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Unter Mordverdacht und drei andere Krimis

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 500 Seiten

Zusammenfassung

Unter Mordverdacht und drei andere Krimis
von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 416 Taschenbuchseiten.

Drei Krimis in einem Buch

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Alfred Bekker: Unter Mordverdacht

Alfred Bekker: Tote Bullen

Alfred Bekker: Der Legionär

Alfred Bekker: Grausame Rache

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Unter Mordverdacht und drei andere Krimis

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von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 416 Taschenbuchseiten.

Drei Krimis in einem Buch

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Alfred Bekker: Unter Mordverdacht

Alfred Bekker: Tote Bullen

Alfred Bekker: Der Legionär

Alfred Bekker: Grausame Rache

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Alfred Bekker

UNTER MORDVERDACHT

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––––––––

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STEFANIE HIELT DEN Brief in die Höhe.

"Hier!" sagte sie mit bebender Stimme. "Dies habe ich in dem Jackett gefunden, das ich in die Reinigung bringen sollte!"

Wilfried Bogner atmete tief durch und trat einen Schritt näher an seine Frau heran.

"Liebling...", sagte er schwach, während sie vor ihm zurückwich.

"Fast dreißig Jahre sind wir verheiratet!" preßte Stefanie hervor. "Und nun dies! Eine andere Frau!"

"Können wir uns nicht vernünftig darüber unterhalten, Stefanie?"

"Ich weiß nicht, ob das noch Zweck hat", murmelte Stefanie matt.

Wilfried Bogner war jetzt noch näher herangekommen. Seine Hand hatte sich um ihren Arm gelegt.

"Laß mich! Laß mich zufrieden und rühr' mich nicht an!"

"Liebling, du bist ja völlig hysterisch! Man kann doch über alles reden!"

"Nein, nicht über alles. Ich habe nämlich auch meinen Stolz! Ich werde meine Sachen packen und über alles nachdenken!"

Erneut versuchte sie, sich loszureißen, aber er wollte sie nicht gehen lassen und so kam es zu einem regelrechten Handgemenge. Stefanie war völlig außer sich. Sie wußte kaum noch, was sie tat. Sie wehrte sich verzweifelt gegen Wilfrieds kräftige Hände, die sie noch immer festhielten.

"Stefanie..." Dann stolperte Wilfried Bogner plötzlich. Er kam zu Fall; sein Griff um Stefanies Handgelenk lockerte sich. Bogner schlug schwer zu Boden und kam mit dem Kopf hart gegen eine Schrankkante.

Er lag reglos am Boden. Vorsichtig näherte sie sich, beugte sich über ihn und drehte ihn dann herum. Er hatte eine klaffende Wunde an der Stirn und obwohl sie noch nie in ihrem Leben einen Toten gesehen hatte, war ihr sofort klar, daß Wilfried Bogner nicht mehr lebte.

Stefanie überlegte fieberhaft, was jetzt zu tun war. Sie hätte es ihrem Mann wahrscheinlich nie verzeihen können, daß er sie offenbar betrogen hatte. Aber sie hatte ihn keinesfalls umbringen wollen. Es war ein Unfall! hämmerte es in ihr.

Aber wer würde ihr das glauben? Da war einerseits die Frau, mit der Wilfried sie betrogen hatte. Eifersucht war immer ein gutes Mordmotiv und die Polizei würde nicht lange brauchen, um die Sache auszugraben. Und dann war da die Firma, die sie mit ihrem Mann zusammen aufgebaut hatte und die ihnen jeweils zur Hälfte gehörte. Sie hatten sich gegenseitig als Alleinerben eingesetzt. Ein zweites Motiv also - und eines zwingender als das andere.

Plötzlich klingelte es. Sie erschrak, ging dann aber doch zur Tür und blickte durch den Spion. Sie atmete auf. Gott sei dank! dachte sie. Es war Jürgen, ihr Sohn, der in der Firma inzwischen eine leitende Funktion innehatte.

"Es ist etwas furchtbares geschehen!" rief sie, als die Tür geöffnet hatte. Jürgen Bogner runzelte die Stirn.

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"WIR MÜSSEN DIE POLIZEI verständigen", sagte Jürgen Bogner, nachdem ihm seine Mutter berichtet hatte, was geschehen war. "Von dem Handgemenge brauchen wir ja nichts zu sagen. Vater kann doch einfach gestürzt sein! Sicherheitshalber werde ich aber Dr. Werner anrufen."

"Den Chef unserer Rechtsabteilung? Aber warum ein Anwalt?"

"Es ist besser so, glaub mir!" Es dauerte nicht lange, bis ein gewisser Lorant von der Kriminalpolizei vor der Tür stand. Er sah sich den Tatort an, und meinte dann, daß die Spurensicherung der Arzt noch kommen würden. Als nächster kam allerdings ersteinmal Dr. Werner, der Rechtsanwalt.

"Vielleicht sollte ich etwas sagen...", meinte Stefanie dann an Lorant gewandt. Der Kriminalkommissar zog die Augenbrauen in die Höhe.

"Bitte, wie Sie möchten!"

"Meine Mandantin wird zunächst einmal keine Aussage machen!" mischte sich da Dr. Werner ein und wandte sich dann mit einem knappen, geschäftsmäßigen Lächeln an Stefanie. "Verzeihen Sie mir, Frau Bogner, aber ich fürchte, dieser Herr wird Ihnen am Ende jedes Wort im Munde herumdrehen! Da muß man auf der Hut sein!"

"Ist das auch Ihre Meinung, Frau Bogner?" erkundigte sich Lorant. Sie nickte, ohne dabei zu dem Kriminalbeamten aufzusehen.

*

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FAST EINE GANZE WOCHE verging, ehe Lorant sich wieder bei Stefanie Bogner meldete.

"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich nocheinmal bei Ihnen vorbeischaue, Frau Bogner?" fragte er am Telefon.

"Nein, natürlich nicht!"

Eine halbe Stunde später waren sie dann alle bei Bogners im Wohnzimmer versammelt: Stefanie Bogner und ihr Sohn Jürgen, Dr. Werner und natürlich Lorant.

"Der Fall ist so gut wie aufgeklärt", sagte der Kriminalbeamte. "Es tut mir leid, aber ich bin hier, um eine Verhaftung wegen Mordes vorzunehmen."

"Mord?" Jürgen Bogner runzelte die Stirn. "Es war doch ein Unfall!"

"Ja", fügte seine Mutter hinzu. "Es war nicht beabsichtigt. Sie haben sicher herausgefunden, daß mein Mann ein Verhältnis hatte..."

Lorant nickte. "Ja. Und wir wissen auch, daß Sie sich gegenseitig als Alleinerben eingesetzt haben. Es gab Spuren eines Kampfes, mikroskopische Spuren von Nagellack an der Kleidung des Toten..."

"Sie wollen meiner Mandantin einen Mord anhängen?" meldete sich Dr. Werner. Lorant wandte sich zu dem Anwalt herum und bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick.

"Es würde eigentlich alles zusammenpassen, nicht wahr? Die Wahrheit ist aber, daß ihm ein langsam wirkendes Gift gegeben wurde, dessen lateinischen Namen ich Ihnen ersparen möchte. Der Schlag gegen den Kopf hätte ihn vielleicht bewußtlos gemacht -  getötet hat ihn dieses Gift, das Sie, Herr Dr.Werner ihm verabreicht haben!"

"Ich... Ich protestiere!" schnaufte der Anwalt.

"Wilfried Bogner hatte die Angewohnheit, vor dem Weg vom Firmenbüro nach Hause noch eine Tasse Kaffee zu trinken, aber an diesem Tag wurde ihm der Kaffee nicht wie üblich von der Sekretärin, sondern von Ihnen gebracht!"

"Das ist kein Beweis!"

"Es gibt eine Apotheke in der Stadt, bei der vor einiger Zeit eingebrochen und genau jenes, recht seltene Gift entwendet wurde, das Herrn Bogner getötet hat. Es sind Fingerabdrücke gefunden worden, die wir nur mit Ihren zu vergleichen brauchen, Herr Werner!"

Jürgen Bogner wandte sich an den konsterniert wirkenden Anwalt. "Warum, Herr Werner?"

"Herr Werner war für die Firma zeichnungsberechtigt", antwortete Lorant an Werners statt. Werner veruntreute große Summen und Wilfried Bogner ist dahintergekommen. Ihre Karriere wäre zu Ende gewesen, nicht wahr, Herr Werner?"

Werner nickte wortlos.

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Tote Bullen

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Ein Harry Kubinke Krimi

von Alfred Bekker

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1

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Udo’s Imbiss am Berliner Westhafen in Moabit hatte 24 Stunden geöffnet. „Udo's“ mit Apostroph. Darauf bestand Udo Jakobi, der Besitzer des Schnellrestaurants, in dem sich zu den üblichen Stoßzeiten sowohl die Anzugträger aus dem Verwaltungskomplex der Hafenverwaltungsgesellschaft, als auch die Arbeiter von den Binnenschifffahrtsterminals tummelten.

Man bekam dort die besten Fishburger von Berlin.

Man konnte natürlich auch Pommes rot-weiß oder eine Currywurst bekommen. Notfalls sogar einen Veggie-Döner, der gerade bei den unter Bewegungsarmut und Kalorienüberschuss leidenden Angestellten der Hafenverwaltungsgesellschaft sehr beliebt war.

Aber die eigentliche Spezialität von Udo's Imbiss war und blieb der Fishburger.

Udo Jakobi kam gebürtig aus Bremerhaven und hatte deswegen besondere Affinität zu Fisch und Fischgerichten. Auch wenn sich der selbstkreierte Krabben-Döner nicht so richtig durchgesetzt hatte – der Fishburger hatte das Schnellrestaurant in ganz Moabit berühmt gemacht.

Und Udo Jakobi war clever genug, sich die Markenbezeichnung >Udo's Fishburger< schützen zu lassen.

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2

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Thorben Rademacher, Kommissar bei der Mordkommission, hatte eine anstrengende Nachtschicht hinter sich. Jetzt war es vier Uhr morgens und Rademacher hatte den toten Punkt längst überwunden.

Er bestellte einen Kaffee, zwei Fishburger und eine Portion Chips. Rademacher trank als Erstes den halben Kaffeebecher leer.

Sein Handy klingelte. Rademacher nahm den Apparat ans Ohr.

„Was gibt es?“, fragte er.

„Hier spricht Ede Gerighauser.“

„Verdammt, wo bleiben Sie?“

„Ich werde nicht zu Ihnen hereinkommen.“

„Was soll das Theater?“

„Haben Sie mich nicht verstanden? Ich komme nicht zu Ihnen!“

„Aber unser Treffpunkt war Udo's Imbiss.“

„Kann schon sein.“

„Und wie soll das jetzt laufen?“

„Kommen Sie raus an die Kaimauer vom Kanal.“

Die Verbindung wurde unterbrochen.

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Rademacher blickte auf die Fishburger, verschlang einen davon mit ein paar Bissen und trank den Kaffee aus. Die Pommes ließ er liegen. Er hatte sie probiert und festgestellt, dass sie ihm nicht knusprig genug waren.

Wenig später ging er in die Nacht hinaus.

Das Hafenbecken und der Hohenzollernkanal, über den der Westhafen mit Havel und Spree verbunden war, wirkten wie ein breites, lichtloses Band. Dahinter waren die Lichter der Stadt zu sehen. Das Verwaltungsgebäude der Hafengesellschaft mit seinem 52 Meter hohen Turm, hob sich wie ein drohender Schatten dagegen ab.

Es war eine klare Nacht.

Kräne erhoben sich wie Umrisse riesenhafter Spinnenmonster.

Rademacher schlang auch den zweiten Fishburger herunter und wischte sich die Finger an einem Taschentuch ab. Dann überprüfte er kurz den Sitz seiner Waffe. Sie steckte in seinem Holster. Darüber trug er einen dunklen Blouson. Die Jacke war weit geschnitten, sodass sich die Waffe nicht abzeichnete.

Rademacher ging auf die Kaimauer zu.

Ein dunkler Schatten hob sich gegen das Lichtermeer ab. Rademacher zögerte einen Moment, dann trat er näher. Von der Gestalt am Ende war nichts Näheres zu erkennen.

Das muss er sein!, dachte Rademacher. Er sah auf die Uhr. Vier Uhr und zehn Minuten.

Die Gestalt bewegte sich nun und kam Rademacher entgegen.

In einer Entfernung von ein paar Schritten wartete der Schatten schließlich. Das Licht einer Laterne fiel auf seinen Körper vom Hals abwärts. Das Gesicht blieb im Dunkeln.

Die rechte Hand war tief in seiner Manteltasche vergraben.

„Herr Rademacher?“

„Ja?“

Der Mann zog eine Waffe mit Schalldämpfer unter seinem Mantel hervor. Der Strahl eines Laserpointers tanzte durch die Nacht. Der Schuss war kaum zu hören. Zweimal blitzte das Mündungsfeuer auf.

Die erste Kugel traf Rademacher in die Brust und riss ein Loch in den Stoff seines Blousons. Die zweite Kugel traf ihn dicht darüber.

Das graue Kevlar einer kugelsicheren Weste kam darunter zum Vorschein.

Rademacher taumelte zu Boden. Er griff unter den Blouson, um seine Dienstwaffe zu ziehen.

Erneut blitzte die Schalldämpferpistole in der Hand des Killers auf. Fünf Schüsse in rascher Folge ließen den Körper des Kommissars zucken. Ein Schuss traf den Kopf, noch ehe er seine eigene Waffe abdrücken konnte.

Regungslos lag er in seiner Blutlache.

Der Killer trat aus dem Schatten.

Mit dem Fuß stieß er den verrenkt daliegenden Körper an. Er steckte seine Waffe ein. Rademachers Pistole nahm er vom Boden auf und warf sie im hohen Bogen ins Hafenbecken. Anschließend bückte er sich und packte die Leiche bei den Schultern. Dann schleifte er den Toten zur Kaimauer und ließ ihn ins Wasser rutschen.

Der Killer atmete tief durch.

Er streifte die Latexhandschuhe ab, mit denen er seine Hände vor Schmauchspuren geschützt hatte und warf sie hinterher.

Sie schwammen noch ein paar Augenblicke auf der dunklen Wasseroberfläche, weil sie zu leicht waren, um die Oberflächenspannung zu durchbrechen.

Innerhalb von wenigen Augenblicken hatte das dunkle Wasser des Hafenbeckens aber dann doch alles verschluckt.

Die Leiche trieb dicht unter der Oberfläche, war aber erstmal unsichtbar. Vielleicht geriet der Körper des Kommissars ja in irgendeine Schiffsschraube...

War gar nicht so unwahrscheinlich.

Dann ist er Hackfleisch, dachte der Killer.

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4

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Dr. Bernd Claus führte uns in die Leichenhalle des gerichtsmedizinischen Instituts der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst. Dieser zentrale Erkennungsdienst hatte seine Labors in Moabit.

Dr. Claus öffnete eins der Kühlfächer. Anschließend zog er das weiße Laken, das den Toten bedeckte, so weit zur Seite, dass man das Gesicht sehen konnte.

Es war bleich und aufgedunsen. Auf der Stirn war die Eintrittswunde eines Projektils zu sehen. Anhand der Fotos, die mein Kollege Rudi Meier und ich zuvor in unserem Präsidium zu Gesicht bekommen hatten, hätte ich ihn nicht wieder erkennen können.

„Dies ist Kommissar Thorben Rademacher von der Mordkommission. Dass er etwas anders aussieht als auf den offiziellen Fotos in seiner Dienstakte, liegt einfach daran, dass er eine ganze Weile im Wasser gelegen hat. Herr Delmar, sein Vorgesetzter bei der Mordkommission, hat ihn auch nicht wiedererkannt, obwohl er tagtäglich mit ihm zu tun hatte.“

„Was können Sie uns darüber sagen, was geschehen ist?“, fragte Rudi.

„Rademacher wurde von mehreren Kugeln getroffen. Er trug eine Kevlar-Weste, die einige davon auffing. Die Hämatome am Oberkörper sind deutlich zu sehen.“ Dr. Claus zog das Laken noch ein Stück zurück. Die Blutergüsse befanden sich in Herznähe und inzwischen so groß wie Untertassen. „Der Treffer in den Hals ging glatt durch. Dasselbe gilt für einen Streifschuss an der Schulter. Mindestens diese beiden Projektile müssten sich noch am Tatort befinden.“

„Bislang wissen wir noch nicht, wo der sein könnte, aber vielleicht sind Ihre Untersuchungsergebnisse das entscheidende Mosaikstein, das uns weiterhilft!“, sagte ich.

„Der tödliche Schuss ging in den Kopf, durchdrang mitten auf der Stirn die Schädeldecke und blieb an der Halswirbelsäule stecken.“

„Also wurde der Schuss von schräg oben geführt“, schloss ich.

„Ja“, nickte Dr. Claus. „Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Rademacher durch die Wucht der Treffer, die von der Kevlar-Weste aufgehalten wurden, zu Boden taumelte, während der Killer weiter auf sein Opfer geschossen hat. Als der Kopftreffer ihn erwischte, muss er sich gekrümmt haben. Der ballistische Bericht liegt ja bereits vor und danach sind die Kugeln aus einer Entfernung von mindestens fünf Metern abgefeuert worden. Aber ich nehme an, Sie haben den Bericht bereits gelesen.“

„Er ist ein Grund dafür, dass wir den Fall übernehmen“, erklärte ich. „Der Abgleich des untersuchten Projektils hat nämlich ergeben, dass die verwendete Waffe zuvor bereits einmal in einer Schießerei im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen benutzt wurde.“

Dr. Claus zuckte die Schultern. „Die Kollegen von der Ballistik waren diesmal deutlich schneller als ich. Aber ich konnte ihnen leider auch nur ein einziges Projektil bieten – nämlich jenes, das in der Halswirbelsäule stecken geblieben ist. Sie können also von Glück sagen, dass der Täter zufällig aus diesem Winkel getroffen hat, sonst wäre die Kugel durch die hintere Schädelwand wieder ausgetreten und Sie könnten jetzt in der ganzen Stadt nach ein paar Kugeln suchen, an der vielleicht noch etwas DNA-testfähige Hirnmasse haftet.“ Dr. Claus deutete auf den Oberkörper. „Die Projektile, die von der Kevlar-Weste aufgefangen wurden, liegen wahrscheinlich auf dem Grund des Kanals. Das stundenlange Wasserbad, dem die Leiche ausgesetzt war, muss sie weggespült haben.“

Ich deutete auf die Achseln des Toten, um die herum dunkle Stellen zu sehen waren.

„Druckstellen eines zu eng geschnallten Schulterholsters und – Schleifspuren. Der Täter muss den Toten unter den Achseln angefasst und weggeschleift haben.“

„Dann war es nur eine Person“, schloss ich.

Dr. Claus nickte. „Sagen wir so: Es hat nur einer angepackt.“

„Gibt es Spuren, die darauf hindeuten, dass der Tote in einem Kofferraum transportiert wurde?“

„Nein. Wahrscheinlich geschah der Mord in der Nähe des Wassers. Der Täter musste ihn nur ein paar Meter weiter schleifen und hineinwerfen.“

„Wann war der Todeszeitpunkt?“

„Rademachers Leiche wurde gestern Mittag am Kanalufer gefunden. Ich denke, dass der Tote mindestens sechs Stunden im Wasser war. Also würde ich schätzen, dass Herr Rademacher gestern zwischen drei und fünf in der Früh starb. Aber Sie bekommen natürlich noch meinen ausformulierten Bericht, wo Sie das alles nachlesen können.“

„Erst mal danken wir Ihnen, Dr. Claus“, sagte ich.

Der Gerichtsmediziner schob den Toten zurück in seine vorläufige Ruhestätte, nachdem er das Tuch wieder über sein Gesicht gebreitet hatte.

„Rufen Sie mich an, falls Sie noch Fragen haben.“

„In Ordnung.“

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Wir machten wir uns auf zu Rademachers Kripo-Kollegen. Herr Delmar war sein direkter Vorgesetzter und Herr Nürnberger wiederum war der Vorgesetzte von Herrn Delmar.

Inzwischen lief die Suche nach dem möglichen Tatort längst auf Hochtouren.

Als Laie denkt man ja erstmal, dass ein Kanal für die Binnenschifffahrt ein stehendes Gewässer ohne Strömung ist und dass deswegen in so einem Fall die Leiche in der unmittelbaren Nähe des Fundortes ins Wasser gelangt sein muss .

Dass ist aber ein Irrtum.

Durch den Schiffsverkehr, durch den Betrieb der Schleusen und weitere, ähnliche, in ihrem Zusammenspiel nur sehr schwer zu berechnende Faktoren, kommt es auch in Gewässern, die man gemeinhin als nicht-fließend bezeichnet, zu erheblichen Sogwirkungen. Und diese Sogwirkungen können mit einer Flussströmung in den Auswirkungen durchaus vergleichbar sein.

Ganz so einfach würde die Suche nach dem Tatort also nicht werden.

Zahlreiche Kollegen der Berliner Polizei sollten sich in der Nähe des Westhafens umhören, ob jemand dort Kommissar Rademacher in der Nacht seines Todes gesehen hatte.

Herr Nürnberger empfing uns in seinem Büro. „Herr Delmar ist noch nicht hier. Er wurde zwischenzeitlich zu einem Tatort gerufen, aber ich nehme an, dass Sie mit sprechen können, sobald wir hier fertig sind.“

„In Ordnung“, sagte ich. „Erzählen Sie uns am besten alles, was Ihnen zum Kollegen Rademacher einfällt. Wir stehen ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Alles, was wir wissen ist, dass er in Ufernähe erschossen wurde, eine Kevlar-Weste trug und die Kugel, die ihn tötete, aus einer Waffe stammt, die bei einer Schießerei im Club ‚El Abraxas’ verwendet wurde.“

„Und das ‚Abraxas’ steht unter Kontrolle von Benny Farkas, einem der aufstrebenden Kriminellen Berlins“, ergänzte Herr Nürnberger. Er hatte sich offenbar gut informiert.

„Die genauen Hintergründe der Tat konnten nie wirklich aufgeklärt werden“, fuhr ich fort. „Tatsache ist, dass es damals fünf Tote und mehrere Schwerverletzte gab, darunter auch der Anführer einer Drogengang.“

„Sieht ganz nach geschäftlichen Differenzen aus, wenn man das so bezeichnen will“, sagte Herr Nürnberger. „Aber was den Kollegen Rademacher angeht, könnte es da noch eine alte Rechnung geben. Er war schließlich erst seit ein paar Monaten hier bei uns in der Abteilung. Vorher gehörte er zu Drogenfahndung.“

„Bei uns sind die Akten noch nicht angekommen“, gab ich Auskunft. „Ich kenne nur die Kurzfassung, die uns Kriminaldirektor Bock gegeben hat.“

„Die Sache ist ganz einfach: Kommissar Rademacher wurde verdächtigt, kleine Drogendealer und Mitglieder von Gangs erpresst zu haben, indem er ihnen Drogen unterschob und Beweismittel manipulierte. Es lief ein Verfahren gegen ihn. Dieses Verfahren ist inzwischen eingestellt worden, aber man hielt es für besser, Rademacher trotzdem zu versetzen.“

„Mich wundert, dass man ihn nicht bis zur Klärung der Sache suspendiert hat!“, ergänzte ich.

„Nein, das sehen Sie jetzt falsch. Die Sache konnte sehr schnell geklärt werden und Rademacher galt als unbescholten.“ Herr Nürnberger zögerte einen Moment, ehe er weitersprach. Ihm schien selbst aufzufallen, dass sich da allein schon angesichts der nüchternen Aufzählung der Fakten ein widersprüchliches Bild ergab. Aber Herr Nürnberger hatte offenkundig keinerlei Interesse daran, diesen sachlichen Widerspruch auch noch sprachlich hervorzuheben. Er wirkte etwas verunsichert. Schließlich fuhr er schließlich fort: „Nun, er sollte jedenfalls nichts mehr mit Drogen zu tun haben.“

„Dann war seine Weste vielleicht doch nicht so rein, wie das eingestellte Verfahren vermuten lässt?“, fragte ich.

Ein messerscharfer Schluss.

Aber einer, der Herr Nürnberger nicht gefiel.

Und einer, den er so auch nicht stehen lassen wollte.

Er brauchte allerdings einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen und darauf zu reagieren.

Nürnberger atmete zuerst tief durch und setzte zweimal an, ohne dass dann tatsächlich auch irgendein Satz über seine Lippen gekommen wäre. Dann zuckte er die Schultern, ehe er schließlich doch seine Sprache wiederfand. „Jemand, der in der Drogenfahndung arbeitet, vollführt täglich einen Tanz auf der Rasierklinge. Man sieht wie die Dealer mit Millionen jonglieren und der Ermittler denkt an die Hypotheken für sein Haus und daran, dass sein Wagen noch nicht abgezahlt ist und sich seine Kinder beklagen, dass schon im zweiten Jahr nacheinander keine Urlaubsreise drinsitzt, während der Drogenboss mit dem Privatjet mal kurz nach Monaco hinüberfliegen kann.“

„Da will ich nicht widersprechen“, sagte ich.

Herr Nürnberger fuhr fort: „Da braucht man schon einen stabilen Charakter, um auf der richtigen Seite zu bleiben.“

Ich hob die Augenbrauen. „Wem sagen Sie das!“

„Glauben Sie, Rademacher besaß nicht den nötigen Charakter?“, mischte sich Rudi ein.

„Wie gesagt – die Untersuchung konnte den Verdacht gegen ihn nicht erhärten“, erklärte Nürnberger nochmals. „Sie werden es ja in den Akten nachlesen können.“

„Sobald die uns erreicht haben“, sagte Rudi. Und er gab sich wirklich große Mühe, dabei nicht sarkastisch zu klingen.

Unser Gegenüber nickte.

„Ja“, sagte Herr Nürnberger.

„Aber das ist keine Antwort auf die Frage.“

„Welche Frage meinen Sie nochmal?“, fragte Herr Nürnberger.

„Die mit dem Charakter“, stellte ich klar.

Nürnberger lächelte dünn. „Ja, Sie haben Recht. Aber die lässt sich vielleicht auch gar nicht so leicht beantworten. Wer von uns kann schon in den Schädel eines Kollegen hineinschauen?“ Herr Nürnberger machte eine kurze Pause, erhob sich aus seinem Schreibtischstuhl und füllte seinen Kaffeebecher wieder auf. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, sagte er schließlich: „Ich will ehrlich sein.“

Na endlich!, dachte ich.

Herr Nürnberger fuhr fort: „Am Anfang war ich sehr skeptisch, was Rademacher anging.“

„Warum?“

„Dafür kann ich Ihnen noch nicht einmal einen greifbaren Grund angeben.“

„Aha...“

„Es war einfach mein Bauchgefühl – und in all den Jahren, in denen ich als Ermittler meinen Mann stehe, habe ich gelernt, dass es einem das Leben retten kann, wenn man sich auf dieses Gefühl verlässt.

„Okay...“

„Aber was Rademacher angeht, hat mich mein Instinkt wohl getrogen.“

„Erklären Sie mir das!“

„Jedenfalls gab es keinen Ärger, so lange er hier war und soweit ich das beurteilen kann, hat er gute Arbeit geleistet. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit“, sagte ich.

Man ist ja höflich.

Selbst hier im sprachlich etwas raueren Berlin.

Aber das ist sowieso nur ein Klischee.

Wirklich.

Nürnberger nickte. „Vielleicht kann Ihnen Herr Delmar etwas mehr dazu sagen, schließlich arbeitete er mit Rademacher direkt zusammen.“

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Kollege Delmar ließ immer noch auf sich warten, so aßen wir eine Pizza, die vom Express Service für die ganze Abteilung geliefert wurde. Kriminalhauptkommissar Delmar traf schließlich doch noch ein.

Er bat uns in sein Büro.

„Tut mir Leid, dass es etwas später geworden ist, aber ich war bei einem Tatort und bin auf dem Rückweg leider in einen Stau geraten.“

„Ist schon in Ordnung“, sagte ich.

„Sie sind Kubinke und Meier vom BKA, nicht wahr?“

„Ja – und wir suchen zurzeit den Mörder Ihres Kollegen Thorben Rademacher“, bestätigte Rudi.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, weshalb der Fall nicht in unserer Zuständigkeit geblieben ist!“

„Weil die Tatwaffe im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität benutzt wurde“, gab ich Auskunft. „Der Fall hat eine größere Dimension, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Delmar zuckte mit den Schultern. „Meiner Ansicht nach sagt das nicht viel aus. Diese Waffen gehen doch von Hand zu Hand. Andererseits könnte da natürlich ein Zusammenhang bestehen. Über Rademachers Vergangenheit in der Drogenabteilung wissen Sie ja sicher inzwischen Bescheid oder?“

„In Ansätzen. Es gab da wohl mal einen Verdacht gegen Rademacher, wonach er Verdächtige erpresst haben soll.“

„Deswegen war er dann bei uns bei den Tötungsdelikten. Die Sache ist niedergeschlagen worden, es kam nicht einmal zu einer offiziellen Anklage. Aber wie heißt es so schön? Es bleibt immer etwas hängen. Ganz besonders, wenn es um einen Polizisten geht. Der kleinste Flecken auf der weißen Weste kann schon dazu führen, dass man wie ein Paria behandelt und bei Beförderungen übergangen wird.“ Delmar zuckte die Schultern. „So ist das nun einmal und bevor man sich auf das Spiel einlässt, informiert man sich am besten über die Regeln und akzeptiert sie.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Rademacher damals etwas angehängt wurde?“

„Mir gegenüber hat er in diese Richtung ein paar Andeutungen gemacht. Ist doch klar, wenn ich ein Drogenhändler wäre und hätte mit einem Polizisten eine Rechnung offen, kann ich ihm doch am besten schaden, in dem ich seine Gesetzestreue in Frage stelle!“

„Aber wenn das wirklich so gewesen ist, dann hatten diese Leute doch ihr Ziel erreicht. Rademacher war kalt gestellt. Wozu ihn noch ermorden?“

„Das würde ich auch gerne wissen.“

„Was wissen Sie über Rademachers Privatleben?“, fragte Rudi.

„Ehrlich gesagt, war er ein ausgeprägter Einzelgänger. Ihm fehlte der Teamgeist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn die Beamten einer Schicht zum Kegeln gingen, fuhr er nach Hause. Er hat mal erwähnt, dass er ein Eigenheim draußen im Umland hat. Und ich nehme an, dass er gar nicht daran dachte, hier in die Gegend zu ziehen. Vielleicht nahm er auch an, dass die Versetzung irgendwann zurück genommen werden würde.“

„Wie waren die Chancen dafür denn?“

„Gar nicht so schlecht. Wahrscheinlich hätte er hier noch ein halbes Jahr abreißen müssen und wäre dann wieder zurück auf seine alte Planstelle gekommen, falls nicht zwischenzeitlich doch noch Beweise aufgetaucht wären, dass er irgendwie Dreck am Stecken hatte. Aber dafür gab es keine Hinweise.“

„Wir brauchen die Anruflisten seines Diensttelefons“, sagte ich.

„Die können Sie haben“, versprach Delmar.

„Zeigen Sie uns bitte noch seinen Schreibtisch.“

„Ich führe Sie hin.“

„An was für einem Fall arbeitete er im Moment?“

„Denken Sie, dass seine Ermordung damit zusammenhängt?“

„Wir müssen allen Spuren nachgehen.“

„In der Otto Beierlein Straße wurde eine Rentnerin von ein paar Jugendlichen ausgeraubt und niedergestochen. Sie ist an den Folgen der Verletzungen gestorben. Rademacher bearbeitet den Fall zusammen mit Frau Tomasino und Herrn Wolff, die Sie beide gerne dazu befragen können.“

Delmar führte uns zu Rademachers Schreibtisch. Das Dienstzimmer teilte er sich mit den Kollegen Wolff und Tomasino. Die beiden berichteten uns von dem Fall, an dem sie mit Rademacher zuletzt gearbeitet hatten. Es schien sich um Routineermittlungen zu handeln.

„Er hat ziemlich viel mit seiner neuen Flamme telefoniert“, berichtete uns Herr Wolff noch.

„Wissen Sie, wer das war?“, hakte ich nach.

„Sie heißt Christine. Den Nachnamen kenne ich nicht, aber ich nehme an, dass sie die Telefonlisten überprüfen und anhand der Daten werden Sie das leicht herausfinden.“

Der Schreibtisch selbst bot nichts, was auf den ersten Blick ins Auge fiel. Wir packten dennoch den Inhalt in einen Pappkarton und nahmen ihn mit. Insbesondere alles das, was persönlichen Charakter hatte. Ein Telefonregister und einen voll geschriebenen Notizblock zum Beispiel. Außerdem beschlagnahmten wir seinen Rechner. Sollten die Kollegen im Labor mal den Email-Verkehr unter die Lupe nehmen.

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Wir waren gerade in den Dienst-Porsche eingestiegen, als uns ein Anruf erreichte. Herr Kriminaldirektor Bock, unser Chef, war am Apparat.

„Es hat sich jemand gemeldet, der Rademacher in der Nacht seines Todes gesehen haben will“, berichtete uns Kriminaldirektor Bock. Rademachers Bild war mit der Frage an die Bevölkerung über die Medien verbreitet worden, wer den Beamten der Mordkommission in der Mordnacht gesehen hatte, um auf diese Weise nach und nach rekonstruieren zu können, was sich vor der Tat ereignet hatte. Vor allem ging es uns natürlich um den Tatort, denn dort waren möglicherweise noch Spuren zu finden. „Der Mann heißt Udo Jakobi und betreibt eine 24-Stunden-Snack Bar mit Fischgerichten. Der Laden liegt am Westhafen.“

„Wir sind schon so gut wie dort“, versprach ich.

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Als wir Udo’s Imbiss am Berliner Westhafen erreichten, waren dort bereits zwei Einsatzfahrzeuge der Schutzpolizei.

Wir stiegen aus. Vögel kreischten.

Ein Frachter lag an der Kaimauer vor Anker.

Mehrere uniformierte Kollegen der Schutzpolizei sahen sich dort bereits um.

Wir betraten Udo’s Imbiss.

Es herrschte kaum Betrieb.

Eine junge Polizistin saß zusammen mit einem Mann mit weißer Schürze und Matrosenmütze an einem der Tische. Wir traten hinzu.

„Harry Kubinke, BKA. Dies ist mein Kollege Rudi Meier“, stellte ich uns vor.

„Rebecca Düpree“, nannte die junge Polizistin ihren Namen. „Herr Udo Jakobi hat uns angerufen, und wir haben gleich das BKA verständigt.“

„Danke.“ Wir setzten uns dazu. „Sie haben Thorben Rademacher wiedererkannt“, wandte ich mich an Udo Jakobi.

Der Besitzer von Udo’s Imbiss nickte. „Ja. Er aß regelmäßig hier. Fast täglich. Die Uhrzeit war wochenweise verschieden. Ich nehme an, dass er immer nach seiner Schicht hier vorbei kam. Zwei Fishburger und eine Tasse Kaffee, dazu Chips. Das war seine Standard-Bestellung.“ Udo Jakobi atmete tief und fuhr schließlich fort: „Sein Bild wurde im Lokalfernsehen gebracht. Ich habe ihn gleich wiedererkannt.“

„Schildern Sie uns, was geschehen ist.“

„Es war ungefähr vier Uhr morgens. Er saß am letzten Tisch dort hinten, in der Ecke. Dort ist er immer hingegangen. Er gähnte dauernd, weil er wohl eine Nachtschicht hinter sich hatte. Er hat seine Bestellung aufgeben, angefangen zu essen und wurde dann über das Handy angerufen.“

„Konnten Sie etwas verstehen?“

„Ja, er war der einzige Gast um die Zeit und ich habe mitbekommen, dass sich mit dem Typ am anderen Ende der Leitung verabredet hatte. Er war etwas ungehalten darüber, dass der Kerl noch nicht da war. Vielleicht sollte er auch in der Imbiss auf ihn warten.“

„Woraus schließen Sie, dass es ein Mann war?“

Udo Jakobi zuckte mit den breiten Schultern und hob die Augenbrauen. „Also, wenn Sie mich so fragen...“

„Ja?“

„Ich habe das einfach nur angenommen.“

„Hm.“

„Durch die Art, wie er mit ihm redete.“

„Okay.“

„Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe...“

„Doch, doch... Fahren Sie ruhig fort, Herr Jakobi.“

„Jedenfalls verließ er kurz nach dem Anruf das Lokal und verschwand draußen in der Dunkelheit.“

„Sie haben nichts mehr gesehen oder gehört?“

„Nein. Wenn es dunkel ist, spiegeln die Scheiben. Man sieht fast nichts.“

„Mehr können Sie uns nicht sagen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, tut mir Leid.“

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Rudi. Wir kennen uns gut genug, um zu wissen, was der andre denkt. Manchmal muss es gar nicht mehr ausgesprochen werden.

„Wir danken sehr für Ihre Auskünfte“, erklärte Rudi schließlich.

Udo Jakobi schluckte. „Hoffentlich konnte ich Ihnen weiterhelfen.“

„Wird sich zeigen“, sagte ich.

„Na, dann....“

„Weiß man vorher nie“, sagte ich.

Udo Jakobi runzelte die Stirn.

„Ich verliere ungern Stammkunden auf diese Weise. Dass er ein Bulle – ich wollte sagen: ein Polizist - war, habe ich übrigens erst in den Nachrichten gehört.“

„Meine Kollegen suchen die Umgebung nach Hinweisen ab“, sagte Rebecca Düpree.

„Ich hoffe, die finden etwas“, antwortete ich. „Wenn man den Tatort nicht kennt, stochert man mit seinen Ermittlungen ziemlich im Nebel herum.“

Wir erhoben uns. Ich wandte mich noch einmal an Udo Jakobi, der ziemlich nervös wirkte und sich die schwitzigen Hände an seiner Schürze abwischte. „Eine Frage noch...“

„Ja?“

„Sie meinten, dass er jemanden hier erwartet hat.“

„Genau.“

„Hat er sich zuvor mal mit jemandem hier getroffen oder war er immer allein, wenn er seine Fishburger aß?“

„Er war eigentlich immer allein.“

„Eigentlich?“

„Zumindest, wenn ich dabei war, aber ich muss gestehen, dass zwar meine Imbiss 24 Stunden geöffnet hat, aber ich nicht rund um die Uhr hinter dem Tresen stehen kann.“

„Könnten wir Ihre Angestellten dazu befragen?“

„Sicher.“

Es stellte sich heraus, dass Jakobi insgesamt fünf feste Angestellte hatte, dazu drei Aushilfskräfte, die stundenweise engagiert wurden. Von den fest Angestellten fehlte eine und von den Aushilfskräften zwei Personen, deren Arbeitszeiten in der Imbiss erst später begannen.

Eine als Aushilfskraft angestellte junge Frau mit offenkundig asiatischen Wurzeln namens Jessica Liao wollte gesehen haben, dass sich Rademacher einmal mit einem Mann um die dreißig und einmal mit einer Blondine getroffen hatte. Die Blondine war auch noch einem anderen Angestellten aufgefallen, der Mann hingegen nicht.

„Der Mann, mit dem er sich traf, war ziemlich groß, schlaksig und hatte gelocktes, dunkles Haar“, berichtete uns Jessica Liao. „Er wurde wohl eingeladen. Jedenfalls ist er mir schon deswegen in Erinnerung geblieben, weil er vier Fishburger geschafft hat.“

„Haben Sie einen Namen oder irgendetwas von dem Gespräch der beiden mitbekommen?“, fragte ich.

Jessica Liao schüttelte den Kopf und strich eine Strähne ihrer schulterlangen, blauschwarzen Haare aus Gesicht. „Nein, tut mir leid. Aber es gab Streit zwischen den beiden, woraufhin der Mann mit dem gelockten Haar wutentbrannt hinausgelaufen ist. Er hätte mich fast umgerannt. Ach, übrigens, er trug ein Goldkettchen mit einem Kreuz auf der Brust.“

„Bis wann sind Sie hier in Udo's Imbiss?“

„Heute bis fünf Uhr am Nachmittag.“

„Dann wird vorher noch einer unserer Kollegen hier vorbeikommen und mit Ihnen zusammen ein Phantombild anfertigen. Er heißt Herr Prewitt.“

„Glauben Sie, dass dieser Lockenkopf den Mann umgebracht hat?“

„Er ist bislang nur ein Zeuge. Jeder, der in den letzten Tagen und Wochen mit dem Opfer zu tun hatte, kann uns vielleicht wertvolle Informationen darüber geben, wer einen Grund gehabt haben könnte, Rademacher umzubringen.“

„Und was können Sie uns über die Frau sagen?“, fragte Rudi.

Die junge Frau wandte den Blick in Rudis Richtung. Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie sich das blauschwarze Haar zurück und klemmte eine Strähne hinter das Ohr.

„Ich glaube, die beiden hatten was miteinander – so wie die sich angesehen haben“, lautete die Meinung von Jessica Liao. „Ihr Blond war nicht echt, die Brüste auch nicht und ich nehme an, sie hat sich auch die Lippen machen lassen. Ich frage mich, was sie mit ihrem Körper angestellt hat, dass Sie das in dem Alter schon nötig hatte!“

„Wie alt würden Sie sie schätzen?“, fragte Rudi.

„Mitte zwanzig. Sie war so groß wie ich, also unter 1,70 m. Unter ihrem Mantel trug sie ein ziemlich edles, aber knappes Kleid. Irgendwie passte sie überhaupt nicht hier her. Dementsprechend war auch ihr Appetit. Sie hat eine Tasse Kaffee genommen, aber der war ihr wohl auch nicht recht. Jedenfalls hat sie ihn stehen lassen. Ach ja, am Arm, da trug sie ein Armband, das mir sofort aufgefallen ist.“

„So?“

„Es war geformt wie zwei kleine Schlangen, die sich um das Handgelenk winden. Sah schon aus wie was ganz Besonderes.“

„Unser Zeichner Herr Prewitt wird auch von ihr ein Bild anfertigen“, kündigte ich ihr an.

Über Funk meldete sich einer der uniformierten Beamten der Berliner Polizei vom Hafenbecken aus bei Rebecca Düpree.

„Wir haben hier vielleicht etwas gefunden.“

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Rudi und ich gingen ins Freie. Zusammen mit Polizeimeisterin Düpree liefen wir zur Kaimauer. Auf der linken Seite passierten wir dabei ein kleines Lagerhaus und erreichten schließlich die uniformierten Kollegen, die dort den Boden absuchten.

Einer von ihnen stellte sich mir als Polizeimeister Ernst Golltke vor und deutete auf einen dunklen Fleck auf dem Boden. „Das könnte Blut sein“, meinte er. „Genau kann man das natürlich nur sagen, wenn man einen Hämoglobin-Schnelltest oder Luminol zur Hand hat – in dem eingetrockneten Zustand. Aber fürs Erste können Sie meiner Erfahrung trauen – das hier ist meiner Meinung nach Blut.“ Er deutete zur Kaimauer, wo sich zwei weitere Kollegen auf dem Boden umsahen.

„Ich rufe unsere Spurensicherer an“, kündigte Rudi an.

Herr Golltke deutete in Richtung seiner Kollegen. „Dort an der Mauer gibt es noch weitere Blutspuren.“

„Das könnte passen“, stellte ich fest. „Rademacher wurde hier erschossen und dann zum Wasser geschleift! Dann fehlen uns eigentlich nur noch die Projektile.“

„Da sehe ich wenig Hoffnung“, meinte Golltke. „Wahrscheinlich sind die ins Wasser gefallen.“

„Kommt auf die Schussposition an“, widersprach ich. „Wenn wir Glück haben, finden wir dort hinten an der Uferböschung noch etwas.“

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Zur gleichen Zeit erreichten unsere Kollegen Jürgen Carnavaro und „Olli“ Oliver Medina Rademachers Eigenheim in Oranienburg. Rademacher hatte sich einen schmucken Bungalow in der Jasper Straße gekauft, einer breiten Allee mit Häusern, die der oberen Mittelklasse entsprachen.

Unsere Kollegen parkten ihren Volkswagen aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft am Straßenrand, gingen durch die offene Hofeinfahrt zur Garage und standen schließlich vor der Haustür.

Ein Team der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst war ebenso auf dem Weg hier her wie die BKA-Kommissare Fred LaRocca und Annemarie O’Hara, deren Aufgabe es sein würde, Jürgen und Olli bei der Hausdurchsuchung zu helfen.

Annemarie war mit einem irischen Computerspezialisten verheiratet, der im Entwicklerzentrum eines großen Online-Händlers in Berlin-Mitte arbeitete. Auf diese Weise war unsere Kollegin zu ihrem exotischen Nachnamen gekommen.

Aber da sie selbst rothaarig war, hielt sie jeder selbst für eine Bilderbuch-Irin, sobald sie ihren Nachnamen nannte.

Nur der deutlich hörbare Berliner Akzent, der bei Annemarie O'Hara immer wieder durchkam, irritierte dabei etwas.

Jürgen und Olli stutzten.

Das Haus war ziemlich bald, nachdem man Rademacher an Land geholt und identifiziert hatte, von Kollegen der Schutzpolizei versiegelt worden.

Aber das Siegel war gebrochen.

Jürgen griff nach seiner Dienstwaffe. Olli folgte seinem Beispiel.

„Hier war offenbar jemand schneller als wir!“

„Rademacher war unverheiratet und lebte allein. Eigentlich dürfte niemand hier gewesen sein!“

Jürgen holte den Schlüsselbund hervor, der mit einem Karabinerhaken an Rademachers Gürtel befestigt gewesen war. Er war zusammen mit dem Teil, der bei der Leiche gefundenen persönlichen Habe, der nicht mehr im Labor untersucht zu werden brauchte, am Morgen per Kurier ins Präsidium gesandt worden.

Jürgen öffnete die Tür.

Geräusche waren zu hören.

Olli ging mit der Waffe in der Hand voran, durchschritt beinahe lautlos den Empfangsraum und erreichte schließlich die halb geöffnete Tür zum Wohnzimmer. Jürgen folgte.

Mit einem Tritt öffnete Olli die Wohnzimmertür.

„Waffe weg! Polizei!“, rief er.

Ein durchdringender Schrei ertönte.

Eine junge Frau stand mitten im Raum. Sie war blond, trug Jeans, T-Shirt und einen Blouson.

Das einzig auffällige an ihrem Outfit war das Armband mit den zwei das Handgelenk umschmeichelnden Schlangen.

Sie stand wie erstarrt da, in der Rechten hielt sie einen .22er Revolver und richtete ihn auf Olli.

„Die Waffe weg!“, wiederholte unser Kollege.

Sie schluckte und zitterte. Auf ihrer Stirn perlte der Angstschweiß.

„Okay“, flüsterte sie schließlich. „Ich gebe auf! Wer immer Sie auch sind, tun Sie mir nichts!“

„Wir sagten, wer wir sind!“, hielt Jürgen ihr entgegen. Er machte ein paar schnelle Schritte nach vorn, nahm ihr die Waffe aus der Hand und legte ihr anschließend Handschellen an.

Sie setzte sich auf die Couch.

„Ich bin Kommissar Jürgen Carnavaro und dies ist mein Kollege Kommissar Oliver Medina. Wir kommen vom Bundeskriminalamt und untersuchen den Tod unseres Kollegen Thorben Rademacher. Und jetzt möchte ich gerne wissen, wer Sie sind!“

„Christine Wistanow“, sagte sie.

„Und was tun Sie in Thorben Rademachers Wohnung?“, fragte Jürgen.

„Thorben und ich waren seit einiger Zeit ein Paar“, erklärte Christine Wistanow. „Wenn Sie mal in meiner Jacke nachsehen, dann werden Sie feststellen, dass ich einen Wohnungsschlüssel besitze - so wie sich umgekehrt auch an Thorbens Schlüsselbund ein Schlüssel zu meiner Wohnung finden müsste.“

„Angenommen, es stimmt, was Sie sagen...“

„In seiner Brieftasche trug er ein Foto von mir mit sich herum. Thorben war eben ein Romantiker.“

„Das können wir leider nicht mehr überprüfen“, bedauerte Jürgen. „Thorben Rademachers Brieftasche befindet sich nämlich sehr wahrscheinlich zusammen mit seinem Handy auf dem Grund des Hohenzollernkanals, falls sie ihm nicht von seinem Mörder entwendet wurde.“

„Ihre Beziehung erklärt aber noch nicht, weshalb Sie das Siegel der Polizei ignoriert haben“, mischte sich Olli ein. „Was wollten Sie in der Wohnung?“

„Also, ich will ehrlich sein.“

„Darum möchte ich doch gebeten haben“, erwiderte Jürgen.

Sie nickte und blickte zur Seite. Den direkten Augenkontakt mit einem der beiden Kommissaren mied sie.

Sie sagte: „Wir hatten uns gestritten. Ziemlich heftig sogar. Also habe ich mich zunächst auch nicht gewundert, dass Thorben nicht bei mir anrief. In dieser Hinsicht war er ohnehin ziemlich unzuverlässig. Aber dann habe ich die Meldung im Radio gehört.“

„Unseres Wissens haben Sie sich aber nicht bei der Polizei gemeldet“, hielt Olli ihr entgegen.

„Ich wollte zuerst ein paar Privatsachen aus der Wohnung holen. Das ist der Grund dafür, dass ich hier bin.“

„Um ein Polizeisiegel zu brechen, ist das trotzdem eine ziemlich dünne Erklärung“, meinte Jürgen.

„Ach wirklich?“

„Sie sehen ja, was jetzt passiert ist.“

„Ich sitze in Handschellen hier.“

„Sie haben uns mit einer Waffe bedroht.“

„Eigentlich wollte ich in diese Sache nicht hineingezogen werden.“

„Nach der großen Liebe hört sich das mit Ihnen und Rademacher ja nicht an“, sagte Olli.

„Ach – und Sie können das beurteilen?“, fauchte sie.

Olli sah sie an. „Es scheint Ihnen ziemlich gleichgültig zu sein, wer Ihren Freund umgebracht hat.“

„Stattdessen war es Ihnen nur wichtig, ein paar persönliche Dinge aus Herrn Rademachers Wohnung verschwinden zu lassen“, ergänzte Jürgen.

Olli sagte: „Ich muss sagen, bei diesem hohen Grad an gegenseitiger Verbundenheit kommen mir schon fast die Tränen. Scheint ein richtiger Glückspilz gewesen zu sein, der Herr Rademacher. Ich meine, dass er Sie kennengelernt hat...“

„Manche Frauen sollen ja emotional sehr stark klammern“, meinte Jürgen. „Wie gut, dass Herr Rademacher bei Ihnen dieses Problem nicht gehabt haben dürfte. Jemand, der so eiskalt ist, wie Sie, hat als Partnerin für einen Polizisten doch auch ein paar Vorteile... Er konnte sich dadurch sicherlich auch voll in seine Einsätze stürzen, da er genau wusste, dass der keine trauernde Witwe hinterließ...“

„...sondern eine Frau, die nach seinem Tod auch noch die Wohnung aufräumt“, ergänzte Olli sarkastisch.

„Wollen Sie mich jetzt verarschen?“, fragte Christine Wistanow.

„Sinn für Ironie hat sie jedenfalls nicht“, sagte Jürgen.

„Nee, hat sie nicht“, bestätigte Olli.

„Sonst würde sie so eine Frage nicht stellen, Olli.“

„Würde sie nicht“, meinte Jürgen Carnavaro.

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Wenig später trafen Annemarie O'Hara und Fred LaRocca ein. Etwa zeitgleich war auch das Team der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst am Tatort.

Annemarie führte eine gründliche Durchsuchung bei Christine Wistanow durch.

Außerdem wurden Fingerabdrücke genommen.

Christine Wistanow protestierte dagegen zwar ziemlich lautstark, aber das war zwecklos. Als Kommissarin Annemarie O’Hara Christine gegenüber klarmachte, dass die erkennungsdienstliche Behandlung auch im Präsidium durchgeführt werden könnte, ließ diese ihren Protest verstummen.

„Juristisch gesehen war das, was Sie getan haben, ein Einbruch und ein bewaffneter Angriff auf zwei BKA-Kommissare. Hinzu kommt noch ein Verstoß gegen das Waffengesetz“, erklärte Annemarie.

„Ich habe den .22er, um mich verteidigen zu können!“

„Die Gesetze sind für alle gleich und verbieten den Besitz von Schusswaffen, es sei denn Sie haben dafür eine Erlaubnis. Und von der haben wir bislang nichts gesehen. Ich fürchte, wir werden da auch wohl nichts mehr zu sehen bekommen...!“

„Sie können mich mal!“

„Sie werden sich auf einigen Ärger einstellen müssen und kümmern sich am besten schon mal um einen Anwalt. Aber vielleicht unterstützen Sie uns ja auch noch ein bisschen bei der Suche nach dem Mörder des Mannes, den Sie als Freund bezeichnet haben.“

„Vielleicht werden Sie und Ihre Kollegen für diese unrechtmäßige Festnahme sich auch noch vor einem Richter verantworten müssen!“, fauchte sie.

„Es steht Ihnen jederzeit frei, sich zu beschweren oder rechtliche Schritte einzuleiten. Aber ich empfehle Ihnen dringend, sich vorher juristisch beraten zu lassen“, lautete Annemaries ausgesprochen kühle Erwiderung.

Fred LaRocca führte in einem Nebenraum mit seinem Laptop eine Online-Abfrage durch.

Jürgen Carnavaro sah ihm dabei über die Schulter.

Annemarie kam herein, ging zu den beiden Kommissaren hin und fragte: „Was machen wir jetzt mit ihr?“

„Irgendetwas stimmt nicht mit ihr“, meinte Jürgen. „Unser System zeigt uns mehrere Verurteilungen wegen Beischlafdiebstahl an. Einmal hat sie einen Freier ausgeraubt und dafür auch eine Weile gesessen... Eine Prostituierte, die sich den Akten nach auch schon als Erpresserin zu betätigen versucht hat...“

„Es könnte sein, dass Habgier bei diesem Einbruch das Motiv war“, glaubte Fred LaRocca.

„Aber ich habe nichts bei ihr gefunden, das darauf hindeutet“, wandte Annemarie ein. „Also ich meine: Diebesgut. Die Beute eben.“

„Dann sind wir ihr eben zuvor gekommen“, entgegnete Jürgen. „Sie kommt mit auf das Präsidium. Die Waffe wird beschlagnahmt und ballistisch überprüft. Durch das, was wir bei ihr an Vorstrafen haben, ist ihre Version, wonach sie Rademachers liebende Gefährtin war, wohl ziemlich zweifelhaft.“

„Spätestens morgen ist sie gegen Kaution wieder draußen“, gab Annemarie zu bedenken.

„Ja, aber bis dahin haben wir vielleicht ein paar Punkte geklärt.“

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Die Maschinenpistole ratterte. Ede Gerighauser hob die Hände. Die Schüsse zischten über ihn hinweg und stanzten Löcher in die Wand. Ein Muster, das Ähnlichkeit mit einer Sinuskurve hatte.

Der MPi-Schütze riss das Magazin aus der zierlichen Waffe vom israelischen Typ Uzi heraus, warf es zur Seite und steckte ein neues hinein.

Ede Gerighauser zitterte vor Angst. Er musste die Kiefer fest aufeinander pressen, um nicht mit den Zähnen zu klappern, so schlimm war es.

Der Puls schlug ihm bis zum Hals. Kalter Angstschweiß perlte ihm über die Stirn.

Der MPi-Schütze stellte sich breitbeinig auf.

Er trug eine Military-Hose und eine Lederjacke. Darunter ein T-Shirt mit V-förmigen Ausschnitt.

Unterhalb des Halsansatzes war eine Tätowierung zu sehen. Drei ineinander greifende Ringe.

Der Kerl trat näher. Die kurze Mündung der Uzi war auf Ede Gerighauser’ Kopf gerichtet.

„Schrei ruhig. Hier wird dich niemand hören, Ede! Die Polizei traut sich in dieses Viertel ohnehin nur in Mannschaftsstärke – und hier hat sie schon gar nichts zu suchen.“

Der MPi-Schütze lachte rau.

Ede Gerighauser war nur zu gut bewusst, wie Recht sein Gegenüber hatte.

Man hatte ihn auf eine abgelegene Industriebrache gebracht. Dieses Lagerhaus rottete seit Jahren vor sich hin. Der Untergrund war mit Giftmüll verseucht, die Firma war Bankrott gegangen und jetzt stritt man sich vor Gerichten darüber, wer für die Schäden aufzukommen hatte. Ein Ort, an dem man wahrscheinlich sogar seine Leiche erst nach Wochen finden würde.

Wenn überhaupt.

Der MPi-Schütze beugte sich zu Gerighauser herab.

„Wie nennt man mich, Ede?“

„Den King.“

„Den King, richtig. – und seinen König verrät man doch nicht oder?“

„Ich habe es nicht freiwillig getan!“

„Du hast es getan! Und das ist das Einzige, was zählt.“

„Erschieß mich nicht!“

„Deinetwegen sitzt mein Bruder im Knast!“

„Bitte! Ich tu alles, was du willst, King!“

Der Mann, der sich >King< nennen ließ, lachte zynisch. „Keine Sorge, Ede. Ich werde dich noch nicht erschießen. So einen Wurm wie dich, der sich vor Angst in die Hosen macht und innerlich ohnehin schon tot ist, weil er sich dauernd an seinem eigenen Stoff vergreift! Du bist ein Stück Dreck, Ede! Aber das ist dir nicht klar. Keine Sorge, ich werde dir das schon richtig beibringen.“ >King< wandte sich um und brüllte: „Wo ist die Schlampe?“

Schritte waren zu hören.

Zwei maskierte Männer brachten eine junge Frau in den Raum. Ihre Hände waren auf den Rücken gefesselt, die Augen verbunden.

„Maria!“, stieß Ede hervor. „Was habt ihr mit meiner Schwester vor?“

Der King stieß sie vorwärts. Sie taumelte Ede entgegen. Die Uzi knatterte los. Der King hielt die Waffe hoch, sodass Schultern und Kopf der jungen Frau getroffen wurden. Ihr Körper zuckte unter den Treffern. Sie fiel Ede Gerighauser entgegen und landete direkt auf ihm. Sie lebte schon nicht mehr. Überall war Blut. Ede Gerighauser war vollkommen damit besudelt. Völlig fassungslos nahm er Maria in die Arme.

Ein dicker Kloß saß ihm im Hals.

Ede Gerighauser konnte noch nicht einmal schreien.

„Warum sie?“, flüsterte Ede.

„Jetzt bist du dran, Ede!“

Der King warf einem seiner Leute die Uzi zu. Der Maskierte fing sie sicher auf. Dann griff der King unter seine Jacke und holte eine Automatik vom Kaliber .45 hervor und setzte sie Ede Gerighauser an den Kopf. „Weißt du, was mit dem Gehirn geschieht, wenn ich den Stecher durchziehe?“, fragte er mit breitem Grinsen. Gerighauser schloss die Augen.

Der King drückte ab.

Es machte nur klick.

„Gar nichts geschieht!“, lachte der King. „Ich werde dich nicht töten, Ede. Noch nicht. Erst sollst du noch leiden. Deine Strafe ist es, vorerst weiter zu leben. Weiter zu leben in dem Bewusstsein, dass du an all dem Schuld bist. Maria hätte nicht sterben müssen, wenn du uns nicht verraten hättest. Und wenn du zufällig in nächster Zeit mal wieder deine Eltern besuchen solltest... Na ja, vielleicht hat man sie auch schon gefunden!“

„Nein!“, brüllte Ede.

„Du bist schuld daran, Ede! Nur du ganz allein – so wie du auch schuld daran bist, dass mein Bruder und fast alle Führungskräfte der ‚Killer Bandoleros’ verhaftet wurden!“

„Nein!“, schrie Ede Gerighauser noch einmal.

„Aber irgendwann werde ich zuschlagen und auch dein Leben ausknipsen. Aber vorher wird dich die Schuld innerlich aufgefressen haben. Wenn ich dich töte, wirst du innerlich längst tot sein.“

„Hey, was ist mit Ihnen los?“, drang eine Stimme wie aus weiter Ferne in Ede Gerighauser’ Bewusstsein. Hände fassten ihn bei den Schultern. „Soll ich einen Arzt holen?“

Erst jetzt begriff Ede Gerighauser, dass es nur eine Erinnerung gewesen war, die ihn so sehr in Beschlag genommen hatte, dass er sie für real hielt.

Ein Flashback.

Er blickte auf seine Hände und starrte sie ungläubig an. Von Marias Blut war nirgends etwas zu sehen. Stattdessen sah er auf dem Grab, das sich vor ihm befand, Marias Namen. Ihren Namen und die Namen seiner Eltern. Die Erinnerungen drohten ihn wieder zu übermannen. Er sah sich erneut die Wohnung seiner Eltern betreten. Sah das Blut an den Wänden. Den Geruch...

„Hören Sie, Sie sehen wirklich so aus, als wäre Ihnen nicht gut. Soll ich nicht doch besser den Notarzt rufen?“, fragte der stämmige, grauhaarige Mann mit den wachen, dunkelbraunen Augen. Auf seiner hohen Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet.

Ede Gerighauser wandte den Kopf.

In dieser Sekunde nahm er den Grauhaarigen zum ersten Mal bewusst wahr.

„Es geht schon“, behauptete Gerighauser.

„Wirklich?“

„Wirklich.“

Der Grauhaarige zuckte mit den Schultern. „Wie Sie meinen.“ Irritiert ging er davon und drehte sich nach ein paar Dutzend Metern noch einmal um.

Ede Gerighauser stand in sich versunken da und beachtete den Mann schon gar nicht mehr.

Die rechte Hand steckte in der tiefen Tasche seines Mantels und umfasste den Griff einer Pistole.

Sie hätten mir helfen können, Kommissar Rademacher!, dachte er. Aber Sie haben es nicht getan.

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Am nächsten Tag fanden wir uns im Büro unseres Chefs zur Besprechung ein. Außer Rudi und mir waren auch unsere Kollegen Jürgen Carnavaro und Oliver Medina sowie eine ganze Reihe weiterer Ermittler unserer Abteilung anwesend. Darunter auch Max Herter, ein Innendienstler aus unserer Fahndungsabteilung und Hans-Peter Haselmann, der Chefballistiker.

„Guten Morgen“, begrüßte uns Kriminaldirektor Bock, nachdem alle anwesend waren. Seine Sekretärin Mandy hatte uns Kaffee serviert, und ich nippte an dem heißen, aber unvergleichlich guten Gebräu. „Wer von Ihnen Lokalnachrichten gehört hat oder schon dazu gekommen ist, eine Zeitung zu lesen, wird bemerkt haben, dass der Fall Rademacher hohe Welle geschlagen hat. Einige Medien scheinen die Sache für ihre Zwecke ausnutzen zu wollen. Das Ganze geht etwa in die Richtung, dass man sich in der Stadt wohl nicht mehr sicher fühlen kann, wenn schon Polizisten umgebracht werden. Das ist natürlich Unsinn. Jeder weiß, dass die Verbrechensraten in Berlin seit Jahren konstant rückläufig sind. Ich fürchte nur, dass von dieser Wahrheit in der Öffentlichkeit kaum etwas durchdringen wird!“

„Andererseits hat uns der Gang an die Öffentlichkeit den Hinweis auf Udo’s Imbiss beschert“, hielt Max Herter dem entgegen.

Kriminaldirektor Bock nickte. „Ja, das ist richtig, Max“, räumte er ein. „Aber ich denke, auch Sie sind erschrocken darüber, welche Folgen dieser Gang an die Öffentlichkeit darüber hinaus hatte. Ich bin weit davon entfernt, die Maßnahme für falsch zu halten. Schließlich habe ich sie selbst nach reiflicher Überlegung angeordnet. Ich will nur, dass jedem von Ihnen klar ist, was für ein zweischneidiges Schwert es sein kann, die Öffentlichkeit in die Fahndungsarbeit mit einzubeziehen. Die Sache gleitet einem schneller aus der Hand, als einem lieb ist.“ Kriminaldirektor Bocks Gesichtsausdruck wirkte sehr ernst, während er das sagte. Für einen kurzen Moment herrschte absolute Stille im Büro. Dann wandte er sich an Max. „Es liegen tatsächlich ein paar neue Erkenntnisse vor. Vielleicht fassen Sie den Kollegen kurz die Lage zusammen.“

„Ja, Herr Bock. Auf jeden Fall ist die Westhafenstraße in Moabit tatsächlich der Tatort. Erstens besteht kein Zweifel mehr daran, dass der Fleck auf dem Asphalt eine Blutlache war, zweitens, dass es so gut wie unmöglich wäre, allein diesen Blutverlust zu verkraften und dass drittens der Tote zum Wasser geschleift worden ist.“

„Außerdem konnte ein Projektil in der Uferböschung sichergestellt werden“, ergänzte unser Ballistiker Hans-Peter Haselmann. „Den Untersuchungsergebnissen nach stammt es aus derselben Waffe, mit der Rademacher getötet wurde, sodass wir das Ergebnis der DNA-Analyse wohl nicht abwarten brauchen, um davon ausgehen zu können, dass wir tatsächlich den Tatort gefunden haben.“

„Was ist mit den Zeugenaussagen von Udo Jakobi und seinen Angestellten?“, hakte Kriminaldirektor Bock nach.

„Daraus sind Phantombilder hervorgegangen“, erläuterte Max Herter und präsentierte uns das erste dieser Bilder mit Hilfe eines Beamers in überdimensionaler Größe an der Wand. Es zeigte einen Mann mit gelocktem Haar. „Die haben wir mit Personen abgeglichen, die in irgendeinem Zusammenhang mit Rademacher standen und sind fündig geworden. Wir haben eine mindestens 85-prozentige Übereinstimmung zwischen dem Mann, mit dem sich Rademacher einmal in dem Imbiss getroffen hat, und einem gewissen Ede Gerighauser. Gerighauser war ein kleiner Dealer und Mitglied einer Rocker- und Drogengang mit der Bezeichnung ‚Killer-Bandoleros’. Mit seiner Hilfe wurde Manuel Bentz, der Anführer der Gang zusammen mit dem Großteil seines Führungspersonals verhaftet.“

„Lass mich raten: Thorben Rademacher war maßgeblich an der Verhaftung beteiligt!“, glaubte Jürgen.

Max bestätigte dies. „So ist es. Angeblich versucht Bentz’ Bruder Lionel Bentz – genannt ‚Der King’ – die Gang wieder aufzubauen. Tatsache ist, dass Ede Gerighausers Eltern und seine Schwester kurz nach Manuel Bentz’ Verhaftung ermordet wurden.“

„Der Schluss liegt nahe, dass es sich da um einen Rachefeldzug handelt“, meinte Kriminaldirektor Bock. „Genießt Ede Gerighauser Zeugenschutz? Hat er eine neue Identität?“

„Nein. Jedenfalls nicht, dass wir davon wüssten oder dass er dafür behördliche Hilfe in Anspruch genommen hätte. Es ist zumindest nichts darüber in den Akten verzeichnet. Den Grund dafür müssen wir noch herausfinden.“

„Auf jeden Fall gehörte Gerighauser nicht zu den Fällen, in denen Rademacher wegen des Unterschiebens von Beweismaterial und Erpressung von Spitzeldiensten ins juristische Kreuzfeuer kam“, stellte Kriminaldirektor Bock mit Blick auf seine Unterlagen fest.

„Die Tatsache, dass Gerighauser Rademacher nicht angezeigt hat, heißt nicht, dass es in seinem Fall nicht auch so gewesen sein könnte“, gab Rudi zu bedenken. „Vielleicht hatte Gerighauser einfach nur kein Vertrauen in die Polizei.“

„In dem Fall hätte Gerighauser ein erstklassiges Motiv, um Rademacher umzubringen“, glaubte Olli. „Er könnte Rademacher für den Tod seiner Eltern und Schwester verantwortlich gemacht haben.“

„Allerdings ist ja wohl noch nicht erwiesen, dass Gerighauser tatsächlich die Person war, mit der Rademacher an dem Abend telefonierte“, gab ich zu bedenken. „Sein Handy wurde ja leider nie aufgefunden.“

„Wir gehen der Spur auf jeden Fall weiter nach“, entschied Kriminaldirektor Bock. „Ist Gerighauser Aufenthaltsort bekannt?“

„Leider nicht“, sagte Max. „Er scheint untergetaucht zu sein.“

„Er wird zur Fahndung ausgeschrieben, aber wir gehen nicht an die Öffentlichkeit damit“, bestimmte unser Chef. „Was ist mit der Frau?“

Max Herter projizierte ihr Phantombild an die Wand und überblendete es anschließend mit dem Foto, das anlässlich einer Festnahme gemacht worden war.

„Hier ergibt sich eine hohe Übereinstimmung mit Christine Wistanow, einer mehrfach wegen verschiedenen Delikten vorbestraften Prostituierten.“

„Unter Rademachers Kollegen glaubte man, Christine sei seine Freundin“, ergänzte ich.

Jürgen Carnavaro zuckte mit den Schultern und warf ein: „Wer weiß, vielleicht glaubte Rademacher das sogar selbst.“ In knappen Worten informierte er uns darüber, wie und unter welchen Umständen Christine Wistanow in Rademachers Haus aufgegriffen worden war.

„Unsere Verhörspezialisten Meinert Schneider und Pascal Horster haben sich die halbe Nacht mit ihr befasst und versucht, etwas aus ihr herauszubekommen, das über ihre Standard-Aussage hinausging, mit der sie bereits uns abgespeist hatte. Heute Morgen ist ihr Haftprüfungstermin. Ihr Anwalt ist ein gewisser Karlheinz Bandella, der zuvor häufiger mal für Benny Farkas tätig war.“

„Das ist ein interessantes Detail“, murmelte ich.

„Es kommt noch besser“, mischte sich nun Hans-Peter Haselmann ein. „Die konfiszierte Waffe vom Kaliber .22 wurde bei derselben Schießerei in Benny Farkas’ Club ‚El Abraxas’ benutzt, wie die .45er mit der Rademacher ermordet wurde.“

„Dann wird es Zeit, dass wir Farkas mal näher auf den Zahn fühlen!“, meinte Rudi.

Max zeigte uns ein Foto von ihm. Ein geckenhafter Mann mit dunklem Teint, feinem Oberlippenbart in schneeweißem Anzug. Am Revers trug er eine Rose. „Das ist Farkas! Ein Dutzend Clubs dürfte unter seiner Kontrolle stehen. Außerdem gilt er als einer der Großverteiler von Drogen in Berlin“, erläuterte Max. „Die ‚Killer Bandoleros’ sollen zu seinem Verteilernetz gehört haben, nur konnte man das im Prozess leider nicht nachweisen. Die Kollegen von der Drogenfahndung vermuteten, dass es damals zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Benny Farkas und den ‚Bandoleros’ kam. Vermutlich konnte man sich über Gewinnmargen nicht einig werden, woraufhin einige Mitglieder der ,Killer Bandoleros’ mehrfach in Farkas Club ziemlich rustikal aufgetreten sind und die Gäste verscheucht haben. Es ist zu vermuten, dass dies der Hintergrund der Schießerei ist, die dann stattfand und bei der mindestens ein Mitglied der ‚Killer Bandoleros’ ums Leben kam.“

„Ich schlage vor, Farkas’ Club heute Abend mal einen kleinen Besuch abzustatten“, meinte Jürgen.

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Max Herter hatte uns alles, was er herausgefunden hatte, zu einem Datendossier zusammengestellt.

Rudi und ich saßen im Anschluss an die Sitzung in unserem gemeinsamen Dienstzimmer und arbeiteten die Unterlagen durch. Ich sah mir vor allem die Liste der Personen an, die damals bei der Schießerei verdächtigt worden waren, daran beteiligt gewesen zu sein. Der Einzige, in dessen Fall es immerhin zu einer Anklage gekommen war, hieß Reza Tannous. Er war mehrfach wegen Körperverletzung und illegalem Waffenbesitz vorbestraft und war damals Türsteher im ‚Abraxas’ gewesen. Inzwischen galt er als rechte Hand und Mann fürs Grobe in Benny Farkas’ Organisation. Da seine letzte Bewährung wegen einer Schlägerei erst in einem Monat auslief, war seine Adresse bekannt.

„Steht da irgendwo, weshalb es nicht zum Prozess gekommen ist?“, fragte Rudi.

„Vermutlich reichten die Beweise einfach nicht aus“, erwiderte ich.

Gegen Mittag fuhren wir zu Rademachers ehemaligem Revier und besprachen uns mit seinem direkten Vorgesetzten Herrn Kassavetes, dem Leiter der Drogenabteilung.

„Thorben Rademacher war ein hervorragender Polizist, der gute Erfolge verbuchen konnte“, sagte Kassavetes. „Es ist schade, dass seine Karriere diesen Knick bekam und man ihn nach Moabit abschob. Aber da war er ja nicht allein betroffen.“

„Es wurde noch ein Beamter namens Sebastian Maybaum verdächtigt, Beweismittel manipuliert und Kleinkriminelle zu Spitzeldiensten erpresst zu haben“, sagte ich.

„Ja. Maybaum verrichtet heute in einer anderen Dienststelle seinen Dienst. Ich habe ihn neulich beim Schieß-Training getroffen. Er arbeitet jetzt im Innendienst. Und das, obwohl gegen keinen der beiden auch nur ein Prozess eröffnet worden ist!“

„Es erschien damals wohl einigen Leuten opportun wohl, die beiden aus der Schusslinie zu nehmen.“

„Ja, so kann man das auch nennen!“, erwiderte er gallig.

„Man hatte bei Ihren Ermittlungen noch einen dritten Beamten im Visier“, stelle ich fest. „Sein Name war Tom Subotitsch.“

„Tom ist noch hier im Revier. Allerdings können Sie heute nicht mit ihm sprechen.“

„Warum nicht?“

„Er ist zu einer Fortbildung nach Frankfurt gefahren. Man bringt da den Angehörigen von Drogenabteilungen im ganzen Land die Anwendung neuer Drogen-Schnelltests bei.“

„Dann ist er morgen wieder hier?“

„Er hat zwei Wochen Urlaub genommen. Ich glaube, der Tod von Rademacher hat ihn sehr mitgenommen.“

„Die beiden standen sich nahe?“

„Ja, sie waren eng befreundet und arbeiteten im Dienst als Team zusammen: Maybaum, Rademacher und Subotitsch. Und ich hatte selten ein so erfolgreiches Team.“

„Sie haben dafür gesorgt, dass Manuel Bentz und die Führungsriege der ‚Killer Bandoleros’ hinter Gitter kamen!“

Kassavetes machte einen etwas überraschten Eindruck. Sein Lächeln wirkte verkrampft. „Sie scheinen ja bereits gut informiert zu sein.“

„Ein Informant namens Ede Gerighauser spielte dabei eine entscheidende Rolle.“

„Schon möglich!“, murmelte Kassavetes. „Worauf wollen Sie hinaus?“

„Auf gar nichts.“

„So?“

„Ich will es nur verstehen.“

„Ah, ja...“

„Also?“

Kassavetes behauptete: „Die Sache war sauber. Gerighauser hat sich – im Gegensatz zu ein paar anderen, die sich erst bezahlen und nachher von Erpressung und Manipulation herumschwadronieren – nie an die Justiz gewandt.“

„Vielleicht, weil er gesehen hatte, dass die anderen Verfahren nicht einmal vor Gericht kamen.“

„Wenn man auf der einen Seite die verworrene Aussage eines Junkies und Drogendealers hat, während auf der anderen Seite die Karriere eines Musterpolizisten auf dem Spiel steht, wird man sich wohl dafür entscheiden, letzterem zu glauben.“

„Ja, das könnte Gerighauser auch gedacht haben.“

„Fangen Sie jetzt auch an, uns irgendetwas anzuhängen?“, fragte Kassavetes etwas ungehalten. Eine tiefe Furche erschien auf seiner Stirn.

„Ich frage mich, warum Sie sich angegriffen fühlen, es ging doch um Rademacher – und nicht um Sie!“, erwiderte Rudi.

„Und letztlich versuchen wir nur, die Sache aufzuklären, um seinen Mörder zu fassen. Daran sollte doch auch Ihnen gelegen sein – gleichgültig, was da vielleicht noch nachträglich über Ihren Musterpolizisten ans Tageslicht kommen mag“, ergänzte ich.

Kassavetes atmete tief durch.

„Wissen Sie, in unserem Job können Sie nur zurechtkommen, wenn das Team zusammenhält“, sagte er dann.

„Ich hoffe, dass schließt nicht ein, Straftaten zu decken“, hielt ich ihm entgegen.

Er zögerte mit seiner Antwort und erklärte schließlich. „Sie können mir glauben, dass ich mindestens ebenso daran interessiert bin, Rademachers Mörder zu fassen wie Sie!“

„Kommen wir zu Ede Gerighauser zurück. Hatten auch Maybaum und Subotitsch Kontakt zu ihm?“

„Soweit ich weiß, ja.“

„Rademacher hat sich nachweislich nach seinem Ausscheiden aus dem Drogendezernat noch mit Gerighauser getroffen. Haben Sie dafür irgendeine Erklärung?“

Kassavetes runzelte die Stirn. „Nein, das wundert mich.“

„Weshalb?“

„Gerighauser gilt sein ein paar Wochen als spurlos verschwunden. Glauben Sie, dass er was mit Thorbens Tod zu tun hat?“

„Seine Eltern und seine Schwester wurden im Gefolge der Verhaftung von Manuel Bentz und seinen ‚Killer Bandoleros’ umgebracht.“

„Die Morde konnten leider nicht aufgeklärt werden, sonst säße Manuels Bruder Lionel, der sich großspurig ‚Der King’ – der König – nennen lässt, längst in einer JVA.“

„Aber wenn Gerighauser für seine Dienste erpresst wurde, hätte er allen Grund, auch sauer auf Rademacher zu sein.“

„Das ist allerdings wahr...“, murmelte Kassavetes nachdenklich.

„Warum ist Gerighauser nicht geschützt worden gekommen?“, fragte jetzt Rudi. „Eigentlich wäre das doch in seinem Fall üblich.“

Kassavetes vollführte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf und sah erst Rudi und dann mich einen Moment lang an. „Rademacher meinte, er hätte ihm das angeboten, aber Gerighauser wollte das nicht. Er würde der Polizei, der Staatsanwaltschaft und allen anderen, die mit dem Staat zu tun hätten, nicht trauen. Einem wie ihm würden die sowieso nicht helfen...“

„Und für dieses Gespräch gibt es keine Zeugen?“, fragte ich. „Oder waren Subotitsch und Maybaum dabei?“

„Es tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung.“

Ich holte ein paar zusammengefaltete Computerausdrucke aus der Innentasche meiner Jacke und reichte sie Kassavetes.

„Was ist das?“, fragte er, noch ehe er die Blätter auseinandergefaltet hatte.

„Die ausgedruckten Datenblätter jener Personen, auf deren Anzeige hin damals die internen Ermittlungen eingeleitet wurden. Vielleicht können Sie uns etwas dazu sagen. Schließlich sind alle wegen Drogendelikten vorbestraft und hatten verschiedentlich mit Beamten Ihrer Abteilung zu tun.“

Kassavetes warf einen Blick auf die Blätter. „Rafi Mustafi war die treibende Kraft. Ein Kleindealer, der uns wiederholt ins Netz gegangen war. Ich erinnere mich genau an den Fall. Rademacher und Maybaum haben ihn als Informanten angeworben, nachdem er mit einer kleinen Menge Crack verhaftet wurde. Später behauptete er, Rademacher und Maybaum hätten ihm gedroht, sie könnten die Beweismittel so manipulieren, dass er für Jahre in den Knast wandern würde. Nur deswegen habe er als Informant gedient!“

„Und die beiden anderen?“, fragte ich.

„Victor Beinhauer und Benjamin Braun kamen erst aus ihren Löchern, als die Ermittlungen schon liefen. Zu einer Zeugenaussage vor Gericht kam es nie.“

„Weshalb nicht?“

„Beinhauer war plötzlich verschwunden und tauchte erst zwei Monate nach der Verhandlung wieder auf, als er nach einer Prügelei festgenommen wurde.“

„Könnte ihn jemand überzeugt haben, dass es besser für ihn wäre, nicht auszusagen?“, hakte ich nach.

„Das ist reine Spekulation, Herr Kubinke.“

„Aber möglich.“

Kassavetes zuckte die Schultern. „Vielleicht entsprach es auch einfach nicht der Wahrheit, was er behauptete und da hat er kalte Füße bekommen.“

„Und was ist mit Nummer drei?“

„Benjamin Braun? Der hat seine Aussage offiziell zurückgezogen. War eine ziemlich große Blamage für die Staatsanwaltschaft.“

„Wenn die Sache so eindeutig war, dann verstehe ich nicht, weshalb Maybaum und Rademacher versetzt wurden!“

Kassavetes lachte heiser auf. „Auf meinem Mist ist das nicht gewachsen, dass können Sie mir glauben. Das kam von ganz oben aus dem Rathaus. Man wollte wohl nicht den Anschein erwecken, dass wir die Augen zumachen, wenn einer von uns mal einen Fehltritt begeht.“

„Mal ganz ehrlich, Herr Kassavetes. Würden Sie denn die Augen in einem solchen Fall schließen?“, mischte sich jetzt Rudi ein.

Herr Kassavetes schluckte. Er stand von seinem Platz auf, ging zum Fenster, blickte kurz hinaus und kratzte sich am Kinn.

„Über allem steht immer noch das Gesetz“, sagte er schließlich. „Auch über einem Polizisten.“

„Es freut mich, dass Sie so denken, Herr Kassavetes“, erwiderte ich.

Er hob die Augenbrauen.

„War es das? Wir haben hier nämlich in diesem Dezernat auch noch einen Job zu erledigen!“

Ich nickte. „Das war’s.“

Wir wandten uns zum Gehen.

Kurz vor dem Ausgang von Kassavetes’ Büro fragte ich noch: „Hatte Rademacher eigentlich eine Freundin?“

„Nichts Festes. Jedenfalls nicht in den letzten zwei Jahren. Davor hatte er eine längere Beziehung und ich glaube, die beiden wollten auch heiraten. Ich glaube, der Job hat sie dann wohl auseinander gebracht. Es ist für eine Partnerin nicht unbedingt angenehm, mit einem Polizisten verheiratet zu sein. Die Überstunden, die unregelmäßigen Arbeitszeiten, und die ständige Gefahr, dass man den geliebten Menschen nicht wieder sieht, weil irgendein Irrer ihm eine Kugel in den Kopf knallt...“

„Sagt Ihnen der Name Christine Wistanow etwas?“

„Nein, tut mir leid, Herr Kubinke. Jedenfalls nicht aus dem Stegreif.“

„Sie hat behauptet, mit Rademacher eine Beziehung geführt zu haben.“

„Fragen Sie Subotitsch und Maybaum. Die kannten Thorben Rademacher noch etwas besser als ich.“

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Christine Wistanow ging in Begleitung ihres Anwaltes Karlheinz Bandella die Stufen des Gerichtsgebäudes hinunter. Bandella war ein untersetzter Mann mit hoher Stirn und ziemlich beleibt. Sein Hals war so dick, dass er den obersten Hemdknopf stets offen und die Krawatte gelockert tragen musste. Aber vor Gericht pflegte Bandella äußerst überzeugend und sehr energisch aufzutreten.

„Eigentlich können Sie mit dem Verlauf zufrieden sein – und die Kaution bewegt sich doch in einem annehmbaren Bereich.“

„Wenn ich sie selbst bezahlen müsste, wäre ich ruiniert!“, erwiderte Christine.

Karlheinz Bandella lächelte breit. „Jetzt übertreiben Sie aber, Christine! Ich soll Ihnen übrigens Grüße von Herr Farkas ausrichten.“

„Danke...“

Ein blauer Ford hielt vor dem Gerichtsgebäude. Zwei Männer stiegen aus. Einer von ihnen war flachsblond, der andere dunkelhaarig.

„Frau Christine Wistanow?“

„Wer zum Teufel ist das denn?“, fragte Karlheinz Bandella.

Die beiden Männer kamen auf Christine Wistanow und ihren Anwalt zu.

„Jürgen Carnavaro, BKA“, sagte der Blonde und hielt seinen Ausweis sowohl Christine als auch Bandella entgegen.

„Sie schon wieder?“, schimpfte die junge Frau.

„Meinen Kollegen Oliver Medina kennen Sie bereits ebenfalls!“, sagte Jürgen.

„Das grenzt schon an Schikane, was Sie hier machen!“, ereiferte sich die junge Frau. „Erst nehmen Sie mich mit fragwürdiger Begründung fest, lassen mich eine Nacht in einer Ihrer Gewahrsamszellen schmoren und von penetranten Idioten verhören, ehe ich endlich vor einem Richter stehe, der mich freilässt – und jetzt tauchen Sie schon wieder auf! Soll das ganze Spiel vielleicht von vorne beginnen!“

„Beruhigen Sie sich, Frau Wistanow. Den Grund dafür, dass Sie festgenommen wurden, kann Ihnen Ihr Anwalt erklären.“

„Ich bin Karlheinz Bandella und möchte, dass Sie meine Mandantin bis zur Verhandlung in Ruhe lassen. Sie hat alles, was es zur Sache zu sagen gibt, zu Protokoll gegeben. Im Übrigen tut es ihr ausdrücklich leid, Sie in irrtümlicher Notwehr attackiert zu haben, Herr Carnavaro, was ich hiermit im Auftrag meiner Mandantin vortragen möchte.“

„Wir möchten Miss Wistanow ein paar Fragen stellen, die im Zuge neuer Ermittlungsergebnisse aufgetaucht sind.“

„Meine Mandantin braucht sich nicht selbst belasten und wird keine Aussage machen“, erklärte Karlheinz Bandella.

„Ihre Mandantin behauptet, die Lebensgefährtin von Herr Thorben Rademacher gewesen zu sein, aber es scheint ihr ziemlich gleichgültig zu sein, was mit Rademacher geschehen ist.“

„Ich beantworte Ihre Fragen, wenn Sie mich dann in Ruhe lassen!“, entschied Christine Wistanow.

„Ich habe Ihnen davon abgeraten!“, stellte Bandella noch einmal klar. „Aber Sie müssen ja wissen, was Sie tun.“

„Der .22er Revolver, den wir Ihnen abgenommen haben, wurde bei einer Schießerei im Club ‚El Abraxas’ verwendet - genau wie die Waffe, mit der Rademacher ermordet wurde.“

„Worauf wollen Sie hinaus? Dass meine Mandantin etwas mit dem Tod Ihres Kollegen Rademacher zu tun hat? Es handelt sich um unterschiedliche Waffen, wenn ich das richtig verstanden habe und mir ist schleierhaft, wie Sie da einen Zusammenhang konstruieren können, Kommissar Carnavaro!“

„Zwei Waffen mit einer Gemeinsamkeit. Da glaube ich nicht an einen Zufall, Frau Wistanow. Sie sind wegen mehrerer Delikte vorbestraft und haben als Prostituierte gearbeitet...“

„Das tut nichts zur Sache“, behauptete Bandella.

„Das tut sehr wohl etwas zur Sache“, widersprach Jürgen. „Es wäre nämlich denkbar, dass die Beziehung zwischen Ihrer Mandantin und Herrn Rademacher keineswegs eine reine Liebesbeziehung war, sondern Frau Wistanow auf Rademacher angesetzt wurde.“

„Wer sollte so etwas tun? Und aus welchem Grund?“, ergriff nun Christine Wistanow das Wort und verzog ihren Mund zu einem geschäftsmäßigen, kalten Lächeln. „Das ist doch alles vollkommen absurd, Kommissar Carnavaro. Ich habe einen Mann verloren, bei dem ich gerade geglaubt habe, die Liebe meines Lebens zu finden und Sie behandeln mich wie einen potentiellen Täter. Dabei bin ich ein Opfer.“ Sie schluckte. Ihr Gesicht wurde dunkelrot. Sie bedeckte kurz die Augen mit der Hand und fasste sich im nächsten Moment wieder.

„Wenn das der Wahrheit entspricht, dann gibt es doch keinen Grund, uns nicht zu sagen, von wem Sie die Waffe haben.“

Sie schluckte.

„Diese Waffen werden unter der Hand verkauft. Sie wissen doch, wie das ist.“

„Sagen Sie keinen Ton mehr, die wollen Sie nur hereinlegen!“, mischte sich Bandella ein. „Die haben nichts gegen Sie in der Hand!“

„Illegaler Waffenbesitz ist keine Kleinigkeit“, sagte Jürgen. „Wenn Sie uns weiterhelfen, dann wird sich das sicher günstig auswirken und Ihnen vielleicht eine Bewährung einbringen. Trotz Ihrer Vorstrafen!“

„Ich kann Ihnen dazu nichts sagen“, erklärte sie.

„Meine Mandantin hat alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt!“, fügte Bandella hinzu. Er hakte sich bei ihr unter und führte sie davon.

Jürgen atmete tief durch. Er wandte den Kopf in Ollis Richtung, der nur mit den Schultern zuckte.

„Einen Versuch war es wert“, meinte unser Kollege.

„Christine Wistanow muss die Waffe von jemandem aus dem Umkreis von Benny Farkas bekommen haben. Jemandem, der irgendetwas mit der Schießerei damals zu tun hatte.“

„Ach, Jürgen, du weißt, über viele Ecken diese illegalen Schießeisen oft verkauft werden!“

„Es lohnt sich vielleicht trotzdem, in Farkas' Umgebung herumzustochern.“

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Wir riefen auf der Polizeidienstelle an, zu der Sebastian Maybaum strafversetzt worden war, um mit ihm einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Wir verabredeten uns für fünf Uhr in einer Kneipe an der Jakob Kramer Straße.

„Vorher kann ich leider nicht. Hier geht es mal wieder drunter und drüber!“, meinte er.

„In Ordnung. Wir werden pünktlich sein, Herr Maybaum“, versprach ich und unterbrach die Verbindung.

„Große Worte, Harry!“, lautete Rudis Kommentar.

„Wieso?“

„Um die Zeit ist Rush Hour, da ist es fast unmöglich pünktlich zu sein, zumal wir einmal von Nord nach Süd durch den Großraum Berlin fahren müssen!“

„Alles eine Frage der Planung, Rudi. Wir fahren einfach früh genug los, dann stellt sich das Problem nicht. Außerdem wollte ich in erster Linie sicherstellen, dass er pünktlich ist.“

Ich sah auf die Uhr. „Wir könnten unterwegs Reza Tannous einen Besuch abstatten. Seine Bewährung läuft noch...“

„Was ihn vielleicht gesprächsbereit stimmt!“

„...und wir haben auch eine aktuelle Adresse von ihm.“

„Tannous war damals der einzige Verdächtige bei der Schießerei im ‚Abraxas’. Soll er uns mal erklären, wie zwei Waffen, die damals eingesetzt wurden, plötzlich wieder in Gebrauch sind!“

„Falls er bereit ist, uns darauf eine Antwort zu geben.“

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Wir erreichten das Ende der Gertrude Benrath Straße, wo Reza Tannous eine Traumetage mit Ausblick auf eine Parkanlage bewohnte.

„Tannous’ Geschäfte scheinen nicht schlecht zu gehen“, meinte Rudi. „Aufgestiegen vom Türsteher zur rechten Hand von Benny Farkas, das ist ja auch eine steile Karriere.“

„Letzteres müssen wir ihm erst einmal nachweisen“, meinte ich.

„Das letzte Mal, dass ihm jemand was nachweisen konnte, war, als er vor zwei Jahren wegen Körperverletzung angezeigt und verurteilt wurde.“

„Es wundert mich, dass er noch Bewährung bekommen hat!“

„Mit einem guten Anwalt. Wer hier wohnt, kann sich auch eine gute Verteidigung leisten.“

Ich hatte die dazu vorliegenden Unterlagen nur kurz überflogen. Offenbar war Tannous vor zwei Jahren im Kampf um einen Parkplatz ausgerastet und hatte den Fahrer eines Lieferwagens aus dem Wagen gezerrt und verprügelt.

Die Bewährung endete in vier Wochen und seit seiner Verurteilung hatte er sein cholerisches Temperament offenbar besser unter Kontrolle gehabt.

Das Gebäude, in dem Tannous residierte, hatte einen hohen Sicherheitsstandard. Es gab überall Kameras und in der Eingangshalle musste man sich bei den Angehörigen eines privaten Sicherheitsdienstes anmelden, wenn man jemanden besuchen wollte.

Wir wandten uns an den diensthabenden Security Guard, der hinter einem Würfel aus Panzerglas seinen Platz hatte und zeigten ihm unsere Ausweise.

„Kubinke, BKA. Dies ist mein Kollege Kommissar Meier. Wir möchten mit Herr Reza Tannous sprechen.“

„Einen Augenblick.“

Der Security Guard fragte über eine Sprechanlage bei Tannous an. Die Antwort konnten wir nicht verstehen, da der Security Guard sie über einen Ohrhörer empfing.

Es folgte ein kleiner Wortwechsel.

„Ich verstehe“, sagte der Uniformierte schließlich und wandte sich anschließend an uns: „Es tut mir leid, Herr Tannous ist nicht zu Hause. Wenn Sie weitergehende Befugnisse haben, stehen wir Ihnen gerne mit einem elektronischen Generalschlüssel zur Verfügung.“

„Mit weitergehenden Befugnissen meinen Sie wohl einen Durchsuchungsbefehl“, schloss ich.

„Zum Beispiel.“

„Nein, den haben wir leider nicht“, sagte ich.

„Mit wem haben Sie denn gerade gesprochen?“, fragte Rudi.

„Mit Herrn Tannous’...“ Der Mann zögerte und schien nach dem passenden Begriff zu suchen. „...Dauerbesuch“, brachte er schließlich hervor.

„Eine Frau?“

„Ja, Herr Tannous hat ihr einen eigenen elektronischen Schlüssel für seine Wohnung anfertigen lassen und sie kann hier ein- und ausgehen, als ob Sie eine Hausbewohnerin wäre.“

Ich zog ein Foto von Christine Wistanow aus der Jackentasche und zeigte es meinem Gegenüber. „Ist sie das?“

„Das Gesicht stimmt. Sie ist übrigens gerade erst eingetroffen und in ihre Etage gefahren. So ungefähr vor zehn bis zwanzig Minuten. Warten Sie, ich schau mal nach, wie sie heißt...“

„Wir kennen sie als Christine Wistanow“, sagte ich. „Und wir möchten jetzt mindestens ebenso gerne mit ihr sprechen wie mit Herrn Tannous.“

„Soll ich Frau Wistanow noch mal anrufen?“

„Nein, wir gehen hinauf. Ich bin überzeugt davon, dass sie uns öffnen wird!“, erwiderte ich.

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Wir nahmen den Aufzug und fuhren in die Etage, wo sich Reza Tannous’ Wohnung befand.

An der Tür klingelten wir.

Surrend suchte uns ein Kameraauge.

Eine Frauenstimme meldete sich an der Sprechanlage.

„Ja, bitte?“

„Harry Kubinke, BKA - Frau Christine Wistanow? Wir möchten mit Ihnen sprechen und wissen, dass Sie hier sind! Also machen Sie auf!“

Es machte klick in der Leitung.

Einige Augenblicke lang standen wir ziemlich dumm da. In wie fern es für uns überhaupt eine rechtliche Handhabe gab, in die Wohnung zu gelangen, wollten wir im Moment beide nicht erörtern. Schließlich meldete sich Frau Wistanow noch einmal und verlangte von uns, die Ausweise so in die Kamera zu halten, dass sie diese sehen könnte.

Das taten wir.

Im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet.

„Ich hatte bereits mit Ihren Kollegen Carnavaro und Medina zu tun. Vielleicht haben Sie beide ja bessere Manieren.“

Ich lächelte. „Ehrlich gesagt hat daran noch kaum jemand etwas auszusetzen gehabt“, erwiderte ich.

„Was Sie nicht sagen...“

„Dürfen wir hereinkommen? Es wird sicher nicht lange dauern.“

Sie atmete tief durch. Dann machte sie eine Handbewegung. „Kommen Sie! Lassen Sie die Tür einfach ins Schloss fallen. Hier geht alles vollautomatisch.“

„Ja, so wohnt man wahrscheinlich im nächsten Jahrhundert überall“, sagte ich.

„Jetzt übertreiben Sie.“

„Na, also ich könnte mir so ein Plätzchen nicht leisten.“

„Dann arbeiten Sie vielleicht für den falschen Chef, Herr...“

„Kubinke.“

„Ja, richtig.“

„Ein Name, den Sie sich vielleicht merken sollten.“

„Übertreiben Sie nicht wieder etwas?“ Ihr Lächeln wirkte geringschätzig. Es war die Illustration des Begriffs Geringschätzigkeit.

Sie führte uns in ein sehr großes Wohnzimmer. Die Aussicht auf den Park war phantastisch. Man konnte bis hinüber nach Moabit blicken.

„Schon eigenartig, dass wir Sie hier antreffen“, sagte ich. „Wir wollten uns eigentlich mit Herrn Tannous unterhalten.“

„Reza ist im Moment geschäftlich unterwegs. Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen. Sie müssen sich also gedulden.“

„Haben Sie den .22er Revolver, den Ihnen meine Kollegen in Rademachers Wohnung abgenommen haben, von Tannous?“

Sie sah mich verdutzt an. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Ist doch ziemlich naheliegend. Die .45er mit der Rademacher umgebracht wurde und Ihr .22er wurden beide während einer nie wirklich geklärten Schießerei im Club ‚El Abraxas’ benutzt, wie unsere Ballistiker herausgefunden haben.“

„Ihre Kollegen haben mir das mindestens schon zehn Mal unter die Nase gehalten, aber ich habe weder mit der Schießerei etwas zu tun, noch weiß ich überhaupt, worum es da ging!“

„Aber Sie kennen die einzige Person, die damals angezeigt wurde ziemlich gut: Reza Tannous! Ich kann da ehrlich gesagt nicht an einen Zufall glauben, Frau Wistanow. Und jetzt heraus mit der Sprache: Woher kam die Waffe?“

„Ich möchte, dass mein Anwalt dabei ist“, sagte sie schließlich nach einer etwas längeren Pause.

„Das können Sie haben. Ich schlage vor, wir fahren zur Präsidium.“

„Wollen Sie das ganze Theater wirklich von vorne beginnen?“, fragte sie. „Morgen bin ich erneut draußen und Sie haben nicht das Geringste in der Hand gegen mich oder Reza.“

„Packen Sie einfach aus, dass ist auch für Sie das Beste“, sagte ich.

„Ihr Kollege Carnavaro hat in dieser Hinsicht schon bei mir auf Granit gebissen.“

„Ich zähle jetzt einfach mal zwei und zwei zusammen. Herr Tannous werden Verbindungen zum Drogenhandel nachgesagt.“

„Herr Tannous ist ein Geschäftsmann, Herr...

„...Kubinke!“

„Diesmal wäre ich durchaus noch selbst darauf gekommen.“

„Tannous hat Sie auf Rademacher angesetzt.“

„Wer sagt das?“

„Ich will wissen, warum! Sollten Sie irgendwelches Beweismaterial verschwinden lassen, als Sie in Rademachers Wohnung aufgegriffen wurden?“

„Hören Sie auf!“

„Rademacher soll Kriminelle erpresst haben. Vielleicht hatte er auch etwas gegen Tannous in der Hand.“

„Das ist Unsinn!“

„Dann kam es zum Streit und er hat seine Erpresser aus dem Weg geräumt – oder räumen lassen!“

„Herr Kubinke, das sind nur haltlose Verdächtigungen! Sie haben noch nicht einmal einen Durchsuchungsbefehl!“

„Aber den bekommen wir, nachdem wir Sie hier angetroffen haben“, mischte sich Rudi ein. „Ich werde mal mit dem Präsidium telefonieren.“

„Warten Sie!“, rief Christine. Sie atmete tief durch und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. „Ich werde Ihnen einiges erklären“, versprach Sie. „Aber wenn Reza zurückkommt und hier alles von Ihren Leuten durchwühlt wurde, bekomme ich großen Ärger!“

„Dann reden Sie!“

„Ich weiß, dass Sie das mir jetzt nicht glauben werden, aber meine Beziehung zu Thorben Rademacher war tatsächlich eine Liebesbeziehung.“

„Anscheinend verstehen unterschiedliche Leute darunter durchaus etwas Unterschiedliches“, stellte ich fest.

„Und wir lernen gerne noch was dazu“, ergänzte Rudi.

„Ich meine es ernst“, sagte sie.

Wenn jemand das so betonen muss, wie es in diesem Augenblick Frau Wistanow gerade tat, dann ist das meistens ein bedenkliches Zeichen. Bedenklich im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt der entsprechenden Aussage, meine ich damit.

„Fahren Sie einfach fort“, verlangte ich.

„Wir haben uns in einer Bar kennengelernt und es hat gleich gefunkt. Für ein paar Monate waren wir ein Herz und eine Seele. Thorben war ziemlich niedergeschlagen, als man gegen ihn wegen Erpressung von Informanten und dergleichen ermittelte und er schließlich sogar die Dienststelle wechseln musste.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Er war von ganzer Seele Polizist! Dass wir Streit miteinander hatten, habe ich Ihnen ja gesagt. Wir trennten uns. Ich behielt aber noch einen Haustürschlüssel. Irgendwie schob ich es immer wieder vor mir her, ihn zurückzugeben. Es waren auch noch ein paar private Sachen bei ihm in der Wohnung, die ich eigentlich hätte abholen müssen, aber ich scheute mich, diesen endgültigen Schlussstrich zu ziehen.“

„Und dann sind Sie gleich zu Reza Tannous übergelaufen? Erzählen Sie uns keinen Mist. Wir können den Security Service hier im Haus dazu befragen, seit wann Sie eine Chip Card für die Wohnung von Herrn Tannous besitzen.“

Sie schwieg einige Augenblicke lang.

„Was wollen Sie mir eigentlich vorwerfen? Ich habe diese Chip Card vor zwei Wochen bekommen. Da können Sie gerne den Wachdienst befragen.“

„Das werden wir!“, versprach ich. „Verlassen Sie sich darauf!“

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Die Wohnungsdurchsuchung bei Reza Tannous wurde richterlich genehmigt. Der Verdacht, dass sich die Tatwaffe vielleicht in Reza Tannous' Wohnung befand, erschien schwerwiegend genug, um eine derartige Maßnahme durchzuführen. Die Kollegen Annemarie O’Hara und Fred LaRocca trafen etwas später in Tannous’ Wohnung ein und reichten den schriftlichen Befehl nach. Außerdem halfen sie uns dabei, Tannous’ Traumetage auf den Kopf zu stellen.

Christine Wistanow bestand darauf, ihren Anwalt anzurufen.

Als wir beinahe fertig waren, erschien Karlheinz Bandella zusammen mit Reza Tannous, der von Bandella wohl inzwischen verständigt worden war.

Reza Tannous – ein großer, breitschultriger Mann mit Kinnbart und dunklem Teint – war tiefrot angelaufen. Es war ihm anzusehen, wie sehr er sich beherrschen musste, um nicht seinen Gefühlen mit den Fäusten freien Lauf zu lassen.

„Mein Mandant wird gar nichts zur Sache sagen und protestiert gegen die Durchsuchung!“, sagte Karlheinz Bandella.

Schließlich waren wir fertig. Jeden Winkel der Wohnung hatten wir durchsucht.

Selbst Wände waren abgeklopft und auf Hohlräume untersucht worden. Aber wir hatten nichts gefunden.

Tannous' Stimmung wurde im Lauf der Zeit etwas entspannter.

Maybaum rief mich zwischenzeitlich auf dem Handy an.

„Herr Kubinke?“

„Am Apparat.

„Hier Maybaum. Ich kann unseren Termin nicht wahrnehmen. Tut mir Leid.“

„Hören Sie, Herr Maybaum, das ist kein Spaß, was wir da machen. Wir versuchen den Mord an Ihrem Kollegen aufzuklären und sind dabei dringend auf Ihre Mithilfe angewiesen.“

„Ich weiß und ich bin ja auch völlig auf Ihrer Seite, Herr Kubinke.“

„Dann verstehe ich nicht, wie...“

„Ein dringender privater Termin, der sich nicht aufschieben lässt. Wir treffen uns morgen früh an gleicher Stelle. Sagen wir gegen zehn. Ich habe mir zwei Tage Urlaub genommen. Wir haben also Zeit genug.“

Die Verbindung wurde unterbrochen.

„Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Maybaum gar nicht so einen großen Wert darauf legt, sich mit uns zu unterhalten!“, lautete Rudis Kommentar, der zumindest meinen Anteil am Gespräch mit angehört hatte.

Ich zuckte mit den Schultern. „Die paar Stunden bis morgen früh machen den Kohl auch nicht fett.“

In der Zwischenzeit besprach sich Bandella mit Reza Tannous.

Dann kam Bandella schließlich auf uns zu und erklärte: „Herr Tannous will eine Aussage machen.“

„Sind Sie jetzt der Anwalt von Herr Tannous oder der von Frau Wistanow?“, fragte ich. „Das müssen Sie schon entscheiden, schließlich ist ja ein Interessengegensatz zwischen beiden durchaus möglich.“

„Jetzt lassen wir mal die Bürokratie beiseite und reden Klartext“, sagte Tannous, dessen Verfassung jetzt fast schon entspannt war. Ich fragte mich, was diesen Wechsel verursacht hatte. Lag es nur daran, dass wir nichts Belastendes bei ihm gefunden hatten? „Ich habe wegen einer dummen Unbeherrschtheit eine Bewährung laufen und bin nicht in irgendwelchem Ärger interessiert.“

„Das kann ich gut verstehen“, gab ich zurück.

„Also werde ich offen sagen, was los ist.“

„Bitte, reden Sie!“

„Mit der Schießerei im ‚Abraxas’ habe ich nichts zu tun. Das ist auch gerichtlich geklärt worden. Sie haben meine Wohnung nach einer Waffe durchsucht, mit der ein Polizist getötet worden sein soll. Da Sie nichts gefunden haben, sollte dieses Kapitel auch erledigt sein.“ Er öffnete sein Jackett und spreizte es. „Durchsuchen Sie bitte auch mich und meinen Wagen, damit die Sache endlich aus der Welt ist. Ich bitte darum!“

Fred LaRocca tastete ihn ab. Er hatte keine Waffe bei sich. Außerdem gab Tannous meinem Kollegen den Wagenschlüssel. „Es ist ein Porsche - Platz 333 im Parkdeck C der Tiefgarage. Sie kommen mit dem Aufzug hin!“ Er grinste. „Hat mich schon was gekostet, mir die Nummer reservieren zu lassen!“

Fred machte sich also auf den Weg. Niemand von uns nahm an, dass er etwas finden würde – so wie uns Tannous die Durchsuchung aufdrängte.

Er streckte uns seine Hände entgegen.

„Wenn Sie ganz sicher sein wollen, dann sollten Sie meine Hände noch auf Schmauchspuren untersuchen. Soweit ich weiß, lässt sich unter Umständen noch Tage später feststellen, ob jemand eine Waffe benutzt hat. Also bitte! Oder führen Sie solche Untersuchungen immer nur dann durch, wenn es den Betreffenden belasten könnte?“

„Wir kommen auf Ihr Angebot gerne zurück“, sagte Rudi.

„Fein. Wenn Sie damit fertig sind, können Sie mich von der Liste Ihrer Verdächtigen streichen. Dieser Rademacher war ein Bulle...“

„Polizist“, verbesserte ihn Rudi.

„...und der Ex-Lover von Christine – beides Eigenschaften, die ihn in meinen Augen nicht gerade sympathisch machten, aber das ist noch kein Grund für mich, ihn umzubringen.“

„Es bleibt noch die Waffe von Frau Wistanow“, stellte ich fest.

„Richtig. Und ich sehe ein, dass ich jetzt nicht länger schweigen kann. Frau Wistanow wollte mich nicht belasten, darum hat sie geschwiegen.“

„Worüber geschwiegen?“

Tannous atmete tief durch und fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht. „Sie fühlte sich nicht sicher. Man hört so viel von steigender Kriminalität und dergleichen da wollte sie vorbereitet sein und hat mich gefragt, ob ich ihr eine Waffe besorgen könnte. Das habe ich natürlich von mir gewiesen. Ich selbst besitze keine Waffe und brauche so etwas auch nicht. Als Träger des schwarzen Gürtels in Karate kann ich mich jederzeit meiner Haut wehren. Aber ich gebe zu, dass ich Christine die Nummer von Kurt Heinrichs gegeben habe. Kurt handelt mit Waffen aller Art. Ich kenne ihn aus meiner Zeit als Türsteher. Einige der Gangs im Wedding sollen gute Kunden bei ihm sein.“

„Wie soll der Handel denn abgelaufen sein?“

„Damit habe ich nichts mehr zu tun. Ich nehme an, dass Kurt so wie üblich vorging. Er bestellt den Kunden in eine Bar oder einen Club oder an irgendeinen anderen Ort. Da findet dann die Übergabe statt. Man bezahlt und geht mit einer Waffe davon.“

„Wo finden wir diesen Kurt Heinrichs?“, fragte Rudi.

„Ich habe nur seine Nummer.“

„Da meldet sich lediglich eine Mail Box“, erläuterte Christine Wistanow. „Er meldet sich dann bei einem.“

„Oder auch nicht“, grinste Tannous. „Der ist ziemlich wählerisch was seine Kundschaft angeht.“

„Wir werden das überprüfen“, kündigte ich an. „Kennen Sie eigentlich einen Mann namens Ede Gerighauser?“

Er zögerte mit der Antwort.

„Nie gehört!“, behauptete er.

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Anderthalb Stunden später saßen wir im Besprechungszimmer von Kriminaldirektor Bock und hielten Manöverkritik.

„Tannous dürfte aus der Liste der Verdächtigen zu streichen sein“, glaubte unser Chef.

Ich konnte dem nicht ganz zustimmen.

„Ich glaube ihm nicht ein einziges Wort – allerdings könnte er von jetzt an wahrscheinlich eine Sammlung von Maschinengewehren anlegen und es würde sich kein Richter mehr finden, der einen Durchsuchungsbefehl unterschreibt!“

„Bewerten Sie die Aktion nicht als Fehlschlag“, erwiderte Kriminaldirektor Bock. „Wir wissen jetzt, dass Tannous offenbar nicht im Besitz der Tatwaffe ist. Und was seine Erklärung für die Herkunft von Christine Wistanows Waffe angeht, werden wir diesen Heinrichs finden müssen, um sie zu überprüfen.“

Es klopfte an der Tür.

Unser Kollege Max Herter kam herein.

„Ich habe über Heinrichs zusammengetragen, was sich auf die Schnelle finden ließ“, erklärte er. „Kurt Heinrichs, 42 Jahre alt, wurde seinerzeit im Zusammenhang mit der Schießerei im Club ‚El Abraxas’ nur als Zeuge vernommen. Er gilt als ein Mann von Benny Farkas. Bisher ist er nur wegen Drogenhandels, Körperverletzung und dergleichen verurteilt worden. Dass er mit Waffen dealt ist neu.“

„Adresse?“, fragte Kriminaldirektor Bock.

„Eveline Brenner Straße Nr. 443. Die Angabe ist drei Jahre alt. Seitdem hat er sich nicht mehr erwischen lassen. Ich habe versucht, den zur Adresse gehörenden Festnetzanschluss anzurufen, aber da meldet sich nur eine Frauenstimme, die ausschließlich Russisch sprach.“

„Wir könnten Heinrichs’ Bild mal herumzeigen, wenn wir den Club ‚El Abraxas’ besuchen!“, schlug Rudi vor.

„Es gibt übrigens noch ein paar Neuigkeiten zu Rademacher“, erklärte Max Herter. „Bei der Hausdurchsuchung wurden seine Kontoauszüge sichergestellt, die keinerlei Auffälligkeiten verrieten. Aber laut Auskunft seiner Bank besaß er ein Guthaben auf den Cayman Islands von mehreren Millionen Euro. Dazu gehört auch eine auf seinen Namen eingetragene Immobilie.“

„Soll das bedeuten, dass sich Rademacher darauf vorbereitet hat, auf die Cayman Islands überzusiedeln und dort einen sonnigen Lebensabend zu verbringen?“, fragte Jürgen.

„Ja, wobei natürlich die Frage ist, für wann das geplant war“, nickte Max. „Es sind bis kurz vor seinem Tod regelmäßig Bar-Überweisungen dorthin gemacht worden. Immer nur Beträge, die nicht gemeldet werden müssen – aber dafür regelmäßig.“

„Das könnte bedeuten, dass er sein Erpresser-Geschäft weiter betrieben hat“, vermutete ich.

„Dafür spricht auch die Auswertung der Anruflisten seines Apparates auf seiner Dienstelle“, ergänzte Max. „Er hatte intensiven Telefonkontakt zu mehreren Prepaid-Handys, die sich nicht weiterverfolgen lassen. Außerdem sprach er häufig mit seinen Kollegen Maybaum und Subotitsch. Mit ihnen hielt er offenbar auch über die Versetzung hinaus regen Kontakt. Zuletzt übrigens in der Mordnacht.“

„Mit beiden?“, wunderte ich mich.

„Ja. Kurz bevor er das Revier verließ, wurde er vom Anschluss einer gewissen Ludmilla Gerighauser aus Berlin angerufen.“

„Eine Verwandte von Ede Gerighauser?“, fragte Kriminaldirektor Bock.

Max zuckte mit den Schultern. „Sie ist in unseren Dateien nicht als eine seiner Angehörigen aufgelistet.“

„Bevor wir uns heute Abend im Club ‚El Abraxas’ umsehen, könnten wir das doch abklären“, schlug ich vor. „Liegt doch ohnehin auf dem Weg.“

„Wenn Sie und Rudi das übernehmen wollen – gerne“, sagte Kriminaldirektor Bock.

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Der letzte Fleck auf Tannous' Weste ist der Ausraster auf dem Parkplatz vor drei Jahren. Ansonsten ist da leider nichts, Rudi! Und gleichzeitig gilt er als einer der Aufsteiger in Farkas’ Organisation! Wie kann das sein?“

„Wäre doch nicht das erste Mal, dass jemand, der innerhalb des organisierten Verbrechens aufsteigt, sich nicht mehr selbst die Hände schmutzig macht, Harry!“

„Und das im wahrsten Sinn des Worts, denn der Schmauchspurentest war ja negativ...“

„Er könnte natürlich die Waffe irgendwo anders als in seiner Wohnung deponiert und Latexhandschuhe beim Schuss getragen haben – aber das ist doch alles recht weit hergeholt, Harry. Reza Tannous mag ein Gangster sein, aber ich glaube, mit dem Mord an Rademacher hat er nichts zu tun.“

„Das einzige, was ihn im Moment noch mit dem Fall in Verbindung bringt ist Christin Wistanow und die Herkunft ihrer Waffe. Die Rolle, die diese Frau in dem Fall spielt, durchschaue ich ehrlich gesagt noch nicht so recht.“

„Vielleicht sehen wir klarer, wenn wir den Mann auftreiben, der ihr nach Tannous’ Aussage die Waffe verkauft hat.“

„Dann sehen wir auch, wie glaubwürdig Reza Tannous ist!“, meinte ich.

Rudi zuckte mit den Schultern. „Nicht unbedingt! Dieser Kurt Heinrichs wird doch alles abstreiten und es wird schwer sein, ihm irgendetwas zu beweisen.“

„Konzentrieren wir uns auf Gerighauser.“

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Wir erreichten die im sechsten Stock gelegene Mietwohnung von Ludmilla Gerighauser.

Eine Frau in den Dreißigern öffnete uns. Zwei Jungs im Alter von sieben oder acht Jahren tobten auf dem Flur herum. Die Mittdreißigerin rief ihnen etwa auf Russisch zu, woraufhin sie uns zunächst scheu ansahen und anschließend in einem Nebenraum verschwanden.

„Harry Kubinke, BKA. Dies ist mein Kollege Rudi Meier.“

„BKA?“

„Bundeskriminalamt. Polizei.“

„Ich habe nichts verbrochen! Was wollen Sie hier? Meine Jungs sind noch Kinder und...“

„Einen Moment, wir sind nicht hier, um Sie zu beschuldigen“, versicherte ich ihr. „Wir wollen nur unsere Fragen stellen und etwas abklären. Vielleicht können Sie uns dabei helfen.“

Sie musterte uns misstrauisch. „Helfen?“, fragte sie. „Wie sollte ich ihnen helfen?“

„Dürfen wir hereinkommen?“

„Kann ich mir Ihre Ausweise noch einmal ansehen?“

„Bitte!“

Ich gab ihr meine ID-Card. Sie betrachtete sie eingehend und gab sie mir anschließend zurück. „In Ordnung, kommen Sie ins Wohnzimmer. Aber beklagen Sie sich nicht darüber, dass hier nicht aufgeräumt ist! Das sind die Jungs gewesen!“

Wir folgten ihr ins Wohnzimmer. Abgesehen von ein paar Spielsachen, die auf dem Boden lagen, herrschte keineswegs Chaos. Die beiden Jungs spielten dort mit Autos und Action-Puppen.

Es sprach mich einer der beiden an. Auf Russisch.

Ich verstand natürlich nichts.

„Es sind nicht meine Jungs, sondern die Söhne meiner Cousine Eugenia, die gerade aus Russland hier angekommen ist. Die Jungs sprechen deshalb auch nur Russisch, aber das wird sich rasch ändern sobald sie in der Schule. Solange Eugenia einen Job sucht, lässt sie die Kinder bei mir. Ich habe mir extra Urlaub genommen.“

„Sie haben viel Familiensinn.“

„Man muss sich gegenseitig unterstützen – gerade wenn jemand neu in diese Stadt kommt. Für mich war es damals auch nicht einfach. Aber mein Großcousin Ede hat auf mich aufgepasst.“

„Ede Gerighauser?“

„Ja. Seine Eltern waren auch schon hier in Berlin. Russlanddeutsche.“

Ich holte ein Foto von Ede Gerighauser hervor, um mich zu vergewissern. „Wir sprechen von diesem Mann hier, ja?“

Sie sah sich das Foto an, bei dem erkennbar war, dass es bei einer Verhaftung aufgenommen worden war. Ihr Blick wurde ernst.

Einer der Jungs quengelte auf Russisch.

„Du kannst gleich was trinken“, murmelte Ludmilla Gerighauser und dabei bemerkte sie nicht einmal, dass sie Deutsch sprach und der Junge sie gar nicht verstehen konnte. Sie ließ sich in einen der Wohnzimmersessel fallen.

Ihr Gesicht wirke kreideweiß.

„Was hat er getan? Warum wurde er verhaftet?“

„Das Bild ist schon älter und er wurde damals wegen eines Drogendelikts festgenommen. Im Augenblick suchen wir ihn als Zeugen in einem Mordfall.“

„Mord? Was hat Ede damit zu tun?“

„Ich sagte, wir suchen ihn als Zeugen, um mit ihm zu sprechen“, wiederholte ich, als ich merkte, dass meine Gesprächspartnerin mich offenbar missverstanden hatte.

Sie schluckte.

„Am zwölften dieses Monats um halb drei Uhr in der Nacht hat jemand von Ihrem Telefon aus in eine Polizeidienststelle angerufen. War Ede zu dieser Zeit hier bei Ihnen?“

„Ja. Ich habe aber von dem Anruf nichts bemerkt. Warum er ausgerechnet mitten in der Nacht die Polizei verständigt hat, weiß ich nicht.“

„Wir nehmen an, dass er sich mit Kommissar Thorben Rademacher treffen wollte.“

„Ede war für ein paar Tage hier. Ein paar üble Typen sind hinter ihm her. Aber es ist besser, wenn ich nicht darüber rede...“

„Sie sollten darüber reden!“, forderte ich.

Sie zögerte.

„Ede war also hier“, wiederholte Rudi. „Wissen Sie, ob er nach dem Anruf das Haus verlassen hat?“

„Ich habe geschlafen und nichts mitbekommen. Aber als er am Morgen hier auftauchte, wusste ich, dass er nachts unterwegs gewesen war.“ Sie seufzte. „So oft habe ich ihm gesagt, er soll sich an die Polizei wenden. Das hat er dann ja wohl getan.“

„Der Kollege wurde am vermutlichen Treffpunkt erschossen“, stellte ich klar. „Und jetzt sagen Sie uns bitte, weshalb Ede die Polizei verständigen sollte!“

„Wegen den ‚Killer Bandoleros’. Das war seine Gang. Es ging um Drogen und üble Geschäfte. Ede ist in Keiner guten Gegend aufgewachsen und schon früh auf die schiefe Bahn gekommen.“ Sie blickte auf. „Diese Leute denken, dass Ede sie verraten hat! Dabei hat er Ehre und würde so etwas nie tun! Deswegen haben sie Edes Mutter, seinen Vater und seine Schwester erschossen! Und ihn werden sie sich auch irgendwann holen, haben sie ihm angekündigt. Wenn er genug gelitten hätte...“

Nicht einmal Ludmilla gegenüber, die ihm Unterschlupf gewährte, hatte Ede Gerighauser offenbar zugegeben, dass er ein Polizeispitzel gewesen war!

Ich verzichtete darauf, es zu erwähnen. Schließlich war nicht abschätzbar, an wen Ludmilla die Informationen – auch unbeabsichtigt – weitergab, und das konnte für Ede Gerighauser schließlich lebensgefährlich werden.

„Wissen Sie, wo Ede jetzt ist?“, fragte ich.

„Nein. Keine Ahnung. Seitdem die ‚Killer Bandoleros’ ihn bedrohen, schläft er alle paar Tage irgendwo anders. Ich sagte ihm, die Polizei würde ihm helfen. Aber das wollte er nicht glauben.“

„Hat er irgendwann mal die Namen Rademacher oder Maybaum erwähnt?“

„Nein. Aber er sagte einmal, dass er die Sache vielleicht bald bereinigen und seine Ehre bei den ‚Killer Bandoleros’ zurückgewinnen könnte.“

„Was hat er damit gemeint?“

„Das habe ich ihn auch gefragt, aber darauf hat er mir nicht geantwortet.“

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Gerighauser will seine Ehre bei den ‚Killer Bandoleros’ zurückgewinnen?“, fragte Rudi völlig fassungslos, als wir im Dienst-Porsche saßen und auf dem Weg zum Club ‚El Abraxas’ waren. „Das ist doch nicht zu glauben! Wenn er wirklich denkt, dass diese Leute seine Familie ermordet haben, dann...“

„Vielleicht will er einfach nur überleben und nicht auf Dauer ein Gejagter sein“, unterbrach ich Rudi.

„Was soll das heißen? Er bringt Rademacher um und wäscht sich damit rein?“

„Keine Ahnung. Wir wissen noch zu wenig, Rudi. Das Einzige, was jetzt wohl feststeht ist, dass Gerighauser kurz vor Thorben Rademachers Dienstschluss noch mit ihm telefoniert hat. Ob sie sich dabei an der Pier vor Udo’s Imbiss verabredet haben, ist schon Spekulation.“

„Trotzdem habe ich das Gefühl, dieser Gerighauser ist die Schlüsselfigur in dem ganzen Fall.“

„Wenn wir morgen mit Herrn Maybaum sprechen, wissen wir vielleicht besser Bescheid.“

Rudi lachte heiser. „Glaubst du, der hält diesmal seinen Termin ein? Ich wette, der will gar nicht mit uns sprechen und das Ganze war eine Ausrede!“

„Er ist selber Polizist und weiß, dass er sich letztlich nicht vor einer Vernehmung drücken kann“, widersprach ich.

„Du glaubst auch noch an das Gute im Menschen, Harry!“

„Du nicht?“

„Sicher. Sonst könnte ich diesen Job nicht machen. Aber, ob ich an das Gute in unseren Kollegen Maybaum, Rademacher und Subotitsch glauben soll, weiß ich noch nicht so recht!“

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Wie lange wirst du bleiben, Ede?“

„Nur ein paar Tage, Ronny! Bis sich der Ärger gelegt hat, in den ich hineingeraten bin.“

Ede Gerighauser stellte seine Sporttasche auf den Boden und blickte sich kurz um. Er trat zum Fenster. Aus Ronny Vincentes Wohnung im fünften Stock hatte man einen weiten Blick auf die Gleise der S-Bahn. Ede fühlte den Druck der großkalibrigen Automatik, die er unter seiner Jacke verborgen im Hosenbund trug.

„Hey, du weißt, dass ich schon eine Ewigkeit nicht mehr in unserem Viertel“, sagte Ronny. „Wie ist das? Gibt es eigentlich die ‚Killer Bandoleros’ noch? Bei denen war doch immer so ein gerne großes Arschloch, das sich ‚Der King’ nannte! Toller König!“ Ronny grinste.

Aber Ede erwiderte dies nicht.

Ihm war der Humor in letzter Zeit gründlich vergangen.

„Ja, die gibt es noch“, sagte er tonlos.

„Aber mit denen hast du nicht zufällig Ärger, oder?“

„Ronny, willst mich ausfragen oder mir aus der Patsche helfen, in dem du mir für ein paar Tage erlaubst, in deiner Bude zu schlafen?“

„Ist ja schon gut!“, sagte Ronny Vincente beschwichtigend und hob die Hände dabei.

Ronny Vincente und Ede Gerighauser waren zusammen in aufgewachsen. Aber Ronny hatte den Absprung aus dem Crack-Sumpf geschafft. Mit 14 hatte man ihn mit einer beträchtlichen Menge Rauschgift erwischt, woraufhin er die nächsten Jahre in einem Erziehungsheim verbracht hatte. Ein Förderprogramm für Hochbegabte in Kombination mit einem Stipendium für Benachteiligte hatte ihm ein Studium ermöglicht. Inzwischen arbeitete er in der Kreditabteilung einer Bank in Berlin Mitte. Mit seiner Herkunft und dem Leben vom Drogenverkauf hatte er abgeschlossen. Seinen Vater hatte er ohnehin nie gekannt. Ein italienischer Gastarbeiter, der am Tag nach Ronnys Geburt vom Gerüst gefallen und gestorben war. Und nachdem seine Mutter der Crack-Konsum dahingerafft hatte, hatte es auch keinerlei Anlass mehr für Ronny gegeben, diesen Stadtteil aufzusuchen.

Der Besuch von Ede Gerighauser kam zwar überraschend, aber Ronny freute sich ehrlich, den Freund von damals wiederzusehen.

„Ich wette von den feinen Leuten, denen du heute Kredite gibst, weiß keiner, dass wir zusammen früher mal etliche Autos geknackt haben“, meinte Gerighauser. „Weißt du noch? Zehn in einer Nacht, das war der Rekord!“

„Ja, das waren noch Zeiten“, murmelte Ronny.

„Liegt für dich alles ziemlich weit weg, oder?“, brachte es Ede auf den Punkt. Er gab Ronny einen freundschaftlichen Stoß gegen den Oberarm. „War 'ne ziemlich harte Zeit damals für mich, nachdem sie dich hops genommen hatten!“, erinnerte er sich.

„Für mich auch“, meinte Ronny. „Aber letztlich war es mein Glückstag, als die Handschellen klickten. Ich dachte, diese verdammten Bullenschweine verderben dir den Deal deines Lebens - aber ich glaube, sie haben es mir in Wahrheit gerettet, indem sie mich aus dem Verkehr zogen.“

„Hey, Mann! Weißt du, dass ich ganz in der Nähe war und alles beobachtet habe?“

„Nein.“

Ede lachte. „Ich konnte immer schneller rennen als du, deswegen haben sie dich gekriegt und mich nicht. Scheiße, ich könnte jetzt auch in einem Anzug durch die Bank flanieren, wenn ich ein bisschen lahmere Beine gehabt hätte, Ronny!“

„Schon möglich.“

„So etwas nennt man wohl Schicksal, was?“

Ede Gerighauser blickte von plötzlicher Hektik erfüllt auf die Uhr. Dann griff er unter seine Jacke und holte sein Handy hervor. Ein Piepton ertönte. „Der Akku ist fast leer. Kann ich dein Telefon benutzen?“

„Bitte! Steht da drüben!“

Ede ging zum Apparat und wählte eine Nummer, während Ronny im Nebenraum verschwand.

Nervös tickte Ede mit den Fingern auf der Kommode herum, während das Freizeichen ertönte.

Dann kam endlich die Verbindung zu Stande.

„Herr Maybaum?“, vergewisserte sich Ede.

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Wir erreichten den Club ‚El Abraxas’. Er war in einem ehemaligen und aufwendig hergerichteten Lagerhaus untergebracht. Ein für Berliner Verhältnisse außergewöhnlich großzügig angelegter Parkplatz umschloss das Gelände. Wir stellten den Dienst-Porsche dort ab und stiegen aus.

Jürgen und Olli waren ebenfalls gerade eingetroffen.

„Hören wir uns mal ein bisschen um“, meinte Jürgen. „Es würde mich nicht wundern, wenn Gerighauser, Rademacher oder sonst jemand, der in diesem Fall eine Rolle spielt, hier bestens bekannt ist.“

Die beiden Türsteher waren breitschultrige Schränke und mindestens zwei Meter groß. Das tägliche Training sah man ihnen an. Ihre Bodybuilderarme waren kräftiger als bei vielen anderen Männern die Oberschenkel.

Einer von ihnen hatte den Schädel kahl rasiert und trug einen schwarzen Kinnbart.

Der andere trug das dichte blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst.

„Ihr kommt hier nicht rein!“, meinte der Blonde. „Eure Kleidung ist nicht cool genug.“

„Wird sie durch das vielleicht etwas cooler?“, fragte Jürgen und hielt ihm die ID-Card des BKA entgegen.

„Wir sind nicht zum Vergnügen hier“, fügte Rudi hinzu.

„Der Boss wird nicht begeistert sein.“

„Wenn Sie mit ‚Boss’ Herrn Farkas meinen, dann sagen Sie ihm, dass wir uns gerne mit ihm unterhalten würden.“

„Gehen Sie rein“, murmelte der Kahlkopf. „Mal sehen, was wir für Sie tun können.“

Im Inneren des ‚Abraxas’ herrschte bereits Hochbetrieb. Glitzerlicht flimmerte über die Tanzflächen. Go-go-Girls räkelten sich in Käfigen und ein dumpfer, stampfender Beat ließ den Boden erzittern.

Eine Freitreppe führte hinauf zu einer Balustrade.

Reza Tannous stand dort.

In seiner Linken hielt er ein Glas Champagner.

„Sieh an, ein bekanntes Gesicht!“, meinte ich an Rudi gewandt.

Tannous hatte uns längst entdeckt. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen, als er uns sah.

„Wie wär’s, wenn wir ihm einen guten Abend wünschen“, schlug ich vor.

„Der hatte doch schon heute Nachmittag in seiner Wohnung genug von uns.“

„Wir sehen uns hier unten um“, kündigte Jürgen an.

Rudi und ich gingen die Freitreppe hinauf. Man hatte einen guten Überblick über den Raum. Von den Gesichtern der Gäste konnte man in dem Laserlicht-Geflacker allerdings kaum etwas erkennen.

„Wir laufen uns aber ziemlich häufig über den Weg, Gentlemen“, begrüßte uns Reza Tannous. „Wie steht’s? Wollen Sie hier nicht auch eine kleine Durchsuchungsaktion starten?“ Er grinste. „Manche Leute können gar nicht genug davon kriegen, sich zu blamieren!“

„Gehört zum Berufsrisiko“, erwiderte ich.

„Tja, wem sagen Sie das! Wie gefällt Ihnen übrigens das ‚Abraxas’?“

„Sind Sie an dem Laden beteiligt?“

„Herr Farkas war so freundlich mir ein paar Anteile zu überlassen. Es ist eine reine Goldgrube, kann ich Ihnen sagen. Sie sehen ja, was hier los ist!“

„Ist Herr Farkas heute Abend auch hier?“

„Noch nicht, aber ich denke, dass er noch auftauchen wird, Herr Kubinke! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte!“

Er ging die Freitreppe hinunter.

„Der Kerl macht sich über uns lustig!“, meinte Rudi ziemlich ärgerlich.

„Lassen wir ihm den Spaß. Hauptsache, wir finden ein paar Hinweise auf Gerighauser.“

Wir fragten überall herum und zeigten unsere Bilder umher. Eine der Go-Go-Tänzerinnen glaubte sich an Gerighauser zu erinnern.

„Der war schon mal hier“, sagte sie.

„Wann?“

„Könnte zwei Wochen her sein. Er ist ein Junkie. So gut wie auf dem Bild sah er da nicht mehr aus.“

„Woher wollen Sie wissen, dass er ein Junkie ist?“

Sie zögerte, wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah sich um. Ihr Auftritt war gerade zu Ende und bis sie das nächste Mal dran war, war eigentlich Zeit genug.

„Hören Sie, ich möchte keine Schwierigkeiten bekommen.“

„Mit wem sollten Sie Schwierigkeiten bekommen. Mit Herrn Tannous oder Herrn Farkas?“

„Herr Farkas schmeißt mich vielleicht raus, wenn er erfährt, dass ich...“

„Von uns erfährt er nichts“, mischte sich Rudi ein.

Sie atmete tief durch und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Der Junkie, den Sie mir da gerade gezeigt haben, war nicht während des Abends hier. Er wäre auch sofort aufgefallen, so abgerissen wie der ist.“

„Die Türsteher legen wert auf cooles Outfit“, bestätigte ich.

„Er war nachmittags hier, als wir die Abstimmung der einzelnen Auftritte geprobt haben. Außerdem wollte sich Herr Farkas ein paar Girls ansehen, die neu dabei sind. Um so etwas kümmert er sich gerne selbst.“

„Verstehe.“

„Dann tauchte dieser Kerl auf. Ich dachte erst, der wäre angestellt worden, um die Mülleimer zu leeren oder etwas in der Art. Aber er war für Herr Farkas offenbar so wichtig, dass er mit ihm sofort in einem Nebenraum verschwand.“

„War Tannous auch dabei?“

„Nein. Kann ich mich jedenfalls nicht daran erinnern.“

„Sie haben mir noch immer nicht gesagt, wieso Sie Ede Gerighauser für einen Junkie halten.“

Sie hob die Augenbrauen und zögerte. Schließlich sagte sie: „Als wir fertig waren, habe ich ihn in seinem Wagen gesehen. Er hatte sich gerade eine Spritze gesetzt und saß völlig high hinter dem Steuer.“

„Ich danke Ihnen. Wir brauchen noch Ihren Namen und Ihre Personalien.“

„Ist das wirklich nötig?“

„Ja.“

„Aber ich werde das, was ich ausgesagt habe, vor keinem Gericht der Welt wiederholen, Herr...“

„Kommissar Kubinke.“

„Ich heiße Melanie Braun und wohne ein paar Blocks weiter, Sophie Thacke Straße 443.“

Ich zeigte ihr noch ein Foto von Rademacher.

„Ist das nicht der Bulle, der ermordet wurde?“, fragte sie.

„Ja, genau der. Obwohl ich es nicht schätze, wenn man Polizisten als landwirtschaftliche Nutztiere bezeichnet.“

„Das war nicht so gemeint.“

„Doch, war es. Aber das soll mir jetzt egal sein. Es geht um den Mann auf dem Bild.“

„Er war des Öfteren hier – zusammen mit zwei anderen.“

„Aber ich nehme an, das war nicht dann, wenn Sie geprobt haben“, warf Rudi ein.

Sie schüttelte den Kopf. Ein verhaltenes Lächeln erschien in ihrem Gesicht. „Nein, natürlich nicht. Die drei waren abends hier. Manchmal drei-, viermal die Woche. Sie haben sich gut amüsiert und hatte offenbar ziemlich viel Geld.“

„Wer waren die anderen beiden?“

„Der eine wurde immer Sebastian genannt.“

„Sebastian Maybaum?“

„Den Nachnamen weiß ich nicht.“

Ich zeigte ihr ein Bild und sie erkannte Maybaum wieder. „Der dritte Mann hatte ziemlich viele Sommersprossen im Gesicht. Aber das ist auch schon alles, was ich Ihnen sagen kann.“

Ich gab ihr meine Karte. „Vielleicht fällt Ihnen ja im Laufe der Zeit noch etwas ein. Dann rufen Sie mich an – egal wann.“

„Mal sehen“ murmelte sie. Sie blickte sich um wie ein Ladendieb der befürchtete, dass ihn jemand gesehen haben könnte. Offenbar befürchtete sie, dass man ihr unangenehme Fragen stellte, wenn sie sich zu lange mit uns abgab.

Einen Augenblick später war sie auch schon auf und davon.

„Farkas kennt Gerighauser – das ist doch immerhin ein Anfang, Rudi.“

„Ein Anfang wovon? Das bringt uns nicht wirklich weiter.“

„Hat Farkas Gerighauser den Stoff gegeben, von dem das Go-Go-Girl uns gerade berichtete?“

„Fragen wir ihn selbst, sobald er auftaucht.“

„Ich fürchte, der denkt nicht dran, Harry.“

„Schon möglich.“

„Aber wenn das Motiv tatsächlich Rache ist, dann müssen wir ihn schleunigst stoppen, Harry!“

„Das ist noch nicht gesagt, Rudi.“

„Aber es spricht einiges für diese Hypothese. Und vielleicht könnten wir diesmal eingreifen, bevor etwas geschieht!“

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Wir hörten uns noch etwas um und versuchten insbesondere etwas über Kurt Heinrichs, den Waffenverkäufer, herauszubekommen. Einer der Barkeeper wollte ihn vor ein paar Tagen noch gesehen haben. Jemand anders war überzeugt, ihm sogar am heutigen Abend über den Weg gelaufen zu sein.

Ich dachte an die Statistiken über die Unzuverlässigkeit von Zeugenaussagen.

Der breitschultrige Kahlkopf, dem wir schon am Eingang begegnet waren, tauchte plötzlich in unserer Nähe auf.

„Kommen Sie bitte mit, Herr Farkas ist gerade eingetroffen und empfängt Sie.“

„Welche Ehre“, sagte Rudi.

Wir folgten ihm die Treppe hinunter. Dann ging es durch einen Nebenausgang. Wir passierten einen Korridor und wurden schließlich in einen recht großen Clubraum mit Billardtischen geführt.

Jürgen und Olli waren bereits dort.

Farkas war nicht zu übersehen. Er trug einen seiner schneeweißen Anzüge.

„Wollen Sie einen Drink?“, fragte er.

„Nein danke“, antwortete Jürgen für uns alle.

Farkas grinste. „Verstehe, Sie sind ja alle im Dienst. Ich hoffe, Sie versuchen nicht wieder, mir Drogengeschäfte anzuhängen, so wie es das Drogendezernat seit Jahren vergeblich versucht.“ Er lachte rau. „Ich habe gehört, Sie ermitteln in meinem Club. Da interessiert mich natürlich, worum es geht!“

„Es geht um eine Schießerei vor fünf Jahren, hier im ‚Abraxas’“, sagte ich. „Ich nehme an, Sie erinnern sich.“

„Allerdings. Das war ein schwarzer Tag für dieses Lokal. Die gesamte Inneneinrichtung war erst wenige Wochen zuvor erneuert worden, wir hatten eine völlig neue Lichtanlage, die damals natürlich richtig hip war – alles im Eimer!“

„Ich denke, das war nicht der schlimmste Schaden.“

„Nein, Sie haben natürlich Recht. Es gab Tote und Verletzte.“ Benny Farkas zuckte mit den Schultern. „Damals hat die Polizei nicht viel herausgefunden! Haben Sie jetzt etwa neue Erkenntnisse?“

„Mit einer Waffe, die damals benutzt wurde, ist jetzt ein Polizist namens Rademacher erschossen worden“, ergriff jetzt Jürgen Carnavaro das Wort. „Und nun erzählen Sie mir nicht, dass das für Sie noch eine Neuigkeit ist!“

Farkas verzog das Gesicht. „Waffen wechseln den Besitzer, das ist nun mal so. Daran werden weder Sie noch ich etwas ändern.“

„Kennen Sie einen Mann namens Kurt Heinrichs? Er soll sich ab und zu hier aufhalten und einem eine Waffe besorgen, wenn man sie braucht!“, sagte Jürgen.

„Ich kenne meine Gäste nicht persönlich“, antwortete Farkas. „Warum fragen Sie?“

„Eigentlich ist es unsere Aufgabe, die Fragen zu stellen“, erwiderte Jürgen.

Benny Farkas grinste, schnipste mit den Fingern und hielt Jürgen seinen Zeigefinger entgegen. „Klare Regeln – Sie sind gut, Mann!“ Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte eine Zigarre hervor. Bevor er sie in den Mund steckte, sagte er: „Ich möchte feststellen, dass dies kein Teil des Lokals ist und ich deswegen nicht gegen die strengen Anti-Raucher-Bestimmungen verstoßen, wenn ich mir hier eine Zigarre anstecke!“

„Rademacher soll kleine Dealer erpresst haben“, sagte ich. „Er hat sich dabei nicht nur in Euros, sondern auch mit Informationen bezahlen lassen.“

„Davon habe ich nichts gehört.“

„Aber Sie hatten nichts dagegen, dass Rademacher sich hier mit seinen Kollegen gut amüsiert!“

Farkas’ Gesicht wurde eisig. „Man kann sich seine Gäste nicht immer aussuchen.“

„Und wozu haben Sie dann Ihre Türsteher engagiert?“

„Ich bin ein friedlicher Mensch, Herr...“

„Kommissar Kubinke.“

„Aber wenn Sie mir was anhängen wollen, werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh! Ich habe Beziehungen, die weit nach oben reichen.“

„Ihre Drohungen beeindrucken mich nicht.“

„Das werden wir sehen.“

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Ich hielt mich im weiteren Verlauf der Befragung etwas zurück. Anscheinend hatte ich bei Farkas einen wunden Punkt erwischt. Anders war es nicht erklärlich, dass er so ungehalten reagierte. Rudi versuchte aus ihm herauszukitzeln, wie viel er über Rademacher und seine Machenschaften wusste. Aber Benny Farkas wich geschickt aus. Und wir hatten nichts, womit wir ihn festnageln konnten. Auf die Aussage des Go-Go-Girls konnten wir nicht bauen.

Wir blieben noch eine ganze Weile im ‚Abraxas’, aber es kam nicht viel dabei heraus. Immerhin überwogen jetzt die Aussagen, die der Meinung waren, dass Kurt Heinrichs sich schon eine ganze Weile nicht mehr im ‚Abraxas’ hatte blicken lassen.

Es war bereits nach Mitternacht, als wir uns auf den Weg nach Hause machten.

„Mich wundert, dass Farkas nicht die Chance ergriffen hat, ein paar Polizisten, die ihm in der Vergangenheit mit Sicherheit das Leben schwer gemacht haben, mal richtig anzuschwärzen!“, meinte ich.

Rudi stimmte und ergänzte: „Zumal einer davon sich gar nicht mehr wehren könnte.“

Eine Weile sagte keiner von uns ein Wort. Schließlich brach ich die Stille. „Hast du noch Appetit auf einen Fishburger, Rudi?“

„Ist das jetzt dein Ernst oder machst du Witze?“

„Das ist mein voller Ernst, Rudi. Ich möchte noch mal nach Moabit fahren – zu Udo’s Imbiss.“

„Es ist schon ziemlich spät. Morgen im Büro weckt mich nicht einmal mehr Mandys Kaffee richtig auf!“ Rudi seufzte. „Mal ehrlich, was immer dich um diese Zeit in Udo’s Imbiss treiben mag, ich denke, das hat auch bis morgen Zeit.“

„Eben nicht, Rudi. Ich möchte mich dort gerne mal um diese Zeit umsehen. Wer treibt sich da jetzt herum und könnte vielleicht auch in der Tatnacht etwas bemerkt haben?“

„Du meinst, der Aufwand lohnt sich?“

„Keine Ahnung. Aber wenn du nicht willst, bringe ich dich erst an die übliche Ecke. Um diese Zeit ist ja auf den Straßen Berlins nicht mehr ganz so viel los.“

Rudi machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nicht nötig“, meinte er. „Ich komme mit.“

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Es war halb drei, als wir den Westhafen erreichten. Wir stellten den Dienst-Porsche vor Udo’s Imbiss ab und stiegen aus.

In Udo's Imbiss trafen wir ein halbes Dutzend Gäste an. Wir befragten sie der Reihe nach. Eine Krankenschwester war darunter, zwei Männer, die bei der Berufsfeuerwehr waren und ein Nachtwächter, eines nahe gelegenen Wohnblocks.

Menschen, die arbeiteten, wenn andere längst schliefen.

Manche von ihnen gaben an, regelmäßig in Udo’s Imbiss zu sein. Der Mann von der Feuerwehr und eine der Krankenschwestern waren auch in jener Nacht hier gewesen als Rademacher ermordet wurde.

Aber sie waren ihm nicht begegnet.

„Wenigstens haben wir jetzt den Zeitpunkt des Mordes noch etwas mehr eingrenzen können“, meinte Rudi, als wir ins Freie traten. Die kühle Luft hier draußen sorgte dafür, dass ich wieder etwas wacher wurde.

„Überlegen wir mal, was geschehen ist, Rudi“

„Muss das sein, Harry?“

„Rademacher wurde angerufen. Nehmen wir mal an von Gerighauser, der ihm vielleicht gesagt hat: Ich warte auf dich hier draußen!“

„Er wollte nicht in die Imbiss, um später nicht identifiziert werden zu können.“

„Genau, Rudi. Gerighauser war wahrscheinlich schon an der Kaimauer und hat dort auf Rademacher gewartet.“

Wir gingen in Richtung der Kaimauer, wo noch immer die Blutlache zu sehen war und kamen dabei an dem Lagerhaus auf der linken Seite vorbei.

Als wir schon ein paar Meter vorbei waren, hörten wir ein Geräusch, das aus dem Gebäude drang. Irgendetwas schepperte.

„Da ist jemand drin!“, stellte ich fest.

„Sicher nur eine streunende Katze oder so etwas, Harry...“

Ich ging zurück zum Lagerhaus. Das Haupttor war verschlossen. Aber der Seiteneingang, der nur für Personen gedacht war, ließ sich leicht öffnen. Ich nahm die Waffe aus dem Holster und ging hinein.

„Polizei! Ist hier jemand?“

Es war kaum etwas zu sehen. Durch ein paar hohe Fenster fiel etwas Licht. Wieder war ein Geräusch zu hören. Ich wirbelte herum. Eine Bewegung war in der Dunkelheit zwischen zwei großen, zwei Meter hohen Cargo-Kisten zusehen. Rudi fand unterdessen den Lichtschalter.

Die Neonröhren blitzten grell auf.

Ein Mann in einem fleckigen Wollmantel stand zwischen Cargo-Kisten. Er hielt ein Messer in der Hand. Die Augen waren weit aufgerissen. Er zitterte leicht. Offenbar hatten wir einen Obdachlosen gestört, der sich in dem Lagerhaus einquartiert hatte.

„Ganz ruhig“, sagte ich. „Es wird Ihnen niemand etwas tun.“ Der Mann schien das nicht so ohne weiteres glauben zu wollen.

Er blieb in Abwehrstellung.

Ich steckte die Waffe ein und zeigte ihm meine Hände.

„Es ist alles in Ordnung. Wir sind hier vorbeigekommen und haben ein Geräusch gehört. Dass ist alles.“

„Lassen Sie mich einfach gehen“, sagte der Mann.

„Wir wollen Sie nicht mal vertreiben“, sagte Rudi. „Schließlich sind wir vom BKA – und nicht von der Hafenverwaltung.“

Der Obdachlose atmete tief durch und ließ das Messer sinken.

„Übernachten Sie öfter hier?“, fragte ich.

Erst druckste er etwas herum, dann gab er zu, ab und zu in dem Lagerhaus zu übernachten.

Ich fragte ihn nach der Nacht, in der Rademacher ermordet wurde. Wieder druckste er ziemlich herum. Ich ging vorsichtig auf ihn zu. „Wir wollen einfach nur wissen, ob Sie etwas gesehen haben. Ein Polizist wurde in dieser Nacht am Kai ermordet. Wenn Sie da waren, konnten Sie die Blutlache sehen. Auch jetzt ist der Asphalt dort noch immer verfärbt.“

Der Obdachlose schien sich nicht ganz schlüssig zu sein, ob er nun etwas sagen sollte oder nicht. Aber ich hatte sofort das Gefühl, dass er etwas wusste. Er wollte nur nicht in die Sache hineingezogen werden. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht oder fürchtete, wegen irgendwelcher kleinkriminellen Delikte belangt zu werden.

Er atmete tief durch.

„Zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis?“, fragte er schließlich.

Ich gab ihm meine ID-Card und er sah sie sich eine Weile nachdenklich an. Eigentlich hatte ich nicht das Gefühl, dass er tatsächlich an unserer Identität als Kriminalbeamte zweifelte. Er wollte Zeit gewinnen. Schließlich gab er mir den Ausweis zurück. „Ich war in der Nacht hier. Ich weiß nicht, welcher Wochentag oder welches Datum es war, da ich keinen Kalender besitze und diese Dinge für mich keine Rolle spielen.“ Er schluckte. „Trotzdem weiß ich genau, welche Nacht Sie meinen. Ich werde sie nämlich nie vergessen. Dazu hat sich alles zu sehr in mein Gedächtnis gebrannt!“

Er blickte förmlich durch mich hindurch. Mit seinen Gedanken schien er wieder in jene Nacht zurückversetzt zu sein, in der Thorben Rademacher ums Leben gekommen war. „Ich war hier drinnen und habe dort hinten, auf der anderen Seite des Raums am Fenster gestanden. Da draußen lungerte so ein Typ herum. Zwischendurch nahm er eine Waffe heraus und fingerte daran herum.“

„Können Sie den Mann beschreiben?“

„Dunkles, gelocktes Haar. Außerdem trug er eine Kette um den Hals mit einem ziemlich großen Kreuz.“

„Das konnten Sie bei der Dunkelheit sehen?“, fragte Rudi verwundert.

„Ja, als er sich gegen die Laterne lehnte und direkt im Licht stand. Probieren Sie es aus! Stellen Sie sich ans Fenster und der andere von ihnen kann sich da draußen genau dort hinstellen, wo der Typ stand.“

Ich zeigte ihm ein Foto von Gerighauser.

„War das dieser Mann?“

„Genau!“

„Erzählen Sie, was geschah.“

„Ich habe mich versteckt. Und einfach abgewartet. Nachdem ich die Pistole gesehen hatte, wollte ich mich nur noch verkriechen. Später habe ich Schritte und Stimmen gehört.“

„Einen Schuss?“

„Nein, da war kein Schuss. Aber es fuhr zweimal ein Wagen davon. Das weiß ich genau. Und der letzte Wagen war mit Sicherheit ein Sportwagen. Ich tippe auf Porsche.“

„So etwas hören Sie?“, fragte ich verwundert.

Er nickte. „Ich war früher mal Mechaniker, bevor... Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls habe ich mich schließlich wieder hervorgewagt. Aber da war niemand mehr.“

„Sie haben uns sehr geholfen, Herr...“

„...Thorn. Martin Thorn.“

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Sebastian Maybaum lenkte seinen Porsche nach rechts und fuhr auf den Parkplatz an der Autobahn, etwa auf halbem Weg zwischen Berlin und Hamburg.

Maybaum stoppte den Wagen.

Ein weiteres Fahrzeug befand sich etwa zwanzig Meter entfernt. Der Motor war abgeschaltet, aber die Scheinwerfer nicht. Eine Gestalt hob sich gegen das grelle Licht dieser Scheinwerfer wie ein Schattenriss ab.

Maybaum schaltete den Motor seines Porsches aus, öffnete die Tür und ging ins Freie. Ein kühler Wind wehte.

„Was soll das Theater?“, rief Maybaum aufgebracht.

Die Gestalt trat dem Kommissar entgegen.

Maybaum stutzte und erstarrte augenblicklich wie eine Salzsäule, als er die Waffe in der Hand seines Gegenübers sah.

Einen Augenblick lang dachte er daran, zu seiner Dienstpistole zu greifen. Sie steckte in einem Gürtelholster auf der linken Seite. Der Griff der SIG Sauer P 226 zeigte nach vorn.

Aber Maybaum wusste, dass er nicht schnell genug sein würde.

In dem Augenblick, in dem er gerade die Waffe gezogen hatte, würde ihm sein Gegenüber bereits die zweite Kugel in den Schädel jagen. Auf die geringe Distanz konnte Maybaum kaum damit rechnen, dass die Schüsse danebengingen.

Der Bewaffnete trug in der Linken eine Flasche Schnaps. Die warf er Maybaum zu.

„Trinken Sie!“, lautete der knappe Befehl.

„Wieso?“

Der Lauf der Waffe hob sich und zeigte nun direkt auf Maybaums Stirn.

„Trinken Sie so viel Sie können. Hören Sie nicht auf, Sie bekommen sonst eine Kugel in den Kopf.“

„Was haben Sie vor, verdammt noch mal?“

„Warten Sie es ab!“

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Wir haben genau 4.30 Uhr und hier ist Boris Schmitt mit der Sendung ‚Night Talk’ – und wenn Sie mich jetzt hören, dann sind auch einer von den Nachteulen, die einfach keinen Schlaf finden...“

Die Stimme des Radiomoderators drang wie von Ferne in Jörn Peters' Bewusstsein.

Peters saß hinter dem Steuer seines Zwanzigtonners.

Er unterdrückte ein Gähnen und stellte das Radio lauter.

Nicht viel hätte gefehlt und er wäre eingeschlafen.

Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme!, dachte er. Aber zuerst musste die Ladung ans Ziel gebracht werden. Das Geschäft war hart und Jörn Peters wusste nur zu gut, wie schnell man draußen war, wenn man die Termine nicht halten konnte.

Peters war ein selbständiger Trucker, der auf eigene Rechnung fuhr. Der Truck war sein ganzes Kapital.

Erneut musste er gähnen. Im Radio wurde eine flotte Rock’n'Roll-Nummer gespielt. Peters ließ das Seitenfenster hinunter. Die kühle Nachtluft sorgte dafür, dass er wieder etwas wacher wurde. Ich schaffe es noch!, nahm er sich vor.

Mehr Wunsch als realistische Einschätzung.

Dann tauchte im Kegel der Scheinwerfer plötzlich etwas auf, das wie ein menschlicher Körper aussah.

Jörn Peters trat reflexartig auf die Bremse. Der Truck rutschte über den Asphalt und zermalmte den Körper unter sich. Erst ein ganzes Stück später kam das Gefährt endlich zum Stehen. Mitten auf der Autobahn – das war selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit gefährlich. Peters war immerhin noch geistesgegenwärtig genug und schaltete die Warnblinkanlage an. Er schaute aus dem Seitenfenster.

Ein Wagen brauste heran, wich dem Truck in letzter Sekunde aus und fuhr anschließend weiter.

„So ein verfluchter Mist!“, rief Jörn Peters laut aus. Er kletterte aus der Fahrerkabine und lief auf den Toten zu.

Die Räder des Trucks hatten vor allem Kopf und Oberkörper zerquetscht. Der Tote war in einem furchtbaren Zustand.

Peters’ Blick fiel auf das Gürtelholster mit der Waffe. Daneben hing die Polizeimarke am Gürtel.

„Nein“, flüsterte Peters und sank dabei auf die Knie. „Das darf nicht wahr sein!“

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Am nächsten Morgen warteten wir in dem verabredeten Lokal auf Sebastian Maybaum. Wir leisteten uns ein Frühstück und Rudi rief zwischendurch Maybaums neue Dienstelle an. Er hatte sich tatsächlich Urlaub genommen. Sein privates Festnetztelefon wurde nicht abgenommen, sein Handy verwies uns an eine Mailbox.

Schließlich erreichte uns ein Anruf aus der Zentrale. Max Herter war am Apparat und informierte uns darüber, dass Sebastian Maybaum auf der A24 von einem Truck überfahren worden war.

„Das darf nicht wahr sein!“, stieß ich hervor.

„Ist es aber leider“, gab Max zurück. „Die Leiche ist schon in der Gerichtsmedizin. Da wir für den Fall zuständig sind, werden die Kollegen der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst die Sektion vornehmen und in drei oder vier Stunden wissen wir vielleicht näheres.“

Wir ließen uns die genaue Position des Tatorts angeben und machten uns sofort auf, um aus erster Hand zu erfahren, was es mit dem Unfall auf sich hatte.

„Das kann einfach kein Zufall sein!“, meinte ich.

„Du denkst an einen Mordanschlag, der wie ein Unfall aussehen sollte“, schloss Rudi.

„Auf jeden Fall werden wir uns die Umstände genau ansehen. Aber wenn du mich fragst, passt das doch alles zusammen. Maybaum stirbt, bevor er reden kann!“

„Wer sagt dir denn, dass er uns gegenüber wirklich den Mund aufgemacht hätte?“, fragte Rudi.

Ich zuckte mit den Schultern. „So etwas hängt immer davon ab, wie hoch dem Betreffenden das Wasser steht!“

„Bei Maybaum war es offenbar noch nicht hoch genug. Aber nehmen wir mal an, dass Rademacher und Maybaum ihre krummen Geschäfte auch nach ihrer Versetzung einfach weiterbetrieben, wofür zumindest Rademachers finanzielle Verhältnisse ein Beleg sein könnten und dieser Gerighauser wollte sich an den beiden rächen, dann müsste Maybaum doch spätestens nach Rademachers Tod gewusst haben, dass er selbst auch in Gefahr ist!“

„Vielleicht hat er das auch, aber er konnte sich niemandem offenbaren. Schließlich wäre er dann selbst an der Reihe gewesen, Rudi.“

„Könnte dieser Tim Subotitsch noch in der Sache mit drinhängen?“

„Wir werden ihn noch befragen. Heute ist er ja von seinem Lehrgang zurück, wenn ich das richtig verstanden habe.“

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Wir waren mit dem Kollegen Maskoviak von der Autobahnpolizei auf einem Parkplatz an der A24 verabredet. Spurensicherer waren damit beschäftigt, die Umgebung abzusuchen und Kriminaldirektor Bock hatte unsere Kollegen Sami Oldenburger und Pascal Horster hier her beordert, um die Kollegen zu unterstützen und insbesondere darauf zu achten, ob es irgendwelche Zusammenhänge zum Fall Rademacher gab.

Wir stellten den Dienst-Porsche auf einen der Stellplätze und stiegen aus. Ein Abschleppwagen zog gerade einen Porsche die Böschung hinauf.

Herr Maskoviak begrüßte uns freundlich.

„Sie müssen Kubinke und Meier vom BKA sein.“

„Das ist richtig“, bestätigte ich.

„Hat der Porsche etwas mit dem Fall zu tun?“, fragte Rudi.

„Das hat er“, nickte Maskoviak und schob sich seine Polizeimütze ein Stück weiter in den Nacken. „Der Tote heißt Sebastian Wilhelm Maybaum und ist Polizist in Berlin – aber das wissen Sie sicher. Heute Nacht meldete ein Trucker, dass er einen Mann überfahren hätte. Seiner Aussage nach lag Maybaum einfach auf der Fahrbahn. Der Fahrer gab an, keine Chance zum Ausweichen oder Bremsen gehabt zu haben. Der Mann hätte reglos auf der Straße gelegen. Ob das eine Schutzbehauptung ist, wird sich hoffentlich durch die Obduktion zweifelsfrei ergeben.“

„Die Frage ist doch, was Maybaum mitten in der Nacht zu Fuß auf der Autobahn zu suchen hat“, gab ich zu bedenken.

„Allerdings“, gestand Maskoviak zu. „Der Tote roch stark nach Alkohol. Er scheint betrunken gewesen zu sein.“ Maskoviak deutete auf den verunglückten Porsche, der jetzt wieder mit allen vier Rädern auf dem Parkplatz stand und vom Haken des Abschleppwagens genommen wurde. „Das ist Maybaums Wagen. Für uns stellt sich das Ganze folgendermaßen dar: Maybaum war auf der Autobahn unterwegs und muss schon ziemlich angetrunken gewesen sein. Er hat hier eine Pause eingelegt und wollte schließlich wieder fahren. Aber da er das Fahrzeug nicht mehr so richtig beherrschte, hat er die Abfahrt verpasst und ist die Böschung hinuntergerutscht.“

„Und Sie meinen, anschließend hat er versucht zu Fuß weiterzukommen“, schloss ich.

„Ja, genau.“

„Warum hat er nicht sein Handy genommen und jemanden angerufen, der ihn abholt? Ein Taxi zum Beispiel.“

„Wir haben kein Handy gefunden“, berichtete Maskoviak.

Ich wechselte mit Rudi einen ziemlich verdutzten Blick. „Hören Sie, Maybaum war Polizist, da hat man das Handy immer dabei!“

„Wie gesagt, weder im Wagen noch bei der Leiche war ein Handy.“

„Seltsam.“

„Später ist er dann vom Truck überrollt worden. Ob er da bereits auf dem Boden lag oder nicht, weiß ich nicht. Ich persönlich tippe auf eine Schutzbehauptung des Fahrers.“

„Welche Verletzungen wies die Leiche auf?“

„Der Gerichtsmediziner, der die Erstuntersuchung durchgeführt hat, meinte, er sei wahrscheinlich an den enormen Quetschungen des Oberkörpers gestorben, die durch das linke Vorderrad des Trucks verursacht wurden.“

„Wir möchten uns gerne den Wagen mal ansehen“, kündigte ich an.

„Nichts dagegen einzuwenden.“

Wir zogen uns Latexhandschuhe über und öffneten die Tür. Rudi durchsuchte das Handschuhfach, fand aber nichts Besonderes.

Ich nahm mir den Kofferraum vor. Ein Parka war dort zu finden. Ich nahm mir die Jacke heraus und durchsuchte die Taschen. Ein Zettel fiel mir auf, auf dem notiert war, wie man zu dem Parkplatz gelangte, auf dem wir uns befanden.

Ich zeigte ihn Rudi.

„Er scheint sich hier mit jemandem verabredet zu haben.“

„Mit Gerighauser?“

„Das wird er uns leider nicht mehr sagen können.“

„Es war gestern ziemlich spät, als wir mit dem Mann sprachen, der im Lagerhaus bei Udo’s Imbiss übernachtete... Aber war der sich nicht hundertprozentig sicher, einen Porsche gehört zu haben?“

„Du meinst, Maybaum war auch am Tatort?“ Rudi überlegte. „Ich weiß nicht.

„Angenommen, nicht Gerighauser war der Mörder, sondern jemand anders.“

„Und Gerighausers Aufgabe war es nur, das Opfer an den Tatort zu bestellen?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Rademacher, Maybaum, Gerighauser – zwei Polizisten und ein Informant. Alle drei in dubiose Machenschaften verstrickt...“

„Da gibt es doch noch einen, der dazu passt.“

„Du meinst, den Kollegen Subotitsch?“

„Ja.“

„Fahren wir zu seiner Dienststelle?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, wir sollten uns erst in Maybaums Wohnung umsehen. Dann wissen wir vielleicht etwas besser, wo wir bei Subotitsch ansetzen müssen!“

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Maybaum bewohnte eine luxuriöse Wohnung in einer Wohnanlage. Die Wohnung war vermutlich so teuer, dass wahrscheinlich zwei Drittel des Polizistengehalts monatlich für die Miete draufgingen.

Die Wohnanlage wurde von einem Sicherheitsdienst bewacht. Einer der Uniformierten öffnete uns die Wohnung mit einer Chip Card, die als elektronischer Generalschlüssel fungierte.

Wir sahen uns um.

„Das Wohnzimmer ist allein schon größer als die Wohnungen von uns beiden zusammen“, meinte Rudi.

„Neidisch?“

„Nein. Ich bin ohnehin kaum dort. Und wenn ich daran denke, dass das alles hier wahrscheinlich mit schmutzigem Geld finanziert wurde...“

Auf dem Wohnzimmertisch lag ein Handy. Es war auf stumm geschaltet. Ich zog mir Latex-Handschuhe über und nahm es an mich.

„Warum hat er es hier liegen lassen?“, fragte Rudi. „Vergessen?“

„Ein Cop vergisst so etwas nicht“, sagte ich. „Oder hast du schon mal dein Handy vergessen?“

„Genauso wenig wie meine Waffe.“

„Er wollte, dass das Gerät hier bleibt, Rudi.“

„Wieso das denn?“

„Nehmen wir an, jemand hat Maybaum zu dem Parkplatz an der A24 bestellt.“

„Gerighauser?“

„Vielleicht. Jedenfalls war es vielleicht jemand, mit dem er nicht gesehen werden wollte. Er lässt also sein Handy hier zurück. Wenn jemand anruft, lässt sich nachher noch feststellen, über welchen Funkmast das Gespräch ging. Er hat dadurch ein Alibi. Sein Handy war nachweislich hier – und nicht am Tatort.“

„Oder er hat damit gerechnet, dass es angepeilt wird.“

„Auch möglich.“

„Einen Beweis nenne ich so etwas aber nicht. Wir wissen noch nicht einmal, ob Maybaum nicht doch betrunken war und versucht hat, bei Nacht auf einer Autobahn spazieren zu gehen.“

Ich untersuchte das Menue und sah mir die Anruflisten an. Dann rief ich Max Herter in unserem Präsidium an, damit er einige Nummern überprüfen konnte. Die meisten gehörten zu Prepaid Handys und waren nicht ohne Weiteres zu identifizieren. Es gab fünf Anrufe in Abwesenheit, darunter auch einer, der von meinem eigenen Handy ausging, als ich versucht hatte ihn anzurufen.

Aber der letzte Anruf, den Maybaum entgegen genommen hatte, war nicht von einem Prepaid Handy aus geführt worden, sondern erstaunlicher Weise von einem Festnetzanschluss.

„Der Anschluss gehört zur Adresse eines gewissen Ronny Vincente“, gab Max Herter den Namen des Teilnehmers an. „Ronny steht übrigens nicht für Ronald oder so.“

„Wofür dann?“, fragte ich.

„Ronny steht einfach für Ronny. Das ist der reguläre Vorname, keine Abkürzung. Das habe ich schon gecheckt.“

„Ist Ronny Vincente ein einschlägig bekannter Name?“, fragte ich. „Kriminalistisch gesehen, meine ich natürlich.“

„Die Schnellabfrage war negativ. Unser Mann scheint sauber zu sein“, sagte Max.

Ich antwortete: „Ich hatte gehofft, dass es sich um einen von Maybaums Informanten handelt.“

„Sieht nicht so aus. Keine Vorstrafen, nichts mit Drogen. Es könnte natürlich sein, dass eine Verurteilung als Jugendlicher vorliegt, die inzwischen gelöscht wurde.“

„Vielleicht kannst du mal nachhaken. Irgendeine Zusammenhang zu Maybaum muss es geben.“

„Und vielleicht auch zu Gerighauser!“, sagte Max.

Ich war perplex. „Wie kommst du darauf, Max?“

„Eine der Nummern, die du mir angegeben hast, gehört Ludmilla Gerighauser. Nicht wiedererkannt?“

„Jedenfalls hat Gerighauser Maybaum vom Anschluss seiner Tante aus angerufen, als er dort gewohnt hat“, stellte ich fest.

„Ich habe hier auch etwas!“, sagte Rudi und hielt einen Ordner mit Kontoauszügen hoch. „Lag ganz offen auf dem Schreibtisch. Maybaum scheint, was seine Finanzen betraf, sehr viel weniger vorsichtig gewesen zu sein als Rademacher.“

Rudi blätterte die Auszüge kurz durch. „Es fällt sofort auf, dass zahlreiche Bareinzahlungen in erheblicher Höhe durchgeführt wurden – aber immer knapp unter der Grenze, die diese Bareinzahlungen meldepflichtig gemacht hätte.“

„Das bedeutet, Maybaum hatte ein Geschäft laufen, das ihm regelmäßig zusätzliche Einnahmen verschaffte“, sagte Max.

„So ist es.“

„Wann war die letzte Einzahlung?“, fragte ich.

Rudi schaute nach. „Vor einer Woche“, lautete die überraschende Antwort. „Ich nehme den Ordner mit. Soll unser Kollege Detlef sich darum kümmern. Der sieht bestimmt noch ganz andere Sachen aus diesen Zahlen!“

Kommissar Detlef Reichert war bei uns im Moment der Spezialist für Betriebswirtschaft und wann immer es um Konten, Geldströme oder verdeckte Zahlungen ging, dann trat er in Aktion.

Aber das Wichtigste wussten wir jetzt.

Maybaum und Rademacher hatten vermutlich bis vor kurzem noch von Verdächtigen Geld erpresst.

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738917680
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juli)
Schlagworte
unter mordverdacht krimis

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Unter Mordverdacht und drei andere Krimis