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Galaxienwanderer - Mission Schwarzes Loch

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 260 Seiten

Zusammenfassung

Mission Schwarzes Loch
Galaxienwanderer

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 228 Taschenbuchseiten.

Die intergalaktische Reise des Raumschiffs CAESAR endet in einer temporalen Katastrophe. Eine Androidin will heimkehren – und strandet auf einer Station, die von einer uralten Zivilisation erbaut wurde. Wer sind die Wesen, die dieses Artefakt über den Abgrund der Zeiten hinweg in Betrieb hielten?

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Mission Schwarzes Loch

Galaxienwanderer

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 228 Taschenbuchseiten.  

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Die intergalaktische Reise des Raumschiffs CAESAR endet in einer temporalen Katastrophe. Eine Androidin will heimkehren – und strandet auf einer Station, die von einer uralten Zivilisation erbaut wurde. Wer sind die Wesen, die dieses Artefakt über den Abgrund der Zeiten hinweg in Betrieb hielten?

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Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Science Fiction, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author /

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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1. Kapitel: Leere

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Ein Schwarzes Loch.

Einst war es ein Stern gewesen.

Ein Stern, der eine gewisse Größe gehabt hatte. Seine Masse hatte ausgereicht, um ihn unter der eigenen Schwerkraft kollabieren zu lassen, nachdem die Fusion im Inneren zum Erliegen gekommen war.

Schwerkraft und Fusionsenergie hatten über Milliarden Jahre ein Gleichgewicht gebildet. Aber nach dem Verlöschen des Fusionsfeuers war dieses Gleichgewicht aufgehoben. Die Schwerkraft siegte. Unerbittlich. Ein Stern mit der tausendfachen Masse der irdischen Sonne wurde auf die Größe eines Planeten zusammengedrückt.

Ein unvorstellbares Gewicht, das die Struktur der Raumzeit verzerrte.

Schwarze Löcher gab es viele.

Aber dieses hatte eine Besonderheit.

Es lag mitten im Leerraum zwischen den Galaxien.

Die Riesensonne, aus der es hervorgegangen war, war ein Streuner zwischen den Galaxien gewesen. Und sie wurde zu einem Schwarzen Loch.

Kein dunklerer Ort war im Universum denkbar.

Und doch war er nicht tot.

*

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Josephine erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Sie atmete tief durch und öffnete die Augen, blinzelte erst einen Augenblick lang gegen das schwache Licht und machte die Augen dann wieder zu.

>Was ist geschehen?<, fragte sie sich. >Du bist eine Gestrandete der Jahrhunderte, herausgerissen aus deiner Zeit durch Mächte, auf die du nicht den geringsten Einfluss hattest. Aber hat es dir geschadet? Vielleicht wärst du gar nicht mehr am Leben, wenn du in deiner eigenen Epoche geblieben wärst ...<

Josephine zögerte, die Augen zu öffnen. Wirre Erinnerungen an noch verworrenere Träume beherrschten ihr Bewusstsein. So manches an Erinnerungen ging dabei durcheinander. Wie in einem Kaleidoskop hatte Josephine das Gefühl, alles auf einmal zu sehen. Zwanzig Überblendungen gleichzeitig und doch schienen einige von ihnen sehr gut identifizierbar!

>Du bist eine Gen-Android. Ein Klon, geschaffen mit einem genetischen Programm, das dich einst zum Gehorsam zwang. Du warst Teil eines militärischen Projekts – aber das alles ist jetzt so unwichtig geworden. Nicht erst, seit du hier in Andromeda bist ... Was spielt deine Vergangenheit noch für eine Rolle?<

Zwei Wochen hatte der Flug an Bord von John Bradfords CAESAR nach Andromeda gedauert – zumindest in der subjektiven Empfindung der Besatzungsmitglieder. In Wahrheit waren zwei Jahrhunderte vergangen, wie man später erfahren hatte. Die CAESAR war bei der fehlgeschlagenen Transition nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit gereist.

Erst im Zentrum von Andromeda hatte die Besatzung der CAESAR vom Ausmaß dieser Zeitreise erfahren. >Du hast etwas Ähnliches schon einmal erlebt, als der Einfluss eines Wurmlochs dich ebenfalls zweihundert Jahre in die Zukunft riss. Eine Zukunft, in der die Menschen und ihr Imperium Angst und Schrecken in der Galaxis verbreiteten. Aber das erscheint dir jetzt bereits wie ein Traum, der schon verblasst, sobald man erwacht ...<

Kaum, dass sie überhaupt Gelegenheit gehabt hatte, die Zeit, in die sie das Schicksal schleuderte, wirklich zu verstehen, war sie nun erneut in einer Zukunft gelandet, in der sich alles verändert haben würde.

Die gegenwärtige Lage in der Milchstraße zu erkunden, das war der Grund dafür gewesen, an Bord von Naryavos Schiff zu gehen, denn die Heimatgalaxie der Menschheit war das erklärte Ziel des Bhalakiden.

>Was werde ich dort vorfinden?<, ging es ihr durch den Kopf. Der Gedanke daran ließ sie manchmal nicht schlafen. Hin und wieder fiel sie dafür dann in einen umso tieferen, traumlosen und ihrer Empfindung nach beinahe todesähnlichen Schlaf.

*

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Mindestens zwei irdische Wochen war es bereits her, dass sie die CAESAR verlassen hatte und an Bord des unter dem Kommando des Bhalakiden Naryavo stehenden Raumschiffs gegangen war. Aber auch diese Zeitbegriffe schienen hier draußen in der Unendlichkeit nicht dieselbe Rolle zu spielen. >Könnte es sein, dass du jeglichen Maßstab verloren hast? Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch in einem Umkreis von hunderttausend Lichtjahren oder mehr. Vielleicht ist es das Wissen um diese Tatsache, die dafür sorgt, dass alles, was deiner Existenz eine feste Größe geben könnte, zu verschwimmen scheint. Jeder Maßstab, jede Vergleichsgröße, jeder Parameter, jeder Wert ... Kein Mensch hat das je vor dir erlebt!<

Josephine schalt sich schon gleich darauf eine Närrin.

Was sollte diese Grübelei?

Warum sich melancholischen Stimmungen hingeben, die sie nur dabei behindern konnten, das zu tun, was sie sich als ihre Aufgabe vorgenommen hatte.

Sie atmete tief durch. Ihr wohlgeformter, durchtrainierter weiblicher Körper straffte sich dabei. Noch hatte sie die Augen nur für einen kurzen Moment geöffnet, aber sie war zweifellos wach.

Josephine versuchte sich an das zu erinnern, was sie geträumt hatte. Und damit die Schatten der Imagination festzuhalten. Vergeblich. >Es muss vergeblich sein<, überlegte sie. Die Klon-Frau hatte keine Ahnung, weshalb ihr diese Dinge auf einmal so unwahrscheinlich wichtig waren. Übertrieben wichtig, wie sie selbst erkannte, sobald ihr messerscharfer Verstand die Oberhand über das Gefühl bekam.

Irgendetwas hatte sich grundlegend geändert.

Das spürte Josephine, je länger dieser Flug dauerte. Jede Faser ihres Körpers schien mit immer sensibler werdenden Sensoren für dieses Phänomen ausgestattet zu sein.

Jetzt erst öffnete Josephine die Augen.

Naryavo, der bhalakidische Kommandant des Schiffes mit dem für Josephine recht seltsam klingenden Namen AUGE DES PERIGOR, hatte diesen Raum nach ihren Wünschen herrichten lassen. Wobei es einem Wesen, das nur einen Teil seines Lebens in körperlich greifbarer Form zubrachte und die restliche Zeit dafür als körperloses Energiewesen existierte, nicht leicht fiel, die Wünsche einer menschlichen Frau – und mochte es sich auch um eine Gen-Androidin handeln - zu erfassen. So hatte man natürlich auf ihre Bedürfnisse nur in dem Maß Rücksicht nehmen können, wie diese von den Bhalakiden überhaupt verstanden worden waren.

>Du hast geschlafen und spürst dennoch Müdigkeit!<, erkannte Josephine plötzlich. >So etwas sollte eigentlich nicht sein. Vielleicht stimmt etwas mit mir nicht, aber ich werde, was dies betrifft, von Naryavo wohl auch keine kompetente ärztliche Hilfe erwarten dürfen ...<

Josephine musste bei diesem Gedanken unwillkürlich schmunzeln.

>Na also! Es geht doch!<

Josephine erhob sich von ihrem Bett und überlegte, wie sie den Nahrungsmittelspender so programmieren sollte, dass er auch etwas Genießbares ausspuckte. Mit der puren Energie, die die Bhalakiden in ihren Körper zu leiten pflegten, konnte die Gen-Android-Frau jedenfalls nicht das Geringste anfangen. Ganz im Gegenteil! Selbst ihre recht widerstandsfähige Physis wäre durch einen derartigen Energietransfer, wie er für Bhalakiden geradezu lebensnotwendig war, zerstört worden.

Der Bordrechner der AUGE DES PERIGOR war so programmiert worden, dass er in der Lage war, Nahrung zu produzieren, die den physiologischen und biochemischen Erfordernissen von Josephines Metabolismus entsprachen.

Das bedeutete allerdings nicht, dass alles, was sie dann am Ende vorgesetzt bekam, auch tatsächlich schmackhaft war.

>Irgendwann wirst du dich sogar daran gewöhnen<, war Josephine jedoch überzeugt.

Durch die Berührung eines Sensorpunktes an der Wand wurde das System aufgerufen. Ein Holoquader erschien wie aus dem Nichts und zeigte ihr eine Auswahl verschiedener Gerichte, die der Bordrechner im Angebot hatte.

>Das schmeckt ohnehin alles gleich fade<, dachte Josephine. >Da sollte dir die Wahl doch nun wirklich nicht so wahnsinnig schwer fallen! Genüsse kannst du hier nicht erwarten ...<

Ehe sie schließlich eine Entscheidung getroffen hatte, wurde sie abgelenkt und das Knurren ihres Magens war zumindest für die nächsten Augenblicke in den Hintergrund verdrängt.

Eine Lichterscheinung blendete sie plötzlich.

Schützend und reflexartig schirmte sie mit der Hand ihre Augen etwas ab.

Gleißendes Licht drang durch die Decke des Raums, den sie in den letzten Wochen als so etwas wie ihr Privatgemach angesehen hatte. Es war dennoch so grell, dass es in den Augen schmerzte. Josephine unterdrückte ein Aufstöhnen.

>Naryavo, was soll das?<

Das Licht verdichtete sich zu einem immer heller werdenden Punkt. Schließlich formte sich eine gleißende Gestalt, die immer stärker Substanz annahm und schließlich innerhalb des nächsten Augenaufschlags vollkommen materialisierte. Das Leuchten verschwand.

Der Bhalakide hatte jetzt die körperliche Ursprungsgestalt eines androgyn wirkenden Humanoiden angenommen. Dieses Volk, dessen Aufgabe es war, die Xaradim-Stationen zu bewachen, die sich hinter dem eigentlich unüberwindlichen Ereignishorizont der übergroßen Schwarzen Löcher im Zentrum einer Galaxie befanden, war auf dem Weg der zunehmenden Vergeistigung. Die Bhalakiden befanden sich in einem Zwischenstadium. Sie waren nach Belieben in der Lage, sich in reine Energie zu verwandeln und in dieser Existenzform auch feste Materie zu durchdringen.

Deswegen waren Türen für die Bhalakiden eigentlich unnötig und hatten eher den Charakter von Notausgängen, als dass sie wirklich gebraucht worden wären.

Josephine hingegen war darauf angewiesen. Sektoren des Schiffs, die nicht über Türen zugänglich waren, konnte sie schlicht und ergreifend nicht betreten. >Wie könnte man meine Lage beschreiben?<, überlegte sie. >Es ist viel von dem Einäugigen die Rede, der unter den Blinden ein König ist. Ich bin genau das Umgekehrte – ein Blinder unter lauter Sehenden. Und das ist alles andere als ein Witz. So jedenfalls kommt man sich in der Begleitung der Bhalakiden vor.<

*

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Josephine starrte den Bhalakiden etwas fassungslos an.

Diese Zwitter aus androgynen Humanoiden und Energiewesen hatten einen deutlich anderen Begriff der Privatsphäre, als er unter Menschen üblich war. Es war ihnen unverständlich, wieso ein Individuum einen Bereich benötigte, der von anderen nicht ohne dessen Erlaubnis betreten werden durfte. Zwar kannten sie durchaus Privaträume und den zumindest zeitweiligen Rückzug des Einzelnen zur Meditation oder zu Studienzwecken. Aber über diese schwach ausgeprägten Ansätze hinaus schien ihnen jede Form des Territorialdenkens fremd zu sein. >Wie auch immer, auch als weiblicher Klon kann ich meine Säugetiervorfahren, die immer schön säuberlich ihr Revier abgegrenzt haben, wohl einfach nicht verleugnen!<, ging es Josephine durch den Kopf. >Es kann eben niemand über seinen Schatten springen. Aber das gilt wahrscheinlich für Menschen und Bhalakiden gleichermaßen ...<

Sie hatte inzwischen aufgegeben, den Besatzungsmitgliedern der AUGE DES PERIOGOR beibringen zu wollen, dass Menschen dies nicht besonders gut leiden konnten, wenn man ihren Privatbereich ungefragt betrat.

Die Bhalakiden hatten für derlei Gedanken einfach kein Verständnis.

Ihre humanoiden Gesichter waren sich alle ziemlich ähnlich. Es gab kaum sichtbare individuelle Ausprägungen der Gesichtszüge. Dasselbe galt für ihre Gestalt. Die optisch erkennbaren Unterschiede zwischen einzelnen Bhalakiden waren minimal, aber Josephine hatte inzwischen gelernt, einzelne von ihnen einigermaßen sicher zu unterscheiden und wieder zu erkennen.

Allen voran natürlich Naryavo, den Kommandanten dieses Schiffs, der für sie in erster Linie die Bezugsperson an Bord des goldenen Kugelraumers darstellte.

„Sei gegrüßt, Josephine“, sagte der Bhalakide. An der vertrauten Art und Weise, in der er sie ansprach, erkannte sie ihn. Erst dann stellte sie fest, dass auch winzige Unregelmäßigkeiten und Asymmetrien in seinem Gesicht ihn eindeutig als Kommandanten der AUGE DES PERIGOR identifizierten. „Ich hoffe, ich habe dich nicht bei deiner Meditation zur Energieaufnahme gestört?“

Unwillkürlich flog ein Lächeln über ihr Gesicht.

„Nein“, antwortete Josephine schließlich nach einem kurzen Augenblick des Innehaltens. „Ich war gerade fertig damit.“

Sie seufzte.

Für einen Bhalakiden war es nicht ganz einfach nachzuvollziehen, was für einen Menschen der Schlaf bedeutete. Zu sehr hatten sich diese schon in ihrer körperlichen Erscheinungsform sehr grazilen Lebewesen, die in ihrem Zustand als Energiewesen vollkommene Schwerelosigkeit genossen, von ihrer Physis innerlich entfernt. Der Körper hatte für sie nicht dieselbe Bedeutung wie für Wesen, deren Existenz vollkommen an diesen gebunden war. Josephine vermochte das unmittelbar nachzuvollziehen.

Ab und zu brauchten die Bhalakiden eben einen Körper – etwa dann, wenn sie Energie aufnahmen. Ansonsten war die energetische Form sehr häufig einfach viel praktischer. Immer dann, wenn es um raschen Transport, die Überwindung von Hindernissen aus Materie oder schnelle Kommunikation ging, war die energetische Daseinsform von großem Vorteil.

Einen kurzen Moment lang hatte Josephine überlegt, ob sie Naryavo gegenüber nicht einmal vorbringen wollte, dass sie es durchaus als unangenehm empfand, wenn Besatzungsmitglieder der AUGE DES PERIGOR, wann immer sie dies für richtig und geboten hielten, einfach in ihrem Raum aufzutauchen, um sie anzusprechen.

Andererseits hatte Josephine innerhalb der gut zwei Wochen, die sie sich nun schon an Bord des Raumschiffs der Bhalakiden befand, erlebt, dass genau dies für Bhalakiden vollkommen selbstverständlich war.

Einen Bhalakiden in einer derartigen Situation zurechtzuweisen, hätte bedeutet, ihn womöglich innerlich tief zu enttäuschen.

„Ich habe das Bedürfnis, mich mit dir zu unterhalten“, äußerte der Bhalakide.

>Mit anderen Worten, du brauchst jemanden, der dir die Langeweile vertreibt!<, dachte Josephine – behielt diesen Gedanken allerdings der Höflichkeit halber für sich.

Während ihres Fluges, der sie aus dem galaktischen Zentrum der etwa 150 000 Lichtjahre durchmessenden Andromeda-Galaxie heraus in Richtung des Leerraums geführt hatte, war Naryavo des Öfteren mit diesem auf den ersten Blick etwas befremdlichen Anliegen an Josephine herangetreten. Ihr Gegenüber hatte er geäußert, die Kommunikation mit Josephine deshalb zu schätzen, weil sie einen unabhängigen Standpunkt einnähme, was es ihm erleichtern würde, seinen eigenen Standpunkt zu definieren und die innere Stabilität zu erhöhen.

„Die innere Stabilität“, so hatte Naryavo ihr gegenüber eröffnet, „besitzt für uns Bhalakiden eine zentrale Bedeutung. Man könnte auch behaupten, sie ist das Zentrum, um das unsere Kultur kreist – abgesehen vielleicht von dem Auftrag, den uns vor Äonen einst die Erbauer gaben ...“

Welch große Bedeutung diese sogenannte >innere Stabilität< für jeden Bhalakiden – und insbesondere den Kommandanten eine Raumschiffs oder gar den Stationsweisesten einer Xaradim-Station – hatte, sollte ihr erst im Laufe der Zeit wirklich klar werden.

„Ich habe nichts gegen eine Unterhaltung einzuwenden“, sagte Josephine schließlich, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Andererseits war es wichtig, dass sie sich gegenseitig besser kennenlernten.

Eine weite Reise ins Ungewisse lag schließlich vor dem weiblichen Klon. Eine Reise, die zwar oberflächlich betrachtet in die Heimat der Milchstraße führte, faktisch aber eine Galaxis zum Ziel hatte, von der man annehmen musste, dass sie sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten vollkommen verändert hatte.

„Das freut mich“, erklärte Naryavo, wobei sich Josephine fragte, ob es ihm überhaupt etwas bedeutete, dass seine Gesprächspartnerin Interesse an einer Kommunikation signalisierte.

Josephine erklärte: „Ich würde es allerdings bevorzugen, wenn ich mit derartigen Anliegen zunächst indirekt konfrontiert würde.“

„Indirekt?“, echote Naryavo.

Er schien etwas irritiert zu sein.

Also gab Josephine ihm eine nähere Erläuterung.

„Ohne die körperliche Anwesenheit dessen, der dieses Anliegen hat!“, versuchte sie ihm deutlich zu machen, was ihr missfiel. „Dies ist mein Raum – jedenfalls betrachte ich ihn während meines Aufenthalts auf der AUGE DES PERIGOR so. Und das bedeutet, ich gewähre den Zugang hierher oder ich tue das nicht.“ >Jetzt ist es raus!<, dachte Josephine. >Wahrscheinlich hätte ich das viel früher tun sollen. Sehr viel früher ... Aber ich denke, es ist noch nicht zu spät.<

Zu Josephines Erleichterung war Naryavo allerdings keineswegs beleidigt.

Im Gegenteil!

Er signalisierte ein freundlich-neugieriges Forscherinteresse.

„Sind das Menschen-Sitten?“, fragte der Bhalakide nach kurzer Pause.

Emotionen wurden bei diesem Volk vor allem durch energetische Schwingungen ausgedrückt, die von Bhalakiden untereinander sehr wohl wahrgenommen werden konnten. Ein Mensch war unter ihnen jedoch wie ein Blinder unter Sehenden. Die Mimik, der nach Belieben in den Zustand reiner Energie wechselnden Wesen, wirkte dagegen ...

>Ja, wie eigentlich?<, dachte Josephine. Die Begriffe >starr< oder >maskenhaft< trafen es nicht wirklich, was man als menschliche Frau beim Anblick eines Bhalakiden-Gesichts empfand.

Diese Gesichter wirkten stets >gelöst<. Emotionale Regungen spielten sich in ihnen einfach nicht ab, was aus Sicht der Bhalakiden auch seinen Sinn hatte. Schließlich war es sicher sehr viel unkomplizierter für sie, sich gegenseitig mit Hilfe energetischer Schwingungen über ihre gefühlsmäßige Verfassung zu informieren. Damit hatten sie einen Ausdruck ihrer Emotionen gefunden, der sowohl in der physischen als auch in der rein energetischen Erscheinungsform ihrer Spezies funktionierte – und das vermutlich sehr viel besser, als wenn sie an dem vergleichsweise primitiven Spiel aus Gestik und Mimik festgehalten hätten, wie man es bei den meisten anderen Humanoiden oder entfernt humanoiden Völkern finden konnte.

„Ja“, bestätigte Josephine. „Das sind Menschen-Sitten.

„Erstaunlich!“

„Das ist eine Frage des Standpunktes.“

„Bizarr!“

„Ihr scheint sehr viel Kontakt zu anderen Völkern zu haben, sonst würdest du diesen Begriff nicht in dem Zusammenhang verwenden“, sagte Josephine ruhig und gelassen.

„Das ist wahr“, gab er zu. „Umso mehr genieße ich die Unterhaltungen mit dir. Dieses Konzept der Privatsphäre hat so etwas zutiefst Barbarisches an sich, das einem Schauder über den Rücken treiben kann!“

„Ich nehme allerdings an, dass die meisten anderen intelligenten Spezies von einer gewissen Kulturstufe an so etwas wie Privatsphäre kennen.“

„So sind wir Ausnahme und ihr die Regel?“

„Ja“, bestätigte Josephine.

„Interessant!“, stieß der Bhalakide hervor.

Das Thema schien ihn sehr zu interessieren.

„Sieh dich um im Universum!“, forderte Josephine ihn auf. „Selbst in dem kleinen Teil des Kosmos, den ich gesehen habe, ist das so.“

„Mag sein, dass du Recht hast“, gestand Naryavo zu. „Vielleicht hätten wir uns mehr für die niederen Spezies interessieren sollen ... Aber es ist einfach ein Unterschied, auf welcher Seite des Ereignishorizonts zentralgalaktischer Schwarzer Löcher man lebt ...“

„Das gestehe ich zu“, sagte Josephine.

„Eine Entschuldigung für Interesselosigkeit und mangelnden Forschersinn sollte das aber auch nicht sein.“

„Ich habe diesen Vorwurf nie erhoben.“

„Ich selbst tue es! Wir Bhalakiden haben uns immer viel zu sehr in der Abhängigkeit der Erbauer gesehen, als dass wir etwas Eigenes entwickelt hätten, so wie unzählige Spezies, die das Universum bevölkern und sowohl Erhabenes als Niederträchtiges vollbrachten. Wir hingegen vollbrachten aus eigenem Antrieb gar nichts. Wir wurden erwählt von den Erbauern. Sie teilten uns eine Aufgabe zu, die wir gewissenhaft bis auf den heutigen Tag zu erfüllen versuchen.“

„Die Erbauer sind verschwunden“, gab Josephine zu bedenken.

„Ja, ich weiß, worauf du hinaus willst, Josephine!“

„Wirklich?“

„Du willst sagen, dass seit dem Verschwinden der Erbauer tatsächlich Zeit genug vergangen ist, um etwas Eigenes aufzubauen, eigene Entdeckungen zu machen, eine Technik zu erfinden, die wir nicht nur anwenden, sondern auch wirklich bis in den tiefsten Kern hinein >verstehen<! Aber es ist müßig über die Fehler vergangener Äonen zu lamentieren. Jetzt stehen wir vor dem Scherbenhaufen unserer langen Geschichte und müssen sehen, wie wir das zerrissene Transportnetz der Xaradim-Stationen vielleicht doch noch retten können. Falls das überhaupt noch möglich sein sollte.“

Der Bhalakide machte eine Pause. Er ging ein paar Schritte auf und ab. Das Gewand, das er dabei trug, raschelte leicht dabei. >Frühere Zeitalter der Menschheitsgeschichte mögen sich so oder so ähnlich einen Engel vorgestellt haben!<, dachte Josephine.

Schließlich fuhr Naryavo fort: „Du erhebst Besitzanspruch auf einen Teil unseres Schiffs.“

„Wenn du es >so< ausdrücken willst und unter Besitz allein die Verfügungsgewalt verstehen willst.“

„Das ist interessant! Dieser fast archaische, sehr starke Impuls, ein Territorium zu erobern und zu verteidigen! Wir kennen so etwas nicht, aber wahrscheinlich sind wir einfach zu wenig mit der materiellen Welt verhaftet, die für dich die einzig mögliche Existenzform darstellt.“

„Mein Streben nach Privatsphäre hat nichts mit einem Besitzanspruch zu tun“, erwiderte Josephine.

„So? Wirklich?“

„Es geht um die Integrität des Einzelnen. Die Grenzen der Person, die ihn von seiner Umwelt unterscheiden.“

„Diese Grenze ist Fiktion“, glaubte Naryavo. „Du solltest mir glauben. Es ist nichts weiter als ein Gedankenkonstrukt, das nichts mit der Realität zu tun hat – genauso wie die in eurer Kultur offenbar ursprünglich verbreitete Annahme, dass der Ereignishorizont nicht überschritten werden kann, ohne dass man dabei die Existenz verliert.“

Innerhalb der letzten Wochen, seit ihrem Aufbruch vom Zentrum Andromedas aus, hatten sie des Öfteren über derartige Probleme gesprochen.

Darüber, dass es möglicherweise für einen außen stehenden Beobachter so wirken könne, als ob ein den Ereignishorizont des Schwarzen Loches überschreitendes Raumschiff vollkommen verdampfte, während die subjektive Realität desjenigen, der diese Grenze überschritt ganz anders aussehen konnte und er vielleicht überhaupt nichts von der gigantischen Gravitation spürte, die ihn eigentlich hätte zermalmen müssen.

Naryavo konnte sich auf diesem physikalisch-philosophischem Gebiet geradezu in Rage reden. „Es gibt mehr als nur einen Zustand der Realität oder um es anders auszudrücken: Es existieren verschiedene Ebenen der existenziellen zeitlichen Permanenz, wie ja seit unserem letzten Besuch auf der Xaradim-Station im Zentrum Andromedas deutlich geworden ist.“

>Er argumentiert glasklar und kann mit einer Denkgeschwindigkeit aufwarten, die es mir Mühe macht, ihm zu folgen!<, dachte Josephine. <Und doch sind diese Wesen nichts als kosmisches Hilfspersonal, das die legendären Erbauer der Xaradim-Stationen eingesetzt haben, um diese Stationen eines gigantischen, wahrhaft kosmischen Transportnetzes warten und in Betrieb halten zu können ...<

Josephine versuchte sich einen Moment lang vorzustellen, über welche Fähigkeiten dann diese legendären Erbauer wohl verfügt haben mussten.

Das Gesicht des Bhalakiden hatte sich jedoch nicht verändert. Er starrte Josephine vollkommen regungslos an. Und doch hatte Josephine das Gefühl, dass in den Worten des Bhalakiden eine Emotion mitgeschwungen hatte. >Einbildung? Oder hast du vielleicht bereits die Fähigkeit erlangt, energetische Schwingungen emotional zu interpretieren, wie es den Bhalakiden offenkundig möglich ist?<

Josephine glaubte, dass es eine tiefe Sorge war, die Naryavo erfüllte. >Manchmal reicht es vielleicht einfach aus, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und sich zu fragen, was man selbst an dessen Stelle empfinden würde<, dachte sie dabei. <Selbst dann, wenn man ansonsten so vollkommen unterschiedlich ist wie ein Mensch und ein Bhalakide.<

Der Besuch auf der Xaradim-Station jenseits des Ereignishorizonts des 3 mal 107 Sonnenmassen schweren Schwarzen Lochs im Zentrum der Andromeda-Galaxie hatte geradezu bedrohliche Neuigkeiten gebracht. Die Xaradim-Station Andromedas war vollkommen vom kosmischen Transportnetz isoliert. Die Ursache lag dabei nicht darin, dass die Station ihre Funktionsfähigkeit verloren hätte, sondern im Netz selbst. Außerdem hatte sie ihre Permanenz verloren. Sie existierte nicht mehr vom Anbeginn der Zeiten bis zum schlussendlichen Zustand größtmöglicher Entropie, den das Universum am Ende seiner Existenz erreicht haben würde, sondern nur noch während einer Zeitspanne, die sowohl in Richtung Vergangenheit als auch auf die Zukunft bezogen erschreckend kurz war.

Dafür die Ursache zu finden, war Naryavos Ziel.

>Am besten natürlich dadurch, dass er den Traum aller Bhalakiden erfüllt und endlich auf die legendären, aber weithin unbekannten Erbauer stößt, die die Xaradim-Stationen und das dazugehörige Transportnetz einst erschufen ...<, überlegte Josephine. Diese hoch entwickelten Wesen mussten sich dann wohl eine Menge unbequemer Fragen gefallen lassen.

„Während unserer bisherigen Reise hast du mir einige Dinge über deine alte Welt erzählt“, begann Naryavo schließlich. „Ich meine die Erde jener Epoche, in der du geschaffen wurdest.“

>Geschaffen wurdest<, hallte es in Josephines Kopf wider. Für sie hatte das einen ganz bestimmten, sehr unangenehmen Klang. Es war, als ob man über sie wie über einen Gegenstand sprach – etwas, das irgendwann eine Fabrik verlassen hatte und nach Gebrauch weggeworfen werden konnte. Ein Werkzeug. Auf seine Weise perfekt, aber eben doch ein Werkzeug. Naryavo hatte seine Worte in großer Unbedarftheit einfach so dahingesagt. Der Gedanke, es mit einem Wesen zu tun zu haben, das keines natürlichen Ursprungs, sondern in der Tat sehr gezielt >geschaffen< worden war, schien für den Bhalakiden nicht weiter bedeutsam zu sein. Schließlich war ja letztlich nicht ausgeschlossen, dass auch die Bhalakiden nichts weiter als Produkte einer biotechnischen Schöpfung durch die >Erbauer< waren.

Diese Vorstellung war für Naryavo jedoch keineswegs unangenehm oder bedrohlich.

Josephine hielt diese Theorie sogar für sehr wahrscheinlich, denn wer immer es schaffte, Habitate jenseits der Ereignishorizonte von Wurmlöchern zu schaffen und diese nach Belieben betreten und wieder verlassen konnte, der war buchstäblich zu allem fähig.

Aber für Josephine hatte das natürlich einen ganz anderen Klang. Sie hatte den Umstand, dass sie als Klon zur Welt gekommen war, immer als einen Mangel angesehen und sich stets ein wenig so gefühlt, als wäre sie nicht wirklich auch Teil der Gattung Mensch gewesen. Allerdings hatte es auch viele gegeben, die ihre diesbezüglichen Ängste verstärkt hatten. Und auch wenn Josephine wusste, dass diese Befürchtungen unsinnig waren, so konnte die Gen-Android-Frau sie doch auch nicht einfach ignorieren. Sie würden immer Teil ihrer Persönlichkeit bleiben, so lange sie lebte.

Naryavo fuhr fort: „Ich habe deinen Erzählungen von der alten Erde sehr aufmerksam zugehört.“

„Das habe ich bemerkt“, sagte Josephine.

„Ich habe schon seit geraumer Zeit das Gefühl, dass auch die Welt, in der ich meine Existenz begonnen habe und in der ich sie eigentlich auch zu beenden hoffe, sich langsam aber sicher auflöst. Daher dachte ich, dass es interessant sein könnte, von dir zu erfahren, wie man damit zurechtkommt.“

„Überhaupt nicht“, sagte Josephine.

„Oh ...“ Mit einer sarkastischen Antwort schien er nicht gerechnet zu haben. Vielleicht wusste er auch einfach nicht, was Sarkasmus war und konnte Josephines Antwort daher nicht richtig einordnen. Josephine hatte nicht lange darüber nachgedacht, sondern einfach spontan aus dem Bauch heraus geantwortet. Und diese Antwort traf nun einmal genau das, was sie zu diesem Thema an Empfindungen in sich verspürte.

Eine Pause entstand.

Aus irgendeinem Grund empfand Josephine Verlegenheit.

Schließlich erklärte Naryavo: „Dafür, dass du so schlecht damit zurechtkommst, machst du aber den Eindruck von recht großer innerer Stabilität.“

„Vielleicht weißt du nur nicht die Anzeichen dafür zu deuten, die bei einem Menschen von mangelnder innerer Stabilität zeugen, Naryavo!“, glaubte Josephine.

Der Bhalakide ging darauf nicht weiter ein. Auf die Grenzen seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit wurde er allgemein nicht gerne angesprochen, das war Josephine schon zuvor immer wieder aufgefallen. >Vielleicht ist das SEIN wunder Punkt<, dachte sie.

Es war zweifellos besser, ihn zu respektieren.

„Ich bedanke mich für die Zeit, die du für unser Gespräch zur Verfügung gestellt hast!“, sagte Naryavo plötzlich und brach damit den Dialog recht abrupt ab.

>Feigling!<, dachte Josephine. >Jetzt, da wir beide argumentativ die Messer gewetzt haben und es interessant werden könnte, machst du dich aus dem Staub!<

Dann verlor sein Körper an Substanz. Er verblasste und verwandelte sich schließlich in eine gleißende Lichterscheinung, die seitlich durch eine der Wände entschwebte, die Josephines Raum begrenzten.

Im nächsten Augenblick war sie wieder allein.

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Die AUGE DES PERIGOR hatte den Halo, die sternenarme Randzone der Andromeda-Galaxie, erreicht. Sie war die größte Galaxie der lokalen Gruppe, zu der auch die Milchstraße gehörte. Zehn kleinere Zwerggalaxien waren ihre Trabanten und umkreisten sie in mehr oder weniger großen Abständen. Mit ihren Satelliten-Galaxien im Schlepptau bewegte sich Andromeda mit einer Geschwindigkeit auf die Milchstraße zu, die vermuten ließ, dass beide Systeme in ein paar Milliarden Jahren miteinander kollidierten, wobei das im kosmischen Maßstab betrachtet ein vollkommen normaler Vorgang war. Zwei Galaxien durchdrangen dann einander und verschmolzen zu einer Einheit. Zu wirklichen „Kollisionen“ einzelner Sterne kam es wohl nicht viel häufiger als sonst auch, denn abgesehen von ihrer Sternenmaterie bestanden Galaxien vor allem aus einem: dem Raum dazwischen, der immer noch schier unendliche Weiten verhieß. Andromeda selbst war höchstwahrscheinlich durch eine Kollision entstanden. Die Struktur des galaktischen Zentrums dieses Systems legte das zumindest nahe. >Die Aufzeichnungen der Bhalakiden sollten darüber Auskunft geben<, dachte Josephine. >Schließlich müssen sie auch in so ferner Vergangenheit bereits existiert haben.<

Naryavo hatte eine Konsole ohne direkten energetischen Zugang für Josephine einrichten lassen. Mit Hilfe der Sensorfelder, mit der die Konsole bedient wurde, hatte Josephine eine dreidimensionale Positionsübersicht aktiviert. Man konnte die Andromeda-Galaxie sowie die vorgelagerten Sternensysteme wie And I und And II sehen. Im Hintergrund befand sich die Milchstraße, die von Andromeda aus gut sichtbar war, allerdings ein ganz anders Bild bot, als man dies von der Erde gewohnt war.

Die Milchstraße wies eine von der Erde aus nicht sichtbare, balkenartige Struktur von über 27000 Lichtjahren Länge auf. Es handelte sich um ein Gebiet mit alten Sternen, wie man durch entsprechende Messungen feststellen konnte.

Josephine hatte jedoch nur einen begrenzten Zugriff auf das Bordsystem. Das galt sowohl für den Bordrechner als auch für die eigens für Josephine angelegte Vorratskammer mit Nahrungsmitteln und alle anderen relevanten Einrichtungen und Gegenstände.

Der Standort der AUGE DES PERIGOR war auf der Drei-D-Übersicht deutlich markiert.

Josephine zoomte den gegenwärtigen Standort des goldenen Bhalakiden-Schiffs näher heran. Die gegenwärtige und markierte Position schob sich langsam voran, ihrem Ziel entgegen. Und das war und blieb nun einmal die Milchstraße.

Ein breiter Ozean aus namenloser Schwärze gähnte zwischen den beiden Materie-Inseln.

Die Sternendichte im Randbereich Andromedas war bereits sehr gering und bald würde die AUGE DES PERIGOR die auch letzten Sonnen hinter sich gelassen haben.

Gleichzeitig spürte Josephine ein leichtes Vibrieren unter den Füßen. Der mächtige Schiffsantrieb ließ von Zeit zu Zeit den Boden erzittern. Naryavo hatte versucht, ihr das Prinzip, nach dem dieser Antrieb funktionierte, zu erklären. Allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Für Josephine hatte sich das alles wie pseudotechnisches Gerede angehört. Irgendwie war bei ihr der Eindruck entstanden, dass weder Naryavo noch seine Besatzungsmitglieder, die auf der Brücke ihre so genannten >Dienstzeitquanten< als Steuermänner ableisteten, wirklich über die Funktionsweise des Antriebs Bescheid wusste. Sie konnten ihn bedienen und wohl auch kleinere Reparaturen am System vornehmen. Aber die technischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen schienen ihnen nur oberflächlich klar zu sein.

Josephine hatte Naryavo auf diesen Punkt einmal angesprochen. Zunächst war der Bhalakide der entsprechenden Frage ausgewichen, aber Josephine hatte nicht lockergelassen.

Sie wollte einfach wissen, ob nur die Xaradim-Stationen oder auch die >gesamte< Technik der Bhalakiden Schöpfungen der Erbauer waren.

Schließlich hatte Naryavo Josephine gegenüber eröffnet, wie es tatsächlich war. Josephine hatte es längst geahnt.

„Auch die Schiffe sind Schöpfungen jener unbekannten Wesen, die auch die Xaradim-Stationen erbaut haben. Ihr technisches Wissen übertraf das unsere um ein Vielfaches. Und obgleich unser Volk seit Äonen nichts anderes tut, als die Xaradim-Stationen zu bewachen und den reibungslosen Betrieb dieses Transportnetzes zu gewährleisten, wären wir nicht in der Lage, selbst eine solche Station zu bauen – geschweige denn, sie hinter dem Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs zu befestigen, wo es eigentlich kein Zurück mehr gibt.“

Josephine sah ihn erstaunt an. „Und ihr habt in all den Äonen, seit dem Verschwinden der legendären >Erbauer<, es nicht geschafft, die Xaradim-Stationen und die offenbar nach ihrem Vorbild geschaffenen Raumschiffe soweit zu verstehen, dass ihr über deren technische Grundlagen zu verfügen vermögt?“, wunderte sich Josephine. „Allein die Neugier hätte euch dazu bewegen müssen!“

„Ich nehme an, Neugier war nicht unbedingt eine der Eigenschaften, die die Erbauer für die Verwalter ihrer Xaradim-Stationen bevorzugten.“

„Sondern?“

„Zuverlässigkeit und Gehorsam.“

„Ich verstehe.“

„Nein, das glaube ich kaum.“

Die Antwort Naryavos war durchaus etwas reserviert. Zumindest hatte Josephine es so empfunden. >Vielleicht ist das aber auch nur eine Projektion meinerseits!<, dachte sie.

„Es ist keineswegs so, dass wir nicht versucht hätten, die Erbauer zu finden“, hatte Naryavo zögernd gesagt. „Aber wer könnte behaupten, dass irgendeine andere Spezies im Universum bei der Erforschung seiner Ursprünge erfolgreicher gewesen wäre! Der Mensch namens John Bradford, auf dessen Raumschiff du gereist bist, verstand doch wohl auch die technischen Grundlagen seines Schiffes nur mangelhaft. Eines Schiffes, das im Übrigen ebenfalls nicht von Angehörigen seiner Spezies erbaut worden ist, wie jeder sofort zu erkennen vermag, der auch nur einen Moment lang energetischen Kontakt zum Bordrechner hatte.“

„Ich habe mit meiner Bemerkung die Fähigkeiten der Bhalakiden nicht herabsetzen wollen“, versicherte Josephine. Im Umgang mit Naryavo musste man offenbar immer aufpassen, auf dem schmalen Grat zwischen Offenheit und Diplomatie zu bleiben.

Manche seiner Reaktionen verstand sie jedoch auch schlicht und ergreifend nicht. Aber das ging ihm gewiss ähnlich ...

„Im Grunde hast du vollkommen Recht, Josephine“, fand er, nachdem er ein paar Augenblicke lang scheinbar ziellos durch den Raum gewandert war und beinahe alle Gegenstände berührt hatte, die auf Josephines Wunsch zur Einrichtung gehörten. Viel war das nicht: Ihr Bett, ein kleiner Schrank, die Konsole, eine Skulptur aus energetischer Pseudomaterie, an der sie gerade arbeitete ...

Gerade diese Skulptur, schien es ihm angetan zu haben. Sie veränderte sich ständig – je nachdem in welcher psychischen Verfassung man ihr gegenübertrat. Entweder bildete sie kompakte, starke Formen aus oder zog sich im anderen Extremfall zu einem kleinen Ballon zusammen. Josephine hatte >Deshralit< – wie die energetische Pseudomaterie von Bhalakiden genannt wurde – auf Naryavos Schiff kennengelernt. Durch Kalibrierung eines Rechners, der mit einem Magneten verbunden war, konnte man die Ausformungen manipulieren und seine eigene Psycho-Statue erfinden.

Immerhin vertrieb es sowohl die Zeit als auch depressive Stimmungen, die Josephine hin und wieder heimsuchten.

„Wir hatten Äonen Zeit dafür, die Erbauer zu finden oder wenigstens ihre Technik so weit zu verstehen, dass wir in der Lage wären, die gegenwärtigen Probleme des Transportnetzes selbst zu lösen. Aber eines solltest du vielleicht noch bedenken, Josephine.“

Ihre Stirnmuskulatur bewegte sich. Die Tattoos, die bei ihr anstatt von Augenbrauen zu finden waren, hoben sich ein paar Millimeter empor.

„Was?“, fragte sie.

„Wer sagt uns, dass die Erbauer überhaupt wollten, dass wir sie finden?“, fragte Naryavo. „Wer sagt uns, dass sie in ihre Technik nicht vielleicht Spezifikationen eingebaut haben, die es verhindern, dass wir ihre Hinterlassenschaften verstehen.“

„An diese Möglichkeit habe ich durchaus bereits gedacht, Naryavo“, erklärte Josephine.

Aber es gab da noch eine Möglichkeit, die Josephine viel näherliegender erschien, die sie allerdings Naryavo gegenüber nicht äußerte.

>Was, wenn die Erbauer dafür sorgten, dass irgendeine Spezifikation des bhalakidischen Organismus selbst verhindert, dass sie zu den Dingen in der Lage sind, die sie doch schon so lange anstreben?<

Josephine hatte schließlich erlebt, dass selbst die recht primitive Biotechnologie der Erde des mittleren 21. Jahrhunderts dazu in der Lage gewesen war, ein Programm in den genetischen Code der Gen-Androiden einzubauen, der dafür sorgte, dass ein Klon unter allen Umständen loyal blieb. Ein Gehorsamkeitsprogramm, das sich sogar auf die Gefolgschaft zu einzelnen Individuen anwenden ließ!

War es wirklich so abwegig, dass auch die Erbauer etwas Derartiges mit den Bhalakiden getan hatten?

Aber Josephine hatte mit Naryavo dieses Thema nicht vertiefen wollen. Einerseits war es zu dicht an dem, was ihre eigenen Albträume beflügelte und andererseits hoffte sie wirklich inständig, dass die Bhalakiden mehr waren als nur bloße Marionetten der Stationenerbauer mit begrenzter Willensfreiheit.

*

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Naryavo materialisierte in der Zentrale der AUGE DES PERIGOR. Sebuyan, einer von insgesamt fünf Steuermännern, die an Bord des von außen wie eine goldene Kugel oder die Miniaturausgabe einer Xaradim-Station aussehenden Raumschiffs in wechselnden Dienstzeitquanten die Kontrolle über die Steuersysteme übernahmen, war gerade damit beschäftigt, den Rechner für die bevorstehende Fahrt durch den unendlichen Leerraum zu kalibrieren. Insbesondere das Navigationssystem musste vor Antritt eines derartigen Fluges optimiert und an die Bedingungen des Leerraums angepasst werden. Normalerweise holte sich das Navigationssystem über die Außensensoren der AUGE DES PERIGOR ständig aktualisierte Positionsdaten herein, die durch Anpeilung von Sternpositionen gewonnen wurden. Selbst bei einer so komplexen und hoch entwickelten Technologie, wie sie für das goldene Schiff kennzeichnend war, kam es sonst nämlich zu kleineren Abweichungen vom Kurs. Abweichungen, die sich auf kurzen Strecken kaum auswirkten. Aber auf Distanzen über zehntausende oder gar hunderttausende von Lichtjahren konnte die Abweichung von einem hundertstel Grad schon bedeuten, dass man sein Ziel um viele Lichtjahre verfehlte.

Im Leerraum war diese Korrektur nur bedingt möglich. Es fehlten einfach nahe gelegene Fixpunkte für die Peilung. So musste auf weiter entfernt gelegene Objekte zurückgegriffen werden - fremde Galaxien, große und sehr aktive Pulsare, markante Radioquellen und anderes mehr.

Naryavo blickte zuerst auf den großen Holobildschirm, auf dem nur noch vereinzelte Sterne und ferne Galaxien zu sehen waren, darunter die Milchstraße.

Die Mkuro-Triebwerke der AUGE DES PERIGOR liefen auf Hochtouren und hatten neunzig Prozent ihres Beschleunigungsvermögens erreicht.

„Es wird eine Z-Raum-Turbulenz angezeigt“, meldete der bhalakidische Steuermann, der gerade sein Dienstzeitquantum in der Zentrale ableistete. „Ich werde die Triebwerksleistung auf 80 Prozent zurückfahren, um ein Überschreiten des mesonischen Grenzwertes zu vermeiden.“

„Tu das“, stimmte Naryavo zu, obwohl ihm die damit verbundene Verzögerung ganz und gar nicht gefiel.

Der Antrieb des goldenen Kugelschiffs basierte auf dem sogenannten Z-Raum, einem Zwischenkontinuum. Die AUGE DES PERIGOR beschleunigte normalerweise mit der KRAFT DER KLEINEN PERLEN bis auf die Hälfte der Lichtgeschwindigkeit. Naryavo hatte lange mit einem Bhalakiden in Verbindung gestanden, der sich Askuyan nannte und in einer 800 Millionen Lichtjahre entfernten Xaradim-Station residierte, die sich im Zentrum einer Galaxie befand, die den Namen PERIGORS HAND trug. Tatsächlich erinnerte die durch eine Galaxienkollision entstandene Form von PERIGORS HAND entfernt an eine siebenfingrige Hand und hatte daher ihren Namen erhalten. Außerdem hatte jener unbekannte Bhalakide, der dieser Galaxie ihren Namen aufprägte, offenbar eine Vorliebe für die Sagengestalten der bhalakidischen Mythologie und den Namen auf Perigor, einen der bekanntesten Helden aus jener Zeit, als die Bhalakiden noch vollkommen materiegebunden gewesen waren, bezogen. Eine Zeit, die im Bewusstsein von Naryavos Volk so fern war, dass sie nur noch in Sagen und Legenden existierte.

Der Bhalakide Askuyan jedenfalls hatte sich vorgenommen, die Natur jener KRAFT DER KLEINEN PERLEN zu erkunden, die die Raumschiffe der Bhalakiden im Unterlichtbereich antrieben.

Naryavo hatte lange mit ihm korrespondiert und ihn auch hin und wieder besucht, denn auch ihn hatte dieses Thema interessiert. Nicht so brennend stark wie Askuyan, der der ihr offenbar sein gesamtes Leben – oder wie die Bhalakiden es auszudrücken pflegten: das Existenzzeitquantum – gewidmet hatte. Aber immerhin stark genug, um die Xaradim-Stationen im Zentrum von PERIGORS HAND regelmäßig zu besuchen.

Solange das kosmische Transportnetz der Xaradim-Stationen einwandfrei funktionierte, war das keinerlei Problem gewesen. Wie weit eine Galaxie entfernt war, spielte für die Dauer des Transfers keine Rolle. Wichtig war nur, dass sich jenseits des Ereignishorizontes des zentralen Schwarzen Lochs eine Xaradim-Station befand.

Doch nach und nach waren die Verbindungen zwischen den Stationen abgebrochen.

Naryavo hatte die inzwischen von einem mysteriösen Aggressor eroberte Xaradim-Station im Zentrum der Milchstraße miterlebt – und vor Kurzem war er in der Andromeda-Station auf ähnliche Phänomene gestoßen. Das kosmische Netz, die Ewige Kette, war an mehreren Stellen bereits gerissen und so war es auch zu einem unfreiwilligen Abbruch des Kontakts zwischen Naryavo und Askuyan gekommen.

Als dieser seine Botschaften zunächst nicht beantwortet hatte, war in der Milchstraßen-Station noch alles in Ordnung gewesen. Naryavo nahm an, dass Askuyan vielleicht dermaßen mit seinen Forschungen beschäftigt war, dass ihm einfach nicht einmal mehr das kleinste Minimalzeitquantum blieb, um jemandem, der einen sehr interessierten Anteil an seiner Forschung nahm, eine Antwort zukommen zu lassen.

Erst die späteren Entwicklungen hatten Naryavo den Abbruch des Kontakts in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Die Station im Zentrum von PERIGORS HAND war vermutlich genauso von der Außenwelt und dem kosmischen Netz abgeschnitten worden, wie dies nun auch mit Andromeda und vermutlich vielen weiteren Galaxien geschehen war, deren Stationen einfach keine Signale mehr empfingen. Weder Transporte noch Informationsübertragung schienen von einem gewissen Stadium an noch möglich zu sein.

Askuyan war jedenfalls der Ansicht gewesen, dass die KRAFT DER KLEINEN PERLEN darauf beruhte, dass sich die bhalakidischen Raumschiffe an den Gravitationslinien entlangzogen, die sich ganz von selbst und den Gesetzen der Natur gehorchend gebildet hatten. Eine Struktur, die das gesamte Universum unsichtbar durchzog.

Naryavo wusste, dass man mit der KRAFT DER KLEINEN PERLEN durchaus auch noch weiter als bis zur halben Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnte. Aber ab diesem Wert begann sich der Effekt der Zeitdilatation auszuwirken. Ein Effekt, der den Betreffenden, selbst in einer derart stabilen, über Äonen hinweg existierenden Gesellschaft wie jene der Bhalakiden, seiner Zeit entreißen und in eine unbekannte Zukunft schleudern konnte.

Ein Bhalakide hatte daran normalerweise kein Interesse.

Zwar war der Eintritt in den Z-Raum, der auch das >Reich des Limbus< genannt wurde, umso leichter, desto höher die Geschwindigkeit war und das betreffende Schiff sich der Lichtgeschwindigkeit annäherte.

Aber da man bereits ab 0,5 LG unter der Voraussetzung, dass alle Systeme einwandfrei funktionierten, keinerlei Probleme beim Übertritt in das >Reich des Limbus< hatte, kam es kaum dazu, dass ein Bhalakiden-Schiff mit Hilfe der KRAFT DER KLEINEN PERLE den Wert von 0,5 LG überschritt. Die wenigen, die dies dennoch taten, hatten auch ihre Gründe dafür. Bei sehr wenigen war es vielleicht Forscherdrang, bei den anderen standen Schwierigkeiten im Existenzzeitquantum der Gegenwart dahinter, sodass sie die Flucht in ein fernes Zeitquantum antraten.

Der Zwischenraum war ein Kontinuum, dessen Verständnis sich dem Bhalakiden vollkommen entzog. Naryavo wusste, dass die Gesetze der Physik des Normalraums dort nur bedingt galten. Aber es war keineswegs ein höherdimensionales Kontinuum wie der Hyperraum, der vor allem von Spezies, die die Bhalakiden für vergleichsweise primitiv hielten, zum Überlichtflug durch Transition genutzt wurde.

Der Flug im Zwischenraum bedeutete nicht, dass das Bhalakiden-Schiff entmaterialisierte, wie es bei Transitionen jedweder Art der Fall war. Das goldene Schiff blieb lediglich in Form einer optischen Resonanz im Normalraum existent.

Ein Trugbild, das für Messungen von außen nicht vom tatsächlichen Schiff unterscheidbar war. Zwischen Normalraum und Limbus existierte offenbar nur eine sehr dünne „Trennwand“, die es ermöglichte, während des gesamten Z-Raum-Flugs den Normalraum des durchflogenen Gebietes ortungstechnisch zu erfassen.

Die AUGE DES PERIGOR hatte auf diese Weise zurzeit eine Existenzebene erreicht, die sie im Normalraum zu einem körperlosen Raumschiff machte, das in der Lage war, feste Materie zu durchdringen. Daher war das Schiff während des Z-Raum-Flugs so gut wie unangreifbar. Das galt allerdings nicht für die Unbilden des Zwischenraums, in dem es immer wieder zu Turbulenzen kam. Ausgelöst wurden diese Turbulenzen sehr häufig durch Verwerfungen im Netz der Gravitationslinien. Plötzliche Bewegung großer Massen konnte das bewirken.

Es galt unter Raumkommandanten der Bhalakiden als ungeschriebenes Gesetz, dass man in solchen Fällen den Energielevel des Z-Raum-Antriebs herunterschalten musste, da die Turbulenzen im Reich des Limbus ansonsten schwerwiegende Schäden am Schiff verursachen konnten. Sie brachten beispielsweise das Rechnersystem zum Kollaps – aus Gründen, über die wahrscheinlich kein einziger lebender Bhalakide wirklich Bescheid wusste.

Im günstigsten Fall wurden bei besonders heftigen Turbulenzen verschiedene Sicherheitsschalter aktiviert, die das betreffende Kugelschiff dann in den Normalraum zurückkehren ließen.

Aber wenn es zuvor zu einer plötzlichen Drosselung der Geschwindigkeit innerhalb des Z-Raums kam, war unter Umständen eine Rückkehr ins Normaluniversum unmöglich.

Der Rechner kollabierte und falls er sich nicht wiederherstellen ließ, drohte eine ewige Gefangenschaft im Zwischenraum. Hier und da waren solche Schiffe beobachtet worden. Sie irrlichterten als Geisterschiffe durch die Dunkelheit des Universums und hatten keinerlei materielle Substanz im Normalraum.

Eine Beschleunigung des Geisterschiffs im Zwischenraum aus eigener Kraft war in den meisten Fällen auf Grund des kollabierten und nicht wieder herstellbaren Rechnersystems unmöglich. Kein Bhalakide besaß das Wissen der >Erbauer<, das offenbar dazu nötig war, um es dann von Grund auf neu konfigurieren zu können.

Aber ein anderes Bhalakiden-Schiff konnte dem Geisterschiff auch nicht helfen. Eine Datenübertragung war zwar möglich, aber um die Mannschaft evakuieren zu können, hätte auch das Retterschiff seine Geschwindigkeit im Z-Raum mit dem Geisterschiff synchronisieren müssen, was bedeutet hätte, dass bei den Rettern ebenfalls die Rechnersysteme kollabiert wären.

Eine Reihe von Geisterschiffen war genau auf diese Weise entstanden.

Manche von ihnen flogen schon seit ewigen Zeiten durch das All. Ihre Besatzungen hatten ihr Existenzzeitquantum schon seit Langem verbraucht und befanden sich im Kontinuum der Nichtexistenz, wie Bhalakiden den Tod zu umschreiben pflegten.

Eines dieser Geisterschiffe wurde gerade vom Ortungssystem erfasst. Naryavo hatte sich mit den Sensoren in direkte energetische Verbindung begeben, sodass er einen ungehinderten Zugriff auf die eingehenden Daten hatte. Manchmal fragte er sich, ob die einfachen, ausschließlich Materie gebundenen Völker, auf die Naryavo während seiner zahllosen Reisen in weit entfernte Gebiete des Universums immer wieder gestoßen war, überhaupt dazu in der Lage waren, ohne eine energetische Teilentmaterialisierung einen vernünftigen Zugang zu den Rechnersystemen ihrer Schiffe oder anderen technischen Anlagen bekommen hatten.

<Aber sie haben ihre Technik häufig aus eigener Kraft entwickelt!<, meldete sich ein kritischer Kommentator, der irgendwo tief verborgen in seiner Seele lauerte und anscheinend nur darauf gewartet hatte, Naryavo mit einer kritischen Bemerkung einen Stich zu versetzen.

Einen Stich, der im Übrigen genau ins energetische Zentrum traf, wie die Bhalakiden das auszudrücken pflegten. >Ja, es stimmt. So primitiv diese zahllosen Spezies auch sein mögen und so wenig mich ihr Schicksal oder ihre Gewohnheiten in der Vergangenheit gekümmert haben – sie sind vielleicht doch in einer viel glücklicheren Lage als wir. Mühsam mussten sie sich ihre Technik erarbeiten. Aber gleichgültig wie uneffektiv das erst gewesen sein mag und wie unzulänglich ihre Technik dann schlussendlich trotzdem war – sie erreichten all dies aus eigener Kraft. Und vor allem verstanden sie auch in der Regel, was sie taten. Sie wussten, warum ihre einfachen Mechanismen funktionierten. Wir Bhalakiden hingegen nutzen die Früchte der Erbauer-Technologie und sind noch nicht einmal dazu in der Lage, das Rechnersystem zu rekonfigurieren, wenn es durch Z-Raum-Turbulenzen zum Kollaps gebracht wurde!<

Naryavo ließ einen weiteren Holoschirm entstehen. Darauf war das Geisterschiff nun deutlich zu sehen. Dass es sich um ein Geisterschiff und nicht etwa um ein normales weiteres Bhalakiden-Schiff handelte, war dadurch erwiesen, dass es soeben einen Gasriesen von fünffacher Jupitergröße durchflogen hatte, ohne dass sich dabei auch nur der kleinste messbare Effekt gezeigt hätte.

Und für ein Schiff im regulären Z-Raum-Flug war es schlicht und ergreifend zu langsam.

Die Geschwindigkeit betrug gerade einmal 0,0132 LG.

So etwas kam nur bei Geisterschiffen vor.

Darüber hinaus war das automatische Identifizierungssignal, das von dem Schiff ausgesandt wurde, durch Z-Raum-Interferenzen stark verzerrt und viele Äonzeitquanten alt.

Melancholische Gedanken bemächtigten sich Naryavos Bewusstsein, während er die Daten über das Geisterschiff in sich aufnahm.

Es erschien ihm wie ein Sinnbild gescheiterter Existenz.

Weggeworfenes Leben, vergeudet aus Unachtsamkeit und der Unfähigkeit, die Systeme der goldenen Schiffe wirklich vollkommen verstehen und nicht nur benutzen zu können.

„Es ist tatsächlich ein Geisterschiff. Die letzten Daten liefern dafür die endgültige Bestätigung!“, meldete jener Bhalakide, der im Augenblick sein Dienstzeitquantum als Ortungsoffizier in der Zentrale der AUGE DES PERIGOR ableistete.

„Ja, ich weiß“, sagte Naryavo.

„Wir können ihnen nicht helfen. Ihr ID-Signal ist darüber hinaus bereits mehrere Äonzeitquanten alt“, erklärte der Ortungsoffizier.

„Auch das ist mir bekannt.“

„Offenbar geschahen auch in jener Vergangenheit, in der dieses Geisterschiff auf seine unglückselige Reise ging, Fehler Einzelner, die sich auf diese tragische Weise auswirkten ...“

„Nein“, sagte Naryavo. „Mit >Fehlern Einzelner< hat das nur bedingt etwas zu tun.“

„Womit dann?“, fragte der Steuermann. „Hast du eine bessere Erklärung, Naryavo?“

Die Antwort auf diese Frage blieb Naryavo schuldig.

In diesem Augenblick öffnete sich eine der unsichtbaren in die Wände eingelassenen Zugangstüren zur Zentrale der AUGE DES PERIGOR.

Josephine trat ein.

Die Brücke gehörte zu den Sektoren des Schiffs, die durch Korridore miteinander verbunden waren. Das galt allerdings längst nicht für alle Bereiche. Teile des Schiffs waren daher nur für Bhalakiden zugänglich, die einfach in ihre energetische Form wechselten, dabei eine Wand durchdrangen und sich am gewünschten Ort befanden. Für ein rein körperlich existierendes Wesen wie Josephine war die AUGE DES PERIGOR einfach nicht gemacht.

Josephines Blick fiel unweigerlich auf die Holoprojektion des Geisterschiffs.

Sie zog die Stirnmuskulatur zusammen, wodurch sich die länglichen Tattoos, die sie anstelle von Augenbrauen trug, zu Schlangenlinien kräuselten und über ihrer Nase eine tiefe Furche auf der ansonsten glatten Stirn erschien.

„Ich wusste nicht, dass wir noch ein anderes Ziel ansteuern oder uns mit jemandem treffen“, stellte sie fest.

„Das tun wir auch nicht“, erwiderte Naryavo. „Was du siehst ist nichts als ein Echo aus ferner Vergangenheit.“

„So?“

In knappen Worten versuchte Naryavo Josephine zu erklären, was es mit den Geisterschiffen auf sich hatte.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich wusste nicht, dass der Flug mit euren Schiffen derart gefährlich ist ...“

„Das ist es eigentlich nicht“, erwiderte Naryavo. „Der Fehler liegt nicht bei den Schiffen, sondern bei uns. Wenn unsere Fähigkeiten größer wären, hätte man die Geisterschiffe vermeiden können. Aber letztlich sind und bleiben wir die Nachfahren des armen Perigor ...“

„Perigor?“, echote Josephine und zuckte anschließend mit den Schultern. „Das kommt in der Bezeichnung deines Schiffs vor.“

„Ja, das stimmt ...“, bestätigter Naryavo mit ausdruckslosem Gesicht.

„Ist Perigor der Name eines großen Bhalakiden aus der Vergangenheit?“

„Ja, das könnte man sagen“, sagte Naryavo. „Allerdings ist Perigor nicht nur >irgendein< Held unserer Mythen. Er ist die Verkörperung unseres Ursprungs, auch wenn wir natürlich wissen, dass die Schilderungen über ihn wahrscheinlich reine Erfindung sind. Aber dass der Wert solcher Mythen auf einer übertragenen Ebene liegt, brauche ich dir ja wohl nicht zu sagen, Josephine.“

>Eigenartig<, dachte Josephine. >Die Erwähnung dieses ‚Perigor’ scheint irgendetwas ihn ihm ausgelöst zu haben.<

*

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Anders als sonst schien der Kommandant des goldenen Kugelschiffs im Moment alles andere als redselig zu sein. Er machte auf Josephine den Eindruck, in Gedanken versunken zu sein, auch wenn seinem Gesicht nicht das Geringste anzumerken war.

„Wer war dieser Perigor, nach dem dieses Schiff benannt wurde?“, fragte Josephine und dachte dabei: >Wenn Naryavo nichts dabei findet, mich mit seinen Gesprächswünschen zu überfallen, ohne dass es ihn dabei interessiert, ob mein Wunsch nach Kommunikation ebenso groß ist wie der seine, so brauche ich wohl auch kein schlechtes Gewissen dabei haben, ihm Löcher in den Bauch zu fragen, wenn mir danach ist ...<

Zunächst schwieg Naryavo.

Josephine dachte schon, dass er das angesprochene Thema aus irgendeinem ihr nicht weiter nachvollziehbaren Grund zu vermeiden versuchte und deswegen einfach schwieg, wie es ansonsten auch seine Art war.

Aber das war nicht der Fall.

Er schien einfach nur einen Augenblick gebraucht zu haben, in dem er sein Inneres geordnet hatte.

Ein Ruck ging durch seinen grazilen Körper. Er wandte Josephine den Kopf zu und sah ihr direkt in die Augen.

„Das Schiff trug früher einen anderen Namen“, erklärte Naryavo. „Ich habe ihn geändert. AUGE DES PERIGOR – das passt sehr gut zu den Zielen, die ich mir gesetzt habe.“ Erstaunlicherweise machte Naryavo jetzt etwas, was Josephine zuvor nur äußerst selten bei einem Bhalakiden gesehen hatte: Eine Geste. Er deutete auf die Holodarstellung des Geisterschiffs, das gerade ein Asteroidenfeld durchflog, ohne dass es dabei zu einer Kollision kam. Es schwebte einfach durch die ungezählten Gesteinsbrocken hindurch, die seinen Weg kreuzten. >Wie eine holographische Projektion<, dachte Josephine. >Ein Schiff, dass hart an der Grenze zu unserer Realitätsebene entlangschrammt, ohne die unsichtbare Linie je wieder überschreiten zu können ...<

„Perigor ist eine bhalakidische Sagengestalt aus jener Zeit, da unser Volk noch vollkommen materieller Natur war und wir noch nicht über die Fähigkeit verfügten, uns in Energie zu verwandeln“, berichtete Naryavo. „Er war ein Bhalakide, dessen Existenzzeitquantum gerade begonnen hatte, das übrigens in jener Zeit noch viel knapper bemessen war, als es bei heute existierenden Bhalakiden der Fall ist. Perigor lebte in einer Galaxie, die unter der Bezeichnung >Insel im Nichts< in die Mythologie unseres Volkes eingegangen ist. Niemand weiß, ob die >Insel im Nichts< oder Perigor je existiert haben. Wir wissen nicht einmal, ob es tatsächlich jemals ein unerleuchtetes Zeitalter gab, in dem wir nicht den Erbauern der Xaradim-Stationen dienten, sondern ein auf uns selbst gestelltes, autonomes Leben führten. Es ist gut möglich, dass wir in Wahrheit von den Erbauern geschaffen und gezielt herangezüchtet wurden, bis wir optimal an unsere Aufgaben angepasst waren. Aber so weit reicht die Erinnerung meiner Spezies nicht. Die Geschichte von Perigor spielt in jenem Äonzeitquantum, in dem sich alles miteinander verbindet und alles verliert: Wahrheit und Dichtung, Vergangenheit und der Wunsch nach einer Zukunft ...“

„Erzähle mir mehr von Perigor“, hakte Josephine nach. Anstatt wochenlang nur darauf zu warten, dass das Schiff endlich die heimatliche Milchstraße erreichte und sie sich dort umsehen und die neue Lage peilen konnte, war es doch besser, etwas über die Kultur und Geschichte dieses seltsamen Volkes zu erfahren, dessen Fähigkeiten trotz Naryavos Geringschätzung für die Leistungen seiner Spezies, denen jedes Menschen ungeheuer weit überlegen waren.

„Perigor hatte ein Raumschiff, das er die SUCHENDE nannte“, fuhr Naryavo fort.

„Ein poetischer Name“, meinte Josephine.

„Vielleicht ist es ja auch nur Teil einer poetischen Erzählung und nicht der realen Geschichte“, gab Naryavo zu bedenken. „Den größten Teil jener Galaxie, die die Bhalakiden die >Insel im Nichts< nannten, war bereits von Perigors Volk erobert und besiedelt worden. Aber eine wabenförmige, irreguläre Zwerggalaxie die die >Insel im Nichts< umkreiste, war noch unerforscht.

Perigor brach dorthin auf, obwohl die Oberen seines Volkes, die Inselweisesten, es ihm verboten hatten. Perigor jedoch stellte - gegen alle Tradition und jedes Tabu - die Weisheit seiner selbst über die Weisheit der Inselweisesten und brach auf. Ohne Zwischenfälle reiste er mit Hilfe der SUCHENDEN – bei der es sich keineswegs um einen perlenförmigen Raumer, wie er heute bei den Bhalakiden Gang und Gäbe ist, handelte, sondern um ein kreuzförmiges und sehr langes Schiff, das konzipiert war, um dauerhaft darauf zu leben. Zumindest wird das in der Überlieferung so berichtet.

In der Zwerggalaxie, die unter Bezeichnung >die Geheimnisvolle< bekannt war, da es in ihrem Inneren sehr große Ortungsschatten unbekannter Ursache gab, traf Perigor auf eine Spezies, die in der Überlieferung als >die Baumeister< bezeichnet werden. Sie waren die Ursache der Ortungsschatten, denn sie verfügten über einmalige Fähigkeiten, sich zu tarnen und abzuschirmen. Ihre Wissenschaft und Technik war jener der Bhalakiden weit voraus. Selbst in vielen Äonzeitquanten hätten die Bhalakiden diesen Wissensstand nicht erreichen können. Perigor war beeindruckt und die >Baumeister< machten ihm einen Vorschlag. Sie wollten ihm all ihr Wissen zugänglich machen, wenn er dafür bereit wäre, ihnen bedingungslos zu dienen.“

„Klingt nach einem Angebot, von dem man besser die Finger lassen sollte“, meinte Josephine.

Naryavo wandte den Kopf in ihre Richtung. Er musterte sie mit regungslosem Gesicht, dessen Züge so weich und unkonturiert waren, dass man sich schwer vorstellen konnte, wie dieses androgyne Wesen überhaupt je zu einem regelrechten Zornesausbruch fähig gewesen wäre.

„Perigor sah dies der Überlieferung nach vollkommen anders“, sagte Naryavo. „Er war viel zu fasziniert von den technischen Errungenschaften und Wundern, die er bei den >Baumeistern< kennenlernte, um ihr Angebot abzulehnen. So übergaben die Baumeister ihm einen Gegenstand, der wie ein übergroßes Juwel aussah. Sie nannten es das >Auge des Wissens< und implantierten es ihm am Kopf – genau in die Mitte der Stirn. Aber sie verbanden noch eine weitere Bedingung mit dieser Gabe: Perigor durfte sein Wissen nicht ohne Erlaubnis der >Baumeister< mit anderen teilen.“

„Solche Geschichten haben es an sich, dass diese Bedingung nicht eingehalten wird“, sagte Josephine. „Ich nehme an, bei Perigor war das auch so!“

„Er kehrte zur >Insel im Nichts< zurück“, berichtete Naryavo. „Die >Baumeister< hatten ihn mit dem Auftrag in seine alte Heimat zurückgeschickt, weitere Bhalakiden zu rekrutieren, die würdig waren, ebenfalls mit >Augen des Wissens< ausgestattet zu werden und den Baumeistern zu dienen. Nur die Besten der Besten sollten dafür in Frage kommen. Insbesondere brauchten die >Baumeister< Wartungspersonal für ihre wichtigsten Bauwerke – die >Perlen am Rand der ewigen Finsternis< oder auch Xaradim-Stationen genannt. Die Knotenpunkte ihres kosmischen Transportnetzes mussten ständig bemannt sein. Die Zahl der >Baumeister< hingegen war dazu einfach nicht groß genug. Perigor erfüllte seine Aufgabe, indem er den >Baumeistern< viele der Besten unter den Bhalakiden zuführte, die bereit waren, ihre Selbstständigkeit und Autonomie gegen die Teilhabe am unermesslichen Wissen dieser geheimnisvollen Wesen zu erkaufen, die sich selbst als >Baumeister des Kosmos< betrachteten.

Aber Perigor tat noch etwas anderes. Er stellte sein Wissen dem Inselweisesten zur Verfügung. Und diesen drängte sich natürlich sofort die Frage auf: Warum sollen die Besten unter uns den >Baumeistern< dienen, wo wir doch über Perigor eine Möglichkeit haben, uns dasselbe Wissen zunutze zu machen, das die >Baumeister< in vielen Äonzeitquanten gesammelt hatten?

Und so machte der Inselweiseste Perigor - ebenso wie es die >Baumeister< getan hatten - ein Angebot, das so verlockend war, dass der Held dieser alten Sage es nicht abzulehnen vermochte. Der Inselweiseste sagte: ‚Hilf mir, durch das Wissen der >Baumeister< ein mächtiges Bhalakiden-Reich aufzubauen. Du wirst großen Einfluss bekommen und an meiner Seite über diese Reich herrschen. Bald, so wirst du sehen, hat unser Reich die Macht der >Baumeister< in den Schatten gestellt und wir können ihre Stationen am Rand der ewigen Finsternis eine nach der anderen erobern und selbst übernehmen.’

Perigor war von diesem Vorschlag sehr angetan und versprach, dem Inselweisesten zu helfen. Aber die >Baumeister< erfuhren von den Plänen, die der Inselweiseste und seine Getreuen geschmiedet hatten und die letztlich darauf hinausliefen, zur stärksten Macht im bekannten Universum zu werden. Doch die >Baumeister< waren keineswegs bereit, tatenlos zuzusehen, wie jemand sie auf diese Weise so schändlich hintergehen konnte. Sie schickten die Nashkandoo – das bedeutet in der Sprache der Altvorderen so viel wie >die Brutalen< oder >die Rücksichtslosen<. Die Nashkandoo waren den >Baumeistern< so ergeben, wie es die Bhalakiden hätten sein sollen. Ein blutiger Rachefeldzug wurde begonnen. Perigor geriet in Gefangenschaft der Nashkandoo. Ihm wurde das Auge des Wissens wieder entfernt. Die >Baumeister< bestraften die Bhalakiden damit, dass bis zum Ablauf des nächsten Äonzeitquantums kein Bhalakide die Ehre haben würde, den >Baumeistern< zu dienen, geschweige denn, an ihrem Wissen teilzuhaben. Stattdessen wurden von ihnen nun die Nashkandoo privilegiert.“

„Was geschah mit Perigor?“, erkundigte sich Josephine.

„Er wurde in das Stadium der Nicht-Existenz versetzt, so wie es dem Gesetz der >Baumeister< entsprach, die Perigors Tat als so schwerwiegend ansahen, dass sie eigentlich nicht zu sühnen war. Dem Inselweisesten hätte das Gleiche gedroht, sofern sie erkannt hätten, welch entscheidende Rolle er bei der Sache gespielt hatte. Doch das war offenbar nicht der Fall. So überlegen die >Baumeister< in anderer Hinsicht auch gewesen sein mochten, der Inselweiseste schaffte es trotz all seiner erwiesenen Falschheit, die >Baumeister< doch wieder auf seine Seite zu bekommen. Er bot an, den >Baumeistern< auch ohne den Transfer von Wissen zu dienen. Und das ist leider der Zustand, der bis heute anhält. Wir sind in der Lage, die Xaradim-Stationen oder die goldenen Raumschiffe zu bedienen. Aber schon die Fertigung des kleinsten Ersatzteils würde unsere technischen Fähigkeiten übersteigen.“

Josephine begann jetzt die Namensgebung für das Schiff des Bhalakiden zu verstehen.

„Dann bist du jetzt ausgezogen, um das verlorene Wissen Perigors zurückzugewinnen.“

„Auf welche Weise das auch immer geschehen mag – ja. Wir haben auch gar keine andere Wahl, als endlich in diese Bereiche der Erkenntnis vorzudringen. Und was diese Geschichte angeht ... Vielleicht ist sie nur ein Vehikel, um den Bhalakiden zu erklären, weshalb sie sich auf dem hohen Stand ihrer Fähigkeiten für mindestens ein halbes Äonzeitquantum zur Ruhe gesetzt und die Dinge sich selbst überließen!“

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2. Kapitel: Der schwärzeste Punkt in der Dunkelheit

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„Sie ist ein Mensch“, sagte Naryavo.

„Du sagst das so, als würde das etwas entschuldigen“, gab Dbaskuyan zurück. Er war einer der Steuermänner an Bord der AUGE DES PERIGOR und genoss Naryavos vollkommenes Vertrauen. Die energetischen Divergenzen waren kaum messbar.

Die beiden Bhalakiden waren soeben in jenem Raum materialisiert, in dem die ritualisierte Energieaufnahme stattfand. Überall saßen Bhalakiden in Schalensitzen unter trichterförmigen Apparaturen.

„Die Menschenfrau mag ihre Unzulänglichkeiten haben“, gestand Naryavo zu. „Unzulänglichkeiten, die so typisch sind für materiell gebundene Lebensformen, wie du sehr wohl weißt.“

„Unzulänglichkeiten, die man ihr deswegen nicht zum Vorwurf machen kann?“, fragte Dbaskuyan

„Darüber bin ich mir nicht schlüssig“, bekannte Naryavo. „Jedenfalls ist es interessant, ihren Standpunkt zu verschiedenen Dingen zu erfahren. Es kann erfrischend sein, auf diese Weise eine andere Perspektive zu bekommen. Ist das wirklich so schwer vorstellbar?“

„Ich weiß nicht. Die Frage ist doch immer, ob eine bestimmte Perspektive auch eine Relevanz für die eigene Erkenntnis hat“, fand Dbaskuyan. „Ich glaube nicht, dass es wirklich sinnvoll ist, die Gedanken irgendwelcher primitiven Lebensformen kennenzulernen, zumal sich in diesem Fall noch als besonderes Hindernis erweist, dass die Kommunikation nur auf akustisch-verbaler Ebene möglich ist und nicht durch einen direkten Austausch auf energetischer Ebene, der um so vieles schneller durchzuführen ist.“

Die beiden Bhalakiden setzten sich auf freie Schalensitze, über denen jeweils die trichterförmigen Vorrichtungen zur Energieaufnahme hingen.

„Ich habe gehört, dass diese Menschenfrau tatsächlich auf Nährstoff basierte Energielieferanten angewiesen ist“, sagte Dbaskuyan, während er durch einen leichten energetischen Impuls dafür gesorgt hatte, dass sich der Trichter auf seinen Kopf herabsenkte.

Das Ritual der Energieaufnahme war eines der wichtigsten sozialen Ereignisse im Leben der Bhalakiden. Es diente auch als Anlass zur Kommunikation. Oft wurden in den Energieaufnahmeräumen auch Besprechungen durchgeführt, während alle Teilnehmer gemeinsam den energetischen Transfer durchführten.

„Du hast richtig gehört, was die Nährstoff basierte Energieaufnahme der Menschenfrau angeht“, bestätigte Naryavo zum blanken Erstaunen seines Gesprächspartners. „Diese Art der Ernährung mag uns in unserem heutigen Stadium exotisch vorkommen, aber Tatsache ist, dass sie im gesamten Universum sehr verbreitet ist und auch unsere Vorfahren ...“

„Sprich es nicht aus, Naryavo! Es ist so ekelhaft, dass einem der Energiehunger vergehen kann!“, meldete sich einer anderen Bhalakiden zu Wort. Sein Name war Retoyan.

„Es war aber so!“, verteidigte sich Naryavo – nicht ohne eine gewisse Freude an Ekel und Schauder des anderen.

„Wie auch immer – solche Themen bitte nicht bei Transfer!“, beharrte Retoyan, der für sein Festhalten an traditionellen Umgangsformen bekannt war.

„Ich wusste nicht, dass du so zart besaitet bist, Retoyan!“, spottete Naryavo.

Einige mental-energetische Entladungen umflorten Dbaskuyan. Aber da sie nicht feindselig waren, glaubte Naryavo die Grenzen des Humors nicht wirklich überschritten zu haben.

Der Kommandant und Schiffsweiseste der AUGE DES PERIGOR wandte sich erneut Dbaskuyan zu, um den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.

„Hör zu, ich möchte dir mal ...“

„Ja, zu Perigors Zeiten haben unsere Vorfahren vielleicht auch Nährstoffe aufgenommen und biochemisch umgewandelt, anstatt an einem direkten Energietransfer teilzunehmen“, fiel Dbaskuyan dem Kommandanten des Schiffs ins Wort, was in der bhalakidischen Kultur durchaus nicht als Autoritätsverletzung des Vorgesetzten angesehen wurde. Das freie Wort, der freie Gedanke galt viel unter den Bhalakiden und die Autoritätsverhältnisse beschränkten sich streng auf jene Bereiche, die von dienstlichen Belangen geprägt waren. Ansonsten stand niemanden ein besonderer, über das normale Maß hinausgehender Respekt oder gar unverhältnismäßige Ehrerbietung zu. Weder dem Kommandanten eines Raumschiffs noch dem Stationsweisesten einer Xaradim-Station. Die Gleichberechtigung aller hatte eine lange Tradition bei den Bhalakiden. Letztlich ging sie bis auf die legendäre Zeit Perigors zurück, als die Bhalakiden der Sage nach noch ein ganz normales, materiell gebundenes Volk gewesen waren, das die so genannte >Insel im Nichts< besiedelt hatte. Selbst der Inselweiseste hatte in jener mythischen Zeit keinerlei Privilegien gehabt. Seine Autorität war ausschließlich durch die Aufgabe bestimmt gewesen, die er zu erfüllen gehabt hatte und für die nach Möglichkeit immer der Fähigste gewählt worden war. „Wie hat sich das Schiff technisch darauf einstellen können, für die Menschenfrau regelmäßig Nährstoffe herzustellen?“, fragte Dbaskuyan.

„Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis“, gestand Naryavo. „Kambesyan hat die Kalibrierung des Teilsystems vorgenommen. Die Menschenfrau äußerte allerdings ein wenig Kritik, was die geschmacklichen Qualitäten der für sie nach bestem biochemischen Wissen kreierten Lebensmittel angeht.“

„Geschmack ...“, echote Dbaskuyan. „Ich habe immer gedacht, so etwas gäbe es nur in diesen Geschichten um Perigor ...“

„Wie passend, dass unser Schiff seinen Namen trägt!“, mischte sich Retoyan erneut ein.

„Wofür du maßgeblich die Verantwortung trägst, Naryavo“, gab Dbaskuyan zu bedenken. „Du weißt, dass ich für eine andere Namenswahl gewesen wäre ...“

„Ja, ich erinnere mich ...“, bestätigte Naryavo.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738917666
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Schlagworte
galaxienwanderer mission schwarzes loch

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Galaxienwanderer - Mission Schwarzes Loch