälte, der Harry Beagle die ganze Vorarbeit abgenommen hatte. Auch im englischen Recht war Schuld nicht gleich schuldig, und aufgrund der komplizierten Rechtsprechung konnte ein kluger Anwalt selbst bei klarer Beweislage mildernde Umstände herausholen.

Harry war gut, sie wusste das, und der Staatsanwalt wusste das auch.

Der Prozess nahm seinen formellen Fortgang, und wäre da nicht diese absolut verrückte Behauptung des Angeklagten gewesen, wäre die Sache von der Öffentlichkeit wohl kaum beachtet worden.

Im Saal bei den Pressevertretern befand sich auch Steven Dunbar, ein Reporter von der Weekly News, der für drei Monate aus Edinburgh ausgeliehen war. Dunbar würde später einmal seinem Vater folgen, dem in Edinburgh eine Zeitung gehörte. Bis dahin wollte er jedoch so viele Erfahrungen wie möglich sammeln, und dazu gehörte auch ein Praktikum in London. Er liebte die Arbeit als Journalist, aber hier vor Gericht war er sonst nicht zu finden. Doch ein Kollege war krank geworden, und Steven hatte sich bereit erklärt einzuspringen. Er hielt den ganzen Fall für absurd, aber die bildhübsche Harry hatte es ihm auf den ersten Blick angetan.

Steven verfolgte die ermüdenden Formalitäten und war froh, als der Richter endlich den Abschluss dieses Gerichtstages bekannt gab. Er drängte sich durch die Zuschauer und anderen Pressevertreter, um Harry noch zu erreichen, bevor sie in einem der vielen Büros verschwand.

„Miss Beagle, auf ein Wort, bitte.“

Sie drehte sich um, als sie den Ruf hörte, musterte dann abweisend die Kamera und das Aufnahmegerät, bevor sie eine ergebene Miene aufsetzte. Sie wusste, dass sie die Medien brauchte, sonst wurde ihr Mandant schon vor dem Urteil von der Öffentlichkeit zerrissen.

„Ich bin nicht bereit, Interviews über die Beweggründe meines Mandanten zu geben“, erklärte sie kühl.

„Wirklich nicht? Ich denke, wenn die Beweggründe Ihres Mandanten verständlich dargelegt werden, könnte es auch einem breiteren Publikum begreiflich gemacht werden, warum er so und nicht anders gehandelt hat.“

„Und Sie können das?“ Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Ich kann es wenigstens versuchen“, gab er zurück und verschlang sie förmlich mit seinen Blicken. „Miss Beagle, ich habe die Berichterstattung meiner Kollegen gelesen, und ich wundere mich nur, dass die Bilder von Täter und Opfer nicht schon mit Hörnern und Pferdefuß geschmückt wurden.“

Sie stutzte, dann lachte sie auf, und für Steven ging zum zweiten Mal an diesem Tag die Sonne auf. Harry war allerdings auch ein Augenschmaus. Ihre schlanke sportliche Gestalt kam auch in dem weiten Talar noch immer zu Geltung, ihr schmales ausdrucksvolles Gesicht wurde von goldblonden Haaren umrahmt, die bis auf die Schultern fielen, wenn die Perücke sie nicht verdeckte. Leuchtend blaue Augen brachten die Gefühle deutlich zum Ausdruck, und im Augenblick war sie amüsiert, aber auch misstrauisch.

„Wie würden Sie ihn denn beschreiben? Als heiligen Georg, der einen Drachen erschlägt?“

Er wurde unvermittelt ernst. „Nein, ich möchte die Wahrheit hinter dieser Sache ans Tageslicht bringen. Selbst wir beide nehmen in diesem Gespräch das Ganze nicht ernst, wie soll erst der unbeteiligte Leser darüber denken? Deshalb möchte ich gern mehr wissen. Ich verspreche Ihnen, dass ich keine Story hinter der Story zusätzlich erfinden werde. Falls Sie es wünschen, werde ich Ihnen den Artikel vor dem Abdruck zur Begutachtung vorlegen.“ Er war hartnäckig, ohne unhöflich oder gar schmierig zu werden, dass gefiel Harry. Außerdem kämpfte sie selbst gegen die Vorurteile, die das mysteriöse Motiv ihres Mandanten unweigerlich hervorrief. Steven Dunbar machte einen ehrlichen sympathischen Eindruck, er hob sich von den übrigen Reportern wohl tuend ab.

Spontan beschloss sie, einen Versuch mit ihm zu machen. Sie dachte daran, wie überrascht sie selbst bei dem Gespräch mit Allister gewesen war. Mehrmals hatte sie versucht, das Gespräch auf eine vernünftige Grundlage zu bringen und den Mann dazu zu bewegen, seine Aussage auf eine erklärbare Grundlage zu stellen, aber er hatte darauf beharrt, dass es genau so und nicht anders gewesen war. Allister war entweder ein Fanatiker oder Lügner, doch eigentlich hatte er in seinem bisherigen Leben als ausgesprochen clever und ehrlich gegolten, also musste Harry annehmen, dass er aus seiner Sicht die Wahrheit sagte. Es war ihre Aufgabe, dem Gericht klarzumachen, dass ihr Mandant zwar im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, aber dennoch im Kampf gegen den vermeintlichen Teufel selbst im besten Glauben gehandelt hatte.

Vielleicht konnte eine gute Presse dabei ein wenig helfen.

„Kommen Sie in zwei Stunden in mein Büro“, bot sie an, aber Steven lächelte dreist.

„Gehen Sie mit mir essen, dabei spricht es sich besser und klingt nicht so schrecklich förmlich. Bitte. Sieben Uhr im Passions? Soll ich Sie abholen?“

Verblüfft hielt sie inne, so eine Frechheit war ihr lange nicht untergekommen. Doch sein Blick war treuherzig, sein Lächeln unwiderstehlich.

„Um sieben Uhr im Passions, den Weg finde ich schon noch allein“, gab sie spontan seiner Bitte nach.

„Dann werden wir auf Teufel komm heraus der Sache auf den Grund gehen.“

„Sie sollten damit nicht scherzen, Mister ...“

„Dunbar, Steven Dunbar von der Weekly News - zumindest für drei Monate, dann kehre ich nach Edinburgh zurück.“

„Edinburgh?“

„Dort bin ich zu Hause, ich arbeite für den Scots Guardian.“

„Eine konservative, aber renommierte Zeitung. Also muss Ihnen London dazu im Vergleich wie ein Tollhaus vorkommen.“

Er lachte auf. „Sie haben nie meinen Vater erlebt, wenn er sämtliche Redakteure strammstehen lässt. Dagegen ist die Arbeit hier in London die reine Freude.“

„Ihrem Vater gehört der Guardian?“

„Nur noch zu achtzig Prozent, er hat vor einigen Jahren einen Teil verkaufen müssen, um alles zu modernisieren, und das ärgert ihn heute noch. Aber er herrscht dennoch wie ein Despot. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe und verehre meinen Vater, aber ich bin nicht blind gegenüber seinen Fehlern.“

„Dann wollen wir hoffen, dass Sie genauso offen an die Fehler meines Mandanten herangehen. Bis heute Abend.“ Sie ließ ihn einfach stehen und ging davon.

Von hinten schlug ihm jemand krachend auf die Schulter. „Na, hast du eine Eroberung gemacht? Sieh dich nur vor, diese Frau ist kälter als ein Eisberg. Sie wird dich benutzen und dann fallen lassen.“ Dan McClure vom Mirror lachte laut.

„Hast du es bei ihr schon versucht?“, fragte Steven.

„Alle haben es versucht, aber sie hat jeden abblitzen lassen. Es grenzt an ein Wunder, dass sie überhaupt so lange mit dir gesprochen hat.“

Steven sagte nicht, dass er mit Harry sogar zum Essen gehen würde. Journalisten waren Klatschtanten, auch im privaten Bereich, und diese Neuigkeit würde mit der Geschwindigkeit eines Buschfeuers die Runde machen. Er freute sich im Stillen und blieb eine Weile unauffällig an der Wand stehen, um anderen Kollegen zuzuhören, die eifrig über den Fall diskutierten. Die einhellige Meinung war klar, Allister wurde für verrückt oder besessen gehalten. Nun, vielleicht würde er schon bald mehr darüber wissen.

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Das Passions war ein gutes und recht teures Restaurant. Steven hatte den Vorteil, nicht allein von dem leben zu müssen, was ein kleiner Journalist als Gehalt bekam, sonst hätte er sich diese Einladung nicht leisten können. Er war vor Harry da und hielt ungeduldig Ausschau nach der hübschen jungen Anwältin. Dann blieb ihm der Mund vor Überraschung offen stehen.

Natürlich gehörte zu einem Restaurant dieser Klasse eine gewisse Kleiderordnung, aber Harry verschlug ihm den Atem. Sie trug ein bodenlanges tief dunkelrotes Kleid, hoch geschlossen bis zu einer Krause am Hals, die Arme waren weit, und um die Taille funkelte ein Gürtel aus goldenen Kettengliedern. Die junge Frau wirkte etwas unsicher, was Steven sehr verwunderte. Sie machte sonst einen eher burschikosen Eindruck. Er stand auf und ging ihr rasch entgegen, dann begriff er plötzlich. Harry war zum ersten Mal in einem Lokal dieser Preisklasse. Auch wenn sie im täglichen Leben so tat, als wäre sie durch nichts zu erschüttern oder zu beeindrucken, so zeigte sich jetzt jedoch, dass sie auf diesem Parkett nicht zu Hause war – noch nicht. Sie lachte ihn an und schaute sich um.

„Ich hoffe, ich bin nicht übertrieben angezogen – aber ich wollte unbedingt dieses Kleid tragen, es ist ein Geschenk meiner Eltern.“

Er küsste ihr formvollendet die Hand. „Ihre Eltern sind doppelt gesegnet, mit einer schönen intelligenten Tochter und gutem Geschmack. Ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass Sie mich so überraschen.“ Dabei sah er selbst auch beeindruckend aus, sein eleganter dunkler Anzug mit dem hellen Hemd und der Clan-Krawatte unterstrich das etwas kantige Gesicht. Er geleitete sie zu ihrem Stuhl.

„Warum das Passions?“, fragte sie jetzt kühl. „Sie mussten doch wissen, dass das nicht meine Wahl gewesen wäre. Aber trotzdem, Mr. Dunbar, ich bestehe auf einer getrennten Rechnung.“

„Wie Sie wünschen. Mit einer so schönen Frau streite ich nicht. Was möchten Sie trinken?“

Harry lachte auf. „Sie sind seltsam, Steven Dunbar. Jeder andere Mann hätte versucht, mir beizubringen, dass er mich eingeladen hat. Sie akzeptieren meine Worte ohne Diskussion.“

„Wer bin ich, dass ich mit einer erfolgreichen Anwältin streiten würde? Da könnte ich doch nur verlieren.“

Lautlos erschien ein Kellner, die beiden gaben ihre Bestellung für Getränke auf und vertieften sich in die Speisekarte, dann wählten sie auch hier.

„Was wollen Sie über meinen Mandanten wissen?“, fragte sie schließlich sachlich.

„Lassen Sie uns nach dem Essen darüber reden“, bat er. „Die Mahlzeiten hier sind ein Erlebnis, das wollen wir uns nicht mit der Arbeit verderben. Erzählen Sie mir von sich. Wie kommt eine so hübsche Frau dazu, einen derart trockenen Beruf auszuüben? Anwalt ist sicher nicht der Wunschtraum eines jungen Mädchens.“

„Warum nicht?“, fragte sie herausfordernd. „Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie und hatte all die üblichen Wunschträume wie meine Freundinnen auch. Das änderte sich, als ich miterleben musste, wie der Vater eines Freundes wegen Raub angeklagt und verurteilt wurde, weil er einen Anwalt besaß, der kaum in der Lage war, bis zum Mittagessen nüchtern zu bleiben. Und unser Rechtssystem mit all seinen komplizierten Auslegungen und Schlupfwinkeln hat nicht zugelassen, dass dieser Mann, obwohl unschuldig, seine Unschuld auch beweisen konnte. Er musste ins Gefängnis, und erst rund sieben Jahre später fand die Polizei den wahren Täter. Ich nahm mir immer vor, als Anwältin etwas dafür zu tun, dass jeder zu seinem Recht kommt. Das heißt für mich, dass ich Unschuldige vor einem Urteil bewahren will, aber die Schuldigen auch dazu bringen möchte, für ihre Taten geradezustehen.“

„Sie übernehmen also auch eindeutig Schuldige als Mandanten?“

Ein erstaunter Blick traf ihn. „Selbstverständlich. Die Welt besteht doch nicht nur aus unschuldig Angeklagten, Mr. Dunbar. Allerdings habe ich einen Grundsatz, ich will die Wahrheit wissen. Wer mich anlügt, kann nicht damit rechnen, dass ich den Fall übernehme.“

„Und das wissen Sie immer ganz genau? Ich meine, ob jemand Ihnen die Wahrheit sagt?“

Sie stutzte, dann lachte sie. „Nein, schließlich kann ich keine Gedanken lesen. Aber ich versuche es.“

Das Essen kam, und eine ganze Weile waren beide damit beschäftigt, die Köstlichkeiten auf den Tellern zu genießen.

Schließlich schob Harry den leeren Teller ein Stück zurück und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.

„Du meine Güte, das war wirklich ein Erlebnis und wahrscheinlich jeden Schilling wert, den wir dafür auf den Tisch legen werden.“

Steven schmunzelte in sich hinein, während der Kellner flink abräumte und eine andere Bedienung einen Kaffee brachte. Auch Dunbar lehnte sich zurück und betrachtete noch immer voller Entzücken die schöne Frau. Welch ein Unterschied zu der formellen schwarzen Kleidung im Gerichtssaal oder den geschäftsmäßigen Kostümen, die sie im Büro trug.

„Ich freue mich, dass es Ihnen gefällt. Dann lassen Sie uns jetzt vielleicht auf unser ursprüngliches Thema zurückkommen, David Allister. Staatsanwalt Greene war einigermaßen irritiert darüber, dass Ihr Mandant als voll zurechnungsfähig gilt. Aber ein Pakt mit dem Teufel kommt auch mir seltsam vor. – Ja, ich weiß, Sie haben es bereits gesagt, das ist nicht seltsamer als ein Eid vor Gott. Nur dass Gott höchst selten auf der Erde erscheint, um den Schwur persönlich abzunehmen.“

„Gut gekontert“, gab sie zu. „Ich will Ihnen erzählen, wie der Fall David Allister in meiner Kanzlei gelandet ist.“ Sie berichtete im Grunde nicht viel Neues, das alles deckte sich mit dem, was auch im Gericht schon zur Sprache gekommen war.

„Warum haben Sie den Fall angenommen?“, fragte er. „Ein solches Motiv hat vor Gericht keine große Chance, oder?“

„Das kommt darauf an, wie der Richter denkt.“

„Haben Sie eigentlich selbst mal mit dem Opfer gesprochen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich besitze nur die schriftliche Aussage, die Jones vor der Polizei abgelegt hatte. Er ist ein Zeuge der Anklage, ich habe kein Recht dazu, ihn vor dem Prozess zu befragen. Und natürlich wird in der Aussage ein solcher Vertrag energisch bestritten. Im Übrigen heißt es, Patrick Jones wäre noch so schwer verletzt, dass man ihn nicht weiter vernehmen könnte.“

Steven runzelte die Stirn. „Das lässt sich mühelos herausbekommen. Sie können ihn vielleicht nicht fragen, ich schon.“

„Was? Das ist nicht Ihr Ernst“, protestierte sie ungläubig. „Sie wollen doch nicht ins Krankenhaus gehen und dort in das Zimmer eindringen?“

„Warum nicht? Ein guter Journalist wird sich immer darum bemühen, beide Seiten der Geschichte ausfindig zu machen. Weshalb also sollte ich nicht versuchen ein Gespräch mit Patrick Jones zu führen?“

„Weil man Sie vermutlich gar nicht bis zu ihm vorlassen wird“, prophezeite sie.

„Ich wette darauf“, meinte er spontan. „Was setzen Sie?“

„Sie sind ein unmöglicher Mensch, Mr. Dunbar, wie kann man darauf wetten?“

„Ich heiße Steven. Ich setze die Kosten für ein weiteres Essen hier im Passions.“

„Also gut – Steven. Unter einer Bedingung. Sie berichten mir, was Sie in Erfahrung bringen können, auch wenn ich es vor Gericht nicht benutzen darf. Aber es könnte mir helfen, meine Strategie zu planen.“

„Einverstanden.“

Das Gespräch wandte sich jetzt allgemeineren Themen zu, und Harry stellte fest, dass sie sich so gut unterhielt wie schon lange nicht mehr. Ausgerechnet mit einem Journalisten, unglaublich. Er bestand darauf, sie nach Hause zu bringen, Steven hielt Londons Straßen um diese Uhrzeit für nicht sicher genug. Aber er machte keine Anstalten, sie zum Abschied in die Arme zu nehmen oder gar zu küssen, er wusste, dass er damit das dünne Band an Vertrauen sofort zerstören würde. Er verabschiedete sich mit einem Lächeln, und Harry fühlte sich plötzlich sehr einsam. Gut gelaunt machte sich der Journalist auf den Heimweg.

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Wer sind Sie? Was wollen Sie hier? Sie gehören nicht zum Personal.“ Patrick Jones saß in seinem Krankenbett, hielt einige Blätter und Listen mit Zahlen vor sich und machte durchaus keinen kranken Eindruck. Wären da nicht der Verband um die linke Schulter und eine Schlaufe, in der eigentlich der linke Arm liegen sollte, gewesen, hätte man ihn für völlig gesund halten können. Er wirkte ungehalten, doch tief in seinen Augen war ein Flackern, das Dunbar nicht so recht erklären konnte.

„Mein Name ist Steven Dunbar, und ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.“

„Ich wüsste nicht, worüber. Was sind Sie? Einer von diesen Sensationsreportern, die auch vor einem Schwerkranken nicht haltmachen? Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Und nun gehen Sie, sonst muss ich um Hilfe rufen.“

Steven machte keine Anstalten dieser Aufforderung zu folgen. Er kam weiter in den Raum hinein, lehnte sich gegen die Tür und schloss sie mit dem Rücken, wobei er den anderen Mann nicht aus den Augen ließ. Sein Instinkt hatte angesprochen, ein Instinkt, den jeder gute Journalist besaß, um einer guten Story auf der Spur zu bleiben. Dieser Mann hatte panische Angst vor irgendetwas, und vermutlich schon deswegen würde er auf keinen Fall die Schwester oder sonst jemanden rufen.

„Mr. Jones, ich bin tatsächlich Journalist, aber ich habe nicht vor, einen sensationslüsternen Aufmacher zuschreiben. Ich will die Wahrheit hinter dieser Anklage und der Aussage herausfinden.“

„Meine Aussage hat die Polizei aufgenommen, ich habe dem nichts hinzuzufügen.“

„Richtig, ich habe Ihre Aussage gelesen, Sir. Aber nicht einmal das Gericht wird sich mit diesen wenigen Fakten zufriedengeben. Und schon gar nicht die Öffentlichkeit, die diesen Prozess mit Interesse verfolgt. Ich bin gern bereit, Ihre Zimmernummer hier im Krankenhaus oder Ihre Privatadresse zu veröffentlichen. Sicherlich wird der eine oder andere Leser Ihnen gern selbst ein paar bohrende Fragen stellen.“

„Sie sind ja verrückt“, stieß Jones hervor. „Haben Sie eigentlich nicht begriffen, dass ich das Opfer bin? Gehen Sie und zerreißen Sie Allister in der Luft, aber lassen Sie mich zufrieden. Raus hier!“

Dunbar wollte nicht so einfach aufgeben, er vermutete längst mehr hinter diesem Vorfall, und das Verhalten von Jones bestätigte ihn in dieser Annahme.

„Mr. Allister wurde schon genug zerrissen“, erklärte der Journalist. „Liegt es nicht auch in Ihrem Interesse der Öffentlichkeit ein klares Bild zu vermitteln? Sie haben mit Ihrem Partner eine Finanzagentur geführt, die auch weiterhin darauf angewiesen ist, mit Kunden zusammenzuarbeiten. Sie werden kaum neue Kunden finden, oder höchstens noch welche aus der Hölle.“

Erneut flackerte Angst in den Augen des Mannes. „Mit diesem Thema sollten Sie, verdammt noch mal, keine Scherze treiben“, fuhr Jones auf. Regelrechte Panik spiegelte sich in seinem Gesicht. Abwehrend streckt er die Hände aus. „Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden. Nehmen Sie den Namen des Unheiligen nicht in den Mund.“

„So beruhigen Sie sich doch, Mr. Jones, ich habe wirklich nicht vor, Sie in die Pfanne zu hauen, ich will nur die Wahrheit – oder das, was für Sie die Wahrheit ist.“

„Die Wahrheit?“, rief Jones mit erstickter Stimme und kämpfte um seine Fassung. „Was stellen Sie sich denn unter der Wahrheit vor, Sie Narr? Aber gut, kommen Sie her, ich erzähle Ihnen etwas von der Wahrheit, so unglaublich sie in Ihren Ohren auch klingen mag.“

Eine Viertelstunde später verließ Dunbar das Krankenzimmer. Er hatte im Grunde keine Neuigkeiten erfahren, doch für ihn machte es schon einen Unterschied, die ganze Geschichte aus erster Hand erfahren zu haben. Das änderte nichts daran, dass es in seinen Ohren noch immer unglaublich klang, aber vielleicht würde dieses Wissen Harry helfen. Er hatte bis jetzt noch kein Wort für seinen Artikel geschrieben, aber die ganze Sache interessierte ihn jetzt persönlich so sehr, dass er alle Fakten zusammensammeln wollte. Er rief Harry im Büro an, und nachdem sie ihre Überraschung überwunden hatte, sagte sie einem weiteren Abendessen zu, schließlich hatte er die Wette gewonnen.

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Dieses Mal war die Anwältin nicht bereit, bis nach dem Essen zu warten, obwohl sie sich schon sehr auf die Mahlzeit freute.

„Also gut, ich gestehe zu, dass Sie ein findiger und kreativer Reporter sind, Steven. Nun spannen Sie mich bloß nicht auf die Folter. Ich will alles wissen, und zwar sofort.“

Sie trug an diesem Abend ein einfaches schwarzes Cocktailkleid, das in dieser Umgebung absolut angemessen war. Ihre Augen leuchteten, und er hätte sie am liebsten in die Arme gerissen, doch er beherrschte sich.

„Nun gut, Harry, fangen wir ganz von vorn an. Patrick Jones und David Allister führten ihre Finanzagentur ziemlich lange auf konventionelle Art. Dabei gab es offenbar nicht genug zu verdienen, jedenfalls nach Jones‘ Meinung. Ohne es seinem Partner zu sagen begann er riskante Warentermin- und andere Geschäfte zu machen. Das ging eine Weile gut, bis Allister dahinterkam. Er machte Jones Vorwürfe und forderte, so schnell wie möglich alles rückgängig zu machen. Es kam zu einem heftigen Streit zwischen den beiden, und die Auflösung der Partnerschaft war eigentlich schon beschlossene Sache. Am nächsten Tag geschah dann das Schreckliche, alle Papiere, in die Jones investiert hatte, erfuhren einen rapiden Abfall, so dass sie praktisch nichts mehr wert waren. Die beiden Männer hätten die Verluste niemals ausgleichen können, und Jones stand praktisch schon am Fenster, um aus dem Hochhaus zu springen. Dann hat sich alles geändert.“

„Halt, Moment mal.“ Harry unterbrach die Erzählung. Der Kellner kam mit dem Essen, und die junge Frau dachte über das bisher Gehörte nach, während sie die wiederum gute Mahlzeit genoss.

„Ich habe Jones bisher nicht kennengelernt“, sagte sie, nachdem die Teller abgeräumt waren. „Ich kann demnach bis jetzt auch nicht sagen, ob er glaubwürdig ist. Aber ich verstehe das so, dass er ziemlich labil wirkt. Zu feige, um sich der Verantwortung zu stellen für das Unheil, das er angerichtet hat. Das perfekte Opfer für einen Betrüger.“

„Sie sind schnell mit Ihrem Urteil bei der Hand“, meinte er nachdenklich. „Aber es deckt sich durchaus mit meiner Einschätzung. Nun gut, weiter. Er war bereit für den Selbstmord, als wie aus dem Nichts ein Mann in seinem Büro stand.“

„Wie aus dem Nichts?“, fragte sie zweifelnd.

„So hat es Jones gesagt. Offenbar hatte nicht einmal die Sekretärin jemanden gesehen. Nun gut, dieser Mann bot ihm aus heiterem Himmel ein Geschäft an, wollte aber nicht im Büro darüber sprechen. Jones sollte am Abend in ein Haus in Belgravia kommen. Das ist eine ziemlich teure und vornehme Gegend, warum also hätte er misstrauisch werden sollen bezüglich der Adresse? Misstrauisch war er nur über das Auftauchen und das unverhoffte Angebot. Doch er hatte nur diesen Strohhalm, also griff er danach. Es handelte sich um ein älteres Haus und machte nicht wirklich einen gepflegten Eindruck. Jones wurde von einem Butler empfangen und in einen Salon geführt. Dort kam der Hausherr ziemlich schnell zum Kern der Sache.“

„Und der Hausherr ist also der Teufel selbst?“, fragte sie ungläubig.

„Das weiß ich doch nicht, Harry, ich gebe nur weiter, was Jones mir erzählt hat. Dieser Mann bot ihm einen Vertrag an, der merkwürdig und doch einfach klingt. Jones bekommt durch seine Spekulationsgeschäfte alles Geld, das er sich wünscht, im Gegenzug ist er verpflichtet, mindestens drei Seelen durch Selbstmord in die Hölle zu treiben. Wie er das macht, ist seine Sache, am einfachsten geht es sicher durch geschäftlichen Ruin.“

„Absurd, völlig absurd“, sagte Harry spontan.

Steven zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Jones erzählte jedenfalls, dass er so verzweifelt war, dass er darauf einging und den Vertrag mit Blut unterschrieb.“

Harry nahm einen Schluck von dem hervorragenden Wein. „Und dann?“, forschte sie.

Dunbar beugte sich vor. „Bereits am nächsten Tag gingen die Kurse für die Papiere steil in die Höhe, und zwei Broker, die dagegen gewettet hatten, begingen in der Tat Selbstmord, was Jones aber nicht zugeschrieben wurde, wie er zornig erklärte. Es stand in allen Zeitungen, auch die seltsamen Sprünge der Wertpapiere, die fast die Börsenaufsicht auf den Plan gerufen haben. Das habe ich schon überprüft.“

Sie schüttelte den Kopf, das alles klang unglaublich. „Und dann hat Allister ihn erneut zur Rede gestellt?“

„Richtig, das alles kam Ihrem Mandanten sehr seltsam vor, es gab einen weiteren Streit, und Jones erzählte, was er getan hatte. Daraufhin muss Allister förmlich ausgerastet sein, er griff jedenfalls nach dem Brieföffner und stach auf seinen Partner ein.“

Beide schwiegen eine Weile und dachten darüber nach.

„Ich finde das seltsam“, begann Harry, und Steven sprach im gleichen Moment seinen Satz: „Was mich nachdenklich macht ...“ Beide brachen ab und lachten sich an. Er fühlte sich noch stärker zu ihr hingezogen. Die gedämpfte Beleuchtung im Restaurant und die Kerze auf dem Tisch ließen ihre Lippen verführerisch schimmern, ihre Augen leuchteten wie blaue Neonreklamen, und wieder einmal kämpfte Dunbar darum, nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Können Sie mit diesen Informationen etwas anfangen?“, fragte er betont sachlich.

Sie nickte langsam. „Ich werde es versuchen, wenn ich beim nächsten Mal mit Allister rede. Was ich sagen wollte, ich finde es seltsam, dass Allister offenbar keinen Gedanken daran verschwendet hat, wie absurd und lächerlich das Ganze auf einen normalen Menschen wirkt. Ich frage mich, ob er nicht vielleicht selbst in Versuchung war und aus moralischen Skrupeln abgesagt hat. Ich glaube, der Mann verschweigt mir etwas.“

„Etwas Ähnliches ging mir durch den Kopf“, gestand er ein. „Sagen Sie, Harry, würden Sie mir gestatten, Allister selbst ein paar Fragen zu stellen? Ich meine, können Sie mich mitnehmen, wenn Sie ihn das nächste Mal im Gefängnis besuchen?“

„Das mache ich normalerweise gar nicht selbst. Aber Sie haben Recht, Steven. Es ist an der Zeit ihm ein paar persönliche Fragen zu stellen. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie mich begleiten, aber ich warne Sie. Er muss Ihnen nicht antworten, wenn er das nicht will, das ist doch klar, oder?“

Steven nickte zustimmend und war froh. Unter normalen Umständen wäre es für ihn unmöglich gewesen, den Mann zu treffen.

Bis Steven Dunbar und Harry Beagle zum Gefängnis gehen konnten, dauerte es noch zwei Tage. Sie hatte eine Menge zu tun, und der nächste Gerichtstag würde auch erst in der nächsten Woche stattfinden.

Steven saß an seinem Schreibtisch und versuchte die bisherigen Informationen in Worte zu fassen, die für den Leser nicht völlig unglaubwürdig klangen. Das erwies sich als relativ schwierig, denn er hatte kein Interesse daran, einen Artikel abzuliefern, der mit unhaltbaren Sensationen gespickt war, mit dem nur die Leute angesprochen wurden, die ohnehin alles kritiklos glaubten, was die Presse ihnen vorsetzte. Nein, er wollte auch diejenigen ansprechen, die kritisch durch das Leben gingen. Er hatte schon lange keinen derart anspruchsvollen Artikel mehr niedergeschrieben und musste nach mehr als zwei Stunden eingestehen, dass er daran verzweifelte. Zum Glück hatte er seine normale Arbeit schon fertig, es lag also kein Termindruck vor.

„Kommst du mit zu Gino, etwas trinken?“, rief einer seiner Kollegen und klopfte an die Scheibe der Arbeitsplatzabtrennung. Steven schrak aus seinen Gedanken auf. „Ich komme gleich nach, geht ruhig schon mal vor“, gab er zurück. Noch einige Minuten lang formulierte er die Sätze neu, schaltete dann aber den Computer ab und beschloss den Kollegen zu folgen.

Draußen auf der Straße schaute er sich um, ging dann weiter und dachte noch immer nach. Ein Aufschrei von jemandem ließ ihn innehalten. Eine Frau stand da und strecke erschreckt den Arm nach oben aus, um etwas zu zeigen.

Wie in Zeitlupe fiel aus einem Fenster über ihm ein Fernseher. Es war das langsame Tempo, das ihn erschreckte, mehr noch als das schwere Gerät selbst und die Tatsache, dass es überhaupt geschah. Er sprang zur Seite, gerade noch rechtzeitig, bevor der Fernseher ihn treffen konnte. Das Gerät schlug auf dem Bürgersteig auf und versprühte seine zahllosen Einzelteile in alle Richtungen, derweil die Bildröhre selbst mit einem satten lauten Knall implodierte. Ein Hagel von kleinen Geschossen ging auf die wenigen Passanten nieder, aber Steven bekam davon das meiste ab. Er schützte den Kopf, indem er die Arme instinktiv darüber schlug, doch er zitterte weniger wegen des Unfalls – er hörte ein wahrhaft unirdisches Gelächter, hämisch, böse und gemein.

„Das ist erst der Anfang“, dröhnte eine Stimme in seinem Gehirn. Verwirrt schaute er sich um. Wer hatte da gesprochen? Niemand? Außer ihm schien keiner die Stimme und das Gelächter gehört zu haben.

Steven blutete aus zahlreichen Wunden, aber er schien keine ernsthafte Verletzung davongetragen zu haben. Es gab ein paar aufmerksame und hilfsbereite Fußgänger, die sich sofort um ihn und die anderen Verletzten kümmerten. Nun heulten auch schon die Sirenen, jemand hatte Polizei und Rettungsdienst verständigt.

„Haben Sie es gehört?“, fragte er verstört und wischte sich durch das Gesicht, wobei er eine breite Blutspur hinterließ.

„Was habe ich gehört?“, fragte die Frau neben ihm, die zu Anfang geschrien hatte, so dass er im letzten Augenblick entkommen konnte.

„Das Gelächter. Und dazu diese Stimme, wie aus dem tiefsten Schlund der Hölle“, ächzte Dunbar.

„Ich glaube, Sie haben einen schweren Schock, Sir“, sagte die Frau mitleidsvoll. „Das ist aber auch kein Wunder. Wie kommt jemand dazu, einen ganzen Fernseher aus dem Fenster zu werfen, ohne sich wenigstens zu vergewissern, dass niemand getroffen werden kann? Das ist ziemlich verrückt, nicht wahr?“ Diese überaus logische Feststellung wurde von unterdrückter Empörung begleitet, wie sie nur Engländer zum Vorschein bringen können.

Zwei Sanitäter übernahmen es, Steven zu verarzten, zwei Polizisten stellten Fragen nach dem Vorfall, doch noch einige mehr sicherten die Straße ab, als befürchteten sie einen Terroranschlag.

„Nein, ich brauche nicht ins Krankenhaus zu fahren, danke“, wehrte Steven ab, als man ihn auf eine Trage packen wollte. „Das sind alles nur Kratzer ...“

„Sir, es könnten noch innere Verletzungen vorhanden sein, die wir hier nicht feststellen können“, widersprach einer der Sanitäter.

„Nein, es ist nichts“, wehrte er weiter ab.

Steven war total verstört. Was war da gerade geschehen? Er spürte entsetzliche Angst, wenn er nur an die Stimme dachte.

Einer der Polizisten kam aus dem Haus, zusammen mit einer völlig hysterischen Frau. Offensichtlich handelte es sich um ihr Gerät, aber sie hatte keine Erklärung, wie das aus dem vierten Stock auf die Straße geraten war. Allein hätte es die zierliche Person niemals schaffen können, dieses schwere Teil bis zum Fenster zu tragen, dafür war sie nicht kräftig genug. Eine unglaubliche Geschichte.

Merkwürdig. Das fanden auch die Polizisten, die aber nichts weiter tun konnten, als den Vorfall aufzunehmen. Niemand war ernsthaft verletzt worden, und auch wenn es keine befriedigende Erklärung gab, so würde die Versicherung der Frau für die Schäden und ein angemessenes Schmerzensgeld aufkommen – immer vorausgesetzt, man gab sich dort damit zufrieden, dass der Fernseher offenbar ohne menschliches Zutun durch die Luft geflogen war.

Steven ging zurück in die Redaktion, ignorierte die fragenden Blicke und besorgten Ausrufe und wusch sich zunächst das Blut ab. Zum Glück konnte er von einem Kollegen ein frisches Hemd und eine Jacke ausleihen, so musste er nicht mit der blutverschmierten Kleidung durch die Straßen laufen.

Ein Unfall? Eine Verkettung unglückseliger Umstände? Nein, völlig unmöglich. Wer hatte den Fernseher aus dem Fenster geworfen? Wer hatte gelacht und zu ihm gesprochen?

Noch immer fühlte Dunbar eisige Kälte in sich aufsteigen, wenn er nur daran dachte.

Harry!, schoss es plötzlich siedend heiß durch seine Gedanken. War ihr am Ende auch etwas zugestoßen? Eine innere Stimme sagte ihm, dass sie in Gefahr schwebte, einen ebenso unerklärlichen Unfall zu erleiden wie er selbst. Irgendwie hing das alles mit Allister und Jones zusammen, dessen war der Mann sicher. Verdammt, jetzt fing er schon selbst an, an den Teufel zu glauben. Aber vielleicht hatte Harry Recht, wer an Gott glaubte, musste auch die Existenz des Gegenstücks akzeptieren.

Steven nahm ein Taxi und fuhr zur Kanzlei der Anwältin, doch sie war nicht mehr dort, und die Sekretärin weigerte sich strikt, die Privatadresse herauszugeben. Aber ein Journalist fand immer einen Weg, um eine Adresse ausfindig zu machen, so brauchte er mit dem Laptop nur wenige Minuten, dann wusste er, wo Harry wohnte und machte sich auf den Weg dorthin.

Das Herz schlug ihm bis zum Halse, er hatte schreckliche Angst um sie. Diese Angst steigerte sich noch, als sie nicht sofort auf sein Klingeln öffnete. Er trommelte mit den Fäusten gegen das Holz und schellte Sturm, als doch noch mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde.

„Was, zum Donnerwetter soll das? Ich kaufe nichts an der Tür ...“, begann die junge Frau zornig und erkannte dann Dunbar. „Was machen Sie denn hier? Und wie sehen Sie überhaupt aus? Hatten Sie einen Unfall?“ Harry war offensichtlich gerade unter der Dusche gewesen, ihr leuchtend blondes Haar war feucht, sie trug einen Hausmantel und verströmte den Duft von wilden Rosenblüten.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er statt einer Antwort und schaute sich wild um.

„Ja natürlich, warum sollte es nicht?“, fragte sie irritiert. Sie zog ihn in die Wohnung hinein und schob ihn sanft zu einem Sofa, dann goss sie einen doppelten Whiskey ein und drückte ihm das Glas in die Hand.

„So, jetzt erzählen Sie erst mal, Steven. Sie sehen schrecklich aus. Was ist passiert?“

„Sie werden es kaum glauben, aber es ist wirklich wahr.“ Er bemühte sich, die Geschichte ruhig und sachlich zu berichten, sah aber das Stirnrunzeln in ihrem Gesicht.

„Sie sind sicher, etwas gehört zu haben? Gerade in solchen Situationen kann es immer wieder zu Überreaktionen des Unterbewusstsein kommen.“

„Das habe ich doch glatt schon mal gehört“, meinte er ironisch. „Aber ich bin absolut sicher, nur bin ich leider der einzige, der überhaupt etwas wahrgenommen hat. Doch wenn der Satan mir auf der Spur ist, dann könnte er auch ...“

„Und nun haben Sie gedacht, mir könnte etwas Ähnliches zugestoßen sein? Ach, Steven, warum denn? Ich glaube nicht, dass es der Teufel auf mich abgesehen hat, falls es sich nicht wirklich um unglückselige Umstände gehandelt hat. Wenn man es genau nimmt, arbeite ich ihm doch in die Hände, indem ich versuche, seine Existenz jedermann bewusst zu machen. Das ergibt keinen Sinn. Nein, ich glaube nicht, dass ich sein Ziel sein könnte.“

„Ich würde mit einem objektiven Artikel auch nichts anderes tun“, widersprach er. „Warum also sollte er es auf mich allein abgesehen haben? Ich fürchte, wir haben seine Aufmerksamkeit geweckt, indem wir uns überhaupt mit dem Fall beschäftigen.“

„Nun, mag schon sein, aber Sie werden mit Ihrem Artikel die Menschen nachdrücklich vor ihm warnen. Vielleicht will er das nicht. Und nun lassen Sie mich mal sehen, wer hat Sie denn eigentlich so dilettantisch versorgt?“

„Eigentlich noch niemand“, gestand er ein. „Ich habe die Sanitäter weggeschickt und selbst noch gar nichts weiter getan.“

Harry betrachtete die vielen kleinen Wunden und schüttelte dann den Kopf, schließlich holte sie aus dem Badezimmer einen Erste-Hilfe-Kasten. Sie tupfte mit Alkohol und Jod die vielen kleinen Wunden ab, während er ab und zu scharf die Luft einzog. Dann klebte sie über die größeren Verletzungen Pflaster und begutachtete ihr Werk. Schließlich strich sie zögernd über seine Wange, und nun war es mit der Beherrschung von Steven vorbei. Die Gefühle in ihm wurden übermächtig, und er gab dem Wunsch nach.

Er zog sie näher an sich heran, und sie wehrte sich nicht. Steven spürte ihre Lippen warm und weich auf den seinen, ihr ganzer Körper verströmte noch immer diesen Duft von wilden Rosen.

Nach einer unendlichen Zeit lösten sie sich wieder voneinander, Harry kuschelte sich in seinen Arm und lächelte.

„Ist es das, was mir zustoßen sollte? Dann glaube ich, dass ich mit der Sache gut umgehen kann.“ Ihre Stimme klang weich und liebevoll.

Er zog mit den Fingerspitzen zärtlich die Konturen in ihrem Gesicht nach. „Nein, diese Sache empfinde ich als ausgesprochenen Glücksfall, und ich habe es mir vom ersten Augenblick an gewünscht. Aber ich mache mir trotzdem Sorgen, dass dir etwas zustoßen könnte.“

„Dann sollten wir dem Thema vielleicht doch auf den Grund gehen“, schlug sie vor.

„Wie meinst du das?“

„Was hat Patrick Jones gesagt? Er hat den Mann – den Teufel – in einem Haus in Belgravia aufgesucht? Hast du die Adresse? Fahren wir hin und sprechen mit ihm.“

Steven schnappte nach Luft. „Du bist unglaublich, du willst in die Höhle des Löwen?“

„Hast du nun die Adresse oder nicht?“, forschte sie hartnäckig.

„Nicht genau, nein, und ich glaube auch nicht, dass Jones freiwillig damit herausrücken wird. Aber er erwähnte die Little Connelly Street, und wenn ich mich recht entsinne, gibt es dort kaum ein Dutzend Häuser, die infrage kommen. Sollte möglich sein, das Richtige zu finden.“

„Na also. Ich ziehe mich nur an, dann fahren wir.“

„Was? Jetzt sofort?“

„Warum denn nicht? Wenn wir Allister im Gefängnis besuchen, haben wir vielleicht etwas Brauchbares in der Hand, für oder gegen ihn.“ Harry brauchte nicht lange, sie war eine praktische Frau, die nicht viel Aufhebens um Schminke oder mehrfachen Kleiderwechsel machte. Draußen stiegen sie in den kleinen Mini, mit dem Harry durch die Stadt fuhr.

Belgravia war eines der teuersten Viertel in London, zahlreiche Botschaften, Gesandtschaften, Hotels, Clubs und Geschäfte der gehobenen Preisklasse waren hier zu finden. Bürger aus der Oberschicht hatten hier noch immer ihre Stadthäuser, und wer hier eine Wohnung oder gar ein Haus mieten wollte, musste über ein ordentliches finanzielles Polster verfügen. Die Häuser stammten teilweise aus dem 18. Jahrhundert, waren meist liebevoll und aufwändig renoviert und sorgten schon beim bloßen Hinsehen für einen ehrfürchtigen Schauder. Hier war Geschichte gemacht worden, und hier wurde bis heute die Tradition hochgehalten.

Die Little Connelly Street war eine Sackgasse mit wenigen Häusern, hier hatte der bürgerliche Mittelstand residiert.

Harry und Steven gingen die Straße entlang und schauten sich aufmerksam um. Spielende Kinder, bunte Lampions in den Fenstern und üppiger Blumenschmuck deuteten an, dass hier Familien lebten, die vermutlich nichts mit dem Teufel zu tun hatten.

„Am besten wird es sein, einfach mal jemanden zu fragen, meist wissen die Leute über ihre Nachbarn Bescheid“, schlug Dunbar vor, hielt dann aber inne. Das Paar stand vor einem der Häuser, das auf den ersten Blick nicht viel anders ausschaute als die übrigen auch. Und doch schien eine unerklärliche Drohung von ihm auszugehen. Es wirkte düster, obwohl die Fassade hell gestrichen war.

„Was meinst du?“, fragte Harry mit unterdrückter Stimme und schüttelte sich unwillkürlich. Kurz entschlossen ging Steven die Treppe hinauf und drückte auf die Klingel. Beide waren sicher, ohne weiteres Suchen das richtige Haus gefunden zu haben.

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Du glaubst, dass wir morgen mehr Glück haben?“, fragte Harry, als sie wieder im Auto saßen.

Auf ihr Klingeln hatte nach einer Weile ein Mann geöffnet, der schon rein äußerlich wie ein Butler wirkte, Kleidung, Haltung und Stimme waren perfekt, doch auch er besaß eine düstere Ausstrahlung, und seine dunklen stechenden Augen ließen weder Freundlichkeit noch den Wunsch nach näherem Kennenlernen aufkommen. Harry stellte Steven und sich vor und bat darum, den Herrn des Hauses zu sprechen.

„In welcher Angelegenheit?“, wollte der Mann wissen, und seine Stimme rief bei Harry eine Gänsehaut hervor. Sie entschloss sich, dreist zu sein.

„Es geht um Patrick Jones und David Allister, und es ist sehr wichtig.“

Der Butler nickte. „Es ist immer wichtig, wenn jemand hierher kommt. Mein Herr ist morgen wieder hier und wird Sie dann empfangen. Erscheinen Sie bitte pünktlich um zehn Uhr vormittags.“

Dann hatte der Mann die Tür einfach wieder geschlossen. Verblüfft hatten sich die beiden angesehen und waren zunächst schweigsam die Straße entlanggegangen, bis sie das Auto erreichten. Jetzt blickte Steven die Anwältin an, und in seinen Augen spiegelte sich eine Reihe von Gefühlen wider, als er antwortete.

„Ja, ich bin sogar fest davon überzeugt, dass wir morgen den Herrn des Hauses treffen werden. Ob das allerdings etwas mit Glück zu tun hat, wage ich im Moment noch zu bezweifeln.“

„Du traust diesem Butler nicht?“

„Ich könnte jetzt schon sagen, dass ich auch seinem Herrn nicht traue. Mich überkommt ein ganz schreckliches Gefühl, wenn ich nur daran denke, noch einmal dorthin zu gehen“, gestand er ein.

Harry war ehrlich, ihr erging es nicht anders. Aber sie hatte Blut geleckt und wollte dieses Rätsel lösen, ohne dass sie hätte sagen können, warum sie jetzt so verbissen an diesem Thema dranblieb.

„Lass uns etwas essen gehen, damit wir auf andere Gedanken kommen“, schlug sie vor.

„Eine gute Idee, aber mir würde schon noch etwas anderes einfallen, um auf andere Gedanken zu kommen“, meinte er und schaute sie verlangend an. Sie gab ihm einen liebevollen Nasenstüber.

„Dazu kommen wir später noch, ich habe jetzt Hunger“, erklärte sie praktisch.

Beim Essen in einem kleinen italienischen Lokal versuchten sie gemeinsam das Rätsel zu entschlüsseln. Steven war der festen Überzeugung, dass es den Teufel in Gestalt gar nicht geben konnte.

„Das ist ein metaphysischer Überbegriff, ebenso wie Gott auch, du kannst es mit Gut und Böse gleichsetzen“, behauptete er.

„Darüber möchte ich jetzt und hier nicht spekulieren“, meinte sie nachdenklich.

Steven stutzte, begriff aber, dass er zu diesem Thema jetzt besser schwieg.

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Harry hatte zwei Termine mit wichtigen Mandanten abgesagt, für einen Donnerstagmorgen war das ohnehin viel. Unter normalen Umständen standen donnerstags Gerichtstermine oder die Vorbereitung durch Aktenstudium auf dem Programm. Aber sie wollte unbedingt um zehn Uhr den Besuchstermin einhalten. Steven holte sie im Büro ab, und sie fuhren wieder gemeinsam nach Belgravia hinaus. Auch jetzt, im hellen herbstlichen Sonnenschein, machte das Haus einen bedrohlichen Eindruck, aber die beiden jungen Leute schüttelten die Beklommenheit von sich ab. Energisch betätigte Dunbar die Klingel und erschrak, als praktisch im gleichen Augenblick die Tür aufgerissen wurde. Wiederum stand der Butler da, keine erkennbare Regung im Gesicht.

„Mr. Sinistre erwartet sie im Salon von Belmond House“, erklärte er ruhig.

„Sinistre? So wie düster, undurchsichtig?“, spottete Harry murmelnd. „Die ganze Sache wird langsam lächerlich.

„Verzeihung, Sie sagten etwas, Madam?“, fragte der Butler rasch.

„O nichts, ich habe nur die Einrichtung bewundert“, erwiderte sie schlagfertig.

Die Einrichtung hier im Eingangsbereich war allerdings einen zweiten Blick wert. Die Möbel waren alt, schwer und wuchtig, dunkel und beeindruckend. Zwei große Gemälde zeigten surrealistische Landschaften, die direkt aus dem Grauen entsprungen waren. Die beiden Besucher wurden in den Salon geführt, und auch hier hatten sie das Gefühl, dieses Haus besäße ein Eigenleben, das mit einer dunklen Atmosphäre verbunden war. Der Raum wirkte dunkel, von gediegener Eleganz und reicher Ausstattung.

Harry schaute sich neugierig um und entdeckte auf dem Kaminsims einige wundervoll gearbeitete Miniaturen. Die Gesichter auf diesen kleinen Bildern wirkten lebensecht wie Fotos, und fast hätte die junge Anwältin aufgeschrien, weil sie glaubte, eines der Gesichter hätte sich bewegt.

„Steven, schau dir das mal an“, sagte sie und winkte den Mann heran. Auch Dunbar war erstaunt.

„Ich freue mich, dass meine kleinen Kunstwerke Ihr Gefallen finden.“

Harry erstarrte beim Klang der Stimme, wie flüssiges Silber senkte sich der Klang in ihr Inneres, streichelte sie und ließ augenblicklich jedes Misstrauen verschwinden. Fasziniert drehte sie sich um und blickte in ein ebenmäßig schönes Männergesicht, das dennoch irgendwie unharmonisch wirkte. Aber für einen Augenblick war sie bereit, alles zu tun, was dieser Mann von ihr verlangte.

Steven spürte die Veränderung in ihr, aber er empfand längst keine Sympathie auf den ersten Blick. Er grüßte höflich und stellte Harry und sich vor, wobei es ihm geschickt gelang, den Blickkontakt der beiden zu unterbrechen. Augenblicklich war sie wieder sie selbst.

„Lucius Sinistre“, sagte er mit volltönender Stimme, „aber das wissen Sie vermutlich, sonst wären Sie nicht hier. Mein Butler sagte mir, Ihr Anliegen würde sich auf zwei Gentlemen beziehen ...“

„Patrick Jones und David Allister“, vervollständigte Dunbar.

„Richtig. Was führt Sie zu mir? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in dieser Angelegenheit behilflich sein könnte. Allerdings verfolge ich den Prozess interessiert.“ Sein Blick suchte Harry, und die starrte ihn an, als läge in seinen Augen die Offenbarung der ganzen Welt. Steven schubste sie unauffällig an, sie schüttelte unwillig den Kopf und kam zu sich.

„Doch, ich denke schon, dass Sie uns etwas dazu sagen können“, erklärte die Anwältin plötzlich aggressiv. „Sehen Sie, ich bin sicher, dass Mister Allister mir die Wahrheit gesagt hat, welches Motiv ihn dazu brachte, eine so schreckliche Tat zu begehen. Und nun möchten wir gern wissen, ob es stimmt ...“ Sie brach ab und kam sich plötzlich ziemlich einfältig vor.

„Sie möchten wissen, ob ich der Teufel bin?“, fragte er mit einem breiten Lächeln.

Betreten nickte die Frau, und auch Dunbar senkte zustimmend die Augen.

„Aber ja, das bin ich. Wie angenehm, dass Sie nicht erst eine Stunde um das Thema herumreden.“

Harry stand da mit offenem Mund, Dunbar schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft.

„Sie bestätigen das auch noch?“, ächzte er.

„Selbstverständlich. Man soll sich selbst niemals verleugnen, junger Mann. Und mir kann man sicher eine ganze Menge nachsagen, eigentlich das ganze Strafregister rauf und runter, aber noch nie habe ich meine Identität geleugnet, egal unter welchem Namen die Menschen mich auch ansprechen. Ja, ich bin der Teufel, Satan, Beelzebub, Luzifer, Mephistopheles, was auch immer Ihnen noch einfällt, ich bin es.“

Harry beschloss, später über die Tatsache des leibhaftigen Teufels nachzudenken, sie sah eine Chance, eine Menge Fragen beantwortet zu bekommen.

„Haben Sie einen Vertrag mit Patrick Jones abgeschlossen?“

„Ja, habe ich. Aber wo bleiben meine Manieren? Kann ich Ihnen eine Erfrischung anbieten? Mein Butler wird gern ...“

„Danke nein“, lehnten beide wie aus einem Mund ab. „Wir sind nur hier, um eine Antwort zu bekommen.“

„Nun, wie ich schon sagte, ja, wir stehen in einer Geschäftsbeziehung. Möchten Sie vielleicht auch ...? Was wünschen Sie sich, Harriet Beagle? Schönheit, Geld, Ruhm? Was auch immer, ich kann es Ihnen bieten. Oder Sie, Steven Dunbar? Möchten Sie, dass Ihre Mutter wieder gesund wird, dass Sie nicht nur eine Zeitung sondern einen ganzen Medienkonzern leiten? Was es auch ist, ich kann es möglich machen.“

Für einen Augenblick tanzten bei beiden die Gedanken durcheinander, gaukelten ihnen eine fantastische Zukunft vor, aber auch den schrecklichen Preis, den sie dafür zu zahlen hätten. Einmütig schüttelten sie den Kopf.

„Nein, danke, Sir“, gab Steven ruhig zurück. „Ich nehme das Leben und mein Schicksal an, wie es mir vorherbestimmt ist. Und Harry denkt vermutlich genauso.“ Er schaute zu ihr hinüber, und sie nickte tapfer.

„Ein solcher Vertrag ist auch nicht der Grund unseres Besuches“, erklärte sie mit fester Stimme.

„Ja, dessen bin ich mir bewusst.“ Lucius Sinistre lief durch den Raum, und nun konnte Harry mit Sicherheit erkennen, dass die Miniaturen lebendig waren, die Augen der Gesichter folgten dem Teufel. Sie hatte Angst und war gleichzeitig fasziniert und angezogen. Diese zwiespältigen Gefühle in ihr machten sie unsicher, am liebsten wäre sie mit Steven sofort wieder verschwunden.

„Wie sieht der Vertrag aus, den Sie mit Jones abgeschlossen haben?“, fragte sie.

„Aber bitte, meine liebe Miss Beagle, muss ich einer Anwältin erklären, dass Vertragsrecht der Geheimhaltung unterliegt? Das gilt selbst für mich. Mir scheint, Ihnen ist es in erster Linie wichtig, dass Sie eine Bestätigung der Aussage des armen Mister Allister bekommen. Und die haben Sie jetzt.“

„Wieso arm?“, fragte Steven nach.

„Nun, er hätte ebenfalls eine Partnerschaft mit mir eingehen können, aber wie viele Menschen auch ist er einfach zu feige dazu.“

„Es ist keine Feigheit, sich an moralische Grundsätze zu halten“, fuhr Harry ihn an.

„Moralische Grundsätze?“ Sinistre spuckte diese beiden Worte aus wie etwas Ekliges. „Wer bestimmt denn darüber? Menschen, die Angst davor haben, ihren dunklen Trieben freien Lauf zu lassen? Jeder von euch hat gute und böse Seiten, und es führt zu Depressionen, alle seine Wünsche zu unterdrücken. Ich helfe den Menschen nur dabei, ihre verborgenen Wünsche oder auch Fähigkeiten auszuleben. Es gibt großartige Beispiele in der Geschichte dafür, Jack the Ripper ist nur einer in einer langen Reihe, wenn auch ein überaus prominentes Beispiel. Da es aber nirgendwo in diesem Universum etwas umsonst gibt, verlange ich eben eine kleine Gegenleistung. Was ist falsch daran?“ Er lächelte die beiden mit offener Miene an, so wie es ein Vertreter wohl tun würde, der seinem Kunden etwas unterjubeln wollte. Unglaublich, er schien alle Facetten der menschlichen Eigenarten zu beherrschen, und er wusste sie gut einzusetzen.

„Was mich stört ist die Art der Gegenleistung“, sagte Steven kühl.

„Nun, was sonst sollte ich verlangen? Reichtum, Schönheit, Erfolg – das alles habe ich und biete es an. Sie sind reichlich naiv, wenn Sie mir Vorwürfe machen, obwohl ich niemanden zu etwas zwinge. Jeder hat die Möglichkeit das Angebot auszuschlagen. Genauso wenig wie ich Sie beide gezwungen habe mich hier aufzusuchen. Es war doch die pure Neugier, die Sie getrieben hat, oder?“

Das konnten die beiden kaum abstreiten. Harry schaute Sinistre schon wieder fasziniert an, und Steven bekam ein mulmiges Gefühl.

„Ich denke, wir haben jetzt genug erfahren von dem, was wir wissen wollten“, meinte er und griff nach der Hand der Frau.

„Aber, aber, Sie werden mich doch jetzt nicht einfach verlassen wollen? Sehen Sie, es dürfte für Sie nicht einfach sein, diese Informationen vor Gericht zu verwerten, aber ich kann nicht ausschließen, dass man Ihnen Glauben schenkt – noch dazu, wenn Mr. Dunbar über die Medien diese Aussagen unterstützt. Doch nicht einmal ich darf Sie so einfach töten.“

„Was? Töten?“, entfuhr es Harry entsetzt. „Wir haben Ihnen doch gar nichts getan, und wir legen auch keinen Wert auf eine Zusammenarbeit mit Ihnen. Wir werden Sie jetzt verlassen, und Sie finden sicherlich schon bald neue Opfer. Sie sind leider nicht auf uns angewiesen, und wir haben kein Interesse an Ihnen.“

Sinistre lachte auf. „Wie schon gesagt, ich darf und werde Sie nicht töten. Aber ich muss verhindern, dass Sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit treten, das würde meine Arbeit doch deutlich erschweren. Also muss ich etwas gegen Sie unternehmen. Sie, Miss Beagle, werden einigen meiner Dauergäste Gesellschaft leisten.“ Er machte eine Handbewegung und deutete auf einen großen Spiegel an der Wand, den die beiden bisher nicht beachtet hatten.

Harry spürte ein schmerzhaftes Ziehen im ganzen Körper, Steven schrie auf, und der Teufel lachte erneut. Der ganze Körper der Anwältin zog sich in die Länge, wurde instabil und schwebte auf den Spiegel zu.

„Was tun Sie da?“, brüllte Dunbar entsetzt und wollte auf Harry zulaufen, wurde jedoch von einer weiteren Handbewegung gestoppt.

Harry verschwand im Spiegel wie ein flaches Bild. Ihre Schreie verstummten, als sie hinter der glänzenden Scheibe eingesperrt war und mit den Händen verzweifelt gegen das Glas drückte, um einen Ausweg zu finden.

Steven war von Grauen und Entsetzen geschüttelt, er wollte sich auf Sinistre stürzen, den Mann schütteln, bis er Harry wieder freigab, aber er stand wie festgewachsen an seinem Platz.

„Ich will Ihnen gerne versprechen, dass wir Stillschweigen bewahren, falls es das ist, was Sie wünschen – aber lassen Sie Harry wieder frei“, brüllte er.

„Ach, diese Menschen“, seufzte der Teufel. „Immer so rasch mit einem Versprechen bei der Hand – aber was Versprechen wert sind, weiß ich sicherlich am besten. Ich fürchte, Mr. Dunbar, darauf werde ich nicht eingehen können. Schlimm genug, dass ich gezwungen bin, Ihnen eine Chance zu geben.“

„Was wollen Sie dann?“, schrie Steven. „Sagen Sie schon. Mein Leben? Nehmen Sie es, aber lassen Sie die Frau gehen.“

„Soweit ist es schon zwischen Ihnen? Beeindruckend. Aber trotzdem, nein. Im Übrigen habe ich jetzt andere dringende Termine, Sie werden mich also entschuldigen müssen. Es steht Ihnen frei, sich um die junge Dame zu kümmern, wenn Sie das gerne möchten. Mein Besitz ist allerdings selbst in der Lage, sich vor unbefugter Nutzung zu schützen, erwarten Sie also von niemandem eine Hilfestellung. Sollten Sie beide noch immer hier sein, sobald ich zurückkehre, wird es für Sie keine Rückkehr mehr in die reale Welt geben. Das ist die einzige Chance, die ich Ihnen biete – weil ich es tun muss. Aber Sie allein können natürlich jederzeit Belmond House verlassen.“

Das abscheuliche Gelächter, das Steven bereits auf der Straße bei dem Unglück mit dem Fernseher gehört hatte, erklang erneut. Die Starre wich aus seinem Körper, und mit einem Fingerschnippen verschwand Sinistre schlagartig.

„Harry? Harry! Ich komme, ich werde dich da herausholen“, rief Steven noch immer entsetzt und stürzte zu dem Spiegel hin. Er trommelte gegen die Oberfläche, sah die geliebte Frau wie in einem Fernseher, auch sie versuchte noch immer aus dem unglaublichen Gefängnis zu entkommen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Hände trommelten verzweifelt gegen das Glas, aber nicht ein Laut war zu hören.

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Steven Dunbar fühlte eisige Leere in sich aufsteigen. Wie viel Zeit mochte er haben, bis Sinistre zurückkehrte? Und was war mit dem Butler? Er hatte ganz den Eindruck gemacht, als wäre er seinem Herrn treu ergeben. Vielleicht handelte sich aber auch um eines der zahllosen Opfer, das seinen Dienst unter Zwang auf sich nahm. Einen Versuch war es wert.

Steven stürmte aus dem Salon. „Hallo?“, rief er laut durch das Haus. „Hallo, Sie, Butler, sind Sie irgendwo? Ich muss mit Ihnen reden. Bitte.“

In der Halle war nichts zu sehen. Dunbar rannte von einem Raum in den nächsten: Arbeitszimmer, Speisesaal, Küche, dann zwei verschlossene Türen. Wütend schlug der Mann mit den Fäusten gegen das Holz.

„Hören Sie mich? Kommen Sie heraus, reden Sie mit mir, nur reden, bitte!“

Keine Reaktion. Jetzt wurde Steven doch von Panik erfasst. Was, wenn es ihm nicht gelang, Harry aus dem Spiegel zu befreien, bevor Sinistre zurückkehrte? Ohne die Frau wollte er das Haus nicht verlassen, ohne sie wollte er auch gar nicht mehr leben. Er rannte zurück in den Salon, wo Harry noch immer dicht gepresst an der Spiegelscheibe stand, das Gesicht zu einer Fratze des Grauens verzogen. Was konnte er tun? Steven mühte sich, den Spiegel von der Wand abzuhängen, aber genauso gut hätte er versuchen können, den Tower zu verschieben. Der Rahmen bestand aus kunstvoll verschnörkelten Schmiedearbeiten, es war nicht einmal zu erkennen, wo und wie die Spiegelfläche befestigt war. Dunbar griff nach einem schweren silbernen Kerzenständer, der auf dem Tisch stand. Vielleicht nutzte es etwas, wenn er den Spiegel zerschlug. Er holte mit dem schweren Kerzenständer aus und schrie auf, das improvisierte Werkzeug fiel ihm aus der Hand. Das Silber war glühend heiß geworden und hatte ihm die Hand verbrannt.

Was hatte Sinistre gesagt, sein Besitz könnte sich selbst schützen? Ja, offenbar gehörte auch der Kerzenständer dazu. Aber irgendetwas musste es doch geben ...

Steven nahm einen der Stühle und warf ihn mit Wucht gegen den Spiegel. Harry auf der anderen Seite zuckte nicht einmal zusammen, und der Spiegel zerbrach auch nicht. Irgendwo machte Steven einen Denkfehler, dessen war er sich bewusst, hätte aber nicht sagen können, was er anders machen könnte. Tiefste Verzweiflung ergriff von ihm Besitz, wie viel Zeit hatte er noch für seine fruchtlosen Versuche?

Er sah plötzlich auf einem Tisch einen Zettel liegen. Hatte der sich vorhin auch schon da befunden? Nein, ganz bestimmt nicht. Wie kam er hierher? Mit spitzen Fingern nahm Steven das kleine Blatt auf und las die wenigen Zeilen.

„Dieser Spiegel ist unzerstörbar, er gehört dem Herrn des Hauses. Aber es ist möglich, zwischen gleichartigen Medien zu wechseln und diese dann zu verändern, um ein Opfer zu erlösen.“

Ratlos las Dunbar noch einmal. Er war so aufgewühlt, dass er den Sinn dieser Worte gar nicht begriff. Gleichartige Medien? Was sollte das bedeuten? Er fing einen weiteren Blick von Harry auf – gleichartige Medien? Zwei Spiegel, und der eine durfte nicht so verwunschen sein wie dieser hier. Sein Blick glitt durch den Raum, ein Spiegel – ein Spiegel? Dort, allerdings nur klein, kaum konnte man das Gesicht darin sehen. Konnte das funktionieren? Warum nicht? Das war nicht ungeheuerlicher als der ganze Vorgang überhaupt, und einen Versuch war es allemal wert.

Mit zitternden Fingern hielt Steven den kleinen Handspiegel vor die große Fläche und deutete Harry mit der freien Hand an, dass sie versuchen sollte, die Seiten zu wechseln. Zunächst begriff sie gar nicht, was er von ihr verlangte, sie trommelte erneut mit den Fäusten gegen das Gefängnis, aber Steven hielt den kleinen Spiegel noch näher an den großen heran, und schließlich deutete sie selbst ungläubig darauf. Langsam und vorsichtig streckte sie jetzt einen Arm aus. Wie durch zähen Sirup kam die Hand aus der Spiegelfläche und wurde von dem kleinen Spiegel förmlich angesaugt. Unfassbar geschockt schaute Steven zu. Wie mochte es ihr gerade ergehen? Er konnte auch nicht annähernd nachvollziehen, wie sie sich fühlen mochte.

Nun hielt er den Spiegel mit der geliebten Frau in der Hand und sah ihre weit aufgerissenen Augen. Er musste weitermachen, jetzt, sofort! Er musste es einfach versuchen. Seine Hände zitterten, aber er nahm allen Mut zusammen und schlug die Spiegelfläche voller Wucht gegen die Wand. Etwas zerrte an seinen Armen, grässlicher Gestank stieg auf, und für einen Moment tobten Schreie an seine Ohren und durch sein Gehirn, vor seinen Augen wurde es schwarz. Dann spürte er eine sanfte Berührung, schlug die Augen auf und sah Harry neben sich auf dem Boden liegen. So unwahrscheinlich es auch wirkte, es hatte funktioniert. Aber vielleicht hatten sie beide das alles auch nur geträumt? Waren sie einer Illusion erlegen?

Harrys Zustand war aber keine Illusion. Steven rappelte sich auf und half dann der Frau auf die Füße, reden konnten sie später, sie mussten aus dem Haus hinaus. Geistesgegenwärtig schnappte er sich den Zettel, der so unverhofft aufgetaucht war, griff nach der Hand der Frau und zog sie hastig mit sich.

„Weg, schnell weg“, sagte er gepresst. Harry selbst hatte keinen anderen Wunsch. Sie keuchte, weinte aber nicht und bemühte sich, die Fassung nicht zu verlieren.

„Der ist wahrhaftig der Teufel“, stieß sie hervor.

Erst als die beiden ein gutes Stück weit entfernt waren, hielt Harry an, lehnte sich an seine Schulter und brach in Tränen aus.

„Das war so schrecklich, Steven, ich war gar nicht mehr ich selbst, ich war nur noch ... ich weiß es nicht.“ Sie schniefte heftig und schüttelte den Kopf.

„Dann sollten wir jetzt wohl die Polizei informieren“, schlug Steven vor, der noch gar nicht glauben konnte, dass er wieder frische Luft in Freiheit atmen durfte.

Sie tippte ihm sanft gegen die Stirn. „Bist du noch gescheit? Wie willst du einem Polizisten klar machen, was da drinnen gerade geschehen ist, und noch schlimmer, wem das Haus gehört? Nein, Steven, wir können niemandem etwas davon erzählen, weil uns niemand glauben würde. Wir befinden uns in der gleichen Lage wie David Allister. Aber genau mit dem werden wir reden müssen, so schnell wie möglich, nicht erst morgen. Ich bin sicher, er wird ...“ Sie schwankte plötzlich und sackte an der Hauswand zusammen. Der Schock wirkte jetzt nach.

Steven holte sein Handy hervor und wollte einen Notarzt rufen, aber sie winkte ab.

„Lass nur, es wird mir gleich schon wieder besser gehen.“

Steven half ihr bis zum Wagen und packte sie auf den Beifahrersitz. „Ich bringe dich zu einem Arzt, er ist ein Freund von mir und wird keine Fragen stellen. Keine Widerrede, in diesem Zustand werde ich dich nicht allein lassen und auch nicht einfach nur nach Hause bringen.“

Sie war viel zu erschöpft, um zu widersprechen. Der Freund von Steven war ein älterer Doktor, der wirklich keine Fragen stellte, aber den Schockzustand der jungen Frau erschreckend fand. Er gab ihr ein Medikament und verordnete zwölf Stunden absolute Ruhe. Steven sorgte dafür, dass sie in seiner Wohnung schlief. Er wollte sie zu Hause nicht allein lassen, hatte aber selbst noch einige Recherchen im Internet vor, und in dieser Zeit bewachte er ihren Schlaf.

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Steven Dunbar war zum ersten Mal im Gefängnis, und er fühlte sich schon als Besucher äußerst unwohl. Stahl und Beton, kalt und abweisend, mürrische Vollzugsbeamte, eine dumpfe beklemmende Atmosphäre, die nicht einmal den Anschein von Hoffnung und Zuversicht aufkommen ließ. Steven wurde in seinem Innern immer kleiner und bewunderte Harry, die sich weder von der Umgebung noch von den Insassen beeindrucken ließ. Aber für sie war das alles schon seit mehreren Jahren Alltag, das gehörte zu ihrem Job. Sie spürte jedoch sein Unbehagen und versuchte ihn freundlich anzulächeln.

„Komm, die werden dich schon nicht hier behalten“, meinte sie aufmunternd.

Ein Wärter führte sie durch mehrere mit Stahlgittern gesicherte Schleusen bis in einen Besucherraum, der für die Insassen und ihre Anwälte vorgesehen war.

David Allister saß bereits in diesem Besucherzimmer, bewacht von einem weiteren Beamten. Er blickte düster vor sich hin, doch dann sah er Harry, und seine Miene hellte sich auf.

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mich besuchen, Miss Beagle, aber leider habe ich Ihnen nichts weiter zu sagen, und allein damit werden Sie mich kaum verteidigen können. Wer ist der junge Mann? Ein neues Mitglied Ihrer Kanzlei? Dann bekommt er gleich den richtigen Eindruck von einem schuldig Unschuldigen.“

Harry blickte den Wärter an. „Ich möchte gern allein mit meinem Mandanten sprechen, würden Sie bitte draußen warten? Ich bin sicher, er wird mich nicht angreifen und fliehen wollen.“

Nicht einmal die Andeutung eines Lächelns zeigte sich im Gesicht des Mannes, wortlos ging er hinaus. Die beiden Besucher setzten sich, und Harry nahm eine Mappe mit Unterlagen aus ihrer Aktentasche.

„Mr. Allister, ich hätte doch noch ein paar Fragen“, begann sie sachlich. „Woher wussten Sie – ich meine, wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, dass Ihr Partner einen derartigen Handel eingegangen ist? Es ist ja nicht gerade alltäglich, eine solche Behauptung aufzustellen.“

Das blasse Gesicht des Mannes wurde womöglich noch bleicher, aber Harry ließ nicht locker. Nach allem, was sie erlebt hatte, fand sie, dass ihr die Wahrheit zustand.

„Mr. Allister, ist es nicht so, dass Sie selbst ebenfalls ein Angebot erhalten haben, und nur die Angst Sie davon abgehalten hat, dieses Angebot auch anzunehmen? Das haben Sie mir bisher verschwiegen, Mr. Allister. Warum?“

„Woher wissen Sie davon?“, stieß er rau hervor und zeigte aufgeregte Überraschung. „Haben Sie den Mann gefunden? Den Teufel, meine ich. Sie haben Recht, er hat sich mir unter dem Namen Lucius Sinistre vorgestellt. Er hat mir tatsächlich ein Angebot gemacht, aber ich habe es nicht angenommen, wie Sie schon richtig erkannt haben. Außerdem war ich der Ansicht, ich hätte keine Schuld an der damaligen prekären Lage, also wollte ich mich gar nicht damit befassen. Ja, ich hatte Angst, verdammt noch mal, das ist wohl verständlich.“

„Wie und wo sind Sie mit ihm zusammengetroffen?“ Harry machte keine Anstalten seine Fragen zu beantworten, und auch Steven hatte sie noch nicht vorgestellt, Allister hielt ihn weiterhin für einen Anwalt.

„Er besuchte mich in meinem Büro. Zu der Zeit habe ich ihn für einen Kunden gehalten, doch er lächelte mich nur seltsam an und meinte, dass er dafür sorgen könnte, dass die Agentur wieder läuft. Mir war das ganze Ausmaß der Verluste noch nicht bekannt, und irgendwie glaubte ich, wir würden das schon wieder hinbekommen. Also schickte ich Sinistre weg, doch er meinte, ich könnte ihn jederzeit aufsuchen, falls ich es mir anders überlegen sollte.“

„Wo sollten Sie ihn aufsuchen?“, warf Steven rasch ein.

„Ein Haus in Belgravia.“ Er nannte die Adresse. „Warum stellen Sie mir alle diese Fragen, Miss Beagle, welche Rolle spielt das noch? Es hätte nur dann Sinn, hätten Sie diesen Mann gefunden und er würde vor Gericht zu meinen Gunsten aussagen.“

„Selbst dann könnte Sie das nicht vor einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags retten“, erklärte Harry. „Auch deswegen, weil Sie bei der Polizei angegeben hatten, ihr Partner hätte nicht nur einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen, er wäre von ihm besessen. Ein Vertrag mit der Hölle ist doch noch etwas anderes. Damit haben Sie mir schon verdammte Schwierigkeiten bereitet.“

Steven erinnerte sich, dass Harry gesagt hatte, sie würde keine Lügen tolerieren. Allister hatte einen unverzeihlichen Fehler begangen, und würde dafür sicher noch seinen Preis zu zahlen haben.

„Mir erschien es einfacher“, versuchte der Angeklagte sich herauszureden.

„Das ist keine Entschuldigung dafür, den eigenen Anwalt anzulügen“, fuhr sie ihn an, winkte dann aber ab. „In Ordnung, ich werde den Fall ausnahmsweise nicht niederlegen, aber ich erwarte absolute Kooperationen, keine Gegenfragen, und keine Lügen und verschweigen Sie mir nichts mehr.“

„Ich verstehe“, kam es scheu.

„Was genau hat Ihnen Sinistre geboten, und was verlangte er als Gegenleistung?“, wollte sie jetzt wissen.

Allister lachte düster auf. „Geld sollte ich bekommen, geschäftlichen Erfolg ohne Ende, alles, was ich mir wünschen konnte. Dafür wollte er drei Seelen haben, die ich ihm liefern sollte – auf welche Weise, das war ihm egal.“

„Sie haben abgelehnt, soweit waren wir schon. Wann ist Ihnen aufgefallen, dass Ihr Partner weniger Skrupel besitzt?“

„Schon zwei Tage später.“

„Haben Sie Sinistre in seinem Haus einmal aufgesucht?“

Eine Pause entstand. Harry hatte das aus einem Instinkt heraus gefragt und damit offenbar ins Schwarze getroffen.

„Ja“, kam es schließlich.

Steven horchte auf. „Warum?“

„Ich – ich wollte doch noch – ich meine, das Angebot war verlockend – und ich war schwach, ja, ich wollte diesen Vertrag unterschreiben, und zum Teufel mit der Gegenleistung.“ Er legte den Kopf auf die verschränkten Arme, seine Schultern zuckten.

„Na also, jetzt kommt ja doch alles ans Licht“, bemerkte Steven zufrieden.

„Wollen Sie das alles vor Gericht ausbreiten?“, fragte Allister geschockt.

Harry schüttelte den Kopf. „Nein, ich denke, das hat nichts zu tun mit der Urteilsfindung.“

Allister sah Harry intensiv an und schauderte. „Sie haben ihn tatsächlich gefunden, Sie haben mit ihm gesprochen – mein Gott, was hat er Ihnen geboten, Miss Beagle? Wollen Sie jetzt meine Seele, um den eigenen Kopf zu retten? Er ist unwiderstehlich, nicht wahr?“

„Er ist ein Monster und abgrundtief böse“, gestand sie jetzt ein.

„Sind Sie überhaupt noch in der Lage, mich objektiv zu verteidigen?“, wollte er provokant wissen.

Harry stand auf und packte ihre Unterlagen zusammen. „Wäre ich davon nicht überzeugt, würde ich mir wohl kaum die Mühe machen, mit Ihnen zu reden“, erklärte sie kühl. „Übrigens, wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Morgen früh ist der nächste Termin vor Gericht, ich werde tun, was ich kann, und ich will versuchen Patrick Jones in den Zeugenstand zu holen. Aber einfacher wird die Sache dadurch nicht, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich dem Richter beibringen soll, dass Sie und Ihr Partner so voll daneben gegriffen haben“, fügte sie dann bitter hinzu. „Wir werden sehen, Mr. Allister. Ich habe Ihnen von Anfang an keine Hoffnung auf einen Freispruch gemacht, daran hat sich nichts geändert, aber ich werde tun, was ich kann. Bis morgen.“

Er schaute sie mit dem treu bittenden Blick eines Hundes an. „Ich bin Ihnen sehr dankbar für alles, was Sie bis jetzt schon getan haben. Aber ich rate Ihnen – halten Sie sich von Lucius Sinistre möglichst weit entfernt.“

„Das habe ich vor, Mr. Allister, genau das habe ich vor.“

Steven atmete tief durch, als er sich wieder draußen auf der Straße befand, die Beklemmung fiel von ihm ab.

„Wie hältst du das aus, dauernd im Gefängnis zu sein?“, fragte er.

„Ach, so oft muss ich gar nicht mehr da hinein, das war früher deutlich mehr. Und ich komme damit klar, weil ich weiß, dass ich spätestens nach einer Stunde wieder hinausgehen kann. – Was machen wir jetzt, Steven?“ Sie blieb stehen und schaute ihm eindringlich ins Gesicht. „Das alles ist einfach nur verrückt, findest du nicht? Jones wird, selbst wenn er in den Zeugenstand treten sollte, nichts zugeben.“

„Vielleicht solltest du ganz einfach die Strategie der Verteidigung ändern?“, schlug er vor.

Sie lachte kurz auf. „Ich habe mich schon gefragt, wann du das vorschlagen würdest. Ja, wahrscheinlich werde ich das tun. Die Notlage der Agentur lässt eine Kurzschlusshandlung nachvollziehbar machen, dann muss ich mich nicht weiter mit dem Staatsanwaltskollegen in eine Diskussion über Gut und Böse einlassen.“

Er spielte zärtlich mit einer Haarsträhne. „Du könntest auch den Fall niederlegen.“

„Das ist nicht dein Ernst“, rief sie empört. „Das hätte ich tun können, solange ich nicht persönlich angegriffen wurde. Aber jetzt werde ich nicht einfach alles hinwerfen, nur weil ...“ Sie hielt inne und sah ihn lächeln. „Das war wirklich nicht dein Ernst, nein. Nein, ich werde morgen beim Gericht meine Strategie ändern. Das wird Allister zwar auch nicht vor dem Gefängnis bewahren, aber es wird hoffentlich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Medien ein bisschen zurücknehmen. Doch jetzt genug davon“, sagte sie bestimmt. „Ich rufe in der Kanzlei an, und dann werden wir diesen Tag für uns allein haben – es sei denn, du könntest nicht aus deiner Redaktion weg.“

Er küsste sie ungestüm. „Die beste Idee des Tages, Harry. Was möchtest du zuerst tun? Ein wenig bummeln? Dann komm“, meinte er unternehmungslustig. Er zog sie mit sich, noch bevor sie ihr Telefonat geführt hatte, was sie dann im Auto nachholte.

„Ich hätte Lust, dir etwas Hübsches zu schenken“, sagte er. „Hast du einen besonderen Wunsch?“

„Nein, ich habe keinen Wunsch, aber ich sehe mir gern hübsche Dinge an.“

Eine halbe Stunde später bummelten sie Hand in Hand durch eine der großen Einkaufsstraßen, ließen sich nicht von der Hektik der zahllosen Menschen anstecken und hielten vor allen möglichen Schaufenstern an. Schließlich standen sie vor einem der renommierten Juweliere. Steven blickte unauffällig auf die Auslage mit den Eheringen, doch Harry starrte fasziniert auf eine Uhr, die ungewöhnlich schön war.

Das runde Zifferblatt war mit vielen kleinen Diamanten besetzt, die allerdings lose wie in einer Schneekugel bei jeder Bewegung tanzten. Außerdem war das Armband aus schweren goldenen Kettengliedern mit feinen Mustern verziert. Trotz allem wirkte die Uhr zierlich und würde wunderbar zu Harry passen. Als sie jedoch das Preisschild sah, seufzte sie nur und wandte sich ab.

„Warum verzichten Sie? Sie könnten sich diese Uhr und allen Schmuck der Welt leisten. Ich mache Ihnen ein Angebot, das Sie kaum ablehnen können ...“ Wie aus dem Nichts war Sinistre aufgetaucht, lächelte sie an und machte eine umfassende Handbewegung, als wollte er ihr die Welt zu Füßen legen. Harry zeigte kaum Überraschung, ihr Blick wurde hart.

„Nein“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Ich habe kein Interesse an Ihren Angeboten, Sir. Mir ist der Preis zu hoch.“

„Aber Sie wissen doch gar nicht, was ich von Ihnen haben will“, erwiderte er süffisant.

„Was es auch sein mag, Mr. Sinistre, für mich kommt das nicht infrage. Jetzt wäre ich Ihnen ausgesprochen dankbar, wenn Sie mir nicht noch länger diesen Tag vermiesen. Fahren Sie zur Hölle.“

„Zu gegebener Zeit werde ich dort mal nach dem Rechten sehen, Miss Beagle. Falls Sie es sich jedoch noch anders überlegen, rufen Sie nur laut meinen Namen, ich werde so schnell wie möglich erscheinen. Und nun, genießen Sie den Tag, solange es noch geht.“

Für einen Augenblick verschwand die Umgebung vor den Augen der beiden jungen Menschen, dann war Lucius Sinistre spurlos verschwunden.

„Ich hasse ihn“, stieß Harry zornig hervor.

Sanft nahm Steven ihre Hand und drückte einen Kuss in die Innenfläche. „Das darfst du nicht zulassen, Liebste“, meinte er leise. „Jedes negative Gefühl, Hass, Wut, Habgier oder irgendetwas in der Art stärkt den Teufel nur noch in seiner Kraft.“

„Du meinst, er wird mich nicht in Ruhe lassen, auch wenn ich ihn weiter verabscheue? Soll ich ihn deswegen etwa lieben? Und woher weißt du das überhaupt?“

Steven zog Harry mit sich vor das nächste Schaufenster, wo hochwertige Damenmode ausgestellt war.

„Du sollst ihn nicht lieben, nein. Aber du musst lernen, deine Gefühle zu beherrschen, sonst wirst du irgendwann auf ihn losgehen, und dann hat er gewonnen, weil er dich bis zum Äußersten reizen kann. All diese netten Einzelheiten lassen sich im Übrigen leicht recherchieren, wenn man weiß, wonach man zu suchen hat. – Schau mal, dieses Kleid dort würde gut zu deinem Haar passen.“ Er deutete auf ein dunkelrotes bodenlanges Kleid aus schimmernder Seide.

„Das trage ich dann zum Empfang bei der Königin, wenn ich irgendwann geadelt werde“, erklärte sie gespielt ernsthaft.

„Ja genau, an dem Tag, an dem du geadelt wirst. Bis dahin wirst du es nur für mich tragen“, behauptete er und zog sie mit sich.

„Halt, Moment mal, das war doch nur ein Scherz – du willst doch jetzt nicht ... Nein, das ist viel zu teuer – und außerdem brauche ich es wirklich nicht ... Steven, das kannst du nicht tun, du bist ja verrückt. Steven, das ist doch nicht dein Ernst ...“ Sie protestierte noch immer, als Dunbar sie in den Laden führte und auf einen Stuhl drückte. Es handelte sich um ein so vornehmes Geschäft, dass augenblicklich zwei Verkäuferinnen herbeigeeilt kamen.

„Das kann ich nicht bezahlen“, zischte sie ihm zu.

„Das sollst du auch gar nicht. Ich habe doch gesagt, ich möchte dir etwas Hübsches kaufen. Wozu habe ich von Haus aus viel Geld, wenn ich es nicht für etwas so Vernünftiges ausgeben kann? Lass dich einfach ein bisschen von mir verwöhnen.“

„Steven, wir kennen uns kaum, du kannst doch nicht für eine Fremde wie ich ...“ Sie brach ab. Auch sie empfand Steven Dunbar längst nicht mehr als fremd, im Gegenteil, sie wusste nicht, wie sie all die Jahre ohne ihn gelebt hatte.

„Du bist nicht fremd, warst das nie für mich – aber ich möchte dich nicht verletzen oder dir etwas aufdrängen, Harry“, sagte er leise, und all seine Gefühle spiegelten sich in seinem Gesicht. „Es tut mir leid, offensichtlich war das ein unglücklicher Einfall, bitte verzeih.“

Spontan küsste sie ihn. „Da gibt es nichts zu verzeihen, ich habe mich vielleicht nur dumm benommen. Wenn wir nun schon einmal hier sind, kann ich das Kleid genauso gut anprobieren“, gab sie nach und sah das Strahlen in seinen Augen.

Die beiden Verkäuferinnen halfen ihr, zupften und zerrten, bis schließlich alles perfekt saß. Steven verschlug es den Atem, als er sie sah. Harry betrachtete sich im Spiegel und kam sich vor wie eine Königin. Plötzlich aber veränderte sich die Perspektive. Aus dem dunklen Stoff schossen Flammen, krochen an ihr hoch und erfassten sie am ganzen Körper. Harry schrie auf, schlug wild um sich und warf sich zu Boden, als könnte sie die Flammen so ersticken.

Steven und die beiden Angestellten konnten das Feuer nicht sehen, das Verhalten von Harry verstörte die Frauen, sie wichen furchtsam zur Seite.

„Harry, was ist los?“, rief Dunbar alarmiert. Er stürzte zu ihr hin, doch sie schlug noch immer um sich.

„Du musst das Feuer löschen“, schrie sie.

Feuer? Steven sah kein Feuer, aber er begriff, dass Harry einer Halluzination erlegen war.

„Du musst dagegen kämpfen“, beschwor er sie. „Es ist Sinistre, er will dich verunsichern, dir Angst machen, dich als nächstes Opfer haben. Willst du dir das gefallen lassen?“ Er stachelte sie an, weckte ihren Widerspruchsgeist, was ihm auch gelang. Sie kehrte aus der Angst zurück in die Wirklichkeit, und schließlich sah sie auch keine Flammen mehr. Beschämt stand sie auf. Aber die beiden Verkäuferinnen schienen Schlimmeres gewöhnt zu sein, sie machten keine Bemerkung, lächelten schon wieder.

Obwohl Harry wegen des hohen Preises noch immer Bedenken hatte, ließ sie es zu, dass Steven das Kleid kaufte.

„Ich glaube, ich werde es nie mehr tragen“, seufzte sie draußen.

„Das wäre dann wirklich Verschwendung“, stellte er fest.

In Harry aber tobte die Angst. Musste sie jetzt auf Schritt und Tritt damit rechnen, dass ihr etwas zustieß, auf das sie keinen Einfluss hatte? Was konnte sie dagegen unternehmen? Wie sollte man gegen den Teufel kämpfen? Wahrscheinlich ging das nur, wenn man selbst standhaft blieb und einen lebenden Menschen an seiner Seite hatte, der Kraft gab. Dankbar schaute sie Steven an.

„Ich will mich nicht von ihm unterkriegen lassen. Und nun wollen wir uns ein bisschen amüsieren“, erklärte sie bestimmt. Doch immer wieder schaute sie sich unauffällig um, aber an diesem Tag gab es keinen weiteren Zwischenfall.

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Euer Ehren, ich möchte gern Patrick Jones als Zeugen aufrufen“, beantragte Harry im Gerichtssaal und bekam sofort einen Einspruch von Ronald Greene, dem Staatsanwalt.

„Das Opfer ist Zeuge der Anklage, befindet sich noch immer in ärztlicher Behandlung und ist nicht vernehmungsfähig.“

„Er scheint aber sehr wohl in der Lage, einem Journalisten ein Interview zu geben, dann dürfte ihm auch eine Aussage vor diesem Gericht zuzumuten sein“, beharrte sie und bezog sich auf das Gespräch zwischen Dunbar und Jones.

Der Richter blickte auf Greene, der einen etwas ratlosen Eindruck machte, weil er davon nichts wusste. Aber in diesem Augenblick geschah das Überraschende. Aus dem Zuschauerraum meldete sich jemand.

„Ich bin bereit auszusagen.“ Patrick Jones stand von seinem Platz auf und befand sich im nächsten Augenblick in einem Blitzlichtgewitter. Der Richter brauchte eine Weile, bis er die Ruhe im Gerichtssaal wiederhergestellt hatte.

Jones ging zum Zeugenstand, doch dann folgte die fast erwartete Enttäuschung. Er bestritt vehement, jemals etwas mit dem Teufel oder einem Lucius Sinistre zu tun gehabt zu haben. Harry versuchte ihn unter Druck zu setzen, scheiterte jedoch und gab es schließlich auf, als der Richter ungehalten fragte, welche Taktik sie nun eigentlich verfolgen wollte. Das Thema über den Vertrag mit dem Teufel sollte doch eigentlich endlich vom Tisch sein. Resigniert gab sie auf und stimmte zu, als der Staatsanwalt den Richter um die Mittagspause bat. Sie stopfte ihre Unterlagen in die Aktentasche und zwei Vollzugsbeamte brachten Allister weg.

Da erklang von draußen auf dem Flur heftiger Tumult. Von bösen Vorahnungen getrieben lief Harry hinaus.

David Allister hatte sich von seinen Bewachern losgerissen und war auf seinen ehemaligen Partner zugestürzt. Irgendwie war es ihm gelungen die vorne gefesselten Hände um den Hals von Jones zu legen, und nun drohte er damit den Mann zu erwürgen.

Die Beamten hatten ihre Waffen gezogen, bekamen jedoch kein freies Schussfeld. Die Reporter filmten, was das Zeug hielt, andere hielten Aufnahmegeräte in die Luft, um nur ja nichts zu verpassen.

Staatsanwalt Greene stand mit bleichem Gesicht an eine Wand gelehnt, und Steven Dunbar befand sich zwischen den übrigen Reportern. Die Situation drohte zu eskalieren.

„Ich will, dass du die Wahrheit sagst – Partner“, forderte Allister. „Du hast mich bis zum Äußersten getrieben, und mir ist es ziemlich egal, ob ich für das gleiche Verbrechen ein- oder zweimal angeklagt werde, solange du nur die Wahrheit sagst.“

Jones hatte einen roten Kopf bekommen, er konnte kaum noch atmen. Verzweifelt versuchte er mit den Händen die Kette zwischen den Handfesseln um seinen Hals zu lockern, ruderte dann wild mit den Armen herum.

Harry fasste sich und trat einen Schritt vor. „Sie sollten ihm wenigstens Gelegenheit geben, überhaupt etwas zu sagen“, erklärte sie ruhig.

„Er wird doch nur wieder lügen“, stieß Allister hervor.

„Selbst wenn, David, es würde Ihnen auch nicht weiterhelfen. Aber bis jetzt sind Sie nicht wegen Mordes angeklagt, lassen Sie es nicht so weit kommen.“

„Sie wissen, dass ich die Wahrheit sage“, brüllte er. „Sie haben ihn doch gefunden und mit ihm gesprochen. Ich will doch nur, dass mir Recht geschieht. Der hier ...“, er zerrte erneut an Jones, der sich vor Luftmangel kaum noch auf den Beinen halten konnte, „hat gegen Recht und Moral verstoßen. Ich musste etwas dagegen unternehmen. Und nun lassen Sie mich auch noch im Stich, obwohl Sie Sinistre selbst gesprochen haben.“

Harry wollte etwas darauf erwidern, doch in diesem Augenblick veränderte sich das Gesicht von Allister in eine Fratze. Lucius Sinistre, der sie voller Boshaftigkeit anlachte, war da plötzlich zu sehen. Harry überwand den Impuls auf ihn loszustürmen. Sie ballte die Fäuste, dass die Nägel sich tief ins Fleisch gruben, der Schmerz brachte sie wieder zur Besinnung, die grinsende Fratze verschwand.

„Mr. Allister, ich werde auf der Stelle das Mandat niederlegen, wenn Sie Mr. Jones nicht freigeben. Ich habe, weiß Gott, weder Lust noch Zeit, mein Können mit einem Narren zu verschwenden. Und Sie benehmen sich gerade wie ein Narr.“

Mutig trat sie einen weiteren Schritt näher und streckte die Hand aus. „Geben Sie auf, David, bitte beweisen Sie doch Geduld. Das alles hat doch keinen Zweck.“

Er heulte plötzlich auf, zerrte an seinen Fesseln und gab Jones schließlich frei. Die Beamten rissen ihn sofort zur Seite.

„He“, rief Harry wütend, „das ist kein Grund für Sie, einen Aufstand zu machen. Ich erwarte, dass mein Mandant anständig behandelt wird und hinterher nicht mal einen blauen Fleck hat. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?“

„Ja, Madam Barrister“, kam es widerwillig.

Harry war es gar nicht recht, dass diese ganze Szene auf zahllosen Kameras festgehalten worden war. In wenigen Minuten schon würden die Nachrichtensender in allen Einzelheiten von dem Vorfall berichten. Ihr Blick suchte Steven, sie packte seine Hand und zog ihn mit sich in ein leeres Besprechungszimmer. Auch seinem Gesicht war der Schock abzulesen, mit einer solchen Kurzschlusshandlung hatte niemand gerechnet.

„Er ist hier“, stieß Harry aufgebracht hervor. „Er ist überall da, wo ich auch bin. Was will er von mir? Warum lässt er mich nicht in Ruhe?“

„Wer? Von wem redest du ...? Sinistre? Du hast ihn gesehen? Wo?“

Harry kämpfte mit den Tränen. „Er – er hat sein Gesicht vor das von Allister geschoben. Ich hätte mich fast vergessen.“

Die beiden hörten, dass draußen Rettungssanitäter eingetroffen waren, die Jones wieder ins Krankenhaus bringen würden.

„Arme Harry.“ Steven zog sie an sich. „Ich habe keine Ahnung, was er von dir will. Aber ich fürchte, es gibt nur einen Weg das herauszufinden und ihn von weiteren Belästigungen abzuhalten.“

Sie holte tief Luft. „Ja, wir müssen ihn noch einmal aufsuchen. Aber vorher will ich noch einmal mit Jones reden. Vielleicht kann er uns sagen, ob Sinistre es auf bestimmte Seelen abgesehen hatte. Unter Umständen besteht eine Verbindung zwischen ihm und mir, so dass ich jetzt dafür sorgen soll, dass die fehlenden Seelen geliefert werden.“

„Das klingt absurd – und gleichzeitig logisch“, gestand er ein. „Also gut, noch einmal ins Krankenhaus, auch wenn ich nicht sicher bin, dass Jones überhaupt noch mal mit uns reden wird.“

Über dieses Thema mussten sie sich jedoch keine Gedanken machen, denn Patrick Jones war spurlos verschwunden.

„Was jetzt?“, fragte Steven. Er war ratlos, nachdem die Krankenschwester ihnen erzählt hatte, dass der Patient gleich nach seiner Einlieferung auf den eigenen Füßen hinausgegangen war. Allerdings in Begleitung eines Fremden, der hier schon auf ihn gewartet haben musste.

„Lucius Sinistre bringt mich noch an den Rand des Wahnsinns“, schimpfte Harry.

„Du glaubst, dass er Jones geholt hat?“

„Ja, daran glaube ich, schließlich ist sein Vertrag noch nicht erfüllt. Allerdings dürfte Jones kaum in der Lage sein, weitere Seelen zu liefern, also wird sich der Teufel die Seele von Jones selbst holen.“

„Warum hat er ihn dann nicht gleich umgebracht?“

„Was weiß ich? Vielleicht spielt der Satan mit seinem Opfer, so wie eine Katze mit der Maus. Vielleicht will er ihm auch nur noch eine letzte Chance geben ...“

„Oder vielleicht dient Jones auch nur als Lockvogel, um dich zu bekommen“, gab Steven zu bedenken. „Ich sehe das doch richtig, dass wir jetzt sofort nach Belgravia fahren werden, oder? Harry, das könnte verdammt gefährlich werden.“

„Du glaubst wirklich, dass es erst noch gefährlich wird? Ich denke, ich stecke schon mittendrin in der Gefahr“, erklärte sie bitter. „Ich kann ihm auf der ganzen Welt nicht entgehen, er könnte mich selbst im Traum erreichen. Es macht keinen Unterschied, ob ich ihn aufsuche oder ihm auf der Straße begegne. Aber ich will wenigstens die Initiative ergreifen und den Zeitpunkt selbst bestimmen. Aber ich glaube, von dir will er nichts, du solltest dich vielleicht zurückhalten, sonst kommst du auch in Gefahr, und das würde ich nicht überleben. Ich liebe dich, Steven, ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.“

Er lachte auf und zog sie zärtlich in die Arme. „Das meinst du doch nicht ernst, Liebste? Ich werde dich niemals mehr allein lassen, und ich gehe mit dir bis ans Ende der Welt, und wenn es sein muss, auch bis in die Hölle.“

„Ich weiß gar nicht, womit ich dich verdient habe, Steven.“

Für kurze Zeit versanken die beiden allein in den Gefühlen ihrer tiefen großen Liebe, dann lösten sie sich wieder voneinander. Es war jetzt nicht die Zeit, sich nur miteinander zu beschäftigen. Die Bedrohung war einfach zu real, um sie zu ignorieren.

Er nickte. „Du magst Recht haben, niemand kann ihm entkommen. Dann sollten wir versuchen, der Sache ein Ende zu machen – irgendwie.“

„Ja, richtig, irgendwie.“

Harry warf entschlossen den Kopf in den Nacken. „Jetzt, sofort, ich werde nicht länger warten.“ Sie hatte panische Angst, doch die wollte sie sich nicht einmal selbst eingestehen. Angst konnte man nicht besiegen, indem man davonlief. Diese Weisheit hatte ihr Vater schon früh in ihr Leben gebracht, und sie hatte sich bisher immer daran gehalten. Doch noch nie war es so schwer gewesen, der Angst und dem, was sie auslöste, ins Gesicht zu sehen. Lucius Sinistre war das Böse an sich, sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm begegnen sollte. Aber es musste einen Weg geben, dessen war sie sicher, sie musste ihn nur finden.

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Warum friere ich schon, wenn ich dieses Haus nur sehe?“ Harry schlug unwillkürlich die Arme um den Oberkörper, obwohl die Luft draußen sehr angenehm war.

„Sollen wir den Besuch noch verschieben?“, schlug Steven vor. „Vielleicht können wir uns besser vorbereiten ...“

„Auf was sollten wir uns vorbereiten?“, fragte sie leise. „Dieser Mann – dieses Wesen – verfügt über fast alle Macht der Welt. Das einzige, was wir ihm entgegensetzen können sind Standhaftigkeit und Liebe. Aber vielleicht reicht nicht einmal das aus. Falls ich doch scheitern sollte, dann denke bitte nicht schlecht von mir.“

Er riss sie in seine Arme und küsste sie heftig. „Ich könnte niemals schlecht von dir denken, und ich werde alles tun, damit es nicht so weit kommt. Harry, ich liebe dich, und ich will den Rest meines Lebens an deiner Seite verbringen. Sag jetzt nicht, es wäre noch zu früh, ich habe es vom ersten Augenblick an gewusst. Meine Liebe zu dir ist so stark, dass wir gemeinsam alle Hindernisse überwinden werden. Auch wenn Sinistre sein böses Spiel an uns versuchen sollte.“

Hand in Hand traten sie näher an das Haus heran, als die Tür heftig aufgerissen wurde. Patrick Jones stürzte heraus, in seinem Gesicht gab es mehrere Wunden, als hätten Klammern die Haut aufgerissen. Blut sickerte hervor und tropfte auf die Kleidung. In den Augen des Mannes lag unsägliche Angst, und der ganze Körper zitterte.

Als er die beiden jungen Leute sah, fiel er auf die Knie und streckte Hilfe suchend die Hände nach oben.

„Bitte, er darf mir nichts mehr tun, helfen Sie mir doch. Jemand muss ihn aufhalten. Ich habe doch nicht gewusst – ich wollte doch niemandem etwas Böses – mir war gar nicht klar – David hatte recht, als er mich gewarnt hat, dieser Mann ist wahrhaft der Teufel.“

„Haben Sie tatsächlich daran gezweifelt?“, fragte Harry bitter. „Sie haben sich ihm in die Hände gegeben, und nun werden Sie mit den Folgen nicht fertig. Dabei kann Ihnen niemand helfen. Und nun gehen Sie mir aus den Augen.“

Steven blickte irritiert, er hatte nicht damit gerechnet, dass die junge Frau so abweisend reagieren könnte.

„Sie dürfen mich nicht auch noch im Stich lassen“, jammerte Jones. „Wie soll ich denn jetzt noch den Vertrag erfüllen? Ich habe den Termin längst überschritten, aber er hat mir eine letzte Chance gegeben, wenn ich ihm noch drei Seelen bringe, lässt er mich in Ruhe, aber wenn es mir nicht gelingt, wird er mich holen. Ich habe noch vierundzwanzig Stunden Zeit, dann lande ich in der Hölle.“

„Was ist so schlimm daran?“, fragte jetzt auch Dunbar rau. „Sie wollen also lieber ein paar andere x-beliebige Seelen in die Hölle jagen, damit die dort die ewigen Qualen erleiden, statt die Verantwortung für Ihren eigenen Fehler zu übernehmen? Pfui! Wenn Sie schon vor Angst nicht mehr ein noch aus wissen, dann gehen Sie in die Kirche und sprechen mit einem Priester, vielleicht kann der dann wenigstens ein Gebet für Ihre verlorene Seele sprechen.“

Jones sprang auf, er wischte sich durch das Gesicht und verschmierte dabei das Blut großzügig. „Eine Kirche! Sie haben ja recht, ich muss in eine Kirche, dort kann man mir sicher helfen.“

Er raffte sich auf und hastete davon.

„Du willst wirklich da hinein?“, fragte Steven ein letztes Mal.

Harry nickte entschlossen und ging die Stufen hinauf, um zu klingeln. Aber niemand öffnete die Tür.

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Die junge Anwältin war in ihr Büro zurückgekehrt, doch es fiel ihr ausgesprochen schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Doch mit Mühe und Not brachte sie diesen Tag hinter sich, um am nächsten Morgen, innerlich noch immer erschöpft und verängstigt, mit der Arbeit weiterzumachen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie hatte Angst, aber sie war auch wütend. Wie hatte es geschehen können, dass aus einem scheinbar harmlosen, wenn auch verrückten Fall eine Bedrohung geworden war, deren Ausmaße gar nicht abzuschätzen waren? Was, bei allen guten Geistern, hatte sie mit dem Teufel zu tun?

Bis vor wenigen Tagen war er auch für sie nicht mehr als ein abstrakter Begriff gewesen. Es war schrecklich, dass nun plötzlich eine leibhaftige Bedrohung daraus entstanden war. Und wie kam sie aus diesem Wirrwarr wieder heraus? Sie wollte doch nichts weiter als ihr ganz normales Leben weiterführen – mit Steven Dunbar an ihrer Seite.

Steven war der große Glücksfall für sie. Wer hätte gedacht, dass sich hinter der Fassade des unauffälligen Reporters ein so großartiger Mensch verbarg? Sie konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen, dabei kannten sie sich doch erst seit so kurzer Zeit. Aber die Ereignisse hatten sie enger zusammengeschweißt als es unter normalen Umständen möglich gewesen wäre.

Draußen auf der Straße waren viele Sirenen zu hören, und Harry schrak zusammen, aber dann zuckte sie die Achseln. Es würde sicher wieder nur ein Unfall oder ein Feuer sein, so etwas geschah alle Tage. Aufseufzend beugte sie sich wieder über die Akte, aber dann klingelte das Telefon.

„Harry, du solltest sofort hierherkommen.“ Steven war am anderen Ende, und er klang höchst aufgeregt.

„Wo bist du? Wohin soll ich kommen? Was ist überhaupt los? Ich verstehe kein Wort.“

„Ich bin hier bei der St. Brides Church, und hier geschieht gerade etwas Schreckliches. Es – das ist eine Geiselnahme ...“

„Steven, bitte, ich brauche meine Mandanten nicht direkt vor Ort zu suchen. Lass die Polizei ihre Arbeit tun ...“

„Harry, du verstehst nicht. Es ist Jones, der den Priester und einige Touristen als Geiseln genommen hat.“

Sie murmelte einen Fluch, während ihr eisige Kälte über den Rücken kroch.

„Welch ein Unsinn, warum tut er das?“, fragte sie entsetzt.

„Ist das nicht klar? Er will dem Teufel die Seelen schicken.“

„In einer Kirche? Ist er jetzt komplett verrückt geworden? Steven, wir sollten uns da nicht einmischen. Es gibt ohnehin schon viel zu viel Aufsehen um diesen Fall“, wehrte sie ab.

„Ich fürchte, wir haben keine große Wahl. Jones verlangt mit uns zu sprechen.“

Das musste Harry erst einmal verdauen. „Ich komme“, sagte sie schließlich tonlos, dann gab sie ihrer Sekretärin einige Anweisungen und lief zu Fuß die kurze Strecke zur Kirche.

Die St. Brides Church war eine wunderschön restaurierte Kathedrale, die von vielen Touristen aufgesucht wurde. Der Innenraum war mit altem Holz ausgekleidet, wertvolle Statuen und mit Gold verzierter Stuck an den Deckenbögen machten sie zu einem Schmuckstück. Seit 1672 krönte der 69 m hohe Turm die Fleetstreet. In diesem altehrwürdigen Gebäude war Patrick Jones offenbar völlig dem Wahnsinn verfallen.

Polizei und Scotland Yard hatten die Umgebung abgesperrt, der Platz vor dem Haupteingang war menschenleer. Überall blinkten Blaulichter, Feuerwehr und Rettungswagen standen bereit für den Fall der Fälle.

Als Harry außer Atem ankam, schaute sie sich um, konnte im Gewimmel der Polizisten und Schaulustigen aber keinen Steven Dunbar sehen. Sie drängte sich durch die Menschen, bis sie vor der Absperrung stand. Ein Bobby wollte sie zurückdrängen, doch dann nannte sie ihren Namen und verlangte zum Einsatzleiter gebracht zu werden.

Vor einem unauffälligen dunklen Wagen standen Steven und ein anderer Mann, der in rascher Folge Befehle in ein Handy sprach. Steven zog die Frau eng an sich.

„Gut, dass du da bist. Wir sollten jetzt hineingehen und versuchen mit Jones zu reden“, sagte er. „Das hier ist Inspektor Parker, der Einsatzleiter. Er wird von außen dafür sorgen, dass nichts schief geht.“

Der höfliche zurückhaltend wirkende Mann betrachtete sie abschätzig.

„Es handelt sich hier um eine sehr skurrile Situation, und Sie müssen das nicht tun, Miss Beagle“, gab er zu bedenken. „Früher oder später kriegen wir ihn, und ich hoffe, dass es bis dahin keine Verletzten oder gar Toten gibt. Mir persönlich wäre es lieber, Sie würden da nicht hineingehen, aber Mr. Dunbar hier sagte, Sie kennen den Mann bereits und könnten vielleicht Einfluss auf ihn nehmen. Doch wir haben Spezialisten für derart kritische Situationen, und es widerstrebt mir, Unbeteiligte wie Sie hineinzuziehen.“

„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann, Inspektor. Aber ich bin Anwältin und habe heute früh noch mit ihm gesprochen. Allerdings bezweifle ich, dass ich soviel Einfluss auf ihn habe, dass diese schreckliche Angelegenheit innerhalb von Minuten vorbei sein wird.“

„Dann wäre es besser, wir würden die ganze Sache auf unsere Weise lösen.“ Das klang jetzt ablehnend und schroff.

In diesem Augenblick bemerkte Harry in der Menschenmenge das Gesicht von Lucius Sinistre. Er blickte sie direkt an, und ein kaltes Lächeln zog in das Gesicht. Legte er es wirklich darauf an, dass Jones eigenhändig die Leute tötete, um die Seelen zu erhalten? Konnte sie diese sinnlosen Morde vielleicht doch verhindern?

„Ich gehe hinein“, sagte sie spontan.

Parker zog die Augenbrauen hoch, machte aber keine Bemerkung zu diesem Sinneswandel.

„Hat Jones eine Waffe?“, erkundigte sich Steven sachlich.

„Das wissen wir nicht, oder doch, ja, angeblich hat er den Priester mit einem Messer bedroht.“

„Wie viele Leute sind außer Jones da drinnen?“

„Drei, soweit wir wissen.“

„Komm, das alles spielt keine Rolle“, erklärte Harry und zerrte an Steven.

„Madam, Sie sollten eine schusssichere Weste und ein Mikrofon ...“, versuchte Parker einen weiteren Einwand, er war nicht darauf gefasst, von Harry mit einem bösen eiskalten Blick angesehen zu werden.

„Eher friert die Hölle zu, als dass mir das irgendetwas nützen würde“, stieß sie hervor.

Parker blickte ihr verständnislos hinterher. Harry drängte ihre Angst in den Hintergrund und ließ zu, dass sie von kalter Wut erfüllt wurde. Sinistre wollte Menschen manipulieren? Ja bitte, dann sollte er das tun, aber nicht mit ihr. Weiß Gott nicht!

Sie war nie besonders gläubig gewesen oder häufig zur Kirche gegangen, doch seit sie denken konnte, war eine höhere Macht für sie eine Tatsache, mochte es nun Gott sein oder sonst etwas. Also besaß dieses höhere Wesen auch einen Widerpart. Sie wollte sich weder mit dem einen noch mit dem anderen einlassen, und sie würde jetzt ein für alle Mal Schluss machen mit dieser Belästigung. Sie wollte keine Angst mehr haben.

Energisch riss sie das Kirchenportal auf, ihre Stimme klang hart und kalt. Ihr Verständnis für diesen Mann hielt sich in Grenzen.

„Jones? Ich bin es, Harry Beagle, und hier ist auch Steven Dunbar. Sie haben verlangt mit uns zu sprechen? Hier sind wir. Aber zuerst werden Sie die Leute freilassen, die Sie hier festhalten.“

Der Kirchenraum war kleiner, als Harry gedacht hatte. Im Gegensatz zu den vielen Touristen, die London besuchten, war sie selbst nie in dieser Kirche gewesen. Die Tür zur Sakristei war offenbar verschlossen, denn alle vier Personen befanden sich hier. Die drei Geiseln saßen in einem der Chorgestühle, Jones stand im Gang zum Altar. Er starrte Harry an, die ihre Wut vor sich her trug wie einen Schutzschirm. Aber auch jetzt stand dem Mann die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, in seinen Augen flackerte der Wahnsinn.

„Ich will, dass Sie mir helfen“, brüllte er. „Ich habe nur noch wenig Zeit, um die letzten Seelen zu liefern, sonst ... sonst ...“

„Sonst braten Sie in der Hölle“, vollendete Harry. „Meiner Meinung nach ist das der einzige Ort, an den Sie im Augenblick gehören. Aber nun werden diese Leute hier die Kirche verlassen. Was dann mit Ihnen geschieht, ist mir ehrlich gesagt, egal.“ Sie schaute die verängstigten Geiseln an und deutete zum Ausgang. „Kommen Sie, es tut mir sehr leid, dass Sie das hier erleben mussten.“

Jones schien völlig gebrochen, er widersetzte sich nicht, er stand da und blickte voller Angst ins Leere. Der Priester schob die beiden Frauen, die sich mit ihm zusammen hier befanden, vor sich her, auf den Ausgang zu.

Harry schnüffelte plötzlich, in den Geruch von altem Holz, Putzmitteln und Kerzenwachs mischte sich ein anderer Duft. Sie wirbelte herum. Lucius Sinistre war aus dem Nichts aufgetaucht und verbreitete einen leichten Anflug von Schwefel. Er machte eine knappe Verbeugung in Richtung der schönen jungen Anwältin.

„Ich danke Ihnen für Ihre tatkräftige Hilfe, Harry. Sie haben Recht, dieser Mann gehört jetzt mir. Und nun gestatten Sie mir, mich zurückzuziehen, selbst ein Teufel hat manchmal ein Recht auf ein Privatleben.“

Er packte Jones an der Hand, und er schrie auf. Er begann zu wimmern.

„Eines noch, Harry, ich will heute großzügig sein“, sagte Sinistre. „Bevor Sie mich womöglich um das Leben dieses Mannes bitten, was Sie bestimmt noch tun werden – ich sehe die Seele dieses Mannes als Anzahlung auf den Vertrag, den wir beide miteinander schließen werden.“

„Niemals. Und nun gehen Sie schon.“

„Niemals ist eine sehr lange Zeit. Sie wissen, wo Sie mich finden, Harry. Jetzt nehmen Sie sich vor der Polizei in Acht. Genießen Sie den Tag.“ Schlagartig war er verschwunden und mit ihm Jones.

„Glaubst du, er wird ihn töten?“, fragte Steven.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie leise und niedergeschlagen. „Was hat er damit gemeint, einen Vorschuss?“

„Darüber können wir nur spekulieren, später. Jetzt lass uns gehen, am besten sagen wir draußen nichts davon, wie Jones verschwunden ist. Soll die Polizei ihn doch suchen. Uns würde ohnehin niemand glauben.“

Damit war Harry einverstanden, wie hätten sie Inspektor Parker auch die Anwesenheit des Teufels erklären können?

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Der nächste Gerichtstag wurde abgesagt, der vorsitzende Richter war schwer erkrankt. Das war recht merkwürdig, wie Harry fand, aber im Augenblick fand sie alles merkwürdig, was die tägliche Routine unterbrach. Sie rätselte ständig darüber nach, warum Sinistre so an ihr interessiert war. Er konnte doch sicherlich eine Menge Opfer haben, die sich nicht lange sträubten, seine „unwiderstehlichen“ Angebote anzunehmen.

Steven war im Auftrag seiner Redaktion nach Brighton gefahren, auch wenn er sie nur ungern allein zurückließ. Nachdenklich starrte sie aus dem Fenster ihrer hübschen kleinen Wohnung, immer darauf gefasst, erneut das Gesicht von Lucius Sinistre zu sehen. Sie hatte Angst, und das machte sie nervös. Angst war kein guter Zustand, sie führte dazu, dass man unsicher wurde und Fehler machte. Sie wollte keine Angst haben.

Die ganze Sache ließ ihr keine Ruhe mehr, irgendwie fühlte sie sich auch für Patrick Jones mitverantwortlich. Wäre es vielleicht nicht zu einer solchen Kurzschlussreaktion gekommen, wenn sie anders auf sein Hilfeersuchen reagiert hätte? Sie wusste es nicht, aber sie fragte sich auch, ob er schon tot war.

Die Polizei hatte in der Kirche keine Spur von ihm gefunden. Inspektor Parker hatte ihre Erklärung, nichts weiter zu wissen, mit einem misstrauischen Stirnrunzeln quittiert. Jetzt versuchte sie, sich an den Vorfall im Gericht zu erinnern. Was war da zwischen den beiden Männern gewesen? Irgendetwas stimmte da noch immer nicht. Bevor sie sich hier weiter verrückt machte, wollte sie noch einmal mit Allister sprechen. Kurz entschlossen fuhr sie zum Gefängnis. Sie wartete schon im Besucherraum, als David Allister hereingeführt wurde. Er machte einen ruhigen gefassten Eindruck, ihre Drohung gegenüber den Beamten schien Wunder gewirkt zu haben, denn der Mann sah nicht so aus, als hätte man ihn misshandelt.

„Ich werde das Mandat definitiv niederlegen“, öffnete Harry ohne Übergang, er wirkte nicht besonders überrascht. „Aber vorher werden Sie mir jetzt die ganze Wahrheit erzählen, sonst werden Sie in diesem Königreich keinen einzigen Anwalt finden, der auch nur einen Finger für Sie krümmt. Habe ich mich da absolut verständlich ausgedrückt? Die ganze Sache ist doch wohl um einiges anders abgelaufen, als Sie beide es bisher erzählt haben, oder?“

Allister schwieg und starrte auf seine gefesselten Hände. Harry war es leid. Er wollte nicht reden? Auch gut, dann würde sie keine weitere Zeit mit ihm vergeuden. Sie stand auf.

„Warten Sie, bitte“, sagte er rau. „Sie haben Recht, das war alles anders. Ich erfuhr relativ früh von den riskanten Geschäften meines Partners, und nach dem ersten heftigen Streit überlegten wir, wie wir den Schaden begrenzen könnten. Da kam dieser Lucius Sinistre eines Tages ins Büro und machte uns beiden einen Vorschlag. Natürlich haben wir zuerst abgelehnt, doch der Gedanke setzte sich fest, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Patrick kam dann auf die Idee, dass nur einer von uns diesen Vertrag eingehen sollte, er hoffte, dass wir irgendwie den Teufel überlisten könnten. Ein Traum, den vermutlich schon viele andere Menschen vor uns geträumt haben, und er funktionierte natürlich nicht. Patrick unterschrieb den Vertrag mit Blut und versprach die geforderten Seelen zu beschaffen, ohne darüber nachzudenken, was er diesen Menschen antun würde. Auf jeden Fall sollten die Leute in den Ruin getrieben werden und Selbstmord begehen. Niemals jedoch war die Rede davon, dass Patrick aktiv daran arbeiten sollte, die Menschen in den Tod zu treiben.“

„Hat er das getan?“, fragte Harry. Ihr Entsetzen hielt sich in Grenzen, zu viel war in den letzten Tagen geschehen, als dass sie noch großartig erschüttert werden könnte. „Hat er selbst getötet? Warum haben Sie das bisher verschwiegen?“

„Er hat nicht selbst getötet, nein, jedenfalls nicht, soweit es mir bekannt ist. Nein, obwohl Patrick sagte, Sinistre hätte nicht drei, sondern sieben Seelen von ihm verlangt und ihm eine Frist gesetzt. Aber Patrick war plötzlich wie besessen, er glaubte, er könnte die Bedingung erfüllen und dieser Vertrag würde dazu führen, dass er so viel Geld machen könnte, dass sich damit auch etwas Gutes bewirken ließe. Damit wollte er das Unrecht wieder gutmachen. Er war innerlich längst zerrissen, doch er hatte panische Angst, selbst in die Hölle zu kommen. Offenbar ist er streng erzogen worden, und besonders seine Großmutter hatte ihm die Hölle in den lebhaftesten Farben geschildert. Er wollte jedenfalls alles tun, um nicht selbst dort zu landen. Doch er tat, was er konnte, überredete mehrere Leute, wertlose Papiere zu kaufen, und dann sorgte er dafür, dass diese Werte einen kleinen Aufschwung erlebten, bis diese Kunden auch den letzten Penny investierten. Anschließend stürzten die Kurse ins Bodenlose. Ja, diese Manipulationen habe ich sogar unterstützt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich davor gedrückt hatte, an seiner Seite stehen zu bleiben – obwohl ich ursprünglich tatsächlich nichts mit den riskanten Geschäften von Patrick zu tun hatte. Das alles machte mir Angst, deswegen habe ich es einfach nicht gewagt, auch einen Vertrag abzuschließen. Doch ich profitierte von den Erfolgen, die mein Partner jetzt hatte, und mein schlechtes Gewissen wurde immer größer. Dann aber machte Patrick einen, in meinen Augen, unverzeihlichen Fehler. Er wandte dieses ruinöse Verfahren bei einem meiner Verwandten an. Ein Cousin, den ich zwar lange nicht gesprochen, aber doch immer gemocht hatte. Erneut stellte ich Patrick zur Rede, ich beschwor ihn, endlich aufzuhören, irgendwann musste es genug sein. Aber mein Partner hatte so schrecklich viel Angst, dass er nicht auf mich hörte. Er trieb auch meinen Vetter in den Tod, indem er ihm die Nachricht über die enormen Verluste selbst überbrachte. Er verhöhnte ihn sogar, bis die Verzweiflung so groß wurde, dass der sich erhängte. Das war der Moment, in dem ich das Ganze nicht mehr ertragen konnte. Ich war fest entschlossen, Patrick zu töten, aber auch das ging schief, aus Angst und Feigheit bin ich davor zurückgeschreckt, diese Sache zum Abschluss zu bringen. Ich bin ein Versager, einen anderen Begriff gibt es dafür wohl nicht. All das ist der Grund, warum ich büßen muss, und ich werde mich nicht dagegen wehren, verurteilt zu werden. Aber Patrick tut mir leid – ich habe Angst um ihn und verabscheue ihn gleichzeitig.“

„Und bei all dem sind Sie auch ein wenig neidisch auf ihn, weil er das getan hat, was Sie selbst nicht konnten.“ Harry hatte kein großes Mitleid mit dem Mann. Er hätte sich von Jones trennen können, die Polizei informieren, mit der Börsen- und Bankenaufsicht zusammenarbeiten – statt dessen hatte er sogar versucht mitzumachen bei einem so abscheulichen Betrug an der Menschheit, dass es jeden normalen Menschen gruseln musste.

„War sonst noch etwas?“, fragte sie kalt.

Sein Blick war auch weiterhin stumpf und hoffnungslos. „Sie wollen mir also nicht helfen? Mich nicht mehr unterstützen?“, fragte er niedergeschlagen.

„Das kann ich nicht“, gab sie zurück. „Sie haben mich nicht nur belogen, Sie haben mich in diese schmutzige Angelegenheit hineingezogen, mehr als Sie sich vorstellen können. Und ich will verdammt sein, wenn ich Ihnen in dieser Lage auch noch helfe.“

Er blickte sie erschreckt an. „Bitte, sagen Sie so etwas nicht, Miss Beagle. Sie beschwören weiteres Unheil herauf.“

„Das ist schon längst passiert“, stieß sie wütend hervor.

Erst jetzt begriff Allister. „Er hat Ihnen auch ein Angebot gemacht? Sind Sie darauf eingegangen? Sind Sie deswegen hier? Wollen Sie mich jetzt zur Hölle schicken? Soll ich für Patrick den Kopf hinhalten?“

Sie ließ sich auch durch diesen Ausbruch nicht provozieren. „Wenn ich Ihnen etwas antun wollte, wären Sie schon tot. Aber ich habe wirklich nicht vor, eine Partnerschaft mit diesem dubiosen Wesen einzugehen. Den Rest werden Sie früher oder später doch hören, also kann ich es Ihnen gleich sagen. Patrick Jones ist nach Ihrer Attacke aus dem Krankenhaus verschwunden, hat in einer Kirche Geiseln genommen und wieder freigelassen, seitdem ist er wie vom Erdboden verschwunden.“

Die Nachrichten trafen den Mann schwer, und er begriff, dass er von Harrys Seite aus keine weitere Hilfe zu erwarten hatte. Allister stand auf. „Ich danke Ihnen für alles, was Sie bisher für mich getan haben. Ich wünsche Ihnen tatsächlich alles Gute. Nehmen Sie sich vor Sinistre in Acht, aber das wissen Sie wahrscheinlich schon. Ich hoffe, es gelingt Ihnen zu entkommen.“

Harry fühlte sich nach diesem Besuch nicht wirklich besser, auch wenn sie jetzt vermutlich alle Einzelheiten kannte. Offen blieb nur noch die Frage, warum der Teufel ausgerechnet sie als nächstes Opfer ausgewählt hatte. Aber das würde sie auch noch herausfinden. Und damit wollte sie nicht warten.

Aber zuerst führte sie ein längeres Gespräch mit Steven, in dem es zur Abwechslung nichts von Problemen, Angst und Schwierigkeiten zu reden gab. Stattdessen versicherten sich die beiden ihrer Liebe und redeten eine Menge sinnloses Zeug, so wie es frisch Verliebte gerne tun. Als Harry die Verbindung unterbrach, starrte sie eine Weile nachdenklich vor sich hin. Sie fühlte sich so sehr zu Steven hingezogen, dass es ihr schwerfiel, noch bis zum nächsten Tag zu warten, um ihn wieder in die Arme zu nehmen. Natürlich wäre es nicht schwierig, die Zeit bis dahin mit Arbeit zu verbringen, davon gab es reichlich. Aber ihre Gedanken kreisten immer wieder um das eine Thema und ließen es kaum zu, dass sie sich auf die normalen Routineaufgaben konzentrieren konnte.

Aus einem plötzlichen Entschluss heraus wollte sie unbedingt mit Lucius Sinistre sprechen. Obwohl sie Steven versprochen hatte, sich zurückzuhalten, war sie nicht länger bereit abzuwarten. Sie wollte dieses Wesen zur Rede stellen. Sinistre schien wohl das Böse an sich zu sein, aber er hatte sie bisher noch nie angelogen. Er spielte gern mit seinen Opfern und sagte ihnen sogar, was ihnen bevorstand. Die Angst und Verzweiflung schienen ihn zu amüsieren. So hatte sie eine Chance, die Wahrheit zu erfahren, wenn er glaubte, dass sie ihm sowieso nicht entkommen konnte.

Harry war sich klar darüber, welches Risiko sie einging. Dieses Wesen brachte hochintelligente Menschen dazu, absolut irrational zu handeln und alle moralischen und ethischen Regeln über den Haufen zu werfen. Sie konnte nicht sicher sein, dass ihr das nicht auch geschehen würde. Sie musste eben vorsichtig sein und versuchen, der List und Raffinesse des Teufels die eigene Klugheit entgegenzusetzen. Aber auch das hatten im Laufe der Jahrtausende schon viele Menschen versucht, und es war fraglich, ob es überhaupt einer geschafft hatte.

Harry fuhr erneut nach Belgravia hinaus und suchte das Haus auf. Belmond House, das klang so harmlos und Vertrauen erweckend. Und doch verbarg sich allein schon hinter diesem Namen pures Grauen.

Dieses Mal wurde die Tür geöffnet, und der seltsame Butler gab ohne sichtbare Gefühlsregungen den Weg frei. Er führte sie in den nun schon bekannten Salon und schloss die Tür hinter ihr.

Harry war nicht überrascht, dass sie das Hereinkommen von Sinistre nicht bemerkte. Er war plötzlich einfach da.

„Sie haben sich also doch endlich dazu entschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen?“, fragte er mit schmeichelnder Stimme. „Sie sind eine kluge Frau, Harriet Beagle. Sie haben sich doch bestimmt schon Gedanken darüber gemacht, was ich für Sie tun kann. Nennen Sie mir Ihre Wünsche, damit wir zum Wesentlichen kommen können.“

Seine direkte Nähe wirkte betäubend. Nur zu gern hätte sie sich diesen Gefühlen hingegeben. Er vermittelte eine trügerische Sicherheit und Aufrichtigkeit. Was war denn schon dabei, wenn sie auf seine Angebote einging? Er wollte ihr doch nur helfen.

Gewaltsam riss sich die Frau aus diesen Gedanken und trat zwei Schritte von Sinistre zurück, der sich direkt hinter sie gestellt hatte.

„Bevor wir dieses Thema aufgreifen, möchte ich doch gern wissen, warum Sie ausgerechnet auf mich verfallen sind. Ich bin nicht besonders gläubig, weder in der einen noch in der anderen Richtung – also, ich meine gut oder böse. Ich habe niemals um etwas gebeten, was unerfüllbar wäre, und ich würde mich selbst nicht als besonders schwach bezeichnen, ich gehe meinen Weg. Warum also ich?“

Er ging langsam durch den Raum, blieb vor den Miniaturen stehen und genoss die flehenden Blicke der dort eingesperrten Lebewesen.

„Ich schätze das Risiko“, erwiderte er schließlich. „Ich kann jeden Tag tausende von neuen Opfern finden, die sich bedenkenlos gerne in meine Arme werfen. Aber seien wir doch mal ehrlich, das ist viel zu einfach und zu langweilig. Sie waren ursprünglich gar nicht in meinem Plan vorgesehen, doch als ich Ihre Stärke entdeckte und Ihren Willen, der Sache auf den Grund zu gehen und meine Pläne zu durchkreuzen, da war mein Interesse geweckt. Es reizt mich, meine Opfer zu überzeugen.“

„Falsch, es reizt Sie, mit Ihren Opfern zu spielen“, erwiderte sie heftig.

„Nennen Sie es, wie Sie wollen.“

„Was sollte das heißen, Jones wäre nur eine Anzahlung?“, forschte sie weiter. „Ich bin nicht bereit, Geschäfte mit Ihnen zu machen. Es gibt einfach keinen Grund dafür. Ich habe keinerlei Wünsche, die Sie mir erfüllen könnten. Und ich gehe nicht so weit, mir etwas zu wünschen, das den Rahmen meiner Verhältnisse sprengt.“

„Wirklich nicht? Warum sonst sind Sie dann hier?“

„Ich wollte Antworten auf meine Fragen.“

Sinistre lachte plötzlich auf. „Das wäre wirklich alles? Dann hätten Sie Ihre und meine Zeit vergeudet.“

„Kommt es Ihnen tatsächlich auf die Zeit an?“

„Wollen Sie mich herausfordern?“, wollte er wissen. „Glauben Sie tatsächlich, Sie könnten gegen mich gewinnen? Nun, warum auch nicht? Es hatte in der Geschichte der Menschheit eine Reihe von Leuten gegeben, die sich als überaus stark erwiesen haben. Warum sollten Sie nicht auch eine von ihnen sein? Lassen Sie uns ein Spiel spielen, Harry. Wenn Sie gewinnen, werden Sie nie wieder im Leben einen Wunsch äußern müssen, und Sie können mit Ihrem Steven bis ans Lebensende glücklich leben. Sollte ich jedoch der Sieger sein, gehören Sie mir – und Steven ebenfalls. Nun, ist das nicht ein Anreiz?“

„Nein“, sagte sie rasch und wich weiter zurück. „Nein, mit Ihnen spiele ich nicht. Da hätte ich keine Chance. Nein, darauf lasse ich mich nicht ein. Suchen Sie sich jemand anderen. Aber lassen Sie vorher Patrick Jones frei, ich glaube, er hat Ihnen mehr Unterhaltung und Kurzweil geliefert, als im Vertrag vorgesehen war.“

„Wie edelmütig von Ihnen“, spottete er. „Wären Sie bereit, um das Leben von Jones zu kämpfen?“

„Wiederum nein. Ich kann nur an ihre Menschlichkeit ...“

„... meine Menschlichkeit appellieren?“, fragte er spöttisch. „Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen. Ich bin kein Mensch, und ich habe auch keine edlen Gefühle. Meine Absichten dürften klar sein, oder halten Sie mich womöglich für einen Menschenfreund? Das ist wohl das letzte, als das man mich bezeichnen könnte. Ich will Unterhaltung, Herausforderung, Risiko. All das können Sie mir bieten. Wollen Sie mir wirklich den Spaß verderben? Denken Sie nicht einmal daran, Harry, ich bin in der Lage, Sie zu diesem Spiel zu zwingen. Also gut, erhöhen wir noch ein wenig den Einsatz. Strengen Sie sich an, Harry, Sie haben ab sofort ein großes Ziel vor Augen.“

Er deutete auf eine Vase aus schwerem Bleikristall, in der sich plötzlich etwas bewegte. Sie schaute genauer hin, dann schrie sie auf.

„Steven!“ Das alles konnte doch nur ein Albtraum sein, und sie musste gleich aufwachen. Da drinnen in der Vase befand sich ein verkleinerter Steven und lief völlig verwirrt umher, um dann gegen die gläsernen Wände zu schlagen, die er doch nicht durchdringen konnte.

Harry wirbelte herum und ging mit beiden Fäusten auf Sinistre los, doch der blockte sie mühelos ab und hielt ihre Handgelenke fest.

„Langsam, Harry, Sie werden Ihre Energie noch brauchen.“

„Was haben Sie mit Steven gemacht? Wie kommt er dahin? – Was verlangen Sie?“, fragte sie schließlich angespannt.

„Na also, da werden Sie endlich vernünftig. Spielen wir unser Spiel, Sie können Steven befreien und Patrick Jones meinetwegen gleich mit, er langweilt mich. Aber Sie müssen mir schon entgegenkommen.“

„Noch einmal, was wollen Sie? Auch unter diesen Umständen werde ich keinen Vertrag mit Ihnen eingehen.“

„Sie würden tatsächlich diese beiden aufgeben, um Ihre eigene armselige Seele zu retten? Sie erstaunen mich.“

„Ich würde nicht meine Seele allein retten“, erwiderte sie ruhig. „Ich würde Ihre Pläne durchkreuzen, und das wäre es mir wert. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass selbst Sie Menschen ohne Grund töten dürfen.“

„Es gibt immer Gründe, aus denen man etwas tun kann“, erwiderte er, beharrte jedoch nicht länger auf diesem Thema. Stattdessen versuchte er weiter, sie zu provozieren.

„Es liegt allein an Ihnen, diese beiden Seelen zu retten“, wiederholte er. „Machen Sie sich darauf gefasst, dass es nicht leicht werden wird. Schließlich will ich meinen Spaß haben.“

Sinistre formte mit den Händen seltsame Bewegungen in die Luft. Harry fühlte ein grausames Ziehen in ihrem Körper, ihr Kopf schien zu zerbrechen, der Schmerz brachte sie fast um den Verstand. Dann befand sie sich plötzlich in einer anderen Umgebung, und der Albtraum ging erst richtig los.

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Was war das für ein Gericht? Harry schaute sich um, wo war Ausgang aus diesem Irrenhaus?

Der Richter war ein Mann von ebenmäßiger Schönheit. Er trug einen eleganten schwarzen Anzug, blickte aber ein wenig dümmlich in die Gegend. Steven saß auf der Anklagebank wie eine Statue. Der Staatsanwalt war Sinistre selbst. Auf einer harten Holzbank saßen mehrere Personen, die kein Gesicht besaßen, ebenso wie das Publikum, das ebenfalls marionettenartig auf den Sitzplätzen hockte. Und mittendrin hampelte ein Harlekin in einem bunten Kostüm mit Schellen an den Füßen herum.

„Soll ich jetzt die Anklage verlesen? Soll ich? Darf ich?“, fragte er mit kreischender Stimme.

Der Richter blickte von seinem Podium auf ihn herab. „Was? Welche Anklage? Wovon redest du? Ist das hier nicht ... Ach nein, du hast recht, heute bin ich ein Richter. Also los, sprich schon. Wo ist der Angeklagte, und was hat er getan?“

Harry warf einen Blick zu Sinistre hinüber, und der zwinkerte ihr zu.

„Denken Sie immer daran, dass ich mich amüsieren will. Selbst wenn ich verlieren sollte, was höchst unwahrscheinlich ist, wäre der Verlust für mich nicht groß. Für Sie geht es um deutlich mehr. Ich komme Ihnen soweit entgegen, dass ich Ihnen gestatte, Ihr Wissen und Können einzusetzen. Sie haben hier vor Gericht Ihre Chance, wenn es Ihnen gelingt, vom Richter einen Freispruch zu erwirken.“

„Das ist alles?“, fragte sie misstrauisch.

„Natürlich, aber warten Sie die Anklage ab.“

Während des kurzen Gesprächs war die ganze Szene eingefroren, und Harry fühlte sich noch viel mehr in einem Albtraum gefangen. Konnte sie nicht endlich aufwachen? Das alles hier war doch irreal. Wie kam sie, eine nüchterne praktisch denkende Rechtsanwältin, die noch nie etwas mit okkulten Praktiken zu tun gehabt hatte, hierher? Wie kam sie überhaupt als Hauptperson in diese absurde Situation? Sie wollte hier weg!

Panisch glitt ihr Blick durch den Raum, wo war der Ausgang? Doch es gab keine Tür nach draußen, es gab auch keine Fenster. Sie befand sich in einem hermetisch abgeschlossenen Raum mit einem unbegreiflichen Wesen, das ihre Seele haben wollte, und sie musste den unschuldigen Steven gegen eine bislang noch unbekannte Anklage verteidigen.

Harry spürte Angst, Wut und Niedergeschlagenheit, aber sie hatte tatsächlich keine Wahl.

Als sie mit ihren Überlegungen so weit gekommen war, wurde die Szenerie wieder lebendig. Sie blickte zu Steven hinüber und sah Angst, aber auch Zuversicht in seinen Augen. Warum sagte er denn nichts? Nun, vielleicht war es besser so. Jetzt wollte sie die Anklage hören.

Der Harlekin schien auf diesen Augenblick gewartet zu haben. Seine Stimme klang noch immer schrill und kreischend und schmerzte in den Ohren.

„Der hier anwesende Steven Dunbar ist angeklagt, gegen die Gesetze der Hölle verstoßen zu haben. Er hat die hier ebenfalls anwesende Harriet Mary Beagle dazu veranlasst, ein für beide Seiten lukratives Geschäft des ebenfalls anwesenden Lucius Sinistre, auch bekannt als Mephistopheles, Satan, Beelzebub, Teufel und so weiter, abzulehnen. Außerdem weigert er sich beharrlich, die Bösartigkeit in sich selbst freizugeben. Er verübt stattdessen gute Taten und entwickelt tiefe Gefühle, die höllischerweise unerwünscht sind. Die Anklage wird vertreten durch Lucius Sinistre, für die Verteidigung darf die Frau sprechen, wenn sie denn etwas zu sagen hat.“ Er brach in schrilles Gelächter aus, und der Richter strich sich gelangweilt durch die Haare.

„Ich bitte das Gericht um eine Unterbrechung, damit ich mich mit der Anklage vertraut machen und die Verteidigung vorbereiten kann“, sagte Harry rasch und erntete damit einen verständnislosen Blick.

„Abgelehnt“, kam es kalt.

„Dann möchte ich wenigstens mit meinem Mandanten sprechen“, sagte sie schon fast verzweifelt.

„Keine Einwände“, kam es zu ihrer Überraschung von Sinistre. Erst in diesem Augenblick war Steven in der Lage zu sprechen.

„Was, zum Teufel, geht hier vor?“, fragte er zornig. „ Wie komme ich hierher, und wo bin ich überhaupt? Bis vor einigen Minuten befand ich mich noch mitten im Gespräch, um anschließend einen Artikel zu schreiben. Von einem Augenblick auf den anderen war ich ihr. Aber wo und was ist hier?“

Harry reichte ihm zärtlich die Hand und versuchte, ihm auf diese Weise etwas Trost zu spenden. „Das alles ist schwer zu erklären, Liebster, und wir haben nur wenig Zeit. Hast du verstanden, wessen du angeklagt bist?“

„Durchaus, aber seit wann ist das ein Verbrechen, sich gegen das Böse zu wehren?“

„Seit ich es abgelehnt habe, auf ein unwiderstehliches Angebot einzugehen. Steven, ich gestehe, mir fällt im Augenblick nichts ein, womit ich dich verteidigen könnte. Egal, welche Taktik ich einschlage, sie ist falsch. Wenn du dich schuldig bekennst, kommst du in die Hölle. Plädieren wir auf unschuldig, komme ich in die Hölle, weil ich dann einen Vertrag mit ihm abschließen muss. Wie auch immer, wir drehen uns im Kreis.“

Er schaute sie liebevoll an und begriff ihr Dilemma vollkommen. „Wir werden uns also etwas einfallen lassen“, erklärte er nüchtern.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen, und das auch noch möglichst schnell.“ Sie lachte nervös auf. „Obwohl es dafür schon zu spät sein könnte. Sinistre hat mich ins kalte Wasser geworfen. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Aber ich will dich nicht verlieren, Steven. Und ich will auch gar nichts mehr von diesem ganzen verdammten Unsinn wissen. Ich will mein normales Leben weiterführen, mit dir an meiner Seite. Es ist genug, ich kann nicht mehr.“

„Ich fürchte, meine Liebste, darauf wird Sinistre keine Rücksicht nehmen. Er lebt davon, dass wir Menschen tiefe Gefühle entwickeln, er ernährt sich davon. Deine Gefühle machen es ihm leicht.“

Sie nickte tapfer. „Das habe ich mittlerweile begriffen. Also gut, ich werde einen Weg finden müssen.“

„Genug“, rief der Richter. „Das sollte doch wohl reichen. Ich habe noch andere wichtige Dinge zu tun und kann nicht den ganzen Tag mit diesem Fall vertrödeln.“ Er schaute einmal in die Runde, aber das Publikum blieb noch immer gesichtslos. Der Harlekin tanzte weiter durch den Raum und berührte von Zeit zu Zeit einen der schweigsamen Zuschauer. Es konnte sich dabei nicht um Puppen handeln, wie Harry zuerst angenommen hatte, denn einige von ihnen hatten sich bewegt.

Jetzt konzentrierte sie sich darauf, diesen Prozess zu gewinnen.

„Ich brauche eine Ausgabe der hier gültigen Gesetzbücher“, forderte sie rasch. Eine Ahnung stieg in ihr auf, dass sie mit den bisher für sie geltenden Gesetzen hier nicht weiterkam.

„Sehr gut, Miss Beagle“, lobte Sinistre spöttisch und reichte ihr das eigene Buch. Harry schlug es auf und schimpfte lautlos in sich hinein. Die Schriftzeichen waren ihr völlig unbekannt, dementsprechend war das Buch für sie nutzlos. Ihre Finger strichen sanft über eine Seite, sie schrak zusammen. Aus den Buchstaben heraus sprangen kleine Flammen hervor, die sofort erloschen, als sie ihre Hände zurückzog. Aber auch von diesem nebensächlichen Ereignis wollte sie sich nicht unterkriegen lassen.

„Möchten Sie jetzt Ihre Zeugen aufrufen, Herr Staatsanwalt?“, fragte sie interessiert. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie so schnell auf das grausame Spiel eingehen würde. Das verdarb ihm ein wenig den Spaß. Harry war gespannt, wie es nun weitergehen sollte.

Sinistre schaute hinüber zu den stummen Zeugen, machte aber keine Anstalten, einen von ihnen aufzurufen.

„Die Anklage ist klar und eindeutig, warum sollte dazu noch mehr gesagt werden? Ich bin schon jetzt bereit, das Plädoyer zu halten. Wie sieht es mit Ihnen aus, Frau Verteidigerin?“

Sie ließ sich nicht überrumpeln. „Tut mir leid, soweit bin ich noch nicht. Ich möchte tatsächlich gern jemanden in den Zeugenstand rufen.“

„Der Angeklagte hat nicht das Recht für sich selbst im Zeugenstand zu sprechen“, nörgelte der Richter, der glaubte, dass sie Steven aufrufen wollte.

„Ja, so was habe ich mir schon gedacht“, gab sie trocken zurück. „Aber ich möchte jemand anderen befragen.“ Sie drehte ein wenig den Kopf und lächelte. „Ich rufe Lucius Sinistre in den Zeugenstand.“

Selbst der Harlekin blieb wie angewurzelt stehen. „Das geht nicht“, quietschte er.

„Doch, das geht.“ Harry pokerte hoch. „ Laut Paragraph 277b, Absatz 18a, Unterabteilung 3 steht es mir zu, jeden als Zeugen aufzurufen, der in der Lage ist, sachdienliche Angaben zu machen. Und Lucius Sinistre hat die Anklage eingereicht, also muss er alles darüber wissen. Demnach ist er überhaupt der einzige, der als Zeuge infrage kommt.“

„Das klingt logisch“, erklärte der Richter zu ihrer Überraschung, und auf dem Gesicht des Teufels war Unmut zu erkennen.

Harry grinste. Sie hatte gerade willkürlich einen Paragraphen erfunden, aber es schien ohnehin niemand dieses Gesetzbuch gelesen zu haben.

„Mr. Sinistre, darf ich bitten?“ Sie deutete auf den leeren Zeugenstuhl. Er zuckte die Schultern und ließ sich dort nieder.

„Sagen Sie, warum konnten Sie meine Ablehnung nicht einfach akzeptieren? Was hat Sie dazu bewogen, sich auf mich als potentielles Opfer einzustellen, statt diejenigen anzunehmen, die Ihre Angebote zu schätzen wissen?“

„Wie Sie selbst schon festgestellt haben, Frau Anwältin, langweilt es mich, wenn sich jemand danach drängt, mit mir Geschäfte zu machen. Es reizt mich ganz einfach, die Willenskraft und Standhaftigkeit auszuloten.“

„Und wenn jemand bereit ist, Ihnen zu widerstehen, benehmen Sie sich wie eine beleidigte Leberwurst?“

„Wie bitte? Wovon sprechen Sie da?“, beschwerte sich der Richter.

„Ich rede davon, dass alle Anklagepunkte frei aus der Luft gegriffen sind. Aber weil ich den Angeklagten liebe, werde ich alles tun, um einen Freispruch zu erwirken.“

„Liebe? Freispruch?“, unterbrach der Richter erneut. „Ich dulde in meinem Gerichtssaal keine obszönen Ausdrücke. Sind Sie jetzt fertig mit dem Zeugen?“

Das Gefühl, in einem Irrenhaus zu sitzen, verstärkte sich noch in Harry. Hörte dieser Richter überhaupt wirklich zu?

„Nein, Euer Ehren, ich bin noch nicht fertig. Aber ich will es kurz machen. Es ist also ein höllischer Spaß, Mr. Sinistre, wenn die Menschen an ihrer Angel zappeln, richtig?“

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738918502
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
sammelband mitternachts-thriller romane
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Titel: Sammelband 4 Mitternachts-Thriller: Nur der Tod lebt ewig und andere Romane