Zusammenfassung
Der Umfang dieses Buchs entspricht 815 Taschenbuchseiten.
Fünf fantastische Abenteuer in einem Buch! Die Geschichte von Sindbads letzter Reise. Die Geschichte von dem Jungen der Comics zeichnet und plötzlich in die Stadt seiner Helden verschlagen wird. Und die Geschichten um den Abenteurer Logan und das sagenhafte Sarangkôr.
Dieses Buch enthält folgende fünf Romane:
Sindbads längste Reise
Stadt der Helden
Logan und das Schiff der Ktoor
Logan und die Stadt im Dschungel
Logan und das Weltentor
Cover: Steve Mayer
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Welten der Fantasy
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 815 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende fünf Romane:
Sindbads längste Reise
Stadt der Helden
Band 1: Logan und das Schiff der Ktoor
Band 2: Logan und die Stadt im Dschungel
Band 3: Logan und das Weltentor
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch
© by Author
© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Sindbads längste Reise
Sindbad der Seefahrer ist in Wahrheit ein Lügner, seine Geschichten Erfindungen. Doch da alle Welt sie für wahre Begebenheiten hält, bleibt ihm nichts anderes übrig, als für den kranken Kalifen nach dem Ei des Riesenvogels Rok zu suchen... Eine abenteuerliche Odyssee durch das frühmittelalterliche Asien und Ozeanien, die über das blühende Angkor Wat in das zu dieser Zeit von den riesenhaften Moas besiedelte, menschenleere Neuseeland führt, wo Sindbad seine Mission wider Erwarten doch noch erfüllen kann.
PROLOG
Diese Geschichte spielt um das Jahr 1000 nach Christus. Während Köln, als die damals größte Stadt Deutschlands, gerade einmal 10.000 Menschen zählte, erblühten in Bagdad und Angkor Großstädte, deren Einwohnerzahlen heute auf 500.000 – 1 Million geschätzt werden. In Bagdad regierten die Kalifen ein Reich, dessen Seefahrer bis nach Indien und Afrika segelten. Der Süden Indiens und ein Großteil Indonesiens wurde vom mächtigen Chola-Reich beherrscht, dessen Händler-Gilden durch den Gewürzhandel unermesslich reich wurden. Und die Herrscher des Khmer-Reichs in Kambodscha ließen in Angkor die größte je von Menschen errichtete Tempelanlage errichten.
Es gab durch Seefahrer immer wieder sporadische Kontakte zwischen Südasien und Australien – lange bevor James Cook und die Europäer diese Gewässer erreichten. Ein Beweis dafür sind die „Dingo“ genannten australischen Wüstenhunde, die auf diese Weise Australien erreicht haben müssen.
Neuseeland war zu dieser Zeit nur von einer urzeitlichen Tierwelt besiedelt, die überall sonst längst ausgestorben war. Vögel stellten hier die beherrschenden Arten, riesenhafte Adler kämpften mit elefantengroßen, heute als „Moa“ bekannten Laufvögeln. Erst dreihundert Jahre später erreichten polynesische Seefahrer (die Vorfahren der Maori) die Insel und rotteten diese Tierwelt nahezu vollständig aus.
DIE DREI SINDBADS
„Beim Allmächtigen und Barmherzigen! Bitte erzähl sie mir nochmal, großer Sindbad“, stieß der Junge hervor, der mit glühenden Ohren den Worten des größten Seefahrers aller Zeiten gelauscht hatte. „Ich bitte dich! Erzähl mir noch einmal, wie man dich auf einer einsamen Insel zurückließ und du dem Riesenvogel Rock begegnet bist.“
Sie saßen in der Nähe des Flussufers, wo sich die Anlegestellen und Kaimauern befanden und sich ein wahrer Wald von Schiffsmasten und Segeln erhob. Unzählige Schiffe legten täglich im Hafen von Bagdad an, dieser größten und prächtigsten Stadt der Welt. Sie segelten den Fluss hinauf und brachten Waren aus aller Herren Länder in die Stadt des Kalifen. Nachdem sie dann ihre Ladung gelöscht hatten und erneut beladen worden waren, fuhren sie flussabwärts, zuerst bis Basra und schließlich zum Schat al-Arab, wo der Strom in den Persischen Golf mündete. Sehnsuchtsvoll blickte Sindbad der Seefahrer einem der Schiffe nach, das sich gerade auf den Weg stromabwärts machte. Er seufzte und trank seinen Tee. Oft genug war er selbst stromabwärts gesegelt. Oft genug hatte er den Schat al-Arab passiert und das Meer erreicht. Oft genug war er auch bis zu den Küsten der Insel Al-Bahrain gesegelt, wo es einen großen Hafen gab, auf dem mit edlen Gewürzen gehandelt wurde. Doch jetzt saß er zumeist am Hafen und erzählte für ein paar Münzen seine Geschichten. Es war schon länger her, dass er zuletzt an Bord eines Schiffes stromabwärts gefahren war.
„Ja, ja, der Vogel Rock...“, murmelte Sindbad auf die Frage des Jungen hin.
Der Junge war ungefähr dreizehn Jahre. Er hieß auch Sindbad und war der Sohn von Sindbad dem Lastenträger, der zu den eifrigsten Zuhörern jener Geschichten gehörte, die Sindbad der Seefahrer am Hafen zum besten gab. Auch nun saß der hagere Lastenträger nach getaner Arbeit mit verschränkten Beinen da und hatte schon die ganze Zeit über den erstaunlichen Berichten seines Namensvetters gelauscht. Und Sindbad der Sohn – normalerweise von allen nur 'Sin' genannt – saß neben ihm. Sein Vater gab ihm einen leichten Stoß. „Sei nicht so unverschämt und freue dich darüber, dass du hier überhaupt zuhören darfst! Denn manche der Geschichten, die der Weltläufigste unter allen Seefahrern, der Mutigste und Kühnste unter allen, die Allah dazu bestimmt hat, sich auf das Meer hinauszubegeben und der Kraft der Winde zu vertrauen, sind ganz und gar nicht für die Ohren eines Dreizehnjährigen bestimmt!“
„Nun übertreibe aber nicht, mein Namensvetter“, sagte Sindbad der Seefahrer mit einem deutlich tadelnden Unterton. „Und vielleicht erinnerst du dich daran, wie du selbst warst, als du dreizehn warst und welcher Art von Geschichten du gelauscht hast!“
„Herr, ich bin ein einfacher Mann“, sagte Sindbad der Lastenträger. „Ich habe nie lesen und schreiben oder ein Handwerk gelernt, geschweige denn sonst etwas, das nützlich sein könnte. Ich habe nur die Kraft meiner Arme, die ich verkaufen kann und bei Allah, als ich dreizehn war, war ich bereits das, was ich heute immer noch bin – ein Lastenträger. Und um einem Geschichtenerzähler zuzuhören hatte ich damals nie die Zeit.“
„So solltest du froh sein, dass es deinem Sohn zumindest in dieser Hinsicht besser ergeht, als es bei dir der Fall war“, gab Sindbad der Seefahrer zurück.
„Erzähl mir mehr vom Vogel Rock, großer Sindbad!“, forderte Sin unterdessen noch einmal. „Als du die Geschichte das letzte Mal erzählt hast, bin ich erst eingetroffen, als der Riesenvogel dich bereits in ein Tal voll Diamanten und Schlangen getragen hatte!“
„Ich erzähle diese Geschichte nicht gern“, behauptete Sindbad der Seefahrer. „Und sie ist auch sicherlich für die Ohren vieler viel zu schrecklich und aufregend... Und mir selbst verursacht dieses Erlebnis bis heute die schlimmsten Albträume! Davon abgesehen weiß ich nicht, ob meine Schilderungen von einem Tal voller Diamanten nicht vielleicht den einen oder anderen Zuhörer von dem rechten Weg abbringen, den Allah für ihn vorgesehen hat, in dem meine Worte eine verwerfliche Gier in ihm wecken!“
„Aber da ich schon einen Teil der Geschichte kenne, platze ich vor Neugier“, wandte der Junge ein. „Denn das Ende habe ich auch nicht fahren, weil ich von meiner Mutter gerufen wurde, als du es zuletzt erzählt hast.“
Inzwischen drängten sich immer mehr Menschen um die drei, die alle den Namen Sindbad trugen.
Einer von ihnen war gekleidet wie die reichen Kaufleute aus Persien, die sehr zahlreich in der Stadt waren. Er warf Sindbad dem Seefahrer eine Silbermünze zu und sagte: „Tue dem Jungen den Gefallen und erzähle die Geschichte vom Vogel Rock!“
„Nun, ich habe sie schon so oft erzählt...“, begann sich Sindbad der Seefahrer etwas zu zieren. „Und auch wenn mein Namensvetter Sin, der Sohn von Sindbad dem einfachen, aber ehrenwerten Lastenträger, vielleicht das Pech hatte, einige Teile davon bisher stets zu versäumen...“
Eine zweite Münze landete vor den überkreuzten Beinen des berühmtesten aller Seefahrer in Bagdad. „Erzähl schon! Du hast mich neugierig gemacht!“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich und es landeten alsbald noch ein gutes Dutzend weiterer Münzen mehr oder minder genau vor den Füßen des Mannes, von dessen Reisen inzwischen schon überall in der großen Stadt gesprochen wurde und dessen Geschichten sich in Dutzenden von Abwandlungen in den Straßen Bagdads verbreitet hatten.
„Ich möchte die richtige Version hören“, meldete sich einer der anderen Männer zu Wort, die bei den drei Sindbads stehen geblieben waren. Er war noch jünger als der Kaufmann und sein gelocktes Haar schaute seitlich unter seinem Turban hervor. „Nicht eine der vielen ausgeschmückten Fassungen, die man sich in den Basaren erzählt, sondern nur die Wahrheit!“
„Wer außer Allah könnte sagen, was die Wahrheit ist“, erwiderte Sindbad der Seefahrer. „Du brauchst nur die Stadt zu verlassen und eine Tagesreise von hier fort zu ziehen, dann bist du in einer Wüste, in der die Luft flimmert und dir Dinge erscheinen, von denen du weißt, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen können, die du aber trotzdem vor dir siehst! Wie viele Wüstenwanderer sind schon jämmerlich verdurstet, weil sie plötzlich ein Gewässer im Horizont zu erblicken glaubten, das nichts weiter als eine Vorspiegelung des Shaitans oder das Trugbild eines Dschinns war!“
„Von der Wahrheit Allahs hören wir in der Moschee – jetzt aber wollen wir die Wahrheit über deine Reisen und den Vogel Rock hören“, beharrte der junge Mann und das zustimmende Geraune, das sich daraufhin erhob, ließ es Sindbad dem Seefahrer ratsam erscheinen, seine Zuhörer nicht länger auf die Folter zu spannen.
Bevor er jedoch zu erzählen begann, hob er zunächst die Münzen sorgfältig vom Boden auf, zählte und begutachtete sie kurz der Reihe nach und steckte sie dann ein. „Wer mir schon des öfteren zugehört hat, wird sich gewiss noch daran erinnern“, so begann Sindbad schließlich, während es unter den Zuhörern nun vollkommen still wurde. So still, dass man genau hören konnte, was die Männer auf einer kleinen, überladenen Dau miteinander redeten, die gerade anlegte.
„Während meiner zweiten Reise“, so begann Sindbad, „wurde ich irrtümlich auf einer Insel zurückgelassen. Mein Schiff war längst wieder auf hoher See und ich blieb allein auf diesem von Allah vergessenen Flecken Erde zurück, das mitten in dem unendlichen Ozean gelegen war. Eigentlich waren wir dort nur vor Anker gegangen, um frisches Wasser zu holen, denn unser Wasser war verdorben und anders als die ungläubigen Nordmänner, die Met anstatt Wasser auf ihre Seereisen mitnehmen, ist es guten Muslimen untersagt, ihr Getränke durch den Alkohol haltbar zu machen. So hatte unsere Mannschaft schon tagelang Durst gelitten und vielleicht ist es diesem Umstand zu verdanken, dass man nicht bemerkte, dass ich noch auf der Insel zurückgeblieben war, während das Schiff bereits in See stach!“
„Was ist mit dem Vogel Rock?“, fragte der Kaufmann. „Spar dir die erzählerischen Girlanden und spann mich nicht noch mehr auf die Folter, Geschichtenerzähler!“
„Oh, erstens: Ist das nicht die Aufgabe eines guten Geschichtenerzählers?“, gab Sindbad der Seefahrer zurück, während Sindbad der Lastenträger die Augen verdrehte, so als würde er diese Ausrede bereits zu Genüge kennen. „Sollte ein Erzähler nicht den Zuhörer so sehr mit Ungewissheit über den Ausgang seiner Erzählung quälen, dass dieser am Ende glaubt, er müsste schier platzen, wenn er nicht auf der Stelle erführe, wie es dem Helden der Geschichte ergeht? Und kann dies der Erzählte nicht nur dadurch erreichen, dass er die wichtigsten Teile seiner Erzählung bis zum Schluss zurückhält?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, erwiderte der Kaufmann etwas missmutig. „Ich würde nur einfach gerne ohne Umschweife etwas mehr über den legendären Vogel Rock erfahren – und vor allem darüber, wo die Insel liegt, zu der du gereist bist!“
„Du bist zu ungeduldig, hoher Herr“, sagte Sindbad. „Und du bringst dich um den Genuss einer vollkommenen Erzählung!“
Der Kaufmann verzog das Gesicht und warf Sindbad eine weitere Münze zu. „Wenn dies der Grund für deine Zurückhaltung gewesen sein sollte, dann ist er hiermit wohl ausgeräumt“, setzte er hinzu.
Sindbad nahm die Münze an sich, betrachtete sie im Licht der milchig gewordenen Abendsonne und steckte sie dann ein.
„Nun gut, so will ich meine Umschweife auf das Wesentlichste beschränken und fortfahren“, erklärte er sodann. „Ich blieb also mutterseelenallein auf dieser Insel zurück, deren genaue Lage ich an dieser Stelle nicht verraten möchte. Verzweifelt rief ich zu Allah, als ich mein Schiff und meine Gefährten in der Ferne des Horizonts verschwinden sah und eine tiefe Verzweiflung erfüllte mich. Sollte ich etwa bis zum Ende meiner Tage auf dieser Insel zubringen, die so abgelegen war, dass sich gewiss kaum je ein Seefahrer hier her verirren würde, es sei denn vielleicht Piraten von übler Gesinnung, die mich wohl eher als Sklave verkauft denn gerettet hätten. Doch hat nicht Allah allen Gläubigen aufgegeben, ihr Schicksal anzunehmen, anstatt zu verzweifeln? So sah ich mich auf der Insel um und fand das Ei, das so gewaltig war, dass es von einem riesenhaften Vogel stammen musste. Wenig später wurde der Himmel von einem dunklen Schatten verdunkelt. Breite, unglaublich große Flügel waren es, die diesen Schatten warfen und mir gefror im selben Moment das Blut in den Adern. Ich betete zu Allah und bat ihn, er möge mir einen guten Gedanken und Mut senden und außerdem...“
„Komm zur Sache, Erzähler!“, forderte der Kaufmann.
„Nun, wie auch immer“, fuhr Sindbad mit einem Gesicht fort, dass sein Beleidigtsein nicht ganz zu verbergen vermochte. „Ich nahm meinen Turban, wickelte ihn auseinander und schlug das Tuch um den Fuß des Riesenvogels, der mich daraufhin ...“
––––––––
IN DIESEM MOMENT BILDETE sich eine Gasse durch die Menge der Zuhörer, die in der Zwischenzeit immer mehr angewachsen war. Bewaffnete Männer, gekleidet und ausgerüstet wie die Palastwachen des Kalifen, traten vor.
Der Hauptmann war ein Mann mit schwarzem Bart und stechendem Blick, den er jetzt über die drei Sindbads schweifen ließ und schließlich auf Sindbad dem Seefahrer ruhte.
„Bist du der Mann, den man Sindbad den Seefahrer nennt und dessen Geschichten in allen Basaren Bagdads weitererzählt werden?“, fragte der Hauptmann in einem barschen, befehlsgewohnten Tonfall.
„Gewiss, der bin ich“, gab Sindbad zu. „Weitgereist und reich an Erfahrung auf allen Weltmeeren!“
„So lautet der Befehl des Kalifen: Du sollst umgehend in den Palast gebracht werden, denn man wünscht dich dort zu sehen! Also erhebe dich und folge uns!“
Sindbad der Seefahrer machte ein überraschtes Gesicht, während ein Raunen durch die Menge ging.
So erhob sich Sindbad und strich sich die Gewänder glatt.
„Heh, willst du deine Erzählung nicht fortsetzen?“, empörte sich der Kaufmann, der die Münzen bezahlt hatte.
„Es tut mir leid, aber Allahs Ratschluss scheint anderes mit mir im Sinn zu haben“, sagte Sindbad. „Denn wie du siehst, hoher Herr, hat ein noch höherer Herr seine Diener ausgesandt, um mich zu holen. Und gegen den Willen des Kalifen wirst du doch sicher nichts einwenden wollen.“ Sindbad schaute in die erwartungsvollen Gesichter um ihn herum. „Ich hoffe, ihr werdet mir verzeihen, dass ich meine Geschichte nicht vollenden konnte, so wie Allah es mir verzeihen wird, meine Zuhörer enttäuscht zu haben. Nur eins weiß ich gewiss: Der Kalif wird mir nicht verzeihen, wenn ich seinem Ruf nicht folge!“
„Red nicht so viel und komm mit uns!“, verlangte der Hauptmann barsch.
„Wartet einen Moment!“, rief nun der junge Sin, der ebenso wie sein Vater in dem Augenblick aufgestanden war, als auch Sindbad der Seefahrer sich erhoben hatte.
Die Wächter des des Kalifen wurden allerdings jetzt ziemlich ungeduldig. „Den Herrn aller Rechtgläubigen lässt niemand ungestraft warten“, sagte der Hauptmann.
„Trotzdem gewährt einen Moment“, erwiderte Sindbad, ging auf Sin zu und umarmte ihn. „Bei Allah, ich verspreche dir, dass ich morgen um diese Zeit wieder hier am Hafen sitzen und meine Geschichte zu Ende erzählen werde!“, sagte er so laut, dass alle Anwesenden es hören konnten. Ein Raunen ging durch die Menge.
„Wenn der noch lange wartet, wird er die nächste Zeit seine Geschichten im Kerker den Ratten und Spinnen erzählen können“, meinte einer der Wächter grinsend.
Als niemand es beachtete, drückte Sindbad der Seefahrer dem jungen Sin seine Münze in die Hand. Die Worte, die er ihm dabei ins Ohr flüsterte, gingen im Tumult unter.
„Danke! Das hast du großartig gemacht, Sin! So viel Zuhörer hatte ich in letzter Zeit selten. Eine Drachme für dich. Du siehst, ich halte meine Versprechen.“
„Wirst du auch ein anderes Versprechen halten, das du mir gegeben hast?“, fragte Sin.
Sindbad runzelte die Stirn. „Welches Versprechen meinst du jetzt?“
„Du hast mir versprochen, mich auf deiner nächsten Reise als Schiffsjungen mitzunehmen, wenn ich dreizehn Jahre bin.“
„Bist du das denn schon?“
„Ich bin fast vierzehn!“
„Hör zu, Sin, wir reden ein anderes Mal darüber!“
„Aber...“
„Siehst du nicht? Der Kalif kann es offenbar kaum erwarten, mir eine Audienz zu gewähren!“
Einer der Wächter packte Sindbad den Seefahrer jetzt grob am Gewand und zog ihn mit sich. „Los jetzt! Unser Herr erwartet uns!“
So blieben Sindbad der Lastenträger und sein gleichnamiger Sohn zurück und sahen ihrem Namensvetter nach. Die Wächter nahmen Sindbad den Seefahrer in ihre Mitte und führten ihn davon, während der Hauptmann höchstpersönlich noch den reichen Kaufmann zur Seite drängte, der eine wüste Beschimpfung nach der anderen hervorstieß. Schließlich hatte er auch allen Grund, wütend zu sein, hatte er doch teuer für eine spannende Geschichte bezahlt, um die er nun gebracht worden war. „So ein Betrüger! Vor den Kadi sollte man ihn zerren“, knurrte er.
Der Menschenauflauf, der sich um den Geschichtenerzähler gebildet hatte, löste sich innerhalb kurzer Zeit auf.
Der junge Sin prüfte unterdessen die Münze, die er von Sindbad dem Seefahrer erhalten hatte, mit den Zähnen.
„Ist echt – und gut“, erkannte der Junge dann.
„Misstraust du etwa dem ehrenwerten, weitgereisten Mann, dessen Namen du trägst?“, empörte sich unterdessen Sindbad der Lastenträger über seinen Sohn.
„Nun, ich vertraue ihm voll und ganz“, beteuerte Sin.
„Er ist ein Ehrenmann“, erklärte sein Vater. „Und ein Rechtgläubiger, der sich an die Worte des Propheten hält, wie sie im Buche stehen!“
„Trotzdem musst du zugeben, dass einiges an ihm seltsam ist, Vater“, stellte Sin fest.
Sindbad der Lastenträger runzelte die Stirn. „Seltsam?“, fragte er dann gedehnt, während sie zusammen an der Kaimauer entlanggingen und zusahen, wie die Schiffe vertäut und abgetakelt wurden. „Was soll seltsam daran sein, wenn Allah einem wagemutigen Seefahrer seine Gunst geschenkt hat und ihm über die Maßen schenkt und seinen Wagemut reich belohnt.“
„Ich habe nur über manche Dinge etwas nachgedacht“, sagte Sin.
„So, worüber denn?“, fragte sein Vater.
„Nun, zum Beispiel erzählt Sindbad der Seefahrer doch immer, dass er am Ende seiner siebten und bisher letzten Reise mit reicher Beute und einer bezaubernden Frau nach Bagdad zurückkehrte. Aber wenn das der Wahrheit entspricht – wieso hat er es dann nötig, Geld dafür zu nehmen, dass er seine Geschichten erzählt?“
„Sindbad der Seefahrer hat mir dazu einmal gesagt: Etwas, das nichts kostet, wird von den Menschen gering geschätzt. Und allein deswegen würde er Geld dafür nehmen, dass er sie erzählt.“
„So ist er gar nicht auf die Drachmen angewiesen, die ihm zugeworfen werden? Aber Vater! Wieso bittet er dann mich, sehr auffällig Fragen zu stellen und ihn zu drängen, seine Geschichte vom Vogel Rock noch einmal zu erzählen, weil ich sie angeblich noch nicht ganz gehört habe – obwohl ich sie mittlerweile in- und auswendig kenne?“
„Bei Allah, was habe ich für einen spitzfindigen Sohn!“, stieß Sindbad der Lastenträger hervor. „Seit wann hat dich das Misstrauen derart in seinen Griff genommen, dass du anscheinend selbst einem so vertrauenswürdigen Mann wie Sindbad dem Seefahrer nicht mehr traust, am dessen Lippen ganz Bagdad hängt und dessen Geschichten inzwischen in aller Munde sind, ohne dass auch nur irgendjemand ihren Wahrheitsgehalt bestreiten würde!“
„Aber bist du es nicht gewesen, der mich gelehrt hat, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und sich von niemandem übers Ohr hauen zu lassen? Und dass die Basare voller Betrüger sind, die eine zu übervorteilen versuchen, wenn man nicht aufpasst? Dass die Gassen Bagdads voll von üblen Gesellen sind, die einen mit Versprechen auf gute Geschäfte in dunkle Winkel zu locken versuchen, wo man dann ausgeraubt wird?“
Sindbad der Lastenträger seufzte. „Ja, das mag schon sein, mein Sohn, aber...“
„Und bist du es nicht gewesen, der mich gelehrt hat, dass Allah den Gläubigen den Verstand gegeben hat, um ihn zu benutzen?“
„Gewiss“, gab der Lastenträger zu. „Nur mein seefahrender Namensvetter verdient dieses Misstrauen ganz sicher nicht! Auch wenn bei ihm vieles nicht so zu sein scheint, wie es bei anderen Leuten ist, so hat er doch stets eine einleuchtende Erklärung dafür.“
„Wo ist dann seine schöne Frau geblieben?“, fragte Sin. „Und wo sein Reichtum? Wir waren nie in seinem Haus, Vater. Ich kenne mich wie kein zweiter in den Straßen Bagdads aus, aber das Haus von Sindbad dem Seefahrer habe ich nie gesehen. Dich nennt er seinen Freund und doch warst du nie in dieses Haus eingeladen, wie du mir selbst gesagt hast! Stattdessen kehrt er oft genug in dein Haus ein – die Wohnung eines Lastenträgers, der einen reichen Geschäftsmann auch noch bewirten muss! Kommt dir das nicht auch manchmal seltsam vor? Meine Mutter muss ihm den Tee bereiten, obwohl das doch auch die Diener tun könnten, die ein so erfolgreicher Kaufmann gewiss beschäftigt!“
Sindbad der Lastenträger blieb stehen. Er drehte sich nach alle Seiten um und sagte dann in gedämpftem Tonfall: „Sindbad der Seefahrer hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass seine Geschäfte, die er im Anschluss an seine siebte Reise betrieben hat, wohl nicht ganz so gewinnträchtig waren, wie er gehofft hatte.“
„Was soll das heißen, Vater?“
„Das soll heißen, dass er den Großteil seines Reichtums verloren hat.“
„Und seine wunderschöne Frau, die er mitbrachte?“
„Starb schon bald an einer heimtückischen Krankheit, mein Sohn. Aber ganz gleich, ob er auf einer einsamen Insel zurückgelassen wird oder ob ihm alles unter den Händen zerrinnt, was er von seinen Reisen mitgebracht hat – stets hat Sindbad der Seefahrer das Schicksal angenommen, das Allah für ihn vorgesehen hat!“
Das Gesicht des jungen Sin wurde auf einmal sehr traurig. „Das habe ich alles nicht gewusst“, sagte er.
„Sein Haus gehört einem anderen, der es kaufte, und damit die Schulden auszugleichen die Sindbad der Seefahrer inzwischen angehäuft hatte“, fuhr sein Vater fort. „Er übernachtet bei Freunden und unterhält sie mit den Geschichten seiner Reisen.“
Sin wirkte sehr enttäuscht. Er hatte sogar versucht, das Haus des Seefahrers zu finden, aber nur widersprüchliche Auskünfte darüber erhalten, wo es zu finden sei. Das hatte ihn schon stutzig gemacht – genauso wie die Tatsache, dass der Seefahrer selbst ihm nie verraten hatte, wo es zu finden wäre. Aber andererseits – war Bagdad nicht die größte Stadt der Welt? Größer selbst als das legendäre Konstantinopel, das von den Nordmännern, die auf den Basaren von Bagdad Felle, Falken und Bernstein gegen schwarze Stahlbarren aus den Bergen von Khorasan tauschten, nur als 'die große Stadt' bezeichnet wurde? Was war angesichts dieser Größe schon ein einzelnes Haus? Es zu finden glich dem Versuch, eine Nadel aus einem Heuhaufen zu holen!
„Was betrübt dich so, mein Sohn?“, fragte Sindbad der Lastenträger, nachdem er seinen Sohn lange angesehen hatte.
„Es betrübt mich, dass Sindbad der Seefahrer sein Versprechen nicht halten kann, dass er mir gegenüber gab.“
Der Vater runzelte die Stirn. „Sein Versprechen? Aber er hat dir doch die Drachme gegeben – wie vereinbart“, widersprach er.
Aber Sin schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht.“
„Beim Barte des Propheten und allen Rechtgläubigen! Wovon sprichst du denn dann?“
„Davon, dass er mich als Schiffsjunge auf seine nächste Fahrt mitnehmen will“, erklärte der Junge und seufzte. „Die Wahrheit ist doch wohl, dass es keine achte Reise für Sindbad den Seefahrer geben wird, oder?“
„Wer kann Allahs Ratschluss kennen, mein Sohn? Bin ich ein Prophet? Weiß ich, der ich nie lesen und schreiben gelernt habe, was geschrieben steht?“
„Aber Vater! Wovon sollte Sindbad denn diese Reise bezahlen, wenn er tatsächlich so auf den Hund gekommen ist? Und davon abgesehen sagt mir mein Gefühl, dass er selbst nicht mehr daran glaubt, jemals zu einer achten Reise aufzubrechen!“
Sindbad der Lastenträger legte daraufhin seinem Sohn eine Hand auf die Schulter und sagte: „So wirst du eben kein Schiffsjunge, sondern ein Lastenträger wie dein Vater!“
„Ach, Vater...“
„Und ganz ehrlich: Deiner Mutter und mir wäre das auch sehr viel lieber. Besser sein Leben lang mit ehrlicher Handarbeit seinen Lebensunterhalt verdienen, als auf eine ungewisse gefährliche Reise zu gehen, von der man dann womöglich...“
„...reich und mit Schätzen beladen zurückkehrt?“, unterbrach ihn Sin.
„Ich wollte eigentlich sagen: ...womöglich gar nicht zurückkehrt!“, vollendete Sindbad der Lastenträger schließlich seinen Satz.
IM PALAST DES KALIFEN
Unterdessen wurde Sindbad der Seefahrer in den Palast des Kalifen gebracht. Die Wachen führten ihn durch ein wahres Labyrinth aus hohen Säulengängen. Der Palast war so groß, dass man sich dort hätte verlaufen können.
Schließlich wurde Sindbad in einen Raum geführt, der zwar sehr hoch und sehr prächtig eingerichtet war, bei dem es sich aber ganz sicher nicht um den Thronsaal handelte.
Zumindest stellte sich Sindbad den Thronsaal des Kalifen von Bagdad noch sehr viel imposanter vor.
In der Mitte befand sich ein breites, prächtig verziertes Bett, das mit Vorhängen zugezogen war. An allen vier Ecken waren Wächter mit bronzefarbenen Harnischen und breiten, leicht gebogenen Schwertern postiert, deren Turbane und Gewänder einander vollkommen glichen. Außerdem waren noch Wesire und Ärzte im Raum. Dass der Kalif erkrankt war, hatte sich seit Längerem in der Stadt herumgesprochen.
Im Bett lag ein todesbleicher Mann mit eingefallenen Wangen und dunklen Ringen unter den Augen. Sindbad erschrak, als er ihn sah. Es war schon ziemlich lange her, dass der Kalif sich in der Öffentlichkeit gezeigt hatte. Und auch wenn Sindbad ihn nur aus der Ferne hatte sehen können, wenn er sich in seiner Sänfte durch die Straßen Bagdads tragen ließ, um sich dem Volk zu zeigen, so war für Sindbad doch der erschreckende Unterschied auf den ersten Blick sichtbar. Wie furchtbar hatte sich der Kalif verändert! Wie sehr musste ihm die unbekannte Krankheit zusetzen, unter der der Herrscher seit geraumer Zeit litt und über die die größten Gelehrten des Landes noch immer vergeblich rätselten.
Der Hauptmann kniete vor dem Bett nieder und Sindbad bekam von einem der Wächter einen Stoß - denn natürlich wäre es angemessen gewesen, dass auch er vor dem Kalifen niederkniete. Aber Sindbad war so erschrocken über den Anblick seines Herrschers gewesen, dass er daran im ersten Moment gar nicht gedacht hatte. Nun holte er das allerdings nach.
Ein Diener eilte herbei, um dem Kalifen dabei zu helfen, sich im Bett etwas aufzurichten.
Mit einiger Mühe gelang das auch.
Es wurde ihm noch ein Trank gereicht, der ihn offenbar kräftigen sollte.
Der Kalif nahm ihn zu sich und selbst sein Schlucken wirkte mühsam und gequält.
„Mein Kalif, ich habe Euch Sindbad den Seefahrer geholt – so wie Ihr es befohlen habt“, sagte der Hauptmann und verneigte sich noch etwas tiefer.
Der Kalif betrachtete Sindbad mit einem Blick, den dieser nicht zu deuten wusste. Eine tiefe Falte hatte sich auf der Stirn des Kalifen gebildet. Der Herrscher musterte Sindbad von oben bis unten und es machte den Eindruck, als sei der Kalif etwas enttäuscht darüber, keinen eindrucksvolleren, imposanteren Mann vor sich zu haben. Jemanden, der vielleicht etwas mehr dem Helden der Geschichten ähnelte, die über Sindbad den Seefahrer inzwischen in den Basaren und Palästen Bagdads ebenso im Umlauf waren wie in den einfachen Häusern der Lastenträger am Hafen.
Zitternd hob der Kalif seinen Arm und streckte den dürren Zeigefinger aus. „Du... Du bist Sindbad?“, brachte er hervor und seine Stimme klang brüchig. So, als wäre er uralt – und dabei war der Kalif eigentlich noch in den besten Jahren.
„Oh, Herr aller Gläubigen und Schrecken aller Ungläubigen, so nennt man ich“, bestätigte Sindbad. „Beim Barte des Propheten, genau der bin ich: Sindbad der Seefahrer, auf allen Weltmeeren zu Hause und so weitgereist wie kein Gläubiger zuvor!“
Der kranke Kalif machte eine wegwerfende Handbewegung, woraufhin Sindbad augenblicklich schwieg. Er spürte, dass er irgendwie gegenüber dem Herrscher nicht den passenden Ton getroffen zu haben schien.
„Spar dir deine Prahlerei, Sindbad“, sagte der Kalif. „Ich bin schwach, wie du siehst. Eine furchtbare Krankheit fesselt mich die meiste Zeit des Tages über ans Bett und nur Allah weiß, wie viele Tage mir überhaupt noch bleiben. Meine Ärzte haben jede Hoffnung aufgegeben und meine Sterndeuter verschweigen mir hartnäckig mein Horoskop, weil es wohl so schlimm um mich steht, dass in den Sternen auch beim besten Willen keine Hoffnung herauszulesen ist.“
„Euer Schicksal bekümmert mich, hoher Herr“, sagte Sindbad. „Und ganz Bagdad ist bekümmert darüber, wie schlecht es Euch geht!“
„Ah, du neigst zur Übertreibung“, meinte der Kalif. „Ich nehme eher an, dass manche darauf warten, dass ich für einen Nachfolger Platz mache, der vielleicht die Steuern senkt und weniger strenge Gesetze erlässt. Und andere glauben vielleicht, es wäre an der Zeit, es sollte in Bagdad wieder ein gesunder Kalif regieren, der seiner Aufgabe auch gewachsen ist und dass man besser nicht erst warten sollte, bis ich sterbe, um einen Nachfolger auszurufen!“
Sindbad war etwas irritiert. Weshalb hatte ihn der Herrscher rufen lassen? Er war als weitgereister Seefahrer und Geschichtenerzähler in den Gassen der Stadt berühmt – aber keineswegs als Arzt! Und wenn nicht einmal die Gelehrten dem Kalifen noch helfen konnten, die der große Herrscher stets in großer Zahl um sich gescharrt hatte – wer dann?
Sindbad dachte angestrengt nach, aber ihm wollte einfach kein Grund dafür einfallen, weshalb man ihn mit solcher Eile hier her gezerrt hatte, als hinge das Leben des Kalifen davon ab.
„Komm näher, Sindbad, du Weitgereister“, sagte der Kalif jetzt und seine Stimme klang nun gedämpft. Sie hörte sich so schwach und brüchig an, dass man Angst haben konnte, sie würde jeden Moment versagen und der Kalif für immer die Augen schließen.
Sindbad gehorchte, obgleich er bemerkte, dass es dem Hauptmann der Wachen ganz und gar nicht gefiel, dass der Herrscher ihn näher zu sich gerufen hatte. Offenbar misstrauten sie ihm.
Sindbad erhob sich von seinen Knien und näherte sich dem Bett bis auf einige Schritte.
„Das laute Sprechen strengt mich an“, flüsterte der Kalif, dem es plötzlich noch schlechter zu gehen schien.
„Gebt ihm von dem Trunk!“, meldete sich ein Mann mit dunklem Bart zu Wort, der offenbar der Leibarzt war. Er packte einen verdutzten Diener bei der Schulter und gab ihm einen heftigen Stoß. „Na los, worauf wartest du!“
„Gewiss, Meister Abdul“, gab der Diener schluckend zurück. Er füllte einen Krug aus einer Karaffe und wollte dem Kalifen anschließend den Trunk reichen, doch dieser hob seine Hand und wehrte das ab. „Nein, Schluss damit! Die nächsten Augenblicke werde ich sicher noch ohne diese Medizin auskommen, die doch immer nur für wenige Augenblicke eine gewisse Wirkung zu haben scheint.“ Er musste anscheinend eine Pause machen, ehe er schließlich an Sindbad gewandt fortfuhr: „Es wird nicht lange dauern, was wir zu besprechen haben. Es geht um die Geschichten von deinen Reisen.“
Sindbad runzelte die Stirn und machte ein ziemlich ratloses Gesicht. „Aber, hoher Herr, was haben denn meine Reisen mit Eurer Krankheit zu tun?“
„Mit meiner Krankheit – nichts. Aber vielleicht etwas damit, wie ich wieder gesund werden könnte!“
„Herr aller Gläubigen und Licht von Bagdad! Erhabenster aller Herrscher und Gerechtester der Gerechten! Ihr habt die besten Ärzte an Eurem Hof, die ihre Kunst in Samarkand und Buchara gelernt haben und von denen jeder einzelne wahrscheinlich so gelehrt ist, dass er mehr Bücher geschrieben hat, als ich jemals lesen werde! Wie mag da ausgerechnet ich Euch helfen, wo es diese weisen Männer offenbar nicht vermögen?“
„Du bist auf deinen Reisen dem Vogel Rock begegnet“, stellte der Kalif fest. „Zumindest erzählt man dies und nun möchte ich von dir gerne wissen: Entspricht das der Wahrheit?“
„So wahr ich hier stehe! Alles, was ich in meinen Erzählungen berichte ist wahr! Allah und der Prophet seien mein Zeuge und tausend übelgelaunte, gemeine Dschinn-Geister sollen mich bis in alle Ewigkeit mit ihren Streichen quälen, falls ich nicht die Wahrheit gesagt haben sollte!“
Ein mattes, leidendes Lächeln huschte über das Gesicht des Kalifen. „Nun, dann hast du ja allen Grund, dich an die Wahrheit zu halten, um zu verhindern, dass Allah deinen Wunsch in Erfüllung gehen lässt.“
„Wie gesagt, ich habe immer die Wahrheit gesprochen!“
„Abdul aus Cordoba, einer meiner Hofärzte, hat in einer weisen Schrift den Hinweis gefunden, dass möglicherweise die Eier von Riesenvögeln eine über die Maßen heilende Wirkung hätten und auch bei meiner Krankheit helfen könnten. Um es klar zu sagen: Solch ein Ei zu besitzen, aus dem ein kundiger Arzt dann ein Heilmittel herstellen könnte, das auf uralten Rezepten beruht, die schon vor tausend Jahren angewendet wurden...“ Er brach ab und sprach erst nach einigen Momenten weiter, nachdem er dem eilfertig mit dem Kräftigungstrunk herbeieilenden Diener noch einmal mit einer Handbewegung klar machte, dass er im Augenblick nichts davon eingeflößt haben wollte. „Unglücklicherweise sind Vögel, wie derjenige, über den du in deinen Geschichten berichtest, selten geworden.“
„Seien wir froh drum, denn der Vogel Rock vermag mit einem einzigen Schnabelbiss das Rückgrat eines Menschen zu brechen“, entfuhr es Sindbad dem Seefahrer. Danach biss er sich auf die Lippe. Manchmal war es besser zu schweigen - und dies galt ganz besonders im Umgang mit Herrschern, so hatte Sindbad inzwischen festgestellt. „Was das Auffinden eines Eis betrifft, so ist es natürlich bedauerlich, dass man solche Vögel in Euren Ländern nicht zu finden vermag, mein Kalif.“
„Du warst auf der Insel, auf der ein solcher Vogel lebt.“
„Das ist wahr, hoher Herr, aber...“
„Und du bist daher der Einzige, der mir vielleicht noch zu helfen vermag! Sindbad, ich lege meine ganze Hoffnung in deine Hände! Du musst für mich zu jener Insel zurückkehren, auf der du einst den Vogel Rock getroffen hast und eines seiner Rieseneier zurück nach Bagdad bringen, damit ich geheilt werden kann!“
„Aber hoher Herr, ich...“
„Was kann es da für Einwände geben?“, fragte der Kalif und sein Gesicht veränderte die Farbe, als er für einige Augenblicke nach Atem rang. Einige Ärzte eilten herbei, stützten ihn, versuchten ihm zu helfen und noch etwas von dem Trank zu reichen. Jemand klopfte dem Kalifen heftig auf den Rücken. Es gab ein dumpfes Geräusch dabei und die Wächter schienen einen Moment lag zu überlegen, ob sie vielleicht eingreifen sollten, weil jemand ihrem Herren Gewalt antat.
„Ist ja gut!“, wehrte der Kalif schließlich die Hilfe seiner Untergebenen ab, die sich daraufhin schnell und mit wortreichen Entschuldigungen und zahlreichen Verbeugungen zurückzogen. Der Kalif saß nun aufrecht im Bett und sein prüfender Blick traf Sindbad bis ins Innerste. „Es gibt keinen Grund für dich, mir diese Bitte zu versagen“, erklärte der Kalif. „Ich bin schließlich dein Herr und du hast zu tun, was ich sage und befehle.“
„Mein allerweisester Kalif und Vollkommenster unter denen, die Allah zu Herrschern bestimmt hat“, begann Sindbad von Neuem einen Einwand vorzubringen. „Ich habe zur Zeit gar kein Schiff und werde vermutlich auch so schnell keines mehr bekommen.“
„Planst du denn nicht deine achte Reise?“, fragte der Kalif. „Zumindest erzählt man sich das auf den Straßen!“
„Herr, die Geschäfte gingen schlecht und ich habe beinahe den gesamten Reichtum wieder verloren, den ich aus fernen Ländern mit nach Bagdad gebracht habe. Allah gibt, aber Allah nimmt auch. Aber gleichgültig, ob er nimmt oder gibt, ich will ihn dafür preisen! Nur kann ich deshalb leider und zu meinem größten Bedauern Euch nicht auf die Weise dienen, die Ihr von mir verlangt, hoher Herr!“
„Doch, das kannst du, Sindbad! Denn ich werde dir ein Schiff ausrüsten und deine Mannschaft zusammenstellen. Es soll an nichts fehlen! Die besten Seeleute und die weisesten Männer sollen dich begleiten! Gelehrte, die beurteilen können, welches Ei des Riesenvogels am geeignetsten sein könnte und selbst auf die Dienste meines Leibarztes Abdul aus Cordoba werde ich für diese Zeit verzichten, damit er sofort, wenn du ein solches Ei aufgefunden hast, damit beginnen kann, daraus ein Heilmittel zu brauen. Schließlich könnte es ja sein, dass auch die Eier des Vogels Rock so verderblich wie die Eier von Hühnern sind und man sie nicht so ohne weiteres aufbewahren kann...“
„Nun, es könnte aber auch sein, dass das Junge in dem Ei bereits lebt und der Riesenvogel es verteidigt, wie man es von allen Eltern in Allahs Schöpfung erwartet“, sagte Sindbad. „Während meiner fünften Reise gelangte ich erneut an die Küste des Landes, in den der Vogel Rock beheimatet ist. Und meine Männer hatten Hunger. Wir waren gestrandet und die Vorräte gingen zur Neige. Da fanden sie ein Ei des Riesenvogels, schlachteten das Junge und o Kalif, Ihr könnt Euch vorstellen, was geschah! Die Rache war furchtbar, als der Vogel schließlich auftauchte!“
„Nun, du bist gewiss in der Lage, dieser Mannschaft, die ich dir mitgebe, es zu ersparen, dass sie von einem Riesenvogel angegriffen wird! Sei einfach vorsichtiger, als es deine Gefährten gewesen sind!“
Aber das sagte sich leichter als es war.
Sindbad seufzte. Er begann zu ahnen, dass jede Widerrede gegen die Pläne des Kalifen völlig sinnlos waren. Der Herrscher hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, dass einzig und allein eine Medizin, die aus dem Ei des Riesenvogels gewonnen worden war, ihn wieder heilen konnte. Und so würde er sich auch nicht durch noch so grausigere Schilderungen über den Vogel Rock davon abbringen lassen, Sindbad zusammen mit einem Schiff und einer Mannschaft dort hinzuschicken.
„Ich will keine Einwände mehr hören“, erklärte der Kalif. „Und wenn doch, dann magst du im Kerker darüber nachsinnen. Und für den Fall, dass ich sterbe, bevor du ein Ei des Riesenvogels besorgt hast und ich nur wegen deiner Unentschlossenheit nicht gerettet werden konnte, so habe ich angeordnet, dass man dich dann köpfen wird, Sindbad!“
Sindbad schluckte.
„Oh Herr, das ist kein schöner Gedanke“, murmelte er.
„Du siehst ein bisschen blass aus und scheinst dir ernsthaft Sorgen zu machen“, sagte der Kalif. „Aber das brauchst du nicht, denn selbstverständlich wirst du keine Schwierigkeiten haben, zur Insel des Vogels Rock zu segeln und mir mitzubringen, wonach ich verlange. Schließlich nennt man dich doch nicht umsonst den größten, erfahrensten und am weitesten gereisten Seefahrer!“
Sindbad schluckte abermals. Er fühlte die Blicke aller Anwesenden auf sich gerichtete – nicht nur den des Kalifen, sondern auch der Ärzte, Hofbeamten und Wächter.
Und ob es für mich eine Schwierigkeit ist, zu jener Insel zu segeln, durchfuhr es ihn siedend heiß. Wenn sie doch wenigstens existieren würde, diese Insel... Dann wäre es ja vielleicht sogar möglich, sie auch zu finden, selbst wenn man in Wahrheit niemals ihre Küste betreten hat!
Diese und andere Gedanken rasten nur so durch Sindbads Kopf. Die Wahrheit war nämlich nicht ganz so prächtig, wie er sie in seinen Erzählungen ausgemalt hatte, die er täglich am Hafen zum besten zu geben pflegte. Zwar war er tatsächlich zur See gefahren und und sogar für einige Zeit Kapitän eines Schiffes gewesen, das von Bagdad aus flussabwärts bis nach Basra und darüber hinaus zur Mündung am Schat-al-Arab gesegelt war. Und hin und wieder war er sogar auf jenes Meer hinausgesegelt, das von jeher die Araber den Arabischen und die Perser den Persischen Golf nannten. Bis zur Insel Al-Bahrain war er gekommen. Allerdings war dies der am weitesten entfernte Ort gewesen, den er je betreten hatte. Denn immer dann, wenn das Schiff im Hafen der Insel Al-Bahrain neue Ladung aufgenommen hatte, war war man wieder zurück in Richtung Bagdad aufgebrochen. Hin und wieder hatte Sindbad allerdings den Geschichten jener Männer gelauscht, die aus fernen Ländern bis Al-Bahrain gesegelt waren. Sie erzählten von Indien und China und Reichen, in denen Elefanten so selbstverständliche Reittiere waren, wie in Bagdad Esel, Kamele und Pferde. Sie berichteten über Inseln auf denen wunderliche Tiere lebten und feuerspuckende Berge zu finden waren, aus deren Schloten Asche und Schwefel in die Höhe geschleudert wurden, sodass man glauben konnte, in Dschehenna zu sein – der Hölle, in der all diejenigen bestraft wurden, die den Geboten Allahs nicht gefolgt waren.
Manche dieser Geschichten hatte Sindbad in seinen Gedanken noch etwas weitergesponnen, sich vorgestellt, er hätte jene fernen Länder und noch weitere, bisher unbekannte Küsten, betreten können und hätte dort Dinge erlebt, die nie zuvor irgendeinem Menschen zugestoßen waren.
Wer hätte schon überprüfen sollen, ob diese Geschehnisse der Wahrheit entsprechen konnten oder ob sie schlichtweg frei erfunden waren?
Sindbad erinnerte sich noch genau, wie zum ersten Mal eine größere Schar von Zuhörern an den Kaimauern von Bagdad sich um ihn herum versammelt hatte. Vollkommen gebannt waren sie gewesen. Die Jungen vergaßen zum Teil ihren Mund zu schließen, so sehr fieberten sie mit, wenn Sindbad der Seefahrer von seinen Abenteuern erzählte. Wie hätte er sie mit einem mittelmäßigen Abenteuer enttäuschen können? Wie hätte er ihnen angesichts dieser Begeisterung von den eintönigen, immer gleichen Fahrten nach Al-Bahrain erzählen können, auf denen die Laune unter der Besatzung meistens furchtbar schlecht war, weil man die meiste Zeit furchtbar schwitzte! Sindbad hatte einen inneren Drang verspürt, den er sich selbst gar nicht weiter erklären konnte. Einen Drang, der ihn dazu getrieben hatte, immer weiter zu erzählen und dabei von immer großartigeren und fantastischeren Dingen und Taten zu berichten, die sich angeblich während seiner Reisen ereignet hatten. Irgendwie hatte Sindbad das Gefühl gehabt, dass man genau dies von ihm hatte hören wollen. Und nachdem seine Geschichten erst einmal in den Basaren und unter den Männern am Hafen, ja, sogar unter den Waschweibern am Fluss und sogar unter den Schneidern, die ihre Werkstätten in den Straßen rund um den Kalifenpalast herum betrieben, weitererzählt wurden, da wäre es auch wohl schlecht möglich gewesen, irgendein Wort wieder zurückzunehmen. Dass er sich die meisten dieser Erlebnisse lediglich ausgedacht hatte, ahnte niemand. Und das wenige, das der Wahrheit entsprach, hatte er so in seine Erzählungen hineingepasst und verändert, dass es kaum noch etwas mit der Wahrheit zu tun hatte. Im Laufe der Zeit war es für Sindbad immer schwieriger geworden, keine seiner Geschichten anders zu erzählen als so, wie sie bereits unter den Leuten bekannt war. Wann immer ihm einmal ein Fehler unterlief, waren die Leute nämlich sofort misstrauisch. Das hatte Sindbad bereits gemerkt und inzwischen achtete er so gut es ging darauf, dass er die Geschichten von seinen Reisen immer auf die exakt gleiche Art und Weise erzählte.
Letztlich war das auch einer der Gründe dafür, weshalb er die Reisen von eins bis sieben durchnummeriert hatte. So konnte er sich einfach besser merken, was angeblich zuerst und was erst sehr viel später geschehen war.
Oh Allah, hilf mir!, ging es Sindbad durch den Kopf – denn gegenüber den Problemen, die ihm seine Lügen bisher eingebracht hatten, war das, was ihn nun erwartete nichts weiter als ein laues Seelüftchen.
Wie sollte er die Schiffsmannschaft des Kalifen zur Insel des Vogels Rock führen, da diese doch gar nicht existierte? Und was geschah, wenn die ganze Unternehmung ohne Erfolg blieb, hatte der Kalif ja schon angekündigt.
Unwillkürlich betastete Sindbad seinen Hals.
Er saß in der Falle. Und ganz gleichgültig, was er jetzt auch tat oder sagte – es würde dadurch nur noch schlimmer werden.
„Gleich morgen soll das Schiff Bagdad flussabwärts verlassen!“, bestimmte der Kalif. „Und du, werter Sindbad, bist bis dahin mein Gast!“ Er deutete auf den Hauptmann. „Hassan wird nicht von deiner Seite weichen und dir jeden Wunsch von den Lippen lesen! Er wird dich auch auf deiner achten Reise begleiten.“
Hauptmann Hassan verneigte sich leicht. Der Beschluss des Kalifen schien für ihn keine Überraschung zu sein. Für Sindbad war das nur so erklärlich, dass Hassan bereits vorher in alles eingeweiht gewesen war.
Vermutlich wird er mir nicht nur jeden Wunsch von den Lippen anlesen, sondern mich auch überwachen, ging es Sindbad durch den Kopf. Und falls ich keinen Erfolg haben sollte, ist es auch nicht schwer, sich auszumalen, was er dann mit mir tun wird!
Dieser Gedanke schnürte Sindbad geradezu die Kehle zu, sodass ihm für einen Moment schier der Atem wegzubleiben drohte.
Das breite, raubtierhafte Lächeln, das sich daraufhin auf Hassans Gesicht zeigte, schien den vermeintlich weitgereisten Seefahrer darin nur zu bestätigen. Hassan legte seine Hand um den Griff des Schwertes, das in seinem Gürtel steckte und neigte gegenüber Sindbad leicht den Kopf. „Immer zu deinen Diensten, weitgereister und von Allah so über die Maßen mit Weisheit und Erkenntnis gesegneter Sindbad!“, sagte er und es war nicht ganz sicher auszuschließen, dass nicht auch etwas Spott in seinen Worten mitschwang.
Sindbad wandte sich daraufhin wieder an den kranken Kalifen. „Ich weiß Eure Großzügigkeit sehr wohl zu schätzen, hoher Herr!“, brachte er heiser heraus.
„Außer Hassan wird dich noch mein Arzt und Astrologe Abdul aus Cordoba begleiten“, erklärte der Kalif und deutete auf seinen schwarzbärtigen Leibarzt. Bei ihm war ein junger Mann, dem kaum genug Barthaare wuchsen, als dass man schon glauben konnte, dass bereits erwachsen war – geschweige denn, in den Kreis der Gelehrten, Astrologen und Ärzte gehören konnte, die den Kalifen berieten. „Ich werde schweren Herzens darauf verzichten, dass Abdul in meiner Nähe ist und meine Gesundheit bewacht“, fuhr der Kalif fort. „Aber ich bin mir sicher, dass er seine Kollegen gut genug instruiert hat, sodass ich die Rückkehr des Schiffes wenigstens noch erlebe!“
„Seid unbesorgt, mein hoher Herr“, sagte Abdul aus Cordoba und verneigte sich leicht vor seinem Herrscher. „Ich habe die anderen Ärzte in Euren Diensten mit eingehenden Anweisungen vorsorgt, sodass sie jederzeit in der Lage sein werden, dass Richtige zu tun, falls sich Euer Gesundheitszustand verschlechtern sollte.“
„Dessen bin ich gewiss, werter Abdul“, sagte der Kalif.
„Allerdings bestehe ich darauf, dass mein Gehilfe Ibn Sina mich begleitet, denn ich benötige seine Unterstützung“, sagte Abdul und deutete dabei auf den jungen Mann neben sich.
„Die Bitte sei dir gewährt“, erklärte der Kalif. „Auch wenn ich auf die Dienste von Ibn Sina ebenso ungern verzichte, wie auf deine!“
Auf die Dienste dieses – Jungen?, wunderte sich Sindbad insgeheim. Mehr als ein Gehilfe konnte das doch nicht sein! Jemand, der dem großen Gelehrten Abdul vielleicht die wichtigen Schriften aus der Bibliothek des Kalifen heraussuchte oder für ihn zum Bazar ging, um irgendwelche seltenen Substanzen zu kaufen, die man vielleicht zur Herstellung einer bestimmten Medizin brauchte. Naja, das soll nicht meine Sorge sein, ging es Sindbad durch den Kopf. Davon hatte er schließlich selbst schon genug.
„Verzeiht hoher Herr, aber auch ich würde gerne diese Reise mitmachen“, sagte nun eine Stimme. Sie klang tief und ruhig und für Sindbads Ohren schwang in diesen Worten eine ungewöhnliche Stärke mit, die ihn sofort aufhorchen ließ.
Die Wachen und anderen Ärzte, Gelehrten und Astrologen traten zur Seite und ein Mann in einer dunklen Kutte trat vor, um am Bett des kranken Kalifen niederzuknien.
Sindbad war dieser Mann bisher nicht so aufgefallen, zumal von seinem Gesicht auch so gut wie nichts zu sehen gewesen war, hatte er doch seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
„Meinst du nicht, du solltest besser hier in Bagdad bleiben, um die Heilkunst, wie sie hier gelehrt wird, auch wirklich gut genug zu erlernen, um sie eines Tages auch in dein kaltes, wildes Heimatland zu bringen?“, fragte der Kalif.
„Branagorn stammt doch aus den Reichen der Ungläubigen“, äußerte sich nun Abdul aus Cordoba. „Er ist also den Umgang mit Barbaren gewöhnt – schon deshalb, weil er selbst einer ist.“ Er wandte sich kurz an Branagorn und fügte hinzu: „Ich bitte vielmals um Verzeihung für diese Bemerkung, aber sie entspricht schließlich der Wahrheit.“
„Ich bin nicht so leicht zu beleidigen“, sagte Branagorn.
Abdul aus Cordoba wandte sich daraufhin wieder dem Kalifen zu. „Auf unserer Reise werden wir vielen Ungläubigen begegnen und es wäre gut, wenn wir jemanden an Bord hätten, der den Umgang mit ihnen gewohnt ist!“
„Ist nicht auch Sindbad der Seefahrer diesen Umgang gewohnt?“, fragte der Kalif stirnrunzelnd.
„Gewiss ist er das“, nickte Abdul, noch ehe Sindbad überhaupt nur in die Versuchung kommen konnte, eine Antwort zu geben, die ihn wahrscheinlich sowieso nur in noch größere Schwierigkeiten gebracht hätte. „Aber ich meinte jemanden außer Sindbad, wenn Ihr versteht, was ich meine!“
Der Kalif brauchte einen Augenblick, um das zu begreifen.
Sindbad hingegen verstand sofort, worauf Abdul aus Cordoba hinauswollte.
Er traut mir nicht über den Weg!, durchfuhr es den vermeintlich Weitgereisten. Und damit liegt er ja auch gar nicht so falsch...
„Davon abgesehen gibt es wohl niemanden, der so viele, auch sehr fremde Sprachen spricht, und notfalls sogar in der Lage ist, sie innerhalb kürzester Zeit zu lernen“, fuhr Abdul fort. „Schließlich hat Branagorn die Länder des Ostens bereist.“
„Nur anscheinend leider nicht jenes Inselreich, in dem der Vogel Rock zu Hause ist“, murmelte der Kalif. „Nun, sei es drum, Branagorn mag euch begleiten, denn deine Argumente überzeugen mich, Abdul. Und nun lasst mich allein. Ich bin müde und schwach.“
DAS FESTMAHL
Sindbad wurde zusammen mit den anderen aus dem Raum geführt. Nur Abdul aus Cordoba blieb noch etwas länger. Aber darüber wunderte sich niemand, schließlich war er der Leibarzt des Kalifen.
„Es soll dir hier an nichts fehlen“, sagte Hauptmann Hassan an Sindbad gerichtet. „Du wirst fürstlich bewirtet werden und man wird dir jeden Wunsch erfüllen. Und falls wir alle wohlbehalten zurückkehren und dem Kalifen tatsächlich geholfen werden kann, wird er dich reichlich entlohnen.“
„Warum hat er mir das nicht selbst gesagt?“
„Manche Dinge überlässt er lieber mir“, sagte Hassan. „Aber eins solltest du auf keinen Fall versuchen!“
„Wovon sprichst du?“
„Das weißt du genau! Wenn du versuchen solltest, dich der Weisung unseres Herrschers zu entziehen, dann habe ich den Auftrag, dich zu töten. Ich werde dich die ganze Zeit über beobachten und keinen Moment von deiner Seite weichen.“
„Auch während der Reise?“, fragte Sindbad.
Hassan verzog das Gesicht. „Ganz besonders während der Reise.“
––––––––
ES WURDE EIN GROßES Festmahl im Palast gegeben. Musikanten spielten und es wurden die köstlichsten Speisen gereicht. Der Kalif nahm selbst auf Grund seiner angegriffenen Gesundheit nicht daran teil – wohl aber Abdul aus Cordoba, der etwas verspätet dazukam.
Sindbad hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie er aus alledem wieder herauskam. Aber wie er es auch drehte und wendete – er kam aus dem Netz so einfach nicht wieder heraus, das er sich selbst aus seinen Lügen geschaffen hatte. Jeder glaubte nun die Geschichten, die er erfunden hatte. Man hielt ihn für den, der er immer behauptet hatte zu sein und nun erwartete man von ihm, dass er es auch unter Beweis stellte – was er natürlich nicht konnte.
Was soll ich nur tun?, dachte er. Natürlich hatte er zunächst einmal gar keine andere Wahl, als die Reise anzutreten. Nur würde sich irgendwann im Laufe der Zeit doch zwangsläufig die Wahrheit herausstellen! Und die Wahrheit lautete ganz einfach, dass er nicht den Hauch einer Ahnung davon hatte, wie oder wo er ein Ei des Vogels Rock finden konnte – außer vielleicht in seiner überbordenden Fantasie.
„Wie vorhin beim Kalifen schon erwähnt wurde, war ich lange in den Ländern des Ostens“, sagte Branagorn von Corvey. Er schob seine Kapuze zurück und zum ersten Mal sah Sindbad das Gesicht dieses Mannes, der aus einem der weit nördlich liegenden Reiche der Ungläubigen gekommen sein sollte. Es war totenblass. Das lange Haar war silbriggrau, fast weiß und reichte ihm bis über die Schultern. Als er den Kopf drehte, stach eines seiner Ohren für einen Moment hervor. Es lief spitz zu und wirkte verstümmelt. Sindbad hatte davon gehört, dass es in manchen Ländern üblich war, Betrüger und Falschmünzer auf diese Weise zu bestrafen. Aber konnte man sich vorstellen, dass ein Mann am Hof des Kalifen geduldet wurde, der eines solchen Verbrechens schuldig war?
Ich werde sicherlich noch lange genug Gelegenheit dazu haben, ihn danach zu fragen, wie es dazu gekommen ist, überlegte Sindbad. Schließlich lag vor ihnen allen eine Seereise ins Ungewisse.
„Ich habe die Länder des Ostens bereist“, sagte Branagorn. „Und ich bin immer wieder auf Legenden über riesenhafte Vögel gestoßen. Allerdings bin ich nie einem dieser Geschöpfe begegnet.“
Nun, da haben wir ja sogar etwas gemeinsam!, dachte Sindbad bitter und mit wachsender Verzweiflung, die ihm schier den Hals zuschnürte, sodass er im ersten Moment gar nichts zu erwidern wusste.
Natürlich erwartete der Mann aus dem Land der Ungläubigen nun sicherlich eine genaue, eindrucksvolle Schilderung von Sindbads Begegnungen mit dem Vogel Rock. Aber auch wenn Sindbad diese Dinge so oft erzählt hatte, wenn er am Hafen saß, so war er jetzt zurückhaltender. Diese Männer waren schließlich allesamt gelehrt und scharfsinnig. Keine leicht zu beeindruckenden Söhne von Lastenträgern oder Kaufleute, denen die Gier den Verstand so sehr vernebelte, dass sie bereit waren, jede Geschichte zu glauben, in der außer Riesenvögeln möglichst noch kostbare Schätze vorkamen! Sindbad spürte die bohrenden, erwartungsvollen Blicke auf sich gerichtet. „Nun, der Vogel Rock gehört einer sehr seltenen Art an, die offenbar nur auf einigen wenigen Inseln zu Hause ist“, sagte Sindbad.
„Aber die Frage, die ich mir stelle, ist die: Wieso konnte sich eine Vogelart nicht weiter verbreiten und blieb offenbar auf einem einsamen Eilande begrenzt?“, fragte Branagorn. „Diese Geschöpfe brauchten sich doch nur in die Lüfte erheben, um sich anschließend niederzulassen, wo auch immer es ihnen beliebt und man sie duldet!“
„Vielleicht bindet sie ein Fluch!“, meinte Hassan. „Bei Allah, das wollen wir hoffen, denn niemand will solche Geschöpfe in seiner Nähe wissen!“
Die anderen nickten zustimmend und aßen dabei etwas von den köstlich gewürzten Speisen, die man ihnen serviert hatte.
„Ich habe allerdings auch Geschichten über solche Riesenvögel gehört, die gar nicht fliegen können, sondern sich laufend fortbewegen“, ließ Branagorn nicht locker, der die unangenehme Eigenschaft zu haben schien, ein Thema sehr hartnäckig zu verfolgen. Die Aufmerksamkeit der anderen war inzwischen mehr auf die köstlichen Speisen gerichtet. Von schrecklichen Riesenvögeln schienen sie im Augenblick lieber nichts hören zu wollen. Schließlich würden sie ihnen ja noch früh genug begegnen, so glaubten sie wohl. Und nun ging es ihnen erst einmal darum, sich noch einmal mit den Köstlichkeiten den Magen vollzuschlagen, die die Meisterköche des Kalifen herbeizaubern konnten.
Einzig Branagorn schien da eine Ausnahme zu sein. Er hatte bislang kaum etwas von all den Köstlichkeiten angerührt.
„Nun, es mag Exemplare geben, die fliegen können und solche, die es nicht können“, sagte Sindbad ausweichend. „Allah hat schließlich eine große Vielfalt von Geschöpfen in die Welt gesetzt!“
„Ich hatte gehofft, du wüsstest dies genauer – schließlich bist du der erste und einzige, den ich bisher traf, der von sich behauptet hat, diesen Riesenvögeln auch tatsächlich begegnet zu sein!“
„Sag mal – was ist dieses Corvey, von dem du herkommst?“, stellte Sindbad nun eine Gegenfrage, um etwas aus der Verlegenheit zu kommen. „Ich habe den Namen dieser Stadt noch nie gehört!“
„Es ist auch keine Stadt, sondern ein Kloster in Westfalen, einem Landstrich im Reich von Kaiser Otto, dem Herrn im Reich der Östlichen Franken“, sagte Branagorn.
„Ein Kloster?“, runzelte Sindbad die Stirn. „Ich habe davon gehört, dass bei den Christen Mönche in selbstgewählter Abgeschiedenheit leben.“
„Die Mönche von Corvey bewahren viele wertvolle Schriften und widmen sich den verschiedensten Studien“, erklärte Branagorn.
„Und du bist einer von ihnen?“, vergewisserte sich Sindbad.
„Ja“, bestätigte Branagorn. „Zumindest war ich lange dort, später reiste ich in den Diensten meines Kaisers durch viele Länder.“
„Dann bist du eine Art Botschafter des Kaisers im Reich der Östlichen Franken!“
„Das wäre vielleicht etwas übertrieben, aber...“
„Jetzt kann ich mir auch vorstellen, weshalb unser Kalif einen Ungläubigen an seinem Hof duldet.“
„Der Kalif mag krank sein, aber er ist ein durchaus großherziger Mann, der es bedauert, nicht selbst in ferne Länder reisen zu können. So hört er gern den Berichten von Fremden zu, die es in seine Stadt verschlagen hat.“
„Das stimmt“, bestätigte Hassan. „Er redete auch immer gerne mit den Nordmännern, die hier her kommen.“
Branagorn kam auf seine ursprüngliche, sehr bohrend gestellten Fragen zur Flugfähigkeit des Riesenvogels Rock nicht zurück. Vielleicht war er dazu einfach zu höflich, vielleicht wollte er es aber auch auf keinen Fall zum offenen Streit kommen lassen.
Aber insgeheim spürte Sindbad, dass dieser Mönch aus einem fernen Land, von dem man in Bagdad immer wieder nur mal zu hören bekam, dass dort das Wetter schlecht und es kalt sei und man außerdem noch nichts vom Propheten Mohammed und dem rechten Glauben an Allah gehört hätte, seinen Worten nicht so recht Glauben schenkte. Auch sonst würde dort große Unwissenheit herrschen, was alle Fragen der Heilkunst und der Reinlichkeit betraf. Und man trank so viel Alkohol, dass man sich nur wundern konnte, wie man es in diesem Land überhaupt schaffen konnte, die Ernte einzufahren.
––––––––
IM WEITEREN VERLAUF des Mahls lernte Sindbad auch die anderen etwas besser kennen, die ihm als künftige Teilnehmer an seiner achten Reise vorgestellt worden waren. Abdul aus Cordoba war offenbar ein hoch angesehener Gelehrter und Arzt, der darüber hinaus allerdings noch in allen möglichen anderen Wissenschaften bewandert war. Ibn Sina, der von Abdul als sein Gehilfe bezeichnet worden war, mochte zwar noch sehr jung sein, war aber in Wahrheit alles andere als ein Lehrling. Er hatte in Samarkand und Buchara schon einige Bücher geschrieben und war trotz seiner jungen Jahre bereits ein hoch angesehener Gelehrter und Arzt. Neben der Kunst, Kranke zu heilen, beschäftigten ihn ansonsten wohl vor allem astrologische Studien. Er war ein Sterndeuter und wusste, wie sich viele Himmelserscheinungen im voraus berechnen ließen, sodass man genau wusste, wann das Ereignis eintrat.
„Gegen die versammelte Weisheit in diesem Raum komme ich mir geradezu schäbig und dumm vor“, bekannte Sindbad – denn er dachte, dass es eine gute Ablenkung wäre, wenn er diesen Männern etwas schmeichelte.
„An dir scheint ein wahrer Diplomat verloren gegangen zu sein“, stellte Ibn Sina etwas überrascht und ziemlich beeindruckt fest.
„Du übertreibst, werter Ibn Sina“, sagte Sindbad scheinbar bescheiden. „Ich versuche nur, freundlich zu sein – nichts weiter. Doch die Wahrheit ist, dass ich geradezu geblendet bin von all der Weisheit und Klugheit, die mich in dieser Runde umgibt. Ich dagegen bin nur ein einfacher Seefahrer, der nichts weiter gelernt hat, als mit einer Dau auf das Meer hinauszufahren und die Segel so zu setzen, dass der Wind das Schiff in die richtige Richtung trägt!“
Nachdem Sindbad dies gesagt hatte, machten Abdul aus Cordoba und Ibn Sina sogleich den Eindruck, als wären sie gerade um mehr als eine Handbreit gewachsen. Nur Branagorn schien von alledem völlig unbeeindruckt zu sein, während Hauptmann Hassan einfach nur etwas ratlos wirkte.
––––––––
AM NÄCHSTEN TAG SCHON sollte das Schiff auslaufen, das der Kalif für diese Reise zur Verfügung stellte. Für die Nacht wurde Sindbad ein prachtvolles Gemach zugewiesen. Auch hier sollte es ihm an nichts fehlen.
Sindbad aber lag die ganze Nacht wach in dem breiten Bett in seinem Quartier. Er konnte kein Auge zumachen. Die ganze Zeit über musste er daran denken, in welch verzweifelter Lage er doch war. Diese Fahrt konnte für ihn nur Unglück bringen. Irgendwann, wenn sie bis zum Ende der Welt gesegelt waren, würde sich doch herausstellen, dass es dieses Land von Vogel Rock überhaupt nicht gab.
Auf den Moment, da diese Wahrheit ans Tageslicht kam, musste er sich irgendwie vorbereiten. Eine Weile werde ich meine Mitreisenden sicherlich hinhalten können!, überlegte Sindbad. Aber das konnte nicht ewig gutgehen.
Und was sollte er dann tun?
Einfach die Flucht ergreifen?
In irgendeinem der Häfen, die sie unterwegs anlaufen würden, um Trinkwasser und Proviant an Bord zu nehmen, würde ihm das sicherlich gelingen. Er musste dann nur aufpassen, nicht Hauptmann Hassan und seinen Männern in die Hände zu geraten, der mit Sicherheit die Verfolgung aufnehmen würden!
Wie man die Sache auch drehte und wendete, irgendwie kam nichts Gutes dabei heraus.
Sindbad atmete tief durch. Sein Herz war schwer und sein Inneres aufgewühlt und unruhig. Er hatte manchmal das Gefühl, riesige Wellen würden sich in seinem Inneren brechen und über ihm zusammenschlagen.
––––––––
DAS SCHIFF, MIT DEM die Reise durchgeführt werden sollte, hieß 'Flügel des Windes' und war eine Dau, mit einem hohen Mast und einem rechteckigen Segel. Aus dreißig Männern bestand die Besatzung, angeführt von einem Kapitän, der Firuz der Perser genannt wurde. Firuz war ein Mann mit schwarzem Bart und stechendem Blick. Sein Turban war auf eine Art und Weise gebunden, dass beinahe seine gesamte Stirn durch den Stoff verdeckt wurde. Die Augenbrauen waren sehr buschig und die Haut lederig und wettergegerbt.
Firuz musterte Sindbad von oben bis unten. Seine Gesicht war dabei nicht anzusehen, was er von seinem Gegenüber hielt.
„Es sollte dir eine Ehre sein, mit Sindbad dem Seefahrer auf einem Schiff zu segeln“, meinte Hauptmann Hassan, der Sindbad dem Kapitän vorgestellt hatte.
„Ich kenne dich, Sindbad“, sagte Kapitän Firuz. „Ich habe sogar schon bisweilen deinen Geschichten gelauscht, die du am Hafen erzählst und mit denen du kleine Jungen beeindruckt hast, die sich danach von der Seefahrt wohl ein ganz falsches Bild machen werden!“
„Ich nehme deine Worte, als Kompliment für eine lebendige Erzählung“, entgegnete Sindbad höflich, obwohl ihm der schneidende Unterton in den Worten des Kapitäns nicht entgangen war.
„Nun, deine Beschreibungen des Hafens von Al-Bahrain entsprachen immerhin der Wirklichkeit“, sagte Kapitän Firuz. „Dort bin ich oft genug selbst gewesen und vermag das deshalb zu beurteilen. Was deine anderen Erlebnisse angeht, so habe ich ehrlich gesagt von jenen seltsamen Ländern und Geschöpfen, von denen du in deinen Erzählungen berichtest, nie etwas gehört. Und dabei bin ich ebenfalls ein weitgereister und erfahrener Kapitän!“
„Es ist eben immer die Frage wie weit man gereist ist. In den unvorstellbaren Fernen der Ozeane gibt es gewiss auch noch viele Länder und Inseln, von denen selbst ich, Sindbad der Seefahrer, noch nichts gehört habe!“
Firuz der Perser sah Sindbad den Seefahrer noch einige Augenblicke lang nachdenklich an und nickte schließlich langsam. „Daran wird es wohl liegen, dass ich manche der Geschehnisse, die du geschildert hast, einfach nicht glauben konnte“, sagte er dann.
––––––––
AN DER KAIMAUER BEMERKTE Sindbad der Seefahrer dann einen Namensvetter, den jungen Sin. Dieser winkte ihm zu. Sindbad der Seefahrer ging zu dem Jungen hin.
„Sei gegrüßt, großer Sindbad“, sagte Sin. „Ich freue mich, dass es dir gut geht und man dich nicht in einen Kerker geworfen hat – aus welchem Grund auch immer!“
„Ganz im Gegenteil, ich wurde zum Kalifen geführt und fürstlich bewirtet. Und außerdem...“
„Du stichst wieder in See, nicht wahr? Endlich soll deine achte Reise beginnen“, entfuhr es Sin.
„Nun...“
„Ganz Bagdad spricht darüber!“
Sindbad der Seefahrer seufzte. Dann ist diese Geschichte also auch schon überall verbreitet, ging es ihm durch den Kopf. Ich werde nie wieder in meine Heimatstadt zurückkehren können, es sei denn Allah hat ein Erbarmen und lässt mich gegen jede Vernunft und Wahrscheinlichkeit doch etwas finden, dass man als Ei des Riesenvogels Rock ausgeben könnte!
„Du wolltest mich als Schiffsjungen mitnehmen“, erinnerte Sin den berühmten Namensvetter an dessen Versprechen. „So lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet und schon kaum noch zu hoffen gewagt, dass er je eintritt“, fuhr Sin fort, ehe Sindbad der Seefahrer überhaupt in der Lage gewesen wäre, zu antworten. „Weißt du, manche böse Zungen in Bagdad wollten nämlich wissen, dass du nie wieder auf eine große Fahrt gehen würdest! Und noch bösere behaupteten...“
„Man sollte niemals wiederholen, was böse oder gar noch bösere Zungen sagen, mein Junge! Dadurch hilft man nur, üblen Menschen, böse Botschaften noch leichter zu verbreiten, als sie dies ohnehin schon vermögen.“
„Auf jeden Fall hatte ich schon befürchtet, längst zu alt für einen Schiffsjungen zu sein, bis du deine nächste Fahrt unternimmst“, sagte Sin. „Kann ich an Bord kommen, großer Sindbad?“
„Müsstest du nicht zuerst mit deinem Vater und deiner Mutter sprechen?“
„Das habe ich längst!“
„Ich kenne deinen Vater sehr gut und ich kann mir nicht vorstellen, dass er von dem Gedanken begeistert ist, seinen einzigen Sohn auf eine ungewisse Reise zu schicken – in Länder mit furchtbaren Kreaturen, wie zum Beispiel...“
„...den Vogel Rock!“
„...der einen Jungen wie dich mit seinem Schnabel schnappen und in zwei Hälften zerteilen könnte!“
Sin schluckte. „Eine so schreckliche Geschichte habe ich nie aus deinem Mund gehört“, wunderte sich der Junge.
„Sie ist aber genauso wahr, wie alles andere, was ich erlebt habe!“
„Ich bin nicht ängstlich! Und was meinen Vater und meine Mutter angeht, so hast du schon recht! Sie sind überhaupt nicht begeistert. Aber ich habe ihnen gesagt, dass es ja schließlich Allahs Wille war, dass ich den Namen des größten Seefahrers trage, der je auf Erden gelebt hat! Kann es da denn auch sein Wille sein, dass ausgerechnet ich niemals zur See fahre?“
„Dazu kann man verschiedener Ansicht sein, Sin!“
„Meine Eltern hat dieses Argument überzeugt. Und mal ehrlich: Ist es nicht besser, die Lunge voll Salzwasser zu bekommen, als einen krummen Buckel vom Tragen schwerer Lasten, wie es bei meinem Vater der Fall ist?“
„Ach, Sin, wenn du wüsstest...“
„Ich weiß ganz genau, was ich tun will! Und hier bin ich! Mit dem Segen Allahs und meiner Eltern! Also kannst du mich mitnehmen, so wie du es versprochen hast!“ Der Junge runzelte die Stirn. „Du hättest mir doch sicherlich ohnehin noch Bescheid gesagt, bevor das Schiff ablegt, oder?“
Der Kapitän trat jetzt erneut an Sindbad den Seefahrer heran. „Komm an Bord, du großer Seefahrer“, sagte Firuz der Perser und verzog dabei spöttisch das Gesicht. „Es ist alles an Bord! Wir laufen aus!“
„Sindbad?“, fragte der Junge etwas irritiert. „Du willst mich doch nicht etwa hier stehen lassen? Bist du nicht als ein Mann von edler Gesinnung bekannt, der seine Versprechen hält und voller Wahrhaftigkeit ist? Bei Allah, ich habe mich doch nicht etwa in dir enttäuscht? Aber das ist nicht möglich! Denn wie hätte mein Vater, der für seine Menschenkenntnis allüberall bekannte Sindbad der Lastenträger, sonst eine so hohe Meinung über dich haben und dich immer wieder in seinem Haus bewirten können, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten?“
Man konnte förmlich sehen, wie eine Flut von Gedanken in seinem Kopf herumschwirrte. Und obwohl Sindbad der Seefahrer in keiner seiner Erzählungen jemals behauptet hatte, die Gabe zu haben, Gedanken zu lesen, waren die Gedanken des Jungen für ihn in diesem Moment vollkommen offensichtlich.
Dessen Stirn umwölkte sich zusehends.
War es wirklich möglich, dass Sindbad der Seefahrer jemand war, der einem nur dann versprach, einen auf seine nächste Reise mitzunehmen, wenn es nahezu ausgeschlossen erschien, dass diese Reise auch jemals stattfand?
Und was, wenn vielleicht noch mehr an diesem Sindbad nicht dem entsprach, was er vorgab?
„Kapitän!“, gab sich Sindbad der Seefahrer nun einen Ruck – im letzten Moment, ehe der Junge völlig den Glauben an sein großes Vorbild verlor! „Kapitän, dieser Junge kommt mit an Bord!“
Firuz der Perser runzelte die Stirn.
„Bei Allah, will ich vielleicht Ärger mit seinem Vater haben und riskieren, dass er mir nach unserer Rückkehr auflauert? Will ich die Flüche der Mutter dieses Jungen auf mich lenken? Das kommt gar nicht Frage! Unsere Dau ist voll!“
„Ich bestehe darauf“, sagte Sindbad. „Und davon abgesehen haben wir keinen Schiffsjungen! Und genau dafür nehmen wir ihn mit!“
„Danke!“ rief der Junge, ohne die Antwort des Kapitäns überhaupt abzuwarten. Denn schließlich war es doch Sindbad der Seefahrer, der Herr dieser Reise war – nicht dieser schwarzbärtige Mann, der als Kapitän angeheuert worden war! Das zumindest schien der junge Sin zu denken und stieg einfach behände über die Reling. Mit einem Satz war er an Bord.
Sindbad der Seefahrer zuckte mit den Schultern. „Ich gab ein Versprechen“, erklärte er. „Und es steht doch geschrieben, dass man ein einmal gegebenes Versprechen auch halten muss!“
„Es steht alles Mögliche geschrieben“, knurrte Firuz der Perser düster. „Aber man muss es ja nicht lesen!“
„Wie gesagt, ich bestehe darauf, dass er uns begleitet!“
„Und falls seine Eltern mit seiner Reise nicht einverstanden gewesen sein sollen, wirst du die Verantwortung übernehmen, Seefahrer?“, fragte Firuz zweifelnd.
„Gewiss“, nickte Sindbad.
Firuz zuckte mit den Schultern. „Der Junge hat wahr gesprochen: Es ist die achte Fahrt von Sindbad dem Seefahrer und wer bin schon ich, dass ich dir, ach so großer und berühmter Seefahrer, diese Bitte abschlagen könnte!“
„Ich danke dir, Firuz! Du hast mir aus einer Verlegenheit geholfen!“
Aber Firuz machte daraufhin nur eine wegwerfende Handbewegung.
„Ich hoffe nur, dass der Junge nicht allzu viel isst und sich an unseren Vorräten vergreift.“
DIE REISE BEGINNT
Das Schiff mit dem Namen 'Flügel des Windes' verließ kurze Zeit später Bagdad. Branagorn von Corvey und der junge Arzt und Astrologe Ibn Sina führten ein gelehrtes Streitgespräch, bei dem es wohl darum ging, wie am besten eine Mondfinsternis vorherzusagen sei und welche Berechnungen man dazu anstellen müsste. Beide gestikulierten während des Gesprächs wild mit den Armen.
Immer wieder verfielen sie ins Persische, die Sprache der gelehrten Bücher, so dass weder Sindbad noch der junge Sin nur einen Teil des Gesprächs versehen konnten.
Kapitän Firuz, den man ja nicht umsonst den Perser nannte und der diese Sprache sehr wohl beherrschte, schien allerdings trotzdem nicht allzu viel davon zu verstehen. „Gelehrtes Gequatsche“, knurrte er vor sich hin. „Allah bestimmt, wie Mond und Sterne sich bewegen – warum noch darüber Berechnungen anstellen?“, sprach der Kapitän die beiden an.
„Der Geist muss bewegt werden“, sagte Branagorn daraufhin. „Es ist dieselbe Neugier, die jemand wie du vielleicht empfindet, wenn er wissen möchte, was hinter dem Horizont ist!“
„Allah mag wissen, was hinter dem Horizont ist“, sagte daraufhin Firuz. „Mir ist das gleichgültig. Ich bin zufrieden, wenn wir unser Ziel erreichen!“ Dann wandte er sich um und rief zum Steuermann: „Etwas mehr Steuerbord! Sonst verschenken wir zu viel Wind!“
Sindbad und der junge Sin standen unterdessen am Heck des Schiffes und sahen sahen zurück, während die Dau 'Flügel des Windes' gleichermaßen durch den günstigen Wind als auch durch die Strömung flussabwärts getrieben wurde. „Es wundert mich, dass dein Vater nicht zu deinem Abschied im Hafen gewesen ist“, sagte Sindbad der Seefahrer.
„Du vergisst: Er ist ein Lastenträger. Und Lastenträger können sich nicht aussuchen, wann sie Lasten zu tragen haben, wollen sie ihr Auskommen haben!“
„Du meinst, er war nicht dort, weil er arbeiten musste?“
„So wird es sein, großer Sindbad!“
„Und deine Mutter?“
„Ich habe ein paar kleinere Schwestern, von denen eine viel schreit und sie sehr in Atem hält“, erklärte Sin.
„Ah, ich verstehe“, sagte Sindbad. „Allerdings, wenn ich nur einen einzigen Sohn hätte, und der ginge auf eine weite, ungewisse Reise, dann würde ich ganz bestimmt an der Kaimauer stehen und dem Schiff so lange nachsehen, bis es hinter dem Horizont vor der nächsten Flussbiegung verschwunden wäre!“
„Ja, wenn es eine Reise ins Ungewisse wäre! Aber an deiner Seite, großer Sindbad, ist doch keine Reise ungewiss! Nicht, wenn man mit dem größten, berühmtesten und erfahrensten aller Seefahrer reist, der schon mehr von der Welt und ihren Schrecken gesehen hat, als jeder andere!“
„Man könnte denken, du wärst der Sohn eines Diplomaten – und nicht eines Lastenträgers“, meinte Sindbad. „So gut vermagst du zumindest zu schmeicheln.“
„Bei Allah, es ist die reine Wahrheit! So empfinde ich!“
„Ja, mag sein.“
Und dabei dachte Sindbad: Der scheint mich in jeder Hinsicht als ein Vorbild auserwählt zu haben – auch in der Kunst des Lügens! Selbst dafür, dass seine Eltern nicht zum Hafen gekommen sind, hatte er noch eine Erklärung!
Das nötigte Sindbad dem Seefahrer sogar etwas Respekt ab, denn er wusste ja aus eigener Erfahrung, wie schwierig es sein konnte, eine Geschichte mit so großer Überzeugungskraft vorzutragen, dass die Zuhörer geneigt waren, selbst die allergrößten Wunder zu glauben, als wären es alltägliche Dinge.
In Wahrheit, so überlegte Sindbad, hat der Junge seinen Eltern wohl gar nicht Bescheid gesagt und sie werden sich jetzt wundern, wohin ihr einziger Sohn so plötzlich verschwunden sein mag! Sie werden die Gerüchte um meinen Aufbruch zu meiner achten Reise zu Ohren bekommen und dann wird ihnen die schmerzhafte Wahrheit langsam dämmern...
Sindbad der Seefahrer hatte Sindbad den Lastenträger noch nie um irgend etwas beneidet. Aber nun bedauerte er ihn sogar.
––––––––
DIE 'FLÜGEL DES WINDES' machte ihrem Namen alle Ehre. Die Fahrt ging schnell Richtung Süden voran – und das selbst dann noch, als der Wind drehte und die Segel eingeholt werden mussten. Aber die Strömung des Flusses war so stark, dass der junge Sin, der noch nie mit einem Schiff unterwegs gewesen war, den Unterschied gar nicht merkte. Von den Aufgaben eines Schiffsjungen hatte er natürlich keine Ahnung, aber das lernte er schnell. Vor allem bestanden sie darin, die Besatzung mit Getränken zu versorgen. Und dazu kamen natürlich noch andere Hilfsdienste. Sin nutzte jedoch auch jeden Moment, um dem Steuermann bei seiner Arbeit zuzusehen.
––––––––
ES DAUERTE TAGE, BIS sie endlich Basra erreichten. Sin hatte viel über diese Stadt gehört.
Hier gab es noch mehr Schiffe, als in Bagdad. Viele Waren wurden in Basra bereits umgeschlagen und auf Eselskarren gen Norden getragen - oder aber weiter in die Wüste im Westen oder die Berge im Osten, wo das Land der Perser begann. Der Kalif entstammte einer persischen Dynastie und hätte diese Gebiete zu seinem Herrschaftsbereich zählen müssen, so wie sich alle Länder der Gläubigen eigentlich vor seinem Thron hätten verneigen müssen. Aber das war schon lange nicht mehr der Fall. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Macht des Kalifen längst nicht mehr so weit reichte, wie noch in früheren Zeiten. Sin hatte die Männer darüber sprechen hören, wenn sie beim Tee zusammen saßen, der aus dem fernen Indien nach Bagdad kam. Man erzählte sogar, dass es im Fernen Westen einen weiteren Kalifen gab, obwohl das eigentlich nicht sein durfte, wie Sin sehr wohl wusste. Schließlich konnte es nur einen Anführer der Gläubigen geben. Auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder Auseinandersetzungen und sogar Kriege gegeben hatte, um die Nachfolge zu bestimmen, so war es doch undenkbar, dass sich einer der tributpflichtigen Herrscher unabhängig machte und sich dann sogar zum Kalifen erheben ließ.
Auch an Bord der 'Flügel des Windes' wurde darüber geredet. Die Männer hatten ja Zeit genug dazu. Schließlich sorgten entweder der Wind oder die Strömung oder beide dafür, dass die Dau ihren Weg unbeirrt flussabwärts fortsetzte. Außer dem Steuermann brauchte dazu keiner von ihnen wirklich etwas tun, dass dies geschah.
„Der Kalif ist krank und weil er krank ist, ist er schwach“, hörte Sin Abdul aus Cordoba sagen.
„Ich glaube nicht, dass die Schwäche des Kalifats etwas mit der körperlichen Schwäche des Kalifen zu tun hat“, meinte Branagorn von Corvey.
„Ein Ungläubiger sollte sich zu diesen Dingen besser nicht äußern“, fand Hauptmann Hassan und seine Worte hatten einen grimmigen, fast drohenden Unterton. Sin war er immer sehr nüchtern vorgekommen. Jemand, der das Notwendige erledigte, ohne großes Aufhebens zu machen.
„Ihr wollt nur die Wahrheit nicht sehen“, sagte Branagorn. „Das Reich der Gläubigen, das euer Prophet einst begründete, ist längst zerfallen. Es existiert nur noch in der Vorstellung, aber nicht mehr in der Wirklichkeit. Und das es inzwischen mehr als nur einen einzigen Kalifen gibt, ist nur ein äußeres Zeichen dafür.“
„Ich habe gehört, dass es in den Ländern der Christen bisweilen mehrere Päpste und Kaiser gibt, obwohl es ebenfalls nur jeweils einen einzigen geben sollte, wenn ich da richtig informiert bin“, meldete sich nun der junge Ibn Sina zu Wort und die Älteren sahen erstaunt zu ihm hin.
„Du weißt viel von der Welt“, stellte Branagorn fest.
Hauptmann Hasssan hingegen verzog nur das Gesicht. Er konnte es nicht leiden, dass ein so junger Mann von Dingen sprach, von denen Hassan keine Ahnung hatte. Selbst Kapitän Firuz hatte erstaunt die Augenbrauen gehoben. „Wir haben doch das Glück, den großen Sindbad unter uns zu haben. Vielleicht hat er ja auch etwas dazu zu sagen?“
Alle Blicke waren nun auf Sindbad gerichtet.
Der junge Sin stand in der Nähe und fragte sich, was sein berühmter Namensvetter jetzt wohl antworten würde. Oft genug hatte Sin sein großes Vorbild beobachtet, während er voller Spannung an Sindbads Lippen hing und nur eins hoffte: Dass sie niemals aufhören würden weiter zu erzählen und die begonnene Geschichte fortzusetzen.
Und so hatte der Junge den berühmtesten Seefahrer im Reich des Kalifen ziemlich gut kennen gelernt. Sin wusste jede Regung in dessen Gesicht zu deuten. Und so wusste er nun auch, wie unbehaglich sich Sindbad fühlte. Warum nur?, fragte sich Sin. Er hat dich gar keinen Grund dazu! Wenn er ein Betrüger wäre, der in Wahrheit kaum aus seiner Heimatstadt herausgekommen ist – ja, dann könnte ich verstehen, weshalb er nun so schwitzt...
Sin hielt selbst ebenfalls den Atem an.
„Nun, ich bin nie so weit in den Norden gereist, dass ich eines dieser Kaiserreiche, von denen da die Rede war, überhaupt je betreten hätte“, versuchte Sindbad der Frage geschickt auszuweichen. „Und andererseits war ich auch zu oft in der Fremde, als dass ich die Stärke des Kalifats wirklich zu beurteilen vermag.“
„Zu oft?“, spottete Hassan. „Ich habe dich in den letzten Jahren beinahe jeden Tag am Hafen erzählen hören.“
Sindbad war überrascht.
Er begegnete Hassans amüsiertem Blick. „So warst du zuweilen einer meiner Zuhörer?“
„So ist es! Und wenn ich das richtig sehe, liegt deine letzte Reise schon länger zurück!“
„Nun, Allah lässt uns die Zeit nicht immer gleichmäßig empfinden. Mal kommt sie uns lang vor und ein anderes Mal vielleicht nur sehr kurz, obwohl es eigentlich dieselbe Anzahl von Stunden oder Tagen war...“
„Oder in deinem Fall Jahren?“, ließ Hassan nicht locker.
„Wenn du Zweifel an Sindbads seemännischen Fähigkeiten hast, dann kannst du ganz beruhigt sein“, mischte sich Firuz der Perser ein und erlöste Sindbad damit aus der Notwendigkeit, eine Antwort geben zu müssen. „Ich bin schließlich der Kapitän der 'Flügel des Windes' und ich werde dafür sorgen, dass wir unser Ziel sicher erreichen – an welcher von Allahs verlassenen einsamen Küsten es auch immer liegen mag.“
„Du solltest Sindbad den Seefahrer nicht beleidigen“, sagte Abdul aus Cordoba etwas ärgerlich. „Wir sollten froh sein, dass er in Bagdad war und der Kalif ihn zu sich rufen konnte. Denn wer sonst könnte uns zu dem Land des Vogels Rock führen, wenn nicht er?“
Abdul aus Cordoba holte ein Buch aus seinem Gepäck. Es war kunstvoll nach Art der Buchbinder von Bagdad verarbeitet, wo man an jeder Straßenecke einen Buchverkäufer finden konnte und es regelrechte Schreibwerkstätten gab, in denen ganze Dutzendschaften von geschickten Schreibern mit Sorgfalt und größtmöglicher Geschwindigkeit die Schriften Gelehrter Männer kopierten. „Diese Schrift erwarb ich von einem Händler, der mir sogar die seltensten Exemplare zu besorgen vermochte. Bücher, von denen niemand ahnt, dass sie je existiert haben und die in geheimnisvollen Schriften verfasst sind, die heute nur noch von wenigen Menschen gelesen werden können.“
Abdul aus Cordoba öffnete dieses Buch.
Der junge Sin blickte den Männern neugierig über die Schultern.
„Du brauchst nicht den Kopf zu recken“, meinte Kapitän Firuz etwas spöttisch. „Oder willst du etwa behaupten, dass du lesen könntest, Junge?“
„Ich bin der Sohn eines Lastenträgers, der eigentlich auch einmal ein Lastenträger werden sollte – und dazu ist es nur notwendig, dass man starke Arme und breite Schultern hat – aber nicht, dass man lesen kann!“
„Jeder Gläubige sollte die Schrift erlernen, damit er die Worte des Propheten zu lesen vermag“, widersprach Firuz. „Und das gilt selbst für den dummen Sohn eines dummen Lastenträgers!“
Der Hochmut, mit dem Firuz ihn behandelte, versetzte Sin einen Stich. War sein Vater oder er vielleicht dumm, nur weil sie nicht einer reichen Familie entstammten, die es sich leisten konnten, auf die Arbeitskraft ihrer Kinder zu verzichten, während sie im Lesen und Schreiben unterrichtet wurden? Und davon abgesehen, waren all die Lastenträger nicht am Ende sogar wichtiger als die schriftkundigen Wesire und Kaufleute! Denn was wären diese hohen Herrschaften schon gewesen, wenn ihnen nicht jemand anders die Lasten getragen hätte.
Aber Sin wusste, dass es besser war, nichts zu der Bemerkung des Persers zu sagen. Schließlich war Firuz ja der Kapitän und Sin war froh, durch die Fürsprache seines berühmten Namensvetters überhaupt mit an Bord gelangt zu sein.
Die Schriftzeichen in dem Buch, das Abdul aus Cordoba aufgeschlagen hatte, unterschieden sich schon auf den ersten Blick von den Buchstaben des Korans und aller anderen Bücher und Schriftstücke, die Sin jemals zu Gesicht bekommen hatte. Aber noch mehr als die Schriftzeichen verwunderten Sin die Zeichnungen, die auf den fest zusammengebundenen Seiten zu sehen waren. Vögel, deren Ähnlichkeit mit Hühnern nicht zu leugnen war. Nur, dass diese Hühner offenbar übermenschlich groß waren. Um die Größenverhältnisse deutlich zu machen waren ein Mann, ein Kamel und ein Elefant neben den Vogel gezeichnet.
Und dieses Riesenhuhn hatte etwa die Größe des Elefanten.
Hin und wieder gab es Elefanten in Bagdad und Sin hatte keine Gelegenheit ausgelassen, um sie sich anzusehen. Händler aus Persien brachten sie zusammen mit den dazugehörigen Treibern aus Indien in die Stadt des Kalifen. Reiche Handelsherrn leisteten sich mitunter den Besitz eines solchen Geschöpfs, auch wenn man sich auf den Straßen erzählte, dass ihre Fresswut auch den reichsten Mann auf die Dauer arm machte.
„In dieser Schrift werden die Eier von Riesenvögeln als Heilmittel gepriesen, das vielfältig angewendet werden kann!“, mischte sich nun der junge Ibn Sina ein, wofür er für Abdul aus Cordoba einen radelnden Blick erntete.
Mochte der junge Mann auch noch so begabt sein! So stand es ihm doch nicht zu, sich einfach so hervorzutun und einem ehrwürdigen Gelehrten wie Abdul ins Wort zu fallen!
„Du sollst ja über außerordentliche Fähigkeiten verfügen“, sagte Firuz auf seine gewohnt spöttische Art. „Ich wusste gar nicht, dass du dieses Gekritzel lesen kannst!“
Ibn Sina wurde rot.
„Das kann ich auch nicht“, gab er zu.
„Er spricht Persisch, Arabisch und Griechisch“, nahm Abdul aus Cordoba den jungen Mann jetzt in Schutz. „Und die Schrift der alte Griechen beherrscht er sogar besser als ich und hat mir schon viele Stellen aus den Büchern aus der Zeit vor dem Propheten übersetzt! Der einzige von uns, der die Schrift in diesem Buch fließend zu lesen vermag ist Branagorn, der zu bescheiden ist, dies zu erwähnen! Aber es ist sein Verdienst, dass wir den Sinn dieser Zeichen verstehen konnten!“
„Es stimmt“, nickte der Mönch. „Auf meinen Reisen in den Osten kam ich auch in das Reich des Chola-Königs Rajaraja und lernte Schrift und Sprache seiner Bewohner.“
„Die Chola?“, fragte Firuz stirnrunzelnd. „Das sind doch diese indischen Gewürzhändler, die in Palästen aus reinem Gold leben sollen, sodass dagegen selbst unser Kalif wie ein Bettler haust.“
„Die Berichte sind keineswegs übertrieben“, erklärte Branagorn. „Der Reichtum von König Rajaraja ist schier unbeschreiblich und meine empfindlichen Augen waren ganz geblendet von dem Glanz des Goldes... So viel wie dort habe ich selten von diesem Metall an einem Ort gesehen!“
Abdul aus Cordoba ergriff nun wieder das Wort. Er wandte sich an Sindbad den Seefahrer. „Ich habe dieses Buch geöffnet, damit du einen Blick auf die Zeichnungen werfen kannst“, erklärte er. „Ich nehme an, dass diese Vögel dem gleichen, dem du begegnet bist!“
„Ja, die Ähnlichkeit ist sehr groß“, erklärte Sindbad.
„Sieh dir ruhig alles genau an“, forderte Abdul ihn auf. „In diesem Buch sind noch mehr Abbildungen und manche sind sehr detailliert!“
„Wenn diese Vögel Geschöpfe Allahs sind, dann sollte man keine Bilder von ihnen machen“, fand Firuz. „Denn wer ein Bild anfertigt, der versucht damit Gott nachzuahmen! Er tut so, als könnte er selbst auch Menschen und Tiere erschaffen, dabei vermag das nur Allah selbst!“
„Nicht einmal der Kalif nimmt das so genau“, widersprach Abdul aus Cordoba. „Schließlich lässt er seinen Kopf auf die Münzen prägen, mit denen man überall bezahlt.“
„Trotzdem!“, beharrte Firuz und verzog angewidert das Gesicht. „Mir gefällt dieses Buch nicht... Und ich hoffe nur, dass wir nicht den Zorn Allahs auf uns ziehen, so dass uns das Pech auf unserer Reise an den Füßen klebt!“
„Er scheint einer sehr strengen Auffassung eures Glaubens anzuhängen“, stellte Branagorn fest.
„Ein Ungläubiger sollte sich aus diesen Dingen heraushalten“, fand Firuz.
„Nun, auch in den Ländern der Christenheit wird immer wieder darüber gestritten, ob Gott uns erlaubt, Bilder anzufertigen.“
Der junge Sin hörte der Unterhaltung zu und beobachtete gleichzeitig, dass Sindbad der Seefahrer die in dem Buch dargestellten Riesenvögel nur eines kurzen Blickes würdigte. Sie schienen ihn gar nicht weiter zu interessieren. Im ersten Moment kam Sin das eigenartig vor. Aber im zweiten dachte er: Kein Wunder! Schließlich ist mein berühmter Namensvetter diesen Wesen ja schon begegnet und so kann ihr Anblick ihn auch kaum noch überraschen.
Abgesehen davon hatte Sin den Eindruck, dass Sindbad der Seefahrer ganz froh über die plötzlich ausgebrochene Diskussion unter den anderen Männern war. So brauchte er wenigstens keine weiteren Fragen zu beantworten, was ihm aus irgendeinem Grund unangenehm zu sein schien.
Er ist so bescheiden, dachte Sin. Wahrscheinlich will er einfach nur nicht mit seinen Kenntnissen und seinen Erlebnissen angeben und hält sich deshalb zurück, während die anderen nur damit prahlen, welche Sprachen sie sprechen, welche Schriften sie zu entziffern vermögen und was sie alles an Wissen erworben haben!
Sins Bewunderung für Sindbad den Seefahrer wuchs in diesem Moment noch um ein Vielfaches.
„Was sagst du dazu?“, verlangte schließlich Abdul aus Cordoba von Sindbad zu wissen. „Wer hat dieses Buch verfasst?“
„Das wird im Text nicht erwähnt“, erklärte Branagorn. „Und glaub mir: Gerade was das betrifft, habe ich ihn eingehend in Augenschein nehmen müssen. Meister Abdul kann da sehr hartnäckig sein.“
„Ist etwas Sorgfalt etwa zu viel verlangt?“, fragte Abdul. „Schließlich erlernst du bei uns die Heilkunst, wie man sie in den Ländern des Kalifen praktiziert, da kann man ja wohl auch eine gewisse Gegenleistung erwarten, wie ich finde!“
„Gewiss!“, bestätigte Branagorn. „Es war nicht meine Absicht, dies in Zweifel zu ziehen.“
„Nun, wenn es feststeht, dass dies eine Schrift aus dem Reich des Chola-Königs Rajaraja ist, dann sollten wir vielleicht dort nach Eiern des Vogels Rock suchen.“
Dies kam jetzt einigen der Männer sehr eigenartig vor.
Und selbst der junge Sin runzelte die Stirn.
„Hast du nicht immer erzählt, dass du dem Vogel Rock auf einer Insel begegnet seist?“, wollte Abdul aus Cordoba wissen.
„Zumindest werden deine Geschichten so überall weitererzählt, großer Seefahrer“, ergänzte Ibn Sina, auf dessen jugendlich glatter Stirn im Augenblick allerdings ebenfalls eine ziemlich tiefe Falte des Zweifels zu sehen war. Er sprach Sin damit aus der Seele, denn genau diese Frage hätte ihm auch auf der Zunge gelegen und so war Sin froh, dass es ein anderer für ihn tat.
„Natürlich war es eine Insel, auf der ich den Vogel Rock traf und bei Allah, ich gäbe viel dafür, wenigstens den Namen dieses Eilandes zu kennen! Abgesehen davon dürfte es schwer zu finden sein. Ich wüsste zwar ungefähr zu sagen, wo man es suchen sollte, aber eine Reise zum Hof des Rajaraja scheint mir eine geeignete Möglichkeit zu sein, um diese Reise ins Ungewisse etwas abzukürzen.“
„Das verstehe ich nicht“, gestand Abdul aus Cordoba.
Ausnahmsweise war sich Firuz mit dem Gelehrten in diesem Punkt einmal einig. „Für mich gilt das ebenfalls, edler Sindbad“, bekannte der Kapitän der 'Flügel des Windes'.
„Nun, der Schreiber des Buches oder zumindest der Erschaffer der dazugehörigen Bilder wusste ganz genau Bescheid“, erklärte Sindbad. „Und wenn er aus dem Reich des Rajaraja stammt, könnte es doch sein, dass es dort weitere Exemplare dieses eigenartigen Tieres zu bestaunen gibt und wir uns die Reise zu dieser Insel vielleicht sogar sparen könnten!“
„Ich dachte, ein so kühner Seefahrer wie du, Sindbad, scheut keine Mühen und Gefahren und eine Seereise könnte für einen wie dich gar nicht weit genug sein!“, stellte Firuz leicht amüsiert fest.
Sindbad machte ein sehr ernstes Gesicht. „Es geht hier nicht um die Abenteuerlust eines Einzelnen“, erklärte er mit weit ausholender Geste. „Einzig und allein eine schnelle Hilfe für den kranken Kalifen ist jetzt von Bedeutung.“
„Sindbad hat Recht“, mischte sich Ibn Sina ein. „Wenn wir eines dieser Vogeleier vielleicht sogar schon im Reich des Rajaraja finden könnten und nicht erst noch auf eine ungewisse Seereise gehen müssten, dann wäre das sicherlich im Sinne unseres Auftragsgebers! Bei Allah!“
„Davon abgesehen ist es bis zum Reich des Rajaraja immer noch weit genug!“, gab Firuz zu bedenken. „Schließlich haben wir bis jetzt nicht einmal das offene Meer erreicht!“
Sin schaute Sindbad dem Seefahrer über die breiten Schultern, starrte auf die Abbildungen der Riesenvögel und die geheimnisvollen Zeichen, mit denen die Seiten sehr eng beschriftet waren. Dann klappte sein berühmter Namensvetter das Buch zu – zu Sins Bedauern, denn er hätte gerne noch mehr gesehen. Doch Sindbad schien an den exotischen Tieren kaum interessiert zu sein.
Sin wunderte sich darüber nur einen kurzen Moment. Aber dann entschied er, dass das doch eigentlich vollkommen natürlich und nachvollziehbar war. Das wäre so ähnlich, als würde man meinem Vater einen der Gurte zeigen, mit denen sich Lastenträger wie er tagtäglich die schweren Lasten auf dem Rücken befestigten, um sie nicht schon während der ersten paar Schritte zu verlieren. Mein Vater hätte dann auch nur mit den Schultern gezuckt und vielleicht gesagt: Was soll's, das habe ich jeden Tag auf dem Rücken, was soll daran so besonderes sein?
Und bestimmt genauso ging es Sindbad dem Seefahrer, diesem außerordentlichen Helden der Seefahrt, der schon nahezu jedes Land und jedes noch so fremdartige Geschöpf gesehen hatte.
Bevor Sindbad das Buch an Abdul aus Cordoba zurückgab, brachte der junge Sin schließlich heraus: „Ich würde gerne auch einmal hineinsehen.“
Plötzlich waren alle Blicke auf den Jungen gerichtet und er bekam ein rotes Gesicht.
„Das ist eigentlich nichts für Schiffsjungen“, sagte Kapitän Firuz.
Aber Sindbad war anderer Ansicht. Anstatt das Buch weiter an Abdul aus Cordoba zu reichen, gab er es Sin. „Man sollte alles ansehen, was Allah einen sehen lässt – denn man weiß nie, ob man ein zweites Mal die Gelegenheit dazu bekommt“, erklärte er. „Und das gilt auch für Schiffsjungen. Also sieh es dir ruhig an, aber sei sehr vorsichtig damit. Ich nehme an, dass man dieses Buch in Gold aufwiegen müsste, um seinen Wert zu ermessen!“
NACH AL-BAHRAIN
Sie erreichten Basra. Aber es herrschte tiefste Dunkelheit, als sie im Hafen anlegten. Und bereits kurz nach Sonnenaufgang, als der Muezzin seinen Ruf vom Minarett sandte, segelten sie bereits weiter. Es gab nichts, was sie hätten an Bord nehmen müssen. Nicht einmal frisches Wasser, denn Kapitän Firuz sagte, dass ihre Vorräte auf jeden Fall bis Al-Bahrain ausreichen würden, wenn nicht einer von ihnen anfing, übermäßig viel davon zu trinken oder es mutwillig zu verschütten.
Während das Schiff durch das sich verzweigende Delta im Mündungsgebiet glitt, schwiegen alle an Bord. Ein Chor von Stimmen waren zu hören. Wasservögel, die in den Sumpfgebieten nisteten.
Firuz der Perser schien genau zu wissen, welchen der viele Wasserarme er nehmen musste, um das offene Meer zu erreichen. Dieses Labyrinth schien ihm sehr vertraut zu sein, während Sindbad der Seefahrer die meiste Zeit nur mit gerunzelter Stirn dasaß und dem Perser und seiner Mannschaft bei der Arbeit zusah.
Dann erreichten sie schließlich das offene Meer.
Der junge Sin war geradezu überwältigt von diesem Anblick. Bis zum Horizont war da nichts weiter als ein großes, blaues Etwas. Die Wasseroberfläche glitzerte, als ob Abermillionen Edelsteine in der Sonne funkelten. Der Himmel war wolkenlos und unterschied sich von der Wasserfläche des Meeres nur dadurch, dass sein Blau deutlich heller war.
„Du hast noch nie zuvor das Meer gesehen?“, sprach ihn jetzt Branagorn an, der die tiefe Ergriffenheit des Jungen von diesem Anblick wohl bemerkt hatte.
„Bei Allah, nein! Auch wenn ich jeden Tag den Geschichten meines berühmten Namensvetters zugehört habe, so habe ich doch nicht einmal im Traum geahnt, dass es so viel Wasser gibt!“
„Und dabei ist dieses Meer nur eines der kleineren“, sagte Branagorn.
„Ein kleineres Meer?“, fragte Sin fassungslos.
„Man könnte es das Nebengewässer eines wirklichen großen Ozeans nennen“, erklärte Branagorn.
„Du weißt über diese Dinge gut Bescheid“, wunderte sich Kapitän Firuz.
„Warum ist das so verwunderlich?“, wandte sich Branagorn an den Kapitän der 'Flügel des Windes'.
„Die Tatsache, dass Branagorn aus einem unzivilisierten, kalten Land zu uns gekommen ist, in dem angeblich die größten Städte kleiner als ein Dorf sind und kaum jemand zu lesen und zu schreiben vermag, sollte uns nicht zu falschen Schlussfolgerungen verleiten“, mischte sich Abdul aus Cordoba ein. Er richtete den Blick auf den blassgesichtigen Mönch. „Du verzeihst mir, wenn ich in aller Offenheit spreche.“
„Die Wahrheit braucht keine Entschuldigung“, sagte Branagorn von Corvey.
„Er kam nach Bagdad, um unsere Heilkunde zu erlernen, aber auch wir konnten von ihm lernen, denn er ist so weit in die Länder des Ostens gereist wie kaum jemand sonst und hat unser Wissen über diese Gebiete wirkungsvoller vergrößert, als so manch ein prahlerischer Seefahrer, von denen viele zwar ihre Heldentaten ausführlich schildern, aber aber alles, was sie über die fernen Länder erfahren haben, lieber für sich behalten, weil sie fürchten, jemand anderes könnte ihnen die Schätze streitig machen, die es dort gibt.“
Während er das sagte, traf Abduls Blick Sindbad.
„Ich denke nicht, dass du von mir redest“, sagte dieser.
„Nein. Aber falls du uns irgend etwas verschweigen solltest – zum Beispiel über die Position der Insel, auf der du dem Vogel Rock begegnet bist, dann tötest du damit vielleicht den Kalifen!“
Sindbad schluckte.
Hauptmann Hassan nickte kalt lächelnd und er brauchte zu diesem Gespräch selbst nichts weiter beizutragen, um Sindbad dem Seefahrer mehr als deutlich zu machen, wie brenzlig seine Lage noch werden konnte. Vor allem dann, wenn es nicht gelang, rechtzeitig ein Ei des Vogels Rock aufzutreiben.
„Er wird uns nichts verschweigen“, glaubte Branagorn. „Da bin ich mir sicher!“
Wie recht er hat!, durchfuhr es Sindbad schaudernd. Was sollte ich denn auch verschweigen, da ich doch so gut wie gar nichts weiß!
Sein junger Namensvetter Sin hingegen blickte etwas verwirrt von einem Gesicht zum anderen. Irgend etwas, so bekam er langsam das Gefühl, ging hier vor sich. Etwas, das er nicht verstand und das ihm verborgen geblieben war. Aber er hatte die Ahnung, dass es nichts Gutes sein konnte. „Hol uns zu Trinken!“, verlangte Abdul aus Cordoba. „Na los, Schiffsjunge! Oder träumst du gerade!“
Während sie über das Meer segelten, kamen günstige Winde auf, die das Schiff rasch vorantrieben.
Sin gesellte sich so oft er konnte zum Steuermann, der am Heck stand und Ruder hielt. Er war ein kräftiger, aber schweigsamer Mann mit dunklem Bart und ebenso dunklen Augen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sin herausfand, dass sein Name Omar lautete, denn sowohl vom Kapitän als auch von der Besatzung wurde er zumeist einfach nur 'Steuermann' genannt.
Omar hielt das Schiff stets in Sichtweite des Ufers.
Manchmal blickte er zusammen mit dem Kapitän zu dem flimmernden Streifen am Horizont und dann versuchten beide zu erkennen, was dort wohl genau zu sehen war. Es kam vor, dass der Kapitän dann eine seiner Karten hervorholte, an denen verschiedene auffällige Merkmale wie auf einer Perlenkette aufgereiht waren. Auffallende Felsformationen, Städte mit vielen Minaretten zum Beispiel.
Manchmal gab der Kapitän dem Steuermann Befehl, näher ans Ufer zu halten, damit man besser erkennen könnte, was dort zu sehen war.
Branagorn schien von allen die besten Augen zu haben, denn er konnte selbst dann, wenn alle anderen sich unsicher waren, noch Einzelheiten erkennen. Sin war jedesmal erstaunt, wenn sie sich als zutreffend herausstellten, sobald der Steuermann etwas näher an das Ufer herangelenkt hatte.
„Habt ihr alle keine Augen im Kopf?“, fragte Branagorn dann. „Die Landmarken sind doch klar und deutlich wiederzuerkennen! Und wenn wir uns noch näher am Ufer halten, dann verschenken wir den guten Wind und brauchen noch länger für die Reise, als sie ohnehin schon dauern wird!“
„Wer keine Geduld hat, sollte nicht zur See fahren“, antwortete Omar dem Mönch aus dem fernen Kloster Corvey.
„Und wer keine Augen hat, ebenfalls nicht!“, gab Branagorn etwas ungehalten zurück.
In der Nacht legten sie zumeist irgendwo am Ufer an und schliefen ein paar Stunden.
Der Sternenhimmel funkelte dann über ihnen und der Mond sah wie ein großes Auge auf sie herab.
In der ersten Nacht, seit sie auf dem offenen Meer segelten, konnte Sin überhaupt kein Auge zumachen. Er lag wach da, starrte in die Höhe und hörte Ibn Sina zu, der sich mit Branagorn darüber unterhalten versuchte, wie man mit Hilfe der Rechenkunst bestimmen könnte, wie groß die Erdkugel und wie groß deren Abstand zum Mond wäre. Und darüber, welche Möglichkeiten bestünden, mit Hilfe der Sternbilder oder dem Abstand zwischen Erde und Mond die Position eines Schiffs auch mitten im offenen Meer zu bestimmen.
Interessiert hörte Sin zu, wie Ibn Sina und Abdul aus Cordoba sich über einzelne Fragen die Köpfe heißredeten. Sin verstand kaum ein Wort von dem, was sie da sagten. Irgendwie ging es immer um Dreiecke und wie man die Länge einer Seite berechnen konnte, wenn einem die Länge der beiden anderen bekannt sei.
„Dreiecke zwischen Mond und der Achse der Erde“, knurrte Omar der Steuermann. „Und womöglich noch zwischen zwei Sternen und einem Punkt auf der Erde! Was für ein Unsinn! Allah sollte ihre Stimmen verstummen lassen!“
„Und wenn es möglich wäre?“, fragte Sin.
„Dann werde ich sicherlich nicht der Narr sein, der es auszuprobieren versucht und sein Leben aufs Spiel setzt.“
Sin seufzte. „Wie kann jemand so jung wie Ibn Sina sein und schon so viel wissen?“, entfuhr es dem Jungen.
„Das kommt daher, dass ihm früh das Lesen beigebracht worden sein muss! Aber du siehst ja, wohin ihn das bringt! Er könnte nicht einmal ein Schiff steuern und ist so in seinen verrückten Fantasien gefangen, dass er sich vermutlich in einem gewöhnlichen Haus verlaufen würde, weil seine Gedanken in den Sternen sind!“
––––––––
EIN PAAR TAGE SPÄTER erreichten sie den Hafen von Al-Bahrain. Zumindest behauptete Firuz der Perser, dass die Insel, die vor ihnen im grellen Sonnenlicht wie eine geisterhafte Erscheinung auftauchte, tatsächlich Al-Bahrain war. Sin war jedoch erst davon überzeugt, als auch sein berühmter Namensvetter dieser Ansicht ausdrücklich zustimmte. Schließlich waren sie zuvor schon an einer ganzen Reihe kleinerer Eilande vorbeigesegelt. Manche von ihnen waren bewohnt gewesen, wie man selbst aus der Ferne hatte erkennen können, bei anderen handelte es sich wohl um kaum mehr als aus dem Wasser ragende Sandbänke und Felsen.
„Hast du Bekannte in Al-Bahrain?“, fragte Firuz an Sindbad den Seefahrer gerichtet.
„Oh, ich war sehr oft in diesem Hafen und kenne ihn wie das Innere meines Turbans“, behauptete Sindbad der Seefahrer großspurig.
„Dann will ich hoffen, dass du dich wenigstens in deinem Turban gut auskennst“, murmelte Firuz spöttisch vor sich hin. „Vielleicht könnte uns einer der Leute, die du dort kennst, dabei helfen, gutes Wasser und frische Vorräte zu bekommen!“
„Nun, ich spreche ungern darüber, aber ich glaube, ich werde in Al-Bahrain wohl einigen einflussreichen Personen in nicht so guter Erinnerung geblieben sein.“
„Nicht so gute Erinnerung?“, fragte Kapitän Firuz. „Was soll das denn heißen?“
„Auf meiner bisher letzten Reise legten wir vor unserer Rückkehr nach Bagdad hier in Al-Bahrain an, um Vorräte und Wasser an Bord zu nehmen. Ein junger Mann und eine Frau baten darum, dass wir sie nach Bagdad mitnehmen möchten. Sie bezahlten für die Fahrt und warteten an Bord. Allerdings stellte sich heraus, dass die junge Frau die Tochter des Sultans war. Und der junge Mann der Sohn eines einfachen Teppichhändler! Damit war er natürlich weit entfernt davon, für die Tochter eines Sultans als Ehemann in Frage zu kommen.“
„Ich nehme an, es gab ein paar Verwicklungen“, mischte sich Branagorn ein.
„Das kann man laut sagen“, nickte Sindbad der Seefahrer. „Ich will euch allen die unangenehmen Einzelheiten ersparen. Wir konnten mit knapper Not entkommen – mit der Sultanstochter und ihrem geliebten Teppichhändler—Sohn an Bord und die Schiffe des Herrschers von Al-Bahrain sind uns daraufhin noch eine ganze Weile gefolgt...“ Sindbad seufzte. „Die ganze Sache ist vordergründig gut ausgegangen. Nur sollte ich besser keinen Fuß mehr auf die Insel Al-Bahrain setzen, solange der alte Sultan noch lebt. Ihr versteht mich sicher alle! Ich kann euch daher schlecht behilflich sein, wie hier sicher jeder verstehen wird und werde unauffällig an Bord warten, bis Vorräte und Wasser geladen sind!“
Der junge Sin hatte der Erzählung seines Namensvetters mit glühenden Ohren gelauscht. Diese Geschichte hatte er zuvor noch nie gehört. Weder am Flusshafen von Bagdad, wenn der große Seefahrer dem interessierten und vor allem auch zahlenden Publikum davon berichtete, noch bei jenen Gelegenheiten, wenn Sindbad der Seefahrer zu Sindbad dem Lastenträger zum Essen kam. Zumeist hatte er dann besonders ausführliche Versionen seiner Reisegeschichten zum besten gegeben.
„Es war ausgesprochen edel, diesen beiden Menschen so selbstlos zu helfen“, stieß Sin vollkommen beeindruckt hervor. „Nicht jeder hätte sich schließlich so mir nicht dir nichts selbst in Gefahr gebracht, nur um diese Unglücklichen vor dem Zorn des Sultans zu retten!“
„Ja, mir selbst ist auf meinen Reisen oft geholfen worden, wenn ich in der aussichtslosesten Lage war“, meinte Sindbad daraufhin. „Und vielleicht liegt es daran, dass ich immer gefunden habe, dass man auch anderen dieselbe Hilfsbereitschaft entgegenbringen müsste! Oft genug habe ich habe ich ja erlebt, wie leicht man plötzlich und völlig unschuldig in Bedrängnis geraten kann!“
„Und was wurde aus der Sultanstochter und ihrem Teppichhändler-Sohn?“, fragte Firuz mit schneidender Stimme. „In Bagdad hätte man von den beiden gewiss gehört, meinst du nicht?“
„Nun, Bagdad ist die größte Stadt der Welt, da fällt nicht einmal eine Sultanstochter besonders auf“, begann Sindbad auch diesen Teil seiner Geschichte noch zu erklären. Als er jedoch die Stirnfalten auf den Gesichtern der anderen sah, fügte er noch hinzu: „Wenn ich mich jedoch recht erinnere, so verließen die beiden bereits in Basra unser Schiff und vermutlich leben sie heute unerkannt in einer der Oasenstädte im Schutz der Beduinen. Oder aber sie sind nach Persien weitergezogen, die Heimat aller Teppichhändler und ich glaube sogar, dass der junge Mann ursprünglich von dort stammte. Aber über Persien brauche ich dir ja wohl nichts zu erzählen, Firuz, denn du stammst ja selbst von dort und weißt, dass nirgendwo bessere und kunstvollere Teppiche geknüpft werden als dort!“
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WÄHREND FIRUZ SICH darum kümmerte, dass das Schiff mit frischem Wasser und Vorräten beladen wurde, musste Sin den Steuermann Omar zu einem Seilmacher begleiten. Für die vor ihnen liegende lange Seereise sollte noch zusätzliches Seilzeug mitgenommen werden und Sins Aufgabe war es, dem Steuermann tragen zu helfen.
Sie gingen durch die Straßen, in denen sich viele Menschen drängten. Sin war das aus Bagdad gewohnt. Die Gassen waren hier in Al-Bahrain noch um einiges enger und verwinkelter. Straßenhändler versuchten ihr Glück und priesen Amulette, Dolche, Schnitzereien und bunte Tücher an. Getrockneter Fisch wurde angeboten, dazu Feigen und Datteln. Die Händler unterboten sich gegenseitig im Preis. Sin blieb bei zwei kräftigen Männern mit freiem Oberkörper stehen, die sich gegenseitig umklammerten und nach Kräften versuchten, den jeweils anderen auf den Boden zu werfen. Sie führten ihren Kampf auf einer erhöhten Bühne durch, so dass die Leute besser zusehen konnten. Inzwischen hatte sich um diese Bühne auch schon ein Gedränge gebildet und ein kleiner schmächtiger Mann (dessen Turban dafür umso größer war), ging durch die Reihen der Schaulustigen und sammelte ein paar Münzen ein.
„Heh, träum nicht!“, rief Omar dem jungen Sin zu. „Wir sind hier nicht zum Vergnügen!“
Sin war einfach stehen geblieben und hatte gar nicht bemerkt, dass Omar inzwischen schon ein ganzes Stück weiter gegangen war. Jetzt aber war der Steuermann der 'Flügel des Windes' auf das Fehlen seines Begleiters aufmerksam geworden und ein paar Schritte zurückgekehrt, um den Jungen an der Schulter zu stupsen.
Denn anders war er wohl aus seinem Tagtraumland gar nicht zu wecken.
„Hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe?“, rief Omar etwas unwirsch.
„Was sind das für Männer?“, wollte Sin wissen.
„Uigurische Ringer. Die besten der Welt!“
In diesem Moment gelang einem der beiden Ringer, den anderen auf die Bretter zu werfen. Es gab ein dumpfes Geräusch. Das Publikum hielt den Atem an. Ein Raunen ging durch die Menge.
Inzwischen war auch der schmächtige Mann mit dem großen Turban herbeigekommen und bat um eine Gabe. „Ein paar Münzen für die Darbietung dieser stärksten Männer der Welt!“
„Ich?“, fragte Sin verwirrt, denn eigentlich war er es gewohnt, selber um Münzten zu bitten, anstatt dass man vom ihm erwartet hätte, sie zu geben.
„Willst du die Mühen dieser Männer unbelohnt lassen, Junge?“, fragte der Mann mit dem großen Turban. „Das könnte den Zorn dieser Kämpfer erregen!“
„Scher dich fort!“, mischte sich Omar ein. „Du bist doch nichts weiter als ein getarnter Straßenräuber! Allah möge deine gierige Hand abfallen lassen!“
Der schmächtige Mann mit dem großen Turban hatte wohl erst nicht begriffen, dass Omar und Sin zusammengehörten und so zuckte er nun regelrecht zusammen. Und da Omar ihn um anderthalb Köpfe überragte, wagte er es nicht, noch etwas zu sagen.
Omar zog Sin mit sich.
„Du bist doch nicht in einem Dorf groß geworden, Sin.“
„Aber...“
„Ist dir nicht bekannt, dass grundsätzlich jeder nur auf deine Münzen aus ist?“
„Nein – denn ich habe bisher noch nie eine Münze besessen und es hat bislang auch noch nie jemand erwartet, dass er durch mich reich werden könnte!“
„Vielleicht sind die Geier der Straße hier weniger wählerisch, als in Bagdad. Das mag schon sein“, gab Omar zu. „Die Schiffe, die hier anlegen, bringen jede Menge Gesindel hier her und du solltest auf der Hut sein.“
„Ich werde es mir merken“, versprach Sin.
„Bleib jetzt dicht hinter mir!“
„Das werde ich.“
In diesem Augenblick warf jetzt der Ringer, der zuerst niedergeworfen worden war, seinen Gegner mit Wucht auf die Bretter, so dass es einen dumpfen Knall gab.
EINE DIEBIN AUF DER FLUCHT
Sin folgte dem Steuermann in eine sehr enge Gasse und von dort in einen Hinterhof. Hier war der Seilmacher zu Hause, den Omar aufsuchen wollte. Der Seilmacher wohnte mit seiner großen Familie in einem zweistöckigen Haus. Das Untergeschoss diente als Werkstatt und Lagerraum. Im Obergeschoss waren die Schlaf- und Wohnräume.
Der Seilmacher hieß Mohammed wie der Prophet – und wie wahrscheinlich jeder dritte männliche Bewohner von Al-Bahrain.
Er war ein freundlich wirkende Mann mit üppigem Bart und wachen, grüngrauen Augen. Er schien Omar zu kennen und begrüßte ihn überschwänglich. Sin bedachte er mit einem fragenden Blick.
„Das ist unser Schiffsjunge“, sagte Omar. „Er heißt Sindbad, wie der größte Seefahrer aller Zeiten, über den die ganze Welt erzählt!“
„Eigenartig“, sagte der Seilmacher. „Hier in Al-Bahrain erzählt man sich auch Geschichten über einen Mann, der ebenfalls Sindbad heißt, und den man Sindbad den Lügner nennt und vor Jahren mit Schimpf und Schande von hier verjagt wurde. Ich glaube, er konnte sich als blinder Passagier auf ein Schiff retten, das ihn weiß Gott wohin gebracht haben mag!“
„Der Name Sindbad ist ja etwas häufiger“, sagte Sin. „Mein Vater, Sindbad der Lastenträger, wurde er bei seiner Geburt auch gegeben. Und was diesen Sindbad den Lügner angeht...““
„...so ist das sicher nur einer von vielen Trägern dieses Namens“, nickte der Seilmacher. „Ich weiß, was es heißt, einen häufig vorkommenden Namen zu tragen – und gerade die edelsten Namen werden oft am häufigsten kleinen Kindern gegeben! So wie meiner! Denn, welcher Name könnte edler sein als Mohammed, der Name unseres Propheten!“
Omar wandte sich nun an Sin. „Warte hier. Im Haus von Mohammed dem Seilmacher ist es immer sehr eng, denn er hat eine große Familie!“
„Und seit deinem letzten Besuch ist es sogar noch enger geworden“, stimmte Mohammed zu.
Wie zur Bestätigung ertönte in diesem Augenblick das durchdringende Geschrei eines Kindes.
„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst“, sagte Sin.
––––––––
OMAR UND UND MOHAMMED verschwanden im Haus.
Aus einem der Fenster im Obergeschoss schaute ein kleiner Junge herab und musterte Sin, bis er von einer Frauenstimme fortgerufen wurde und sich etwas widerwillig zurückzog.
Sin ließ den Blick schweifen. Ballen von Hanf waren dort aufgestapelt – Hanf, aus dem Seile gedreht wurden. Außerdem waren da noch einige leere Fässer und Krüge, in denen wohl Pech angerührt worden war. Jedenfalls roch es so.
Außerdem gab es Haufen von Lumpen, die wohl wohl in die Seile hineingedreht wurden. Sin hatte das auch bei den Seilmachern in Bagdad schon gesehen, zu denen er zusammen mit seinem Vater hin und wieder Lasten hatte schleppen müssen.
Stimmengewirr ließ Sin nun aufhorchen. Der Lärm kam von jenseits der Mauern, die den Innenhof umgaben.
„Da ist sie! Haltet sie!“
„Vorwärts!“
„Das kann doch nicht so schwer sein, die Kleine zu fangen!“
Ein Gesicht tauchte über der Mauer auf. Dunkle Augen sahen Sin geradewegs an. Augen, die vor Angst weit aufgerissen waren. Sie gehörten zu dem feingeschnittenen Gesicht eines Mädchens mit dunklen, bis weit über die Schultern fallenden Haaren, die nur notdürftig von einem Kopftuch bedeckt waren.
Das Mädchen zog sich auf die Mauer empor. Ihre Bewegungen waren von katzenhafter Geschmeidigkeit. Sie saß jetzt rittlings auf der Mauer, sah zurück, dorthin wo ihre Verfolger so einen Tumult verursachten. Dann nahm sie sich ein Herz, raffte ihre Kleidung zusammen und sprang.
Sie landete mit einem Ächzen auf dem Boden.
„Ist dir was passiert?“, fragte Sin besorgt, als das Mädchen kurz aufschrie – offenbar vor Schmerz.
Sie sah auf, verstummte augenblicklich und war im nächsten Moment sofort wieder auf den Beinen.
Auf der anderen Seite der Mauer wurde der Lärm lauter.
„Diese Diebin kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!“, war eine barsche Männerstimme zu hören. Sin hörte den Tritt schwerer Stiefel und das Geklirr von Waffen.
Das Mädchen stand einen Augenblick lang genauso erstarrt da, wie Sin, der nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Er sah die Angst in den Augen des Mädchens. Mitten auf der Stirn war ihr ein kleines, rotes Zeichen aufgemalt worden. Ebenso an den Handgelenken. Ihr Gewand schien aus einem einzigen Tuch zu bestehen, das sie sich auf kunstvolle Weise um den Körper geschlungen hatte. Wie es ihr damit überhaupt möglich gewesen war, so gut zu klettern, darüber konnte sich Sin nur wundern. Eins stand jedenfalls fest: Weder in Bagdad noch hier in Al-Bahrain hatte Sin jemals ein Mädchen gesehen, das so aussah.
Von der anderen Seite der Mauer wurden die Geräusche lauter. „Sie muss über die Mauer gekommen sein!“
„Los, hinüber mit euch, ihr müden Krieger!“
Ein Ruck ging durch das Mädchen.
Sie schnellte auf die Hanfballen zu und verbarg sich darunter. Innerhalb eines Augenblicks war nichts mehr von ihr zu sehen. Nichts, außer einem Zipfel ihres eigenartigen Gewandes, das unter dem Hanf ungefähr eine Handbreit hervorschaute.
Jetzt hatten es die ersten Verfolger geschafft, die Mauer emporzuklettern. Es waren bewaffnete Männer. Sie trugen Schwerter, Spieße und Harnische, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte. Außerdem Helme, unter denen ihre bunten Kopftücher hervortraten und die mit Federn geschmückt waren. Sin waren diese Männer schon hier und da aufgefallen, als er mit Omar durch die Straßen von Al-Bahrain gegangen war. Es musste sich wohl um die Stadtwache des Sultans handeln.
„Junge! Hilf mir!“, knurrte einer der Männer, der jetzt rittlings auf der Mauer saß und wohl darüber nachdachte, wie er zu Boden gelangen sollte, ohne sich dabei die Füße zu verstauchen.
Sin blieb noch immer wie erstarrt stehen.
Er fühlte sich wie gelähmt.
Das Mädchen war offenbar eine Diebin und diese Männer hatten sie trotz ihrer flinken und geschickten Art bis hier her verfolgt. War es nicht daher seine Pflicht, der Stadtwache zu helfen, damit diese Übeltäterin ihrer sicherlich gerechten Strafe zugeführt wurde?
Aber andererseits hatte er die unbeschreibliche Angst in ihrem Gesicht gesehen. Der Blick dieser weit aufgerissenen, dunklen Augen ließ ihn einfach nicht los. Nein, er konnte sie doch nicht einfach so diesen Männern übergeben, bevor er nicht einmal wusste, worum es hier eigentlich ging.
Aber bist du vielleicht ein Richter?, ging es ihm dann durch den Kopf. Du bist der Sohn eines Lastenträgers, der selbst wieder ein Lastenträger werden sollte und durch glückliche Umstände ein Schiffsjunge wurde! Mehr nicht! Nicht einmal ein weiser alter Mann, der auf Grund seiner Lebenserfahrung vielleicht besser beurteilen kann, was richtig und was falsch ist – und was Allah gefällt und was nicht!
„Heh! Bist du schwachsinnig oder was ist los? Hilf mir!“, dröhnte der Soldat. Einer der anderen Männer hatte die Mauer inzwischen überwunden, war mit einem wagemutigen Sprung gelandet und hatte sich dabei sogar auf den Beinen halten können.
Sin schickte sich nun an, dem Mann auf der Mauer doch noch zu helfen. Aber mehr aus Furcht davor, was geschehen könnte, wenn er es nicht tat, als aus freiem Willen. Wenn er ihm nicht half, und diese Soldaten fanden anschließend das Mädchen im Hanf (was so gut wie sicher war, wie Sin glaubte), dann kamen die Männer der Stadtwache vielleicht auf den Gedanken, dass er irgendwie etwas mit der Diebin zu tun hatte. In Gedanken sah sich Sin schon in einem Kerker des Sultans schmachten und auf seine Gerichtsverhandlung warten, während sein Schiff schon längst auf dem Weg zu jenen fernen Ländern war, in denen man ein Ei des Vogels Rock und damit ein Heilmittel für die rätselhafte Krankheit des Kalifen zu finden hoffe.
Dass man auf mich wartet, kann ich nicht erwarten!, war es Sin klar. Schließlich war nichts wichtiger, als die Gesundheit des Kalifen, des Herrn aller Gläubigen.
Sin versuchte den Mann zu halten, aber der rutschte ab. Sie stürzten beide zu Boden. „Pass doch auf!“, fauchte ihn der Soldat an.
„Bei Allah dem Barmherzigen, das war keine Absicht“, betonte Sin.
Der Soldat knurrte nur etwas vor sich. Inzwischen war im Haus des Seilmachers der Tumult gehört worden. Mohammed stürzte heraus. Mit ihm traten zwei seiner Gehilfen ins Freie und schließlich folgte auch Omar.
Ganz zum Schluss folgte noch Mohammeds Frau. Zumindest nahm Sin an, dass es sich um die Frau des Seilmachers handelte. Nur einen kurzen Moment vermochte er ihr Gesicht zu sehen, denn bevor sie in den Innenhof trat, warf sie sich noch schnell das herab hängende Ende ihres Kopftuchs vor ihr Gesicht, sodass nicht mehr als ihre Augen zu sehen waren.
Inzwischen kletterten ein halbes Dutzend weiterer Soldaten über die Mauer.
„Wir suchen eine junge Diebin“, sagte der Soldat, dem Sin über die Mauer geholfen hatte. Er fasste mit der Rechten um den Griff des breiten, leicht gebogenen Schwertes, das er im Gürtel stecken hatte. „Hat sie irgend jemand von euch Narren gesehen?“
„Wir würden dir ja gerne helfen, Herr“, sagte Mohammed der Seilmacher und verneigte sich leicht dabei. „Aber ich habe niemanden bemerkt. Und Dieben gebe ich keine Herberge.“
„Sie muss hier sein“, sagte der Anführer der Soldaten. Er zog sein Schwert und stach mit der Spitze durch einen der Hanfballen.
Es war dem Seilmacher deutlich anzusehen, dass ihm das nicht gefiel. Aus dem Hanf sollten schließlich Seile gefertigt werden! Ziemlich grob warf der Soldat ein Fass um. Es war leer.
In Sins Kopf rasten derweil die Gedanken. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie das Mädchen entdecken würden. Und dann konnten diese Männer nur allzu leicht auf den Gedanken kommen, dass man der Diebin Unterschlupf gewährt hätte.
Sin wollte seine Stimme erheben.
Er wollte etwas sagen, irgend etwas, um das gleichermaßen Schreckliche wie Unausweichliche doch noch im letzten Moment abzuwenden – aber die Frau es Seilmachers kam ihm zuvor. Sie hatte eine so durchdringende, schrille Stimme, dass die Soldaten schon bei ihren ersten Worten zusammenzuckten. „Was fällt euch ein in das Haus einen unschuldigen, rechtgläubigen Seilmachers einzufallen wie gemeine Verbrecher! Ihr wollt Diebe suchen und führt euch selbst wie Diebe auf! Wenn Mohammed der Seilmacher euch versichert, dass er niemanden gesehen hat, außer den Gästen unseres Hauses, dann tust du gut daran, dies zu glauben! Welcher böse Dschinn ist denn in dich gefahren, dass du dich hier so aufführst! Ist es nicht eure Aufgabe uns zu schützen? Stattdessen seid ihr es, die wie Räuber über die Mauern klettern und unschuldige, hart arbeitende Menschen verdächtigen und Kinder erschrecken!“
Ein halbes Dutzend der Kinder des Seilmachers schauten neugierig aus den Fenstern im Obergeschoss und sahen zu, wie ihre Mutter den Anführer der Wächter mit ihrem Wortschwall überschüttete, sodass er gar nicht mehr dazu kam zu antworten. Mehrfach holte er Luft, wollte offenbar etwas sagen, wurde aber dann von der Frau des Seilmachers daran gehindert. Gerade schien es so, als sei der keifenden Frau der Atem ausgegangen, da begann sie auch schon wieder von neuem. Ihr Mann versuchte, sie zu beruhigen. Vergeblich. Zu groß war die Empörung der Frau des Seilmachers.
Das wird alles noch furchtbar enden!, dachte Sin und in seiner Verzweiflung fasste er einen Entschluss.
„Ich habe sie gesehen!“, rief er. „Es muss das Mädchen mit dem Zeichen auf der Stirn gewesen sein!“
Für einen Augenblick sagte niemand ein Wort.
Die Soldaten hörten damit auf, alles zu durchsuchen, der Anführer verstummte und selbst die Frau des Seilmachers hörte mit ihren immer wüster werdenden Beschimpfungen und Verfluchungen auf. Alle starrten mit großen, weit aufgerissenen Augen auf Sin, der sich in dieser Lage sichtlich unwohl fühlte.
Schon bereute der Junge, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Das hast du nun davon! Du hättest am besten geschwiegen, dann hätte alles auch nicht schlimmer werden können!, ging es ihm siedend heiß durch den Kopf und für einen quälend lange Augenblick wusste er gar nicht mehr, was er ursprünglich eigentlich hatte sagen wollen.
„Du hast die Diebin gesehen?“, wiederholte der Anführer der Soldaten Sins Aussage.
Sin deutete auf den offenstehenden Eingang zum Haus des Seilmachers. Man konnte die Werkstatt sehen und auch ein mit Vorhängen verhülltes Fenster auf der anderen Seite des Hauses. Ein Luftzug bewegte die Vorhänge.
„Dorthin ist sie gelaufen und dann durch das Fenster auf die Straße gesprungen“, behauptete Sin.
„Junge, was redest du da!“, entfuhr es dem Seilmacher Mohammed. Seine Frau schüttelte nur den Kopf und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, in er sie mit Sicherheit lauthals abgestritten hätte, dass es so geschehen sein konnte.
„Ich habe sie wohl auch gesehen“, meldete sich nun jedoch Omar zu Wort. „Ich habe sie aber für eine von Mohammeds Töchtern gehalten und deswegen nicht weiter beachtet. Allerdings habe auch ich mich über das Zeichen auf ihrer Stirn gewundert.“
Der Anführer der Soldaten rief ein paar barsche Befehle und augenblicklich stürmten seine Männer durch die Werkstatt, nur um auf die andere Seite des Hauses zu gelangen. Immerhin nahmen sie die Tür.
Der Anführer aber blieb noch im Haus von Mohammed dem Seilmacher.
Er wandte sich an Omar.
„Wer bist du?“
„Ich bin Omar, Steuermann eines Schiffs, das man 'Flügel des Windes' nennt und derzeit im Hafen von Al-Bahrain liegt.“
„Wer ist dein Herr?“
„Der Kalif von Bagdad ist mein Herr, denn in seinem Auftrag segelt unser Schiff.“
„Ich meinte nur den Kapitän“, knurrte der Anführer der Soldaten. Er trat nahe an Omar heran. Sin blickte derweil sorgenvoll zu dem Stück Tuch hinüber, das noch immer unter den Hanfballen hervorschaute und sich nun auch noch langsam zu bewegen begann. Ganz langsam schien die Diebin es fortzuziehen und verbergen zu wollen, denn offenbar hatte auch sie bemerkt, dass dieser Fetzen Stoff sie womöglich noch verraten konnte.
Sins Herz schlug bis zum Hals.
Der Anführer der Soldaten trat noch etwas näher an Omar heran. Dadurch, dass der Steuermann Sins Lüge gedeckt hatte, schien sich die Situation im ersten Moment ja entspannt zu haben, aber jetzt war sich Sin nicht sicher, ob dadurch nicht noch viel größeres Ungemach drohte. Allah möge dem Steuermann einen wachen Verstand geben, damit er klug zu antworten weiß!, ging es dem Jungen verzweifelt durch den Kopf.
„Der Kapitän ist Firuz der Perser, der hier in Al-Bahrain gut bekannt sein dürfte“, sagte Omar jetzt, während der Soldat mit einem Stirnrunzeln auf ihn herabblickte. Omar war zwar ein sehr großer und kräftiger Mann, aber sein Gegenüber ragte noch fast einen Kopf über ihn hinaus.
„Ich werde das überprüfen“, erklärte der Anführer der Soldaten schließlich an Omar gerichtet. „Wo ist das Ziel eurer Reise?“
„Zur Meerenge von Hormus!“, sagte der Steuermann.
„Und danach? Niemand segelt nach Hormus, um dort zu bleiben. Was ist das eigentliche Ziel eurer Reise?“
„Das ferne Reich des Rajaraja“, erklärte Omar. „Und wohin es danach geht, hat man mir noch nicht gesagt.“
„Dann ist die 'Flügel des Windes' ein Gewürzschiff?“
„Du fragst mich Dinge, die meine Kenntnisse übersteigen, Herr“, sagte Omar. „Ich bin nur ein Steuermann und setze die Segel und das Ruder so, wie man es mir sagt und wie die Winde es zulassen.“
„So, so...“, murmelte der Anführer der Soldaten. Aus irgendeinem Grund schien er sehr misstrauisch zu sein. „Wir werden deine Angaben genau überprüfen. Du musst nämlich wissen, dass sich in letzter Zeit viel Gesindel in Al-Bahrain herumtreibt und was dich betrifft....“ Damit wandte er sich an Sin.
„Das ist unser Schiffsjunge“, erklärte Omar eilfertig.
Nun meldete sich Mohammed zu Wort, der wohl das Gefühl hatte, Omar unterstützen zu müssen. „Herr, ich kann all das, was dieser Mann sagt nur bestätigen“, erklärte er. „Er läuft diesen Hafen seit vielen Jahren immer wieder an und hin und wieder besorgt er sich ein Seil bei mir, wenn das vonnöten sein sollte! Und dabei hat er schon vielen Kapitänen gedient, so weit mir bekannt ist!“
„Al-Bahrain ist nur ein Dorf, verglichen mit Bagdad, dieser Mutter aller Städte“, sagte der Soldat nun. „Also glaubt nicht, dass ihr hier unerkannt bleiben könnt oder es uns nicht auffallen würde, wenn ihr in übler Absicht hier her gekommen wärt! Also seht zu, dass du und dein Schiffsjunge hier nicht wieder unangenehm auffallt!“
„Morgen sind wir schon wieder auf See“, versprach Omar.
„Gut“, murmelte der Anführer der Soldaten und folgte dann seinen Männern durch die Werkstatt des Seilmachers zur anderen Seite des Hauses.
Der Seilmacher folgte ihm eilfertig, um ihm die Tür aufzuhalten, während seine Frau ein paar Verwünschungen vor sich hin murmelte, von denen man zum Glück nur wenig verstehen konnte.
Omar warf unterdessen Sin einen fragenden Blick zu, sagte aber kein Wort. Stattdessen folgte er der Frau des Seilmachers ins Haus.
An der Tür blieb der Steuermann stehen.
„Komm, es gibt etwas für dich zu schleppen, Sohn eines Lastenträgers!“
Zögernd ging Sin zur Tür.
Als er sich dort angekommen, noch einmal umdrehte, sah er gerade noch, wie das Mädchen mit dem Zeichen auf der Stirn eine Mauer hochkletterte und sich auf der andere Seite schwang.
Omar hatte das auch bemerkt.
„Allah mag verhüten, dass man sie jemals in unserer Nähe findet“, meinte er.
„Ja“, murmelte Sin.
„Deine Hilfsbereitschaft hätte uns in den Kerker bringen können, Sin! Ich hoffe, das ist dir klar!“
„Und wenn ich es nicht getan hätte?“, fragte Sin.
Omar zuckte mit den Schultern. „Nur Allah weiß, ob wir dann nicht ganz genauso im Kerker gelandet wären“, gab der Steuermann schulterzuckend zurück.
EIN DSCHINN AN BORD
Nachdem Omar mit Mohammed den Preis für die Seile verhandelt hatte, wurden der Großteil davon Sin aufgeladen.
„Sei nicht zu streng zu deinem Gehilfen“, sagte Mohammed an Omar gewandt. „Seine Lüge, dass er die Diebin gesehen hätte, hat uns beiden größere Schwierigkeiten erspart und Glück gebracht!“
„Darüber kann man unterschiedlicher Ansicht sein“, meinte Omar.
Durchdringendes Geschrei drang in diesem Augenblick aus den Räumen des Obergeschosses. Die schrille, keifende Stimme von Mohammeds Frau, die sogar den Anführer der Soldaten erschrocken hatte verstummen lassen, mischte sich mit ein paar anderen, viel höheren, aber gerade deswegen noch durchdringenderen Stimmen.
Kinderstimmen.
Genauer gesagt: Mädchenstimmen, wie Sin zu erkennen glaubte. Schließlich hatte er selbst nur Schwestern und war deshalb überzeugt davon, diesen Klang eindeutig heraushören zu können. Worum es in dem Streit ging, war unmöglich zu verstehen. Zu verzerrt waren die Worte. Aber an einem konnte kein Zweifel bestehen: Dieser Streit war heftig. Sehr heftig!
Der Seilmacher hob den Blick.
„Oh Allah gib Frieden auf Erden“, murmelte er. Er seufzte und wandte sich an Sin und meinte: „Bei uns in Al-Bahrain sagt man immer: Möge das Glück so sehr mit dir sein wie mit unserem Sultan! Ich hoffe, das bewahrheitet sich auch für dich, Schiffsjunge!“
„Ist euer Sultan ein so besonders glücklicher Mann?“, fragte Sin etwas irritiert.
Mohammed lachte. „Oh gewiss! Dieser Spruch verbreitete sich, nachdem er in der ganzen Stadt ein großes Fest ausrichten ließ, weil ihm sein fünfter Sohn geboren wurde! Fünf söhne und keine Tochter! Das kann man wirklich Glück nennen, denn mit Töchtern, das lass dir gesagt sein, hat man immer nur Ärger!“ Wie zur Bestätigung seiner Ansicht wurde das Geschrei im Obergeschoss so laut, dass man für ein paar Augenblicke sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
Sin horchte auf.
Der Sultan hatte keine Töchter?
Hatte Sindbad der Seefahrer, sein verehrtes Vorbild nicht davon gesprochen, eine dieser Töchter zusammen mit ihrem Geliebten an Bord seines Schiffes genommen und außer Landes gebracht zu haben? War das nicht der Grund dafür gewesen, dass er sich nicht an Land zu gehen traute, da er befürchten musste, dass man sich daran noch erinnerte?
Aber wie war das möglich, wenn der Sultan doch gar keine Töchter, sondern nur fünf Söhne hatte?
Sin schluckte.
In seinem Kopf rasten die Gedanken nur so.
„Mit Verlaub, aber hast du dich nicht vielleicht geirrt?“, fragte Sin den Seilmacher. Dieser runzelte die Stirn, während Omar seinen Schiffsjungen in die Seite stieß, dass er mit den schweren Seilen, die man ihm aufgeladen hatte, beinahe zu Boden getaumelt wäre.
„Sei nicht unhöflich, Schiffsjunge“, knurrte der Steuermann ziemlich ärgerlich.
„Ich wollte keinesfalls unhöflich sein“, sagte Sin. „Es ist nur so, dass ich von einer Tochter des Sultans gehört habe, die mit ihrem Geliebten vor Jahren aus der Stadt geflohen ist!“
Der Seilmacher runzelte die Stirn.
„Mein Junge, ich weiß nicht, wer das erzählt hat“, sagte Mohammed schließlich kopfschüttelnd. „Das war entweder ein Narr oder ein Lügner. Oder jemand, der dich auf den Arm nehmen wollte!“
„Nein, das ist unmöglich, es war... Ich meine... Ist es denn sicher, dass der Sultan keine Töchter hat?“
„In den Basaren wird seit Jahren darauf gewettet, ob das nächste Kind des Sultans eine Tochter wird und diejenigen, die diese Wetten veranstalten, haben mit Sicherheit ihre Zuträger im Palast! Es gibt Köche, Diener, Hebammen, Ärzte dort und glaubst du wirklich, er könnte geheim bleiben, wenn dem Sultan eine Tochter geboren worden wäre? Wie ein Lauffeuer hätte sich das in der Stadt herumgesprochen. Aber ehrlich gesagt weiß ich auch überhaupt nicht, weshalb du das so wichtig nimmst! Allein Allah kennt die Wahrheit.“
––––––––
„HABEN DIE SCHWIERIGKEITEN denn noch nicht gereicht, in die du uns gebracht hast?“, fragte Omar, als sie bereits wieder auf dem Rückweg zum Hafen waren. Von den Minaretten der Stadt wurde bereits zum Abendgebet gerufen.
„Omar, es war nicht meine Absicht, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen!“
„Aber warum dann diese Fragerei?“
„Hast du nicht auch gehört, wie Sindbad der Seefahrer uns von der Tochter des Sultans erzählt hat? Und nun höre ich, dass der Sultan offenbar gar keine Tochter hat!“
Omar stieß Sin unsanft an. „Sprich leiser, wenn du vom Sultan sprichst“, zischte der Steuermann. „Du hast doch gemerkt, wie nervös die Soldaten waren. Vielleicht befürchtet man einen Umsturz oder dergleichen! Jedenfalls solltest du möglichst kein Wort über den Sultan verlieren. Du weißt nie, wer das zu Ohren bekommt und dir vielleicht falsch auslegt – und am Ende sitze wir dann doch noch im Kerker, weil man uns für Spione, Diebe, Verschwörer oder Allah mag wissen wovor sich der Sultan sonst noch so fürchtet hält!“
Sin nahm sich vor, den Sultan nicht mehr zu erwähnen.
––––––––
IN DER NACHT SCHLIEF Sin unruhig. Vielleicht lag es daran, dass es einfach nicht richtig abkühlen wollte. Er hatte davon geträumt, in den Kerker des Sultans gesperrt worden zu sein. Jetzt, da es morgen wurde, war er froh, dass dies alles nichts weiter als ein schlechter Traum gewesen war.
Die 'Flügel des Windes' verließ schon bald nach Sonnenaufgang den Hafen von Al-Bahrain.
Sin gähnte, während ihm ein ein frische Wind um die Nase wehte und dafür sorgte, dass er rasch richtig wach wurde.
Omar der Steuermann stand am Ruder und rief der Mannschaft Befehle zu. Er war nicht so recht zufrieden damit, wie das Segel gesetzt worden war.
Sin fuhr sich zum wiederholten Mal mit der Hand über das Gesicht, so als würde er sich waschen. Da war etwas, an das er sich nur ganz vage erinnerte. Etwas, das in der letzten Nacht geschehen war...
Bin ich zwischendurch wach geworden und habe ein Geräusch gehört, so als würde jemand das Schiff betreten?, fragte er sich. Oder bilde ich mir das genauso ein wie den Schatten, der da über die Reling der 'Flügel des Windes' schnellte?
Er versuchte, sich genau zu erinnern, aber das war unmöglich. All die Bilder, Gedanken und Geräusche in seinem Kopf verschwammen miteinander. Sie ergaben ein einziges großes Chaos und es schien unmöglich zu sein, dort noch etwas Ordnung hineinzubringen. Nicht einmal die allergröbste Ordnung, die nur nach wahr und eingebildet unterschied.
„Du siehst etwas verwirrt aus“, stellte Branagorn von Corvey fest. „So als hättest du schlecht geschlafen.“
Der weitgereiste und sprachbegabte Mönch aus den kalten Lande der ungläubigen Christen schien ihn schon eine ganze Weile zu beobachten, wie Sin jetzt klar wurde, und das war dem Jungen unangenehm. Es beunruhigte ihn nämlich, dass Branagorn offenbar so genau in sein Innerstes zu blicken vermochte.
Zur gleichen Zeit hörte er, wie Sindbad der Seefahrer sich mit Ibn Sina unterhielt. Oder besser besagt: wie Sindbad von seinen Erlebnissen erzählte, denn der junge Ibn Sina stand nun neben ihm an der Reling und hörte dem erfahrenen, weltgewandten Seefahrer gebannt zu.
„Ich bin in Chorosan aufgewachsen“, sagte Ibn Sina schließlich beeindruckt. „Da gibt es in einem Umkreis von mehr als tausend Meilen kein Meer und einen etwas größeren See oder einen breiteren Wasserlauf empfindet man dort schon als ein Wunder Allahs. Darum fasziniert mich alles, was mit dem Meer zu tun hat.“
„Ja, das kann ich gut verstehen“, sagte Sindbad. „Der Mensch sehnt sich immer nach dem, was er nicht hat und was ihm unerreichbar scheint. Wie oft habe ich mich zum Beispiel danach gesehnt, in Bagdad in einem einfachen Haus zu sitzen und ein einfaches Mahl zu mir zu nehmen, das aus Wasser und Fladen besteht! Brotfladen, mit denen in Bagdad die Lastenträger mitunter bezahlt werden, so wie mein Freund Sindbad, der Vater unseres Schiffsjungen.“
„Nun, solche Gedanken kommen einem sicherlich, wenn das Reisen für einen Mann so selbstverständlich ist, wie es bei dir ganz gewiss der Fall ist, edler und viel gerühmter Sindbad“, antwortete Ibn Sina.
Ich muss ihn fragen, ging es derweil dem jungen Sin durch den Kopf. Irgendwann muss ich ihn nach der Tochter des Sultans fragen!
Sin konnte sich kaum noch zurückhalten. Am liebsten wäre er jetzt aufgesprungen und einfach auf seinen berühmten Namensvetter zugegangen, um ihn zur Rede zu stellen, was die Geschichte der Königstochter und ihres Geliebten betraf.
Denn wenn eine Geschichte nicht der Wahrheit entsprach, die der große Sindbad zu erzählen pflegte – wer garantierte dann noch, dass nicht auch alle anderen Berichte über seine Erlebnisse nichts als Erfindungen waren?
Sin musste schlucken.
Lange hatte Sin diesen Gedanken zu unterdrücken versucht. Aber jetzt stand er so deutlich in seinem Kopf, dass dies einfach nicht mehr möglich war.
Sindbad der Seefahrer – nichts als ein Betrüger, der erfundene Geschichten zum Besten gab und dafür ein paar Münzen erbettelte? Und das sollte niemand bemerkt haben?
Ibn Sina war zwar jung, aber doch ein unvergleichlich kluger Kopf. Fast noch ein Kind und trotzdem konnte er Menschen heilen, wusste wie das Innere des Körpers arbeitete, dachte über die Entfernung zum Mond und die Navigation mit Hilfe der Sterne nach. Wie oft hatte Sin während der Fahrt den Unterhaltungen des jungen Mannes mit Branagorn und Abdul aus Cordoba gelauscht, in denen es darum gegangen war, wie man exakt eine Sonnen- oder Mondfinsternis vorhersagen konnte und der gestrenge Perser Firuz sich dann stets abwandte. Manchmal mit einem Spruch auf den Lippen wie: „Seid ihr Propheten? Wie anmaßend ist es, Dinge vorhersagen zu wollen, die nur Allah weiß!“
Aber anscheinend war das nicht so.
Anscheinend war dieser kluge junge Mann auch dazu in der Lage – und das nur dadurch, dass er seinen Verstand benutzte und all das Wissen, das er sich durch das Studium unzähliger Bücher erworben hatte.
Und dieser kluge Geist sollte nicht merken, wenn jemand wie Sindbad ein Lügner wäre?, ging es Sin durch den Kopf. Ich bin ja schließlich nur der Sohn eines Lastenträgers, der nie ein Buch gesehen hat, außer dem Koran in der Moschee.
Sin atmete tief durch und das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Was hätte er in diesem Augenblick darum gegeben, so klug wie Ibn Sina zu sein. Denn mit dem Wissen eines Ibn Sina hätte man doch zweifellos jede Lüge durchschauen können, so dachte Sin.
„Welche Frage nagt so sehr an deiner Seele, dass sie dich schlecht schlafen ließ?“, fragte Branagorn.
Sin zuckte regelrecht zusammen.
„Welche Frage? Ich weiß nicht. Also ganz ehrlich... es ist schwer... ich meine... Wahrscheinlich klingt das alles etwas verwirrend, was ich so sage.“
„Eher verwirrt als verwirrend“, erwiderte Branagorn ruhig.
Warum nicht?, Überlegte Sin dann. Es konnte ja nicht schaden, diesen Fremden mal nach seiner Meinung zu fragen. Auch wenn er ein Ungläubiger war, so hatte er doch mehr von der Welt gesehen, als die meisten anderen Menschen und gewiss hatte er sich längst eine Meinung über Sindbad den Seefahrer und seine Erzählungen gebildet.
Sin drehte sich nach allen Seiten um, denn er wollte sicher sein, dass niemand hörte, was er zu sagen hatte.
Dann beugte er sich etwas näher an Branagorn heran und murmelte: „Erinnerst du dich daran, wie Sindbad der Seefahrer darüber sprach, weshalb er sich in Al-Bahrain nicht an Land blicken lassen könnte? Dass er einst einer Sultanstochter zur Flucht mit ihrem Geliebten verhalf und deswegen dort auf ewig in Ungnade gefallen sei?“
Branagorn nickte.
„Ich erinnere mich.“
„Ich habe gehört, dass der Sultan gar keine Töchter hat!“
„Wer sagt das?“
„Das ist etwas, was offenbar jedem Einheimischen in Al-Bahrain bekannt ist! Der Sultan hat nur Söhne, keine Töchter! Die Frage ist nun, wie...“
„...die Geschichte deines berühmten Namensvetters dann wahr sein kann?“, vollendete Branagorn mit einem verhaltenen Lächeln Sins Satz.
„Ja genau“, bestätigte der Junge.
„Hast du ihn gefragt?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil...“
„...du Angst vor seiner Antwort hat? Das brauchst du nicht. Sie wird wohlklingend und einleuchtend sein. Und du wirst trotzdem nicht wissen, ob sie in allen Details der Wahrheit entspricht!“
„Du bist doch ein ebenfalls sehr weitgereister Mann, der viel von der Welt gesehen hat.“
„Ja, das kann man ohne Zweifel sagen.“
„Glaubst du ihm denn, Branagorn?“
Branagorn schwieg einen Augenblick.
Und kam auch nicht mehr dazu, Sin eine Antwort zu geben, denn in diesem Augenblick brach Tumult an Bord aus.
Einer der Seeleute hatte ein Tuch fortgezogen, das einen Teil der festgeschnürten Vorräte an Bord der 'Flügel des Windes' bedeckte.
Und darunter sprang ein haariges Wesen hervor. Eine dunkle Mähne wirbelte durch die Luft. Einen Moment später erkannte Sin das Mädchen, das er vor den Soldaten bewahrt hatte. Die Diebin! Sie kauerte an der Reling, so als wollte sie ins Wasser springen.
Die Männer umringten sie. Sin sprang auch hinzu.
„Ein übler Wasser-Dschinn, der aus dem Meer gekommen ist!“, rief einer der Seeleute. „Bei Allah, was haben wir getan, dass wir so verflucht werden!“
„Das ist kein Wasser-Dschinn!“, durchdrangen Sins Worte das Stimmengewirr der anderen. Im nächsten Moment waren alle Blicke auf ihn gerichtet.
„Weißt du etwas darüber, wie dieser Wasser-Dschinn an Bord gekommen ist?“, fragte Firuz der Perser. Er wandte sich daraufhin dem Mädchen zu. „Ja, los, spring nur zu den Fischen, von denen du emporgekommen bist! Und möge Allah verhüten, dass du jemals aus der Tiefe wieder emporsteigst und rechtgläubige Seefahrer verwirrst!“
Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen. Ihre Körperhaltung erinnerte Sin an eine Katze kurz vor dem Sprung. Die Gassen von Bagdad waren voll von streunenden Katzen, die dort auf Jagd gingen oder von den Abfällen auf den Fischmärkten lebten, denn nicht einmal in dieser Mutter aller Städte gab es genug Mäuse, um sie alle ernähren zu können.
„Werft sie ins Meer, wenn sie nicht freiwillig dorthin zurückgeht!“, wies Kapitän Firuz seine Männer an.
„Nein!“, fuhr Sin abermals dazwischen. „Das könnt ihr nicht tun!“
„Der Junge hat anscheinend ein Herz für Diebinnen!“, rief Steuermann Omar vom Heck des Schiffes aus, denn er konnte das Ruder natürlich nicht einfach verlassen.
„Diebinnen?“, fragte jetzt Hauptmann Hassan. „Was soll das heißen?“
„Frag unseren Schiffsjungen. Er kann dir das genauer sagen!“, rief Omar.
Hassan wandte sich daraufhin an Sin. „Und? Was hast du dazu zu sagen?“
Sin schluckte. „Als ich mit dem Steuermann in Al-Bahrain zum Seilmacher gegangen bin, wurde sie von der Stadtwache als Diebin gesucht“, erklärte er.
„Dann ist sie eine blinde Passagierin – und kein Wasser-Dschinn, der aus den Wellen steigt“, schloss Ibn Sina. „Wie bei allen Dingen, die auf den ersten Blick unerklärlich erscheinen, gibt es am Ende doch eine Erklärung!“
„Und meistens ist sie ganz einfach!“, stimmte Abdul aus Cordoba zu. „So einfach, dass man sich oft fragt, weshalb man nicht früher darauf gekommen ist.“
„Ins Meer werfen sollten wir diese blinde Passagierin allerdings trotzdem!“, meinte Firuz. „Ob sie nun ein Dschinn oder eine Diebin ist – beides will ich an Bord der 'Flügel des Windes' nicht haben, denn es bringt beides Unglück!“
„Du rufst andauernd zu Allah dem Barmherzigen und kennst selbst keine Barmherzigkeit?“, fragte Branagorn mit schneidender Stimme. Die anderen machten für ihn Platz, als er auf das Mädchen zutrat. Zwischendurch wandte er Sin einen kurzen Blick zu. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Diebin. „Woher kommst du?“, fragte er.
„Aus Al-Bahrain“, sagte sie.
„Nein, woher kommst du ursprünglich?“
„Ich habe schon seit langem kein Heimat mehr, seit meine Eltern an der Seuche gestorben sind und ich mich allein durchschlagen muss!“
„Du trägst Zeichen auf der Stirn und an den Händen...“
„Es sind nur Zeichen... Sie haben nichts zu bedeuten. Schmuck kann ich mir nicht leisten, aber etwas Farbe schon! Dafür verzichte ich ab und zu auf einen Fladen Brot.“
„Wahrscheinlich gehört dir weder die Farbe noch das Brot, das du isst“, knurrte Firuz finster.
„Schweig, solange ich mit ihr rede!“, fuhr Branagorn ihn an. Der Kapitän war sichtlich überrascht. Aber Branagorn hatte seine Worte mit solcher Eindringlichkeit gesprochen, dass dem sonst so wortgewaltigen und bissigen Perser keine Erwiderung einfiel. Er schluckte lediglich. Branagorn wandte sich unterdessen wieder dem Mädchen zu, dass sein Zittern kaum zu verbergen vermochte. So groß war die Furcht. „Du brauchst dich nicht zu fürchten“, sagte er. „Und was die Zeichen angeht...“
„Es sind wirklich nur Zeichen, Herr!“
„Es sind Bindi!“, stellte Branagorn fest. „Segens- und Glückszeichen, die ich auf meinen Reisen in den Reichen Indiens oft gesehen habe.“
„Aberglauben!“, knurrte Firuz.
„So, wie der Glaube an böse Dschinn, die aus dem Wasser steigen?“, fragte Ibn Sina spitzfindig und erntete dafür von Firuz dem Perser einen Blick, der so finster war, dass man nur froh darüber sein konnte, dass Blicke nicht töten konnten.
Branagorn sprach das Mädchen plötzlich in einer Sprache an, von der zumindest Sin noch nie ein Wort gehört hatte, obwohl er eigentlich gedacht hatte, dass in den Straßen Bagdads alle Sprachen der Welt gesprochen wurden und das jemand, der in der Mutter aller Städte aufgewachsen war, doch jede Art zu reden, die es auf der Welt gab, zumindest schon mal irgendwann gehört haben musste. Aber offenbar gab es noch viel mehr Dinge auf der Welt, die er sich bisher nicht einmal vorzustellen vermocht hatte und die dennoch existierten.
Branagorn sprach mit ruhiger, tiefer Stimme auf sie ein. Der Klang seiner Worte war angenehm. Er blieb nicht ohne Wirkung, Die junge Diebin schien etwas ruhiger zu werden.
Und dann antwortete sie ihm schließlich in derselben Sprache.
Sin hatte das Gefühl, dass ihre Stimme in dieser fremden Sprache viel weicher klang, als wenn sie in der erhabenen Sprache des Koran redete, die in den Ländern des Kalifen verbreitet war. Ja, dachte der Junge, dass muss die Sprache sein, die sie zuerst gelernt hat. Die Sprache ihrer Heimat, auch wenn sie behauptet, sie hätte keine! Aber für diese Behauptung hatte sie sicher gute Gründe.
„Sie kommt aus dem Reich von Rajaraja, dem König der Chola“, erklärte Branagorn schließlich. „Jedenfalls spricht sie die Sprache, die in diesem Reich verbreitet ist.“
„Dann sollten wir sie an Bord lassen. Sie kann uns sicher helfen – und wenn es nur dadurch ist, dass wir außer dir, Branagorn, noch jemanden an Bord hätten, der die Sprache des Chola-Reichs beherrscht!“, meldete sich Abdul aus Cordoba zu Wort.
Ibn Sina blickte indessen zu Sindbad dem Seefahrer hinüber, der sich von dem ganzen Trubel um die junge Diebin weitgehend rausgehalten hatte und nur aus einigem Abstand mal einen Blick zu der blinden Passagierin geworfen hatte.
„Ich nehme an, dass ein so weit gereister Seefahrer wie du, diese Sprache auch schon einmal gehört hat?“, vermutete der junge Mann.
„Nein, leider bin ich nicht sehr begabt, um fremde Zungen zu lernen“, sagte Sindbad der Seefahrer. „Aber die Sitte, sich Zeichen auf die Stirn oder andere Körperteile zu malen, ist mir bekannt.“
„Kein Wunder!“, murmelte Firuz. „An jener Stelle im Hafen, wo du mit Vorliebe deine Geschichten erzählst, kann man solche Zeichen an den Händen von Seeleuten aus fernen Ländern beinahe jeden Tag sehen! Dazu muss man nicht eine einzige Seemeile weit gesegelt sein! Nicht einmal die Flussmündung muss man erreicht habe!“
„In dem Augenblick, da wir das Riesenei des Vogels Rock gefunden und zum Kalifen gebracht haben, damit seine Krankheit geheilt werden kann, wirst dich für deine Worte schämen, Kapitän!“, meinte Ibn Sina.
Eigentlich hatte Ibn Sina damit genau das gesagt, was sich Sin nie auszusprechen getraut hätte. Eigentlich... Nachdem Sin jedoch erfahren hatte, dass der Sultan von Al-Bahrain keine Töchter hatte und die Geschichte über die Rettung der Sultanstochter also frei erfunden sein musste, hatte der junge Sin dazu allerdings eine andere Meinung. Zweifel nagte noch immer an ihm, und er zermarterte sich schon die ganze Zeit über den Kopf mit der Frage, was wohl noch alles von den Erzählungen des großen Abenteurers nicht stimmte.
Unterdessen unterhielt Branagorn sich erneut mit der Dieb in ihrer eigenen Sprache.
Sie aber antwortete ihm nicht darin, sondern sprach so, dass alle an Bord ihre Worte verstehen konnten.
„Nennt mich Jarmila“, erklärte sie. „Mein wirklicher Name ist zu lang und zu kompliziert, als dass ihr ihn euch merken würdet! Also nennt mich Jarmila, so wie mich auch die Leute in Al-Bahrain genannt haben. Das klingt so ähnlich.“
„Und bist du eine Diebin?“, wollte Branagorn wissen.
„Ja. Ich habe gestohlen, um zu überleben, denn allzu viele Gläubige kommen ihrer Pflicht, die Armen zu versorgen, nicht nach! Ich musste stehlen, um zu überleben, denn sonst hätte ich nicht einmal ein Stück Brot gehabt. Ich war auch schon eine Diebin, als ich noch in der Hauptstadt des Rajaraja lebte. Aber bei Allah und allen Göttern auf die in allen Ländern der Welt sonst noch gebetet und geschworen wird und allen Ahnengeistern, die über die Menschen mal oder weniger wachen! Ich schwöre, dass ich nie mehr gestohlen habe, als ich zum leben brauchte! Und wenn einer von euch jetzt beabsichtigen sollte, mir die Hand abzuschlagen, wie es bei euch mit Dieben getan wird, dann soll er sich darauf gefasst machen, dass ich vorher über Bord springe. Und ganz gleich, an welchen Gott du auch glaubst, wenn du nach einem Tod vor ihm stehst, wird derjenige als Mörder dastehen und viel schlimmer dran sein, als ich, die ich doch nur meinem knurrenden Magen gefolgt bin!“
„Na jedenfalls ist sie mit dem Mundwerk genauso flink wie offenbar mit den Händen“, mischte sich Sindbad der Seefahrer ein.
„Und das obwohl sie in einer für sie fremden Sprache redet!“, gab Sin zu bedenken.
„So fremd ist eure Sprache für mich jetzt auch wieder nicht“, gestand die Diebin, die sich Jarmila nannte.
„Du warst in Basra“, stellte Branagorn fest. „Mindestens ein Jahr. Aber ich glaube, Bagdad hast du nie erreicht.“
Jarmila sah Branagorn völlig entgeistert an. „Mich einen Dschinn nennen, aber ihr habt anscheinend einen Magier und Hellseher an Bord!“, stieß sie hervor.
„Irrtum“, sagte Branagorn. „Nur jemanden, der gute Augen und Ohren hat und außerdem genau zuzuhören weiß. Deine Sprache verrät dich. Du hast sie in Basra gelernt. Da du noch nicht sehr alt bist – kaum so alt, wie unser Schiffsjunge, wie ich schätze – und deine Diebeskarriere in der Hauptstadt des Rajaraja begonnen hat, kannst du auch noch nicht an sehr vielen anderen Orten lange genug gelebt haben, um die Eigenheiten der dortigen Sprache anzunehmen. Und wenn du das Arabische in Bagdad gelernt hättest, so würde man das gewiss hören...“
„Ein feines Ohr hast du, Branagorn“, sagte Ibn Sina anerkennend. „Meine Muttersprache ist ja Persisch und ich habe die Sprache des Propheten erst gelernt, als ich schon zehn war. Aber das hätte ich nicht herausgehört!“
„Du vergisst, dass das Erlernen von Sprache eine besondere Leidenschaft unseres ungläubigen Freundes ist!“, gab Abdul aus Cordoba zu bedenken.
Hauptmann Hassan machte einen energischen Schritt auf die Diebin zu. Vielleicht einen etwas zu energischen.
Jarmila stieg nun auf die Reling.
Äußerst geschickt hielt sie sich dort.
Sin fühlte sich an einen Affen erinnert. Das Mädchen schien tatsächlich entschlossen zu sein, notfalls ins Meer zu springen.
„Was ich gesagt habe, werde ich auch tun!“, kündigte sie an. „Aber ihr solltet euch sehr überlegen, ob ihr mich nicht besser mitnehmen könntet... Ich habe euren Gesprächen zugehört. Wollt ihr nicht in ein Land, in dem es riesige Vögel gibt? Vögel, die gewaltige Eier legen, mit denen ein armer, kranker Kalif geheilt werden könnte?“
„Vorsicht, Segel!“, rief unterdessen der Steuermann vom Heck der Dau aus.
Der Steuermann hatte gewendet, denn der Wind kam so, dass er kreuzen musste, um sich nicht zu weit vom Ufer zu entfernen, sodass man die Landmarken mit den Karten vergleichen und ungefähr bestimmen konnte, wo man sich derzeit befand.
Das dreieckige Segel der Dau schwang herum. Alle waren gezwungen ihre Köpfe einzuziehen. Als der Wind hineinschlug, gab es es einen Knall.
Jarmila erschrak und fiel mit einem spitzen Schrei über die Reling. Sin duckte sich geistesgegenwärtig unter dem Segel hinweg, sprang zur Reling, griff nach einem Tau und warf es ins Wasser, der rasch davontreibenden Jarmila zu. Es war ein ziemlich gut gezielter Wurf – trotz des Windes. Jarmila griff das Seil. Sin schlang das andere Ende mit einem halben Schlag um einen Holm und begann dann zu ziehen. Branagorn fasste mit zu – und auch Sindbad der Seefahrer, Sins berühmter und bis dahin in dieser Situation eigenartigerweise wie erstarrt wirkender Namensvetter fasste mit an. Jarmila klammerte sich am Seil fest, schlang es sich so um den Körper, dass sie es nicht gleich wieder verlor und ließ sich an das Schiff heranziehen.
Wenig später kletterte sie mit Hilfe des Seils und den vereinten Kräften von Branagorn, Sin und seinem Namensvetter an Bord. Ihre Kleider klebten ihr triefnass am Körper. Aber Sonne und Wind würden dafür sorgen, dass sie rasch trockneten. Sie rang nach Luft, prustete, spuckte, kniete dabei auf dem Schiffsboden und brauchte einige Augenblicke, bis sie wieder zu Atem kam.
„Was weißt du über das Land der Riesenvögel?“, fragte Hauptmann Hassan unbarmherzig.
„Gar nichts!“, keuchte sie. „Jedenfalls bin ich nie dort gewesen, wie dieser Angeber unter euch, der Sindbad heißt!“
„Jemanden, der einem gerade das Leben gerettet hat, als Angeber zu bezeichnen, ist sicherlich eine ganz eigene Art von Höflichkeit“, sagte Sindbad der Seefahrer erkennbar beleidigt.
Jarmila wurde rot.
„Entschuldige, aber so lange ich unter dem Tuch war, konnte ich mit diesem Namen nur eine Stimme in Verbindung bringen. Es war...“
„...gewiss so gemeint!“, schloss Sindbad.
„Wie gesagt, ich bin in diesem Land nie gewesen, das ihr sucht. Aber ich kenne den Ort, wo es die besten Karten von den entlegensten Ländern gibt!“
„Und was ist das für ein Ort?“, fragte Branagorn ruhig, wobei er den anderen mit einem Handzeichen bedeutete, sich zurückzuhalten und am besten zu schweigen.
„Der Palast von König Rajaraja! Ich war einmal dort!“
„Du warst im Palast eines Königs?“, wunderte sich Hauptmann Hassan. Er sah kurz zu Sindbad hinüber und meinte: „Es scheint, dass es anderswo noch begabtere Geschichtenerzähler gibt als dich, Sindbad! Und das schon in so jungen Jahren!“
„Es ist wahr!“, behauptete Jarmila. „Das ist schon einige Jahre her. Ich war noch ein kleines Kind und gehörte einer Diebesbande an. Meine Spezialität war es, durch enge Fenster, durch Gitterstäbe hindurch und Schächte in Gebäude einzudringen. Affen und Kinder eignen sich dazu besonders gut, nur haben Affen den Nachteil, dass sie schlechter verstehen können, was sie tun sollen.“
„Die Sammlung von Karten von König Rajaraja ist in der Tat über die Grenzen seines Landes hinaus berühmt“, nickte Branagorn.
„Ich habe diese Karten gesehen. Sie lagen auf einem großen Tisch. Zumindest einige von ihnen. Man hatte sie auseinandergerollt und es waren darauf unzählige von kleinen Inseln verzeichnet. Und es waren Tiere darauf gemalt! Ich habe mich natürlich vor allem für diese Tiere interessiert.“
„Du erzählst uns das, damit wir dich ins Reich des Rajaraja mitnehmen“, stellte Kapitän Firuz kühl fest. „Du glaubst, dass du uns mit irgendwelchen Geschichten neugierig machen könntest.“
Sie lachte auf. „Das habe ich doch längst geschafft. Im übrigen glaube ich nicht, dass es leicht sein wird, an eine dieser Karten heranzukommen. Sie sind nämlich geheim.“
„Geheim?“, echote Hauptmann Hassan. „Wovor hat dieser Rajaraja Angst? Dass auch andere zu den Ländern reisen und sich die Reichtümer holen, die es dort gibt?“
„Es gibt noch weiter im Osten ein Land, das Sri Vijaya genannt wird und aus sehr vielen Inseln besteht“, sagte Branagorn. „Einige dieser Inseln hat Rajaraja erobert und mit vielen anderen liegt er für gewöhnlich im Krieg. Es könnte sein, dass die Geheimhaltung damit zu tun hat.“
„Wie auch immer, es liegt auf der Hand, dass sie vieles weiß, was uns nützlich sein kann“, meldete sich Sin viel energischer zu Wort, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Seine Stimme war so kraftvoll hervorgetreten, dass nun alle anderen – einschließlich der Diebin – etwas erstaunt zu ihm hinsahen. Da ich nun schon die Aufmerksamkeit habe, kann ich auch einfach weiterreden und auch noch den Rest dessen aussprechen, was ich zu sagen habe!, überlegte Sin. Und Allah möge verhüten, dass ich es bin, der am Ende ins Meer geworfen wird, weil ich es gewagt habe, meine Stimme zu erheben, obwohl ich hier nur der Schiffsjunge bin! „Es ist eure Pflicht als Seeleute, sie mitzunehmen, ganz gleich wie sie an Bord gelangt ist. Als Seeleute und als Rechtgläubige! Denn Allah nennen wir doch den Barmherzigen, wie können wir da selber unbarmherzig sein und uns einbilden, er, der alles sieht, würde über einen Mord hinwegsehen, nur weil er weit draußen auf dem Meer geschieht!“ Und dann deutete er auf Sindbad. „Mein viel gerühmter Namensvetter sei mein Zeuge. Denn auf seinen Fahrten in ferne Länder, von denen er ach so oft am Hafen von Bagdad berichtete, ist ihm oft Barmherzigkeit von völlig fremden Menschen widerfahren, wenn er in Bedrängnis war! Mehr als einmal wäre er sonst nicht nach Hause in die von uns allen geliebte Stadt des Kalifen zurückgekehrt!“ Er wandte den Kopf und sah den etwas verdutzten Seefahrer Sindbad an, dem es sichtlich unangenehm war, plötzlich auf diese Weise ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt zu werden. „So ist es doch, nicht wahr, edler, vielgepriesener und über die Maßen in der Welt bewanderter Seefahrer?“
Sins berühmter Namensvetter schluckte zunächst einmal.
Und der junge Sin war gerührt von der nicht zu verbergenden Verlegenheit des Seefahrers. Offenbar war Sindbad der Seefahrer nicht nur ein furchtloser Seefahrer, der überall durch eine beeindruckende Menschlichkeit hervorgetreten war, sondern er war auch noch bescheiden. Er will nicht so herausgestellt werden!, dachte Sin. Aber sprach das nicht dafür, dass er doch kein Lügner und Angeber war? Ich werde ihn ich einmal dazu befragen müssen, nahm Sin sich vor. Und vielleicht hatte der berühmte Mann ja doch eine einleuchtende Erklärung dafür, dass er eine Sultanstochter gerettet hatte, die doch angeblich niemals geboren worden war!
„Ist das wahr?“, fragte Kapitän Firuz an Sindbad den Seefahrer gerichtet. „Entspricht das, was der Junge gesagt hat, deiner Ansicht?“
Sindbad ließ den Blick schweifen und verweilte dabei etwas länger sowohl bei Sin als auch bei der Diebin. „Ja“, sagte er schließlich. „Ob uns diese Diebin oder die Karten des Rajaraja nun wirklich dabei helfen, das Land des Riesenvogels Rock wiederzufinden, weiß ich nicht. Aber mein junger Namensvetter hat genau das Richtige gesagt. Es geht nicht nur um Nützlichkeit sondern auch um Barmherzigkeit. Uns hat dieses Mädchen nichts gestohlen...“
„Und damit sie es auch nicht in Zukunft tut, werden wir ihr gleich freiwillig geben, was sie verlangt?“, lachte Firuz.
„Da wird es ja wohl nur um etwas Wasser und Stockfisch gehen, den sie verzehren wird“, gab Sindbad zu bedenken. Er wandte sich an Jarmila: „Willkommen auf meinem Schiff, Jarmila! Du stehst unter dem Schutz von Sindbad dem Seefahrer und es wird dir niemand ein Haar krümmen, geschweige denn dich über Bord werfen!“
„Ein großer Mann hat gesprochen und vermutlich wird niemand etwas dagegen sagen“, knurrte Firuz. „Aber eins sollte die Diebin wissen: Ich dulde auf meinen Schiff keine heidnische Götzenrituale aus deiner indischen Heimat! Und falls du auf den Gedanken kommen solltest, etwas an dich zu nehmen, das man dir nicht ausdrücklich gegeben hat, werde ich jede Barmherzigkeit vergessen!“
Das Mädchen, das sich Jarmila genannt hatte, schluckte. Sie schien sichtlich beeindruckt von der drohenden Ansprache des Persers zu sein, der sich daraufhin noch an Sindbad den Seefahrer wandte und etwas leiser raunte: „Und du solltest nicht vergessen, dass ich hier der Kapitän bin, ganz gleich auf wie vielen Fahrten du vielleicht der Kapitän oder sonst etwas gewesen sein magst und für wie wichtig man deine Anwesenheit im Palast des Kalifen auch hält!“
„Ich wollte deine Befehlsgewalt nie in Frage stellen“, sagte Sindbad der Seefahrer daraufhin. „So wie ich auch niemals angezweifelt habe, dass jedes meiner Worte auch von dir hätte gesagt werden können. Schließlich waren es nur Dinge, die eigentlich für jeden Seefahrer selbstverständlich sein sollten und die daher auch gar keiner besonderen Erwähnung mehr bedürfen!“
„Ich werde mir verkneifen, darauf noch etwas zu erwidern“, meinte Firuz. „Du magst ja ein berühmter Mann sein, dessen Wort ein enormes Gewicht hat. Aber im Augenblick möchte ich ehrlich gesagt in deiner Haut nicht stecken.“ Ein breites Lächeln glitt über das Gesicht des Persers. „Das könnte sich erst wieder ändern, falls wir tatsächlich irgendwann eines dieser von Allah so versteckten Vogeleier gefunden haben und sie nicht einfach nur Ausgeburten deiner Fieberträume waren, in die man sich hineinsteigern kann, wenn einem viele zuhören!“
DIE FRAGE
Die 'Flügel des Windes' hatte gute Fahrt. Die Winde waren günstig und die Dau durchpflügte mit steter, schneller Fahrt das Meer.
Jarmilas Kleider waren rasch getrocknet, denn die Sonne strahlte den ganzen Tag von einem wolkenlosen Himmel. Den einzigen Schatten weit und breit spendete das große dreieckige Segel der Dau.
Der Wellengang war nur mäßig. Von Omar hatte Sin erfahren, dass dies damit zusammenhing, dass der Arabische Golf nur ein kleines Meer sei und die Wellen nie die Größe und Wucht erreichten, mit der man im großen Weltozean rechnen müsste.
„Aber dahin kommen wir noch, dann wirst du es sehen, Sin!“, hatte der Junge die Worte des Steuermanns noch im Ohr.
Die meiste Zeit über suchte man sich irgendwo an Deck einen Platz, wo man sich niederließ und darauf wartete, dass die Zeit verging.
Ibn Sina und Abdul aus Cordoba waren unablässig damit beschäftigt, über alles Mögliche zu diskutieren. Es ging um Berechnungen, die die Sterne betrafen oder um die Funktionsweise einzelner Organe im Körper und welche Kraft dafür sorgte, dass das Blut floss und das Herz sich bewegte und aus welchem Grund es offenbar hin und wieder vorkam, dass genau dieser Vorgang aufhörte.
Branagorn hielt sich ebenfalls in der Nähe der beiden auf, doch war er die meiste Zeit über damit beschäftigt, mit Tinte und Federkiel in ein Buch zu schreiben, das in dunkles Leder gebunden worden war, in das man Schriftzeichen eingearbeitet hatte, die für Sin ziemlich eigenartig aussahen.
Sin konnte zwar weder Lesen noch Schreiben, aber die gewöhnlichen Schriftzeichen, wie sie im Koran benutzt wurden, waren ihm zumindest so vertraut, dass er diese Schrift wiedererkennen und von anderen zu unterscheiden vermochte. Die Zeichen auf Branagorns Buch waren von anderer Art, das war für ihn sofort erkennbar. Wahrscheinlich die magischen, heidnischen Zeichen seiner barbarischen, kalten Heimat, dachte der Sohn eines Lastenträgers.
Jarmila setzte sich neben Sin in den Bug des Schiffes. Da es dort am meisten schaukelte, wollte dort für gewöhnlich niemand anders sitzen. Und manchmal konnte auch etwas Gischt über die Reling spritzen.
Aber erstens war das bei der Hitze sowieso eher angenehm und zweitens mochte Sin diesen Platz, weil er sich an dem Anblick des Meeres einfach nicht sattsehen konnte. Das war ihm schon so gegangen, seit sie den Schat al-Arab verlassen und das offene Wasser erreicht hatten.
Für die meisten der Seeleute an Bord war das allerdings wohl alles andere als ein besonderer Anblick. Sie waren daran gewöhnt und würdigten diesem einzigartigen Anblick überhaupt nicht mehr, wie der Junge fand.
„Das ist nun schon das zweite Mal, dass du mich gerettet hast“, sagte Jarmila.
„Da mein Name Sindbad ist, ist das für mich nichts besonderes, denn ich tue den ganzen Tag nichts anderes, als Abenteuer erleben und bedrängte Jungfrauen zu retten“, meinte Sin im Scherz und man konnte dabei fast das Gefühl bekommen, seinen großspurigen Namensvetter zu hören.
„Du spinnst“, sagte Jarmila.
„Nur ein bisschen und normalerweise erzähle ich auch niemandem etwas davon“, lachte Sin.
„Die anderen nennen dich Sin.“
„Ja, die zweite Hälfte meines Namens muss ich mir wohl erst noch verdienen.“
Sie atmete tief durch und die ganze Erleichterung, die sie in diesem Moment empfinden musste, war ihr mehr als deutlich anzumerken. „Jedenfalls nochmal vielen Dank. Es war wirklich mutig von dir, was du in Al-Bahrain getan hast! Die Stadtwachen hätten keinen Spaß verstanden, wenn sie mich bekommen hätten, das kann ich dir sagen!“ Sie hob ihre Hände und lächelte. „Meine Glückszeichen sind nicht einmal durch das Meerwasser abgewaschen worden!“
„Na, das ist doch sicher ein Zeichen dafür, dass es Allah gut mit dir meinen muss!“
„Allah – und ein paar andere Götter.“
„Aber...“
„Auch wenn man das eigentlich nicht tun sollte, aber ich glaube sowohl an Allah, als auch an Shiva, Vishnu und die anderen Götter meiner Heimat. Viel beten hilft viel, Sin! Und zu viele Göttern viel beten, hilft noch mehr, denke ich!“
Sin zuckte mit den Schultern.
„Mich darfst du da nicht fragen!“
––––––––
TAGE GINGEN DAHIN. Und jedesmal, wenn wieder der Mond am Himmel schien und man irgendwo an einem Küstenstreifen einen Lagerplatz suchte, ärgerte sich Sin darüber, dass er es wieder nicht gewagt hatte, Sindbad den Seefahrer nach der nicht existierenden Sultanstochter zu fragen.
Irgend etwas in ihm hinderte ihn daran, dem großen Idol und Vorbild diese Frage zu stellen. Er konnte es sich nicht erklären, woran das letztlich lag. Einmal – sie hatten an einer kargen Küste ein Lagerfeuer entzündet und das Schiff sicher vertäut – stand Sin neben dem großen Seefahrer und hätte beinahe schon die entscheidenden Worte über die Lippen gebracht. Aber ein Kloß steckte ihm im Hals und hinderte ihn daran seine Frage auch auszusprechen. Als schließlich nichts weiter, als ein verlegenes Husten aus ihm herauskam, klopfte Sindbad ihm auf die Schulter und meinte: „Na, hast du dich verschluckt?“
„Ja“, ächzte Sin, als er wieder zu Atem gekommen war.
„Hast du irgend etwas auf dem Herzen, Sin?“
„Nun, also, ich weiß nicht...“
„Du weißt, dass du mich alles fragen kannst und ich dir in jeder Lage helfen werde – schon, weil dein Vater mich immer so gastlich bei sich aufgenommen hat und wir uns schon so lange kennen!“
„Eigentlich interessiert mich nur eins!“
„Und was?“
„Großer Sindbad, bist du zuversichtlich, dass du das Land des Riesenvogels Rock wiederfinden wirst und wir dem Kalifen helfen können?“
Einige Augenblicke herrschte nun Schweigen.
Sin bemerkte, dass Jarmila in der Nähe war und den Seefahrer mit einem aufmerksamen, fragenden Blick ansah. Und plötzlich war auch das Gespräch der anderen Männer am Lagerfeuer verstummt. Firuz der Perser, der gerade noch in sich gekehrt auf einem Stück Stockfisch herumgekaut hatte, sah jetzt ebenso aufmerksam in Richtung des berühmten Abenteurers wie Ibn Sina und Abdul aus Cordoba, die gerade noch in einen gelehrten Streit verwickelt gewesen waren, ob im Gehirn die Gedanken eines Menschen enthalten seien, oder ob doch die alten Schriften des Aristoteles recht hätten, in denen davon die Rede wäre, dass das Gehirn nur zum Kühlen des Kopfes diente und ansonsten keinerlei Funktion hätte.
„Allah wird uns gewiss zum Land des Vogels Rock führen“, sagte Sindbad.
„Wäre das nicht eher deine Aufgabe?“, fragte Firuz der Perser.
„Jedenfalls wird er es erkennen, wenn wir dort sind und ich nehme an, dass er auch der einzige von uns ist, der ein Ei des Vogels Rock zweifelsfrei zu erkennen vermag!“, meinte Ibn Sina. „Schließlich ist es ja nicht ausgeschlossen, dass in einem Land, in dem ein so großer Vogel lebt, es auch noch andere Arten gibt, deren Eier aber keineswegs eine solche Heilwirkung haben, wie man sie denen von Rock zuschreibt.“
Sindbad der Seefahrer wandte sich nun an den Jungen und diesem ging ein Schauer durch den Körper, als sein großes Vorbild ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Wenn man etwas nur hartnäckig genug verfolgt und sich gegen alle Widerstände nicht von seinem Weg abbringen lässt, dann lässt Allah alles möglich werden.“
„Meinst du das wirklich?“
„So wie der Sohn eines Lastenträgers Schiffsjunge und vielleicht eines Tages selbst Steuermann oder Kapitän werden kann, so spricht nichts dagegen, dass wir das Land der Riesenvögel wiederfinden.“
Sin schluckte.
Einmal Steuermann oder Kapitän zu werden, das klang in seinen Ohren gut.
„Ich habe bemerkt, wie sehr du dich für Omars Kunst der Schiffssteuerung interessierst, wie du ihm aufmerksam zusiehst und dir hoffentlich genau abschaust, wie er die Kraft des Windes für uns alle zu nutzen versteht. Denn diese Kraft ist stärker als diejenige von allen Pferden, die es in Bagdad gibt zusammengenommen! Und selbst die Kraft aller Elefanten, die es im Reich von König Rajaraja geben mag, verblasst dagegen! Wer über sie gebietet ist wahrhaft mächtig und so tust du gut daran, sie beherrschen zu lernen.“
Einerseits schmeichelten Sin diese Worte. Und der Gedanke, als Steuermann eine Dau über das Meer zu lenken, gefiel ihm. Für ein paar Augenblicke konnte er auch an gar nichts anderes mehr denken und hatte die drängenden Fragen, die er Sindbad dem Seefahrer eigentlich hatte stellen wollen, auch schon fast vergessen.
„Wie immer – viel Geschwafel, aber er hat dir nichts gesagt“, mischte sich Firuz der Perser ein und wandte sich dabei geradewegs an Sin. „Jedenfalls nicht zu dem Thema, das wir alle – und auch du, Schiffsjunge! - hören wollten!“
Konnte es sein, dass der große Sindbad ihn mit seinen einschmeichelnden Worten nur hatte ablenken wollen?, kam jetzt ein Gedanke in Sin auf, der ihm überhaupt nicht gefiel, der sich aber andererseits auch nicht wieder verscheuchen ließ.
Sindbad der Seefahrer wandte sich dem Perser zu.
„Du vertraust doch auf Allah, Firuz.“
„Natürlich!“
„Dann solltest du das auch jetzt tun. Wenn es ihm gefällt, werden wir das Land der Riesenvögel finden und wenn es ihm nicht gefällt, dann wird niemand von uns daran etwas ändern können!“
„Du drehst einem die Worte im Mund herum“, meinte Firuz düster.
„Ich erinnere dich nur an das, was du selbst immer gesagt hast“, erwiderte Sindbad ruhig.
Der Perser ging ärgerlich davon. Man sah wenig später nur noch einen Schatten in der Nacht. Seine finsteren Flüche aber mischten sich wie ein geisterhaftes Wispern eins Dschinns mit dem Rauschen des Meeres, dessen sanfte Wellen gegen das Land rollten.
Ibn Sina und Abdul aus Cordoba nahmen ihr Gespräch wieder auf, in das sich zeitweilig auch Branagorn von Corvey einschaltete. Es ging um Dinge, die niemand sonst verstand, der zur Zeit mit der 'Flügel des Windes' reiste.
Dinge, die so rätselhaft und geheim schienen, dass sie für jeden anderen von Magie nicht zu unterscheiden waren.
Außer dem großen Sindbad blieb nur noch Jarmila in der Nähe.
Sin sah ihr Gesicht im Mondlicht. Und sie wirkte auf Sin so, als würde sie auf etwas warten. 'Tu es!', schien ihr Blick zu sagen. 'Frag endlich, was du nur mich gefragt hast und lass dich nicht mit irgendwelchen Ausreden abspeisen, dass nur Allah die Wahrheit kennt oder dergleichen! Denn Sindbad der Seefahrer kennt sie ganz bestimmt ebenfalls, auch wenn er sie dir bisher verschwiegen hat!'
Gerade als Sindbad der Seefahrer sich abwenden wollte, fand Sin seine Stimme wieder.
„Ich muss dir noch eine Frage stellen, großer Sindbad.“
„Hat das nicht Zeit?“
„Nein, das hat es nicht!“
„Aber Sin, ich bin müde! Wir sitzen den ganze Tag auf den Planken dieser Dau, da kannst du mich so viel fragen, wie du willst und solange mir die Sonne nicht die Gedanken verschmort hat, werde ich dir dann auch gerne antworten!“
„Du hast erzählt, wie du die Sultanstochter und ihre Geliebten vor dem Zorn des Herrschers von Al-Bahrain bewahrt hast!“
„Ja, das ist richtig.“
„Aber ich habe nun auch gehört, dass der Sultan gar keine Töchter hat!“
Endlich war es heraus. Sin fühlte, wie ihm der Hals plötzlich so trocken wurde, als hätte er schon tagelang nichts getrunken. Und die letzten Worte, die ihm über die Lippen kamen, krächzten daher so heiser, dass er sich hinterher räuspern musste. Aber immerhin war es endlich ausgesprochen. In dem Moment, der dann folgte, wusste Sin nicht, ob er darüber nun erleichtert sein sollte oder ob er jetzt vielleicht befürchten musste, dass sein großes Vorbild ihm diese Frage sehr, sehr übel nahm. Vielleicht sogar so übel, dass damit die Freundschaft und Verbundenheit, die zwischen ihnen geherrscht hatte, für immer zerstört wurde.
Der große Sindbad trat einen Schritt zurück und unglücklicherweise fielen jetzt weder das Mondlicht noch der Schein des Lagerfeuers in sein Gesicht. Sin konnte daher nicht erkennen, welche Miene der berühmte Seefahrer jetzt machte.
Er hörte nur, wie sein berühmter Namensvetter einmal kräftig durchatmete. Ein Seufzen, das alles mögliche bedeuten konnte. Von 'So ein einfältiger Junge, was stellt der für dumme Fragen' bis zu 'So ein Mist, ich hätte nicht geglaubt, dass jemals jemand meinen Lügen auf die Schliche kommt und ich mir zu diesem Punkt eine gute Ausrede ausdenken muss!'
„Wer sagt denn, dass der Sultan keine Töchter hat?“, fragte Sindbad der Seefahrer dann sehr ruhig. Seine Stimme war jetzt etwas tiefer als sonst.
„Alle wissen das“, konnte jetzt Jarmila nicht an sich halten, die noch immer in der Nähe stand und dem Gespräch aufmerksam zugehört hatte. Sie war anscheinend genauso gespannt auf die Antwort des berühmten Seefahrers wie der junge Sin. „Jeder, der länger als nur einen Tag und eine Nacht in Al-Bahrain war, um die Ladung seines Schiffes zu löschen, wird früher oder später davon gehört haben, dass der Sultan stolz darauf ist, nur Söhne zu haben!“
„Ach, wirklich?“, meinte Sindbad der Seefahrer. Er griff sich mit der Hand ans Kinn und rieb sich dort. Sin trat etwas zur Seite, in der Hoffnung wenigstens jetzt einen Blick auf die Gesichtszüge seines großen Vorbildes erhaschen zu können. Doch Allah schien es zu gefallen, die Züge des berühmten Mannes zu verbergen. Die Schatten fielen so, dass auch jetzt weder Mondlicht noch Flammenschein es erlaubten, irgend etwas davon zu erkennen. „Will mich da etwa jemand als Lügner hinstellen?“, fragte Sindbad schließlich.
„Meine Absicht ist das ganz gewiss nicht“, erwiderte Sin. „Ich wüsste einfach nur gerne die Wahrheit. Der Seilmacher, zu dem ich Omar begleitet habe, berichtete ebenfalls davon, dass der Sultan gar keine Töchter hätte.“
Sindbad atmete tief und hörbar durch. „Du magst es entschuldigen, dass ich etwas gereizt geantwortet habe. Aber du musst ein paar Dinge wissen. Erstens gibt es in Al-Bahrain einen Mann, der mir nicht wohlgesonnen ist und der alles getan hat, meinen Ruf zu ruinieren und zu verhindern, dass ich je wieder in diesem Hafen einen Fuß an Land setzen kann, weil ich nicht Gefahr laufen will, überall mit Unrat beworfen zu werden.“
„Und wie kann es sein, dass ein so großer Mann sich dort so unbeliebt gemacht hat?“, mischte sich Jarmila ungefragt ein. „Also zu der Zeit, die ich in Al-Bahrain verbracht habe, kann das nicht gewesen sein, denn dann hätte ich davon gehört!“
„Diebe sind sicherlich immer gut informiert“, gab Sindbad zu. „Aber auch sie wissen nicht alles. Und die Dinge, von denen ich euch nun berichte, haben sich schon vor vielen Jahren ereignet, sodass es nicht verwundern kann, wenn du nichts davon gehört hättest. Es gibt einen Wirt, der Mohammed heißt...“
„...wie der Seilmacher“, murmelte Sin.
„...wie wahrscheinlich die Hälfte aller Männer in Al-Bahrain“, ergänzte Jarmila.
„...und dieser Wirt namens Mohammed behauptet bis heute fälschlicherweise, ich sei ihm den Preis für mein Bett und meine Mahlzeiten schuldig geblieben. Dabei ist das eine Lüge! Dieser Wirt erpresst mit Vorliebe Gäste aus fremden Ländern. Vor allem Händler und Seefahrer. Und wenn die ihm nicht den Preis für die Übernachtung zweimal oder dreimal bezahlen, so erzählt er überall herum, dass sie ihm etwas schuldig geblieben wären. Und da Mohammed der Wirt gute Beziehungen zu all den Kaufleuten hat, muss man anschließend damit rechnen, dass niemand mehr Geschäfte mit einem machen will! In dem einen oder anderen Fall hat dieser betrügerische Wirt es sogar geschafft, dass die Betroffenen vor den Kadi mussten – denn einer der Richter in Al-Bahrain ist der Schwiegersohn von Mohammed dem Wirt und ihm verpflichtet, weil Mohammed das Haus bezahlt hat, in dem dieser wohnt.“
„Ich habe jetzt verstanden, dass sich Sindbad der Seefahrer offenbar in Al-Bahrain nicht mehr blicken lassen kann, weil es es mal Streit um die Bezahlung einer Wirtsrechnung ging“, schloss Jarmila. „Über die Sultanstochter habe ich kein Wort gehört – du vielleicht, Sin?“
Sin schüttelte nur den Kopf.
Er konnte kein Wort herausbringen, denn die Erzählung des berühmten Sindbad über Mohammed den Wirt hatte den Jungen schon nach wenigen Sätzen so gefangen genommen, dass er seine eigentliche Frage beinahe vergessen hätte.
„Du lässt nicht locker“, stellte Sindbad an Jarmila gewandt fest.
„Glaubst du, ich hätte mir mein tägliches Brot als Diebin verdient und meine Hände behalten können, wenn ich leicht abzulenken wäre?“, fragte Jarmila zurück.
„Nein, gewiss nicht“, gab Sindbad zu. „Und darüber hinaus gehört es ja wohl zum Handwerk der Diebe, selbst andere abzulenken, so dass sie ihren Opfern im richtigen Moment ihr Eigentum abnehmen können. Am besten so, dass es die Opfer gar nicht bemerken. Als ich mal mit einem Schiff unterwegs war, das eigentlich zur Küste der Schwarzen Menschen segeln sollte, aber dann durch widrige Umstände erheblich vom Weg abkam...“
„Er fängt wieder damit an, Sin“, sagte Jarmila. „Du wirst wohl heute Nacht keine Antwort mehr bekommen, was die Sultanstochter angeht. Und morgen auch nicht. Wahrscheinlich auch dann nicht, wenn du wieder in Bagdad bist und er wieder am Hafen sitzt, um seine Geschichten zu erzählen. Obwohl – ehrlich gesagt, glaub ich nicht, dass man ihm das gestatten wird, denn nach alledem, was ich bisher mitbekommen habe, geht es ja bei dieser Reise wohl darum, ein Heilmittel für den Kalifen zu finden! Und stell dir nur vor, Sin, wenn sich alles das, was der große Sindbad davon erzählt, ebenso als Lüge herausstellt wie die Geschichte mit der Sultanstochter! Dann wird er seine Geschichten in einem Kerker den Ratten erzählen können, wenn man ihm nicht noch Schlimmeres antut!“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dieben wie mir schlägt man vielleicht die Hand ab, aber mit jemandem, der versprochen hat, den Kalifen zu retten und es dann nicht kann, dem wird man vielleicht sogar den Kopf abschlagen!“
„Warst du es nicht, der etwas von Riesenvögeln auf den Karten im Palast des Rajaraja erzählt hat?“, fragte Sindbad ruhig zurück. „Und sollte das dann vielleicht auch nur eine Lüge sein, um dich davor zu bewahren, nicht über Bord geworfen zu werden?“
Erneut war es vollkommen ruhig geworden.
Auch am Lagerfeuer hörte man jetzt wieder sehr aufmerksam dem Gespräch zwischen Jarmila und dem großen Seefahrer zu.
„Nein“, widersprach Jarmila. „Ich habe nur gesagt, was ich gesehen habe.“
„Und ich habe nur berichtet, was ich erlebt habe.“ Sindbad der Seefahrer wandte etwas den Kopf und endlich konnte Sin jetzt wieder die Gesichtszüge des berühmten Mannes sehen. In seinen Augen blitzte das Mondlicht. Er schielte kurz zu den Männern am Lagerfeuer hin - fast so, als wollte er sichergehen, dass sie ihm auch ja alle zuhörten und keines der Worte verpassten, die er nun sprechen wollte.
Ein guter Geschichtenerzähler wusste eben, wann er eine Pause machen musste, um die Spannung zu erhöhen und wann er auf die Aufmerksamkeit seines Publikums zuerst warten musste, um dann die größtmögliche Wirkung zu erzielen. „Die Geschichten darüber, dass der Sultan von Al-Bahrain angeblich nur Söhne hätte, ist sogar bis Bagdad gedrungen! Fahrende Händler und die Männer auf den Schiffen, die den Strom hinaufsegeln, erzählen jedem davon, der bereit ist, ihnen zuzuhören. Und so habe ich davon natürlich auch gehört. Aber ich, der ich die Wahrheit kenne, weiß natürlich auch, weshalb der Sultan dies verbreiten lässt und so großen Wert darauf legt, er hätte nur Söhne, auch wenn es überhaupt nicht der Wahrheit entspricht. Es ist nämlich so, dass er seine Tochter verstoßen hat, nachdem ich ihr und ihrem unziemlichen Geliebten zur Flucht verhalf. 'Ich habe keine Tochter mehr!', soll er daraufhin gesagt haben, wie mir Reisende berichteten, die es wissen müssen. 'Und ich will von heute an niemals eine Tochter gehabt haben! Ihr Name soll aus dem Buch meiner königlichen Familie getilgt werden! Und nicht nur das, auch die Erinnerung an sie soll ausgelöscht sein, so als hätte sie niemals existiert und wäre nicht geboren worden!“
„Ich habe von solch grausamen Verstoßungen schon gehört“, meinte Ibn Sina dazu. „Vor allem in den Wüstenländern, am arabischen Golf, deren Bewohner als besonders strenggläubig gelten und die Allah näher wären als andere, nur weil die heilige Stadt Mekka in ihren Landen liegt, sollen dafür bekannt sein!“
„Da kann ich dir auch Beispiele von anderswo aufführen, werter Ibn Sina“, meinte Branagorn von Corvey.
„Von den unzivilisierten Ländern der Christen würde mich so ein Verhalten nicht wundern“, meinte Ibn Sina. „Dass es unter Rechtgläubigen dazu kommt, ist um so bedauerlicher!“
„Und genau so ist es auch mit dem Sultan von Al-Bahrain und seiner Tochter gewesen“, betonte Sindbad der Seefahrer noch einmal. „So wahr ich hier stehe und so wahr ich Sindbad der Seefahrer bin! Inzwischen glaubt nahezu jeder Einwohner von Al-Bahrain natürlich, was überall verkündet wird, nämlich dass der Sultan von jeher nur Söhne gehabt habe.“
„Und Mohammed der Seilmacher wäre nicht alt genug, um die Wahrheit zu kennen?“, mischte sich jetzt Omar der Steuermann ein.
„Dieser ehrenwerte Seilmacher mit einem gleichermaßen ehrenwerten wie weit verbreiteten Namen hat sicherlich an seine Familie gedacht und daran, dass er nicht in einem Kerker enden wollte, nur weil er die Wahrheit über die Tochter des Sultans einem Fremden erzählt! Es ist so wie bei den meisten Einwohner dieses Hafens: Man geht seinen Geschäften nach und versucht allen unnötigen Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu gehen! Ich kann euch allen jedenfalls nur sagen, dass die Sultanstochter ihr Glück im Verborgenen genießt und ihr und ihrem Geliebten, der inzwischen ihr Mann ist und mit dem sie zahlreiche Kinder hat, nichts besseres passieren kann, als dass ihr jähzorniger Vater behauptet, dass sie nie geboren worden wäre. Denn so wird der Sultan sie gewiss auch nicht verfolgen lassen!“
„Das leuchtet mir ein“, sagte Ibn Sina.
„Mir soll es gleichgültig sein, ob der Sultan eine Tochter hatte oder nicht“, murmelte Omar. „Ich lenke nur Schiffe, wohin immer mein Herr es verlangt. Sonst nichts.“
„Ausflüchte!“, zischte Jarmila kam hörbar, aber doch laut genug, als dass der junge Sin und sein berühmter Namensvetter ihr Wispern mitbekommen konnten.
Doch auf die Meinung einer dahergelaufenen Diebin kam es in diesem Fall ja wohl kaum ab. Da gab es andere, auf deren Wort mehr gezählt wurde.
„Und was denkst du, Branagorn?“, fragte Abdul aus Cordoba an den Fremden, blassgesichtigen Mann gerichtet.
Der Mönch hatte sich bisher nicht weiter dazu geäußert, aber sehr aufmerksam zugehört.
„Nun, ich denke, das Einzige worauf es ankommt, ist die Frage, ob wir irgendwann einen dieser Riesenvögel vor uns sehen – oder wenigstens ein Ei dieser Kreatur“, erklärte Branagorn ruhig. „Alls andere ist unwichtig.“
„Ist deine Frage an mich beantwortet, junger Sin?“, wandte sich Sindbad der Seefahrer nun an seinen Namensvetter.
Sin schluckte.
„Vollkommen und sehr überzeugend! Falls es so geklungen haben sollte, als hätte ich jemals an deinen Worte gezweifelt...“
„...so kann ich das gut verstehen“, zeigte der berühmte Mann Verständnis. „Schließlich ist manches von dem, was ich so berichte, ziemlich außergewöhnlich. Es wäre ungewöhnlich, wenn niemand daran zweifeln würde. Und doch ist alles wahr, was ich berichtete! So wahr, wie du und ich hier stehen, oder wie das Rauschen des Meeres, das wir beide hören!“
IN DEN GASSEN VON HORMUS
„Wie kannst du dich von diesem Angeber nur so beeindrucken lassen“, meinte Jarmila verständnislos an Sin gerichtet, als sie sich am nächsten Tag wieder zu ihm in den Bug der 'Flügel des Windes' setzte. „Es ist unfassbar! Er erzählt irgendeinen Mist und wenig später glaubt jeder, dass er die Wahrheit spricht! Selbst so kluge Männer wie dieser Ibn Sina, der auszurechnen vermag, wann der Mond sich verfinstert und wie schnell das Blut fließt und solche Sachen und es doch eigentlich besser wissen müsste!“
„Jarmila, du irrst dich...“
„Sin, wenn das ein Straßenhändler in Al-Bahrain wäre, dann würde ich ihm nichts abkaufen! Das ist einer, der einem verdorbene Früchte probieren lässt und einem dann erzählt, dass sie genau so sauer schmecken müssten und sie dadurch vielleicht sogar nur besonders gesund seien!“
„Aber, was er gesagt hat, war doch überzeugend!“
Sie atmete tief durch. „Wenn ich die Karten mit den Riesenvögeln nicht selbst gesehen hätte, dann würde ich auch diese Geschichten vom Land des Vogels Rock nicht glauben“, setzte sie hinzu.
„Aber du hast sie wirklich und mit eigenen Augen gesehen?“, wollte Sin sich noch einmal vergewissern.
„Ja, natürlich! Ich wusste damals allerdings nicht, was das zu bedeuten haben kann!“
„Wenn diesem König namens Rajaraja die Riesenvögel bekannt sind, dann wird ihm doch wohl auch die Bedeutung klar sein, die die Eier dieser Tiere als Heilmittel haben!“
„König Rajaraja soll die besten Ärzte, und viele Gelehrte an seinem Hof haben“, bestätigte Jarmila. Und in einem etwas gedämpften Tonfall fügte sie dann noch hinzu. „Wieso die dümmer sein sollten, als diese seltsamen Männer, die der Kalif ausgesandt hat, um ein Heilmittel zu finden, weiß ich ich ehrlich gesagt nicht! Der blasse Branagorn, der angeblich schon überall gewesen ist und jede Sprache spricht, von der er mal ein Wort gehört hat, dieser junge Angeber-Schnösel namens Ibn Sina, der sich so gerne reden hört und sich die Zeit damit vertreibt, auszurechnen, wann welche Sternschnuppe vom Himmel fällt. Und was diesen Abdul aus Cordoba angeht weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, ob ich mir wirklich von dem helfen lassen würde, wenn ich irgendeine Krankheit hätte!“
„Wieso nicht?“
„Das ist ein Wichtigtuer. Ich habe nicht das Gefühl, dass er wirklich viel weiß – und vermutlich wird man von seinen unbeholfenen Behandlungsmethoden kränker, als man schon ist!“
„Sprich nicht so laut“, sagte Sin und blickte sich um. Aber es schien sie niemand zu beachten. Nur Branagorn von Corvey blickte zu den beiden hin, aber da der Mönch sich ganz am anderen Ende des Schiffes befand, war Sin sich ziemlich sicher, dass der blasse Mann vermutlich wohl nichts von Jarmilas Worten mitbekommen hatte.
„Es ist doch wahr, was ich sage“, verteidigte sich Jarmila.
„Jedenfalls hast du ein ziemlich strenges Urteil“, stellte Sin fest.
„Ich sage nur, was ich denke. Das ist alles. Kann ja sein, dass ich die Närrin bin – aber mir kommt es andersherum vor!“
––––––––
SIE ERREICHTE SCHLIEßLICH Hormuz, jene Stadt an der Meerenge am Ausgang des arabischen Golfes. Dahinter lag das eigentliche Meer. So zumindest wollte es Sin nach alledem, was er in letzter Zeit an Bord der 'Flügel des Windes' aufgeschnappt hatte, vorkommen. Abdul aus Cordoba nannte es den Weltozean, weil er angeblich die ganze Welt umfließen würde, allerdings war das nicht bewiesen, dass es wirklich so war, dass dieses gewaltige Meer nicht von Landmassen umgrenzt war, wie der arabische Golf oder das schwarze und das kaspische Meer.
„Was ist denn deine Ansicht zu dieser Frage, großer Sindbad?“, wurde der berühmte Seefahrer mehrmals von Firuz dem Perser auf dieses Thema angesprochen. „Da du doch weiter gesegelt bist als irgendjemand sonst, müsstest du auf diese Frage doch eher eine Antwort geben können, als diese Gelehrten, die nur rechnen können, aber von Schiffen, von Wasser, vom Wind und von den Strömungen gar keine Ahnung haben!“
Aber wie üblich wollte sich Sindbad der Seefahrer nicht festlegen.
„Ich habe Anhaltspunkte dafür gefunden, dass der Ozean, in den wir fahren, endlos ist, aber es gibt auch Argumente, die dagegen sprechen.“
„Wir wären sehr gespannt, genauer zu erfahren, welche Anhaltspunkte das sind“, meinte Ibn Sina.
„In der Tat, großer Sindbad, das würde mich ebenfalls interessieren“, ergänzte Abdul aus Cordoba. Und der junge Sin sperrte dabei natürlich auch die Ohren auf und hörte zu, was sein berühmtes Vorbild zu diesem Thema zu sagen hatte.
„Nun, es gibt ja gewisse südliche, warme Strömungen die darauf schließen lassen, dass das Meer jenseits von Hormus keine Grenzen hat und man könnte auch die Beschaffenheit des Wassers oder Art der Fische als Anhaltspunkt nennen, ohne dass ich mich in dieser Frage letztlich festlegen würde.“
„Dann solltest du es in gutem Arabisch sagen, Sindbad: Du weiß es nicht“, mischte sich Kapitän Firuz ein.
„Ich habe viele der Küsten dieses großen Meers besegelt, aber längst nicht alle. Und erst wenn jemand tatsächlich alle Küsten befahren hätte, so könnte er mit Sicherheit sage, ob es sich um ein abgegrenztes oder ein grenzenloses Meer handelt“, erwiderte Sindbad. „Und dies darf ich euch allen in aller mir gebotenen Bescheidenheit sagen: Allah hat keinem von uns genug Lebenszeit gegeben, um all diese Küsten tatsächlich besuchen zu können. Und nicht einmal der Erfahrenste und Kühnste unter uns würde es fertig bringen, all diese Landstriche innerhalb eines einzigen, kurzen Lebens anzusteuern. Schon die Winde wären dagegen, aber vielleicht lässt Allah diese Winde auch mit weiser Absicht so wehen, wie sie dies jedesmal tun, damit uns allen ein paar Geheimnisse erhalten bleiben.“
„Ich habe mir schon gedacht, dass er etwas in der Art von sich gibt“, murmelte Firuz an Omar gewandt – aber laut genug, dass man es hören konnte.
Sin hingegen war mit dieser Erklärung vollkommen zufrieden.
––––––––
ES STELLTE SICH RASCH heraus, dass das Schiff länger im Hafen von Hormus würde bleiben müssen.
Sin hörte interessiert zu, wie Kapitän Firuz mit dem Hafenmeister sprach. Es lagen viele Schiffe an den Anlegestellen. Einige von ihnen wollten nach Indien weitersegeln, andere kamen von dort. Von der Gefahr durch Seeräuber war die Rede und davon, dass man sich gegen Zahlung eines großzügigen Zolls durch die Schiffe des Sultans von Hormus schützen lassen konnte.
Davon abgesehen war es wohl das Beste, sich mit anderen Schiffen für die Weiterfahrt nach Indien zu einem Verband zusammenzuschließen.
Der nächste Schiffsverband würde aber erst in ein paar Tagen aufbrechen.
Fliegende Händler belagerten die Anlegestellen und versuchten ihre Waren an die Besatzungen zu verkaufen.
„Wir könnten uns etwas in der Stadt umsehen“, schlug Jarmila Sin vor. „Aber du müsstest mich begleiten.“
„Wieso das denn?“, wunderte sich Sin.
„Wieso nicht?“
„Naja, dass eine Diebin wie du jemanden braucht, der sie beschützt, glaube ich jetzt eher nicht“, antwortetet Sin. „Eher umgekehrt wird ein Schuh daraus.“
„Sehe ich etwa aus wie ein Dschinn, vor dem man sich erschrecken müsste?“
„Nein, aber du bist eine Diebin und hast wahrscheinlich schon so manchen Lastenträger um seinen ehrlich und im Schweiße seines Angesichts erworbenen Lohn gebracht!“
„So ein Unsinn! Ich habe dir doch schonmal erklärt, dass...“
„...dass du nur gestohlen hast, um satt zu werden!“
„Richtig!“
„Aber nicht, dass du nur Reiche bestohlen hast!“
Jarmila seufzte. „Man hat nicht immer die Wahl, Sin! Was ist nun? Kommst du mit? Alleine gehe ich nicht, denn mich würde der Kapitän sicherlich ohne zu Zögern zurücklassen, wenn das Schiff plötzlich doch früher auslaufen sollte. Dich hingegen...“
„Ja?“
„Du bist immerhin der Schiffsjunge und anscheinend der besondere Liebling von Sindbad dem Seefahrer! Also wenn du bei mir bist, wird das Schiff nicht ohne mich wegsegeln.“
Sin zögerte. „Ich weiß nicht. Weißt du, ich möchte meine Hände gerne an ihrem Ort behalten und deshalb...“
„Du hast Angst, dass du in Verdacht gerätst, mein Komplize zu sein, falls ich erwischt werde?“
„Genau!“, nickte Sin.
„Das wird nicht passieren.“
„So?“
„Aus zwei Gründen: Erstens werde ich mich niemals erwischen lassen!“ Sie hob ihre Hände, sodass Sin die Glückszeichen an den Handgelenken sehen konnte. „Ich hatte immer Glück und werde es auch in Zukunft haben! Bei allen Göttern der ganzen Welt!“
„Und zweitens?“, fragte Sin wenig überzeugt.
„Zweitens verspreche ich dir, meine Hände bei mir zu lassen und niemandem etwas wegzunehmen!“
„Gut, dann komme ich mit.“
––––––––
HORMUS WAR EINE STADT mit engen Gassen. Enger noch als in Bagdad. Das lag wohl daran, dass Hormus von einer hohen Stadtmauer umgrenzt wurde, die die Stadt wohl vor Überfällen aus dem Umland schützen sollte. Bagdad hingegen war so groß, dass es wohl unmöglich gewesen wäre, die Stadt des Kalifen mit einer Mauer völlig zu umfassen. Es gab zwar Festungen und Schutzmauern, aber die Grenzen des Stadtgebietes hatten sich immer wieder erweitert. Neue Viertel waren entstanden und in die Umgebung gewachsen.
Sin folgte Jarmila, die sich ziemlich gut auszukennen schien. Der Schiffsjunge hatte sich bei Omar dem Steuermann abgemeldet, damit sich niemand darüber wunderte, wo er geblieben war.
Was Jarmila betraf, so hatte sie wahrscheinlich mit der Vermutung recht, dass so mancher an Bord sich insgeheim wünschte, dass sie in Hormus blieb und später nicht mehr an Bord ging. Denn so ganz geheuer war das Mädchen mit den Bindi-Glückszeichen auf Stirn und Handgelenken den gläubigen Seeleuten der 'Flügel des Windes' nicht.
Sin fiel auf, dass die Frauen hier tief verschleiert waren. Von kaum einer sah man das Gesicht. Sie trugen nicht nur ein Kopftuch, wie es auch in Bagdad oder Al-Bahrain üblich war, sondern manche von ihnen waren mit einem Umhang bekleidet, der nicht einmal die Augen freiließ, denn selbst dort war ein dünner, gazeartiger, durchsichtiger Stoff.
Händler und Geschichtenerzähler gab es an jeder Ecke.
Außerdem fiel Sin noch etwas anderes auf. Es fehlte etwas, das eigentlich zu jeder Stadt und zu jedem Hafen gehörte, wie Sin fand. Und da es für ihn so selbstverständlich war, kam er erst auch gar nicht darauf, was da genau eigentlich fehlte, bis er es schlagartig erkannte.
„Musik“, murmelte er und blieb mitten auf einer der wenigen etwas breiteren Straßen von Hormus stehen. Jarmila packte ihn plötzlich und schubste ihn zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, denn ein von Pferden gezogener Karren rollte die abschüssige Straße entlang.
Der Fahrer war ziemlich aufgebracht und rief Sin in einer unbekannten Sprache etwas zu.
Etwas, was ganz sicher nicht freundlich gemeint gewesen war.
Jarmila rief etwas in derselben Sprache zurück, was ganz sicher nicht weniger unfreundlich gemeint war.
„Du sprichst, wie die Leute hier?“, wunderte sich Sin.
„Nur ein paar Wörter. Das ist eine Art Persisch. Allerdings habe ich in Al-Bahrain auch Leute gehört, die behaupteten, Perser zu sein und die ich nicht verstehen konnte.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich war nicht lange hier in Hormus. Nicht lange genug, um mehr als ein paar Wörter zu lernen, mit denen man zählen und sich anschimpfen kann, damit man in Ruhe gelassen wird!“
„Ich hatte gerade sagen wollen, dass ich jetzt weiß, was hier fehlt.“
„Musik hast du gesagt.“
„Ja.“
„Natürlich gibt es hier keine Musik.“
„Wieso das denn nicht?“
„Die Leute hier sind sehr strenggläubig. Und sie denken, dass alle möglichen Dinge, die Freude machen, Allah missfallen.“
„Das klingt nach einer Stadt voll schlechtgelaunter Leute“, meinte Sin.
Jarmila zuckte mit den Schultern. „Man muss die Menschen hier verstehen. Andauernd werden sie von den Stämmen der Wüste überfallen und müssen sich oft monatelang hinter die Mauern der Stadt zurückziehen. Ich habe das damals erlebt, als ich hier war und ich muss sagen, ich hatte großes Glück auf ein Schiff zu kommen! Länger hätte ich es hier nämlich auch kaum ausgehalten!“
„Das hättest du früher sagen sollen!“, beschwerte sich Sin. „Dann wäre ich gar nicht mitgekommen. Und ehrlich gesagt verstehe ich auch nicht, was dich in so eine Stadt zieht, die du ja noch viel besser zu kennen scheinst als ich erst den Eindruck hatte!“
Sie lächelte ihn an. „Ganz einfach: Ich will Neuigkeiten erfahren.“
Sin runzelte die Stirn. „Und das kann man hier?“
„Hier so gut wie an keinem anderen Ort, den ich kenne. Die Bewohner von Hormus mögen noch so stur, miesepetrig und verschlossen sein und die Händler in den Straßen ihre Kunden so unfreundlich behandeln, wie sie es sich nirgendwo sonst auf der Welt trauen würden, weil sie dann bestimmt nichts verkaufen könnten! Aber hier gelten andere Regeln! Alle Schiffe, die in den Arabischen Golf hineinsegeln wollen, müssen die Meerenge von Hormus passieren. Und sie haben kaum eine andere Wahl, als hier an Land zu gehen, frisches Wasser an Bord zu nehmen und den Schutz des Sultans vor den Seeräubern zu erbitten!“
„Und wo bitteschön kann man hier Neuigkeiten erfahren?“
„Komm“, sagte sie. „Ich will zwar zurück in meine Heimat – aber nicht ohne dass ich weiß, was mich dort erwartet!“
––––––––
SIN FOLGTE JARMILA. Sie hatte einen flinken Schritt und da Sin ziemlich neugierig war und immer wieder rechts und links schaute, hatte er manchmal Mühe ihr zu folgen. Kleine Werkstätten drängten sich in den Erdgeschossen der Häuser. Töpferscheiben drehten sich dort oder die Hämmer von Gold- und Silberschmieden waren unablässig zu hören.
Die Gassen schienen enger und verwinkelter zu werden. Die Häuser dagegen sahen aus, als hätte man sie nachträglich noch um ein oder zwei Stockwerke erhöht und bei manchen von ihnen dachte Sin, ob sie nicht innerhalb der nächsten Tage eigentlich einstürzen müssten. So wenig stabil erschienen sie ihm.
Dann erreichten sie schließlich in einem abgelegenen Teil der Stadt ein Tor, das durch eine Mauer führte, so als wäre hier ein Teil der Stadt vom Rest abgetrennt. Das Tor stand offen, aber zwei Wächter standen links und rechts davon. Sie waren mit Schwertern und Speeren bewaffnet. Sin fielen sofort die Zeichen an den Händen auf. Glückszeichen, wie sie auch Jarmila trug.
Jarmila sprach die Wächter in ihrer Sprache an. Sin verstand kein Wort davon, aber er begriff sofort, dass dies nicht jene Sprache war, in der sich die Leute von Hormus unterhielten. Der Klang war vollkommen anders. Einer der Männer antwortete.
Jarmila drehte sich zu Sin um.
Sie sagte noch etwas. Und der Wächter antwortete noch einmal – sehr freundlich und mit sehr tiefer Stimme.
„Komm jetzt, Sin!“, sagte Jarmila schließlich. „Man lässt uns herein!“
Verwirrt folgte Sin ihr. Die Wächter ließen sie tatsächlich passieren.
„Sind das Männer aus deiner Heimat?“, schloss Sin.
„Ja.“
„Und was hast du ihnen gesagt?“
„Dass du ein Lastenträger bist und für Reza Barad etwas abholen sollst.“
„Wer ist Reza Barad?“
„Der reichste Kaufmann von Hormus. Ihm gehören die meisten Schiffe.“
„Und du kennst so einen reichen Mann?“
„Natürlich nicht. Aber jeder jeder weiß wer das ist, der hier länger als zwei Tage gewesen ist. Darum habe ich das gesagt.“ Sie lächelte. „Ich hatte Glück.“
„Wieso?“
„Die Geschäfte des Reza Barad hätten ja in den Jahren, in denen ich nicht hier war, pleite gehe können. Das kommt hier öfter vor als man denkt. Heute noch ein großer Kaufmann und morgen vielleicht ein Bettler. Im Gewürzhandel werden riesige Reichtümer angehäuft – aber auch ganz schnell wieder verloren.“ Sie beugte sich zu ihm und sprach etwas leiser. „Zum Beispiel, wenn man es sich mit der Gewürzgilde verdirbt...“
Der starke Geruch war Sin schon aufgefallen, als sie das Tor passiert hatten. Aber je weiter sie sich dem Hauptgebäude in diesem abgeteilten Bereich näherten, desto stärker wurde er.
„Wo sind wir hier?“, fragte er.
„In einem Gewürzhaus der Gilde“, sagte Jarmila.
„Die Gewürzgilde aus dem Chola-Reich beherrscht auch hier noch den Gewürzhandel?“, wunderte sich Sin.
„Ja, sicher. Niemand, der es sich mit der Gilde verscherzt, wird auch nur noch ein einziges Gewürzkrümelchen bekommen, das er irgendwo verkaufen kann!“
––––––––
UNGEHINDERT GINGEN sie in das Hauptgebäude. Es war für die Verhältnisse von Hormus sehr groß. Fast so groß wie eine der Festhallen in Bagdad, in die Sin zusammen mit seinem Vater schon Körbe mit Datteln und Feigen geschleppt hatte. Gewürzhändler drängelte sich zwischen Tischen, auf denen Proben der Waren in kleinen Schalen bereit standen, um geprüft zu werden. Zucker, Pfeffer und Safran erkannte Sin. Aber da waren auch noch andere Gewürze, mit so fremdartigem Geruch, dass Sin sich sicher war, ihn noch sie zuvor in der Nase gespürt zu haben.
Hier und da blieb Jarmila stehen. Sin beobachtete etwas sorgenvoll ihre Hände. Wenn sie sich doch nicht beherrschen konnte und vielleicht einem der Kaufleute den Münzbeutel wegnahm oder sich gar an den Gewürzproben auf den Tischen verging, dann war mit großem Ärger zu rechnen. Und den wollte Sin eigentlich nicht erleben. Aber Jarmila schien das bewusst zu sein. Sie ließ ihre Hände bei sich und schien zu wissen, dass nicht einmal die glücksbringenden Bindi ihr Glück genug bringen konnten, um hier nicht erwischt zu werden. Die Händler beobachteten ihre Proben nicht mit Argusaugen. Allerdings hätte auch keiner der Händler gewagt, sich ohne zu fragen eine Prise Safran oder Zucker zu nehmen, um die Qualität zu prüfen.
Wenn ein Händler die Ware geprüft hatte, wurde oft lautstark und mit großen Gesten verhandelt. Anschließend wechselten dann oft ganze Säcke oder sogar Schiffsladungen den Besitzer. So gut wie alle Händler waren Männer aus Jarmilas Heimat, soweit Sin das zu beurteilen vermochte. Zumindest waren sie in die typischen bunten Gewänder gekleidet und sprachen dieselbe Sprache, die auch das Mädchen benutzt hatte. Und auch die Träger, die dann Säckeweise die Ware fortbrachten, waren aus diesem Volk. Offenbar traute man in der Chola-Gewürzgilde niemandem sonst.
„Sag mal, was tun wir hier eigentlich?“, flüsterte Sin nach einer Weile Jarmila zu. „Wieso sind wir hier? Dieser Geruch ist unerträglich – und davon abgesehen kann ich mir von den Dingen, die hier angeboten werden nicht einmal so viel leisten, wie zwischen meine Fingerkuppen passt! Selbst, wenn ich dafür jahrelang doppelt so schwere Lasten tragen würde, wie mein Vater!“
Jarmila legte ihren Finger auf die Lippen.
„Still!“, sagte sie.
Und dabei wirkte sie ziemlich angestrengt.
„Aber...“
„Ich höre zu“, wisperte sie. „Deshalb sind wir hier! Es gibt keinen Ort, an dem mehr Neuigkeiten ausgetauscht werden! Und schon gar keinen Ort, an dem man mehr darüber erfahren könnt, wie es zur Zeit in Indien aussieht!“
Jetzt begriff Sin.
Offenbar wollte Jarmila nicht einfach so zurückkehren und dabei vielleicht das Risiko eingehen, geradewegs in ein Land zu geraten, in dem gerade eine schlimme Seuche grassierte oder ein furchtbarer Krieg herrschte.
Sin konnte nichts weiter tun, als dabei zu stehen und Worten zuzuhören, von denen er nichts verstand. Nur ganz selten einmal hörte er unter den Händlern jemanden ein paar Sätze auf Arabisch wechseln.
Jarmila ging weiter. Sie bedeutete Sin mit einer Handbewegung, ihr zu folgen.
Für einen kurzen Moment passte Sin nicht auf. Er stieß mit einem Händler zusammen. Der regte sich furchtbar auf, zumal ihm dabei ein paar Münzen aus der Hand fielen, die er gerade abgezählt hatte.
Sin wollte ihm schon dabei helfen, sie vom Boden aufzusammeln, aber Jarmila verhinderte dies mit einem energischen: „Nicht! Lass es liegen!“
Der Händler schimpfte Sin furchtbar an und der Junge war in diesem Augenblick heil froh, dass er kein Wort davon zu verstehen vermochte.
Jarmila sagte ein paar Worte, dann fasste sie Sin an der Hand und zog ihn mit sich fort, so dass sie schon nach wenigen Augenblicken inmitten des Gedränges verschwunden waren. Der Händler, der die Münzen verloren hatte, schimpfte noch immer. Seine Stimme war so durchdringend, dass man sie auch durch den allgemeinen Lärm und die lautstark geführten Verhandlungen hören konnte.
„Du bist doch ein Trottel“, zischte Jarmila ihm zu. „Nicht genug, dass du den Kerl angerempelt hast – sich auch noch nach seinem Geld zu bücken, ist doch nun wirklich das Allerletzte! Da muss er dich doch für einen Dieb halten“
„Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen“, verteidigte Sich Sin. „Ich wollte wirklich nur helfen!“
Jarmila seufzte. „Ich dachte, du kommst aus Bagdad – einer großen Stadt! Und nicht aus einem kleinen Dorf, wo es nur gute Menschen gibt und jeder seine Türe in der Nacht offen lässt!“
„Tut mir leid, ich wollte uns nicht in Schwierigkeiten bringen!“
Einige der Händler und Träger sahen sie jetzt etwas verwundert an, denn Sin und Jarmila waren weit und breit die einzigen, die sich auf Arabisch unterhielten.
Abermals zog Jarmila Sin mit sich. „Wir können uns hier und jetzt nicht weiter darüber unterhalten! Das merkst du ja wohl hoffentlich!“
Jarmila drängelte sich vorwärts und Sin blieb ihr dicht auf den Fersen. Schließlich blieb sie stehen. Sie hörte ein paar Männern mit dunklen Augen und dunklen Bärten bei ihrer Unterhaltung zu. Es war kein Verkaufsgespräch. Gewürze oder Zucker schienen keine Rolle zu spielen. Jedenfalls waren auf dem Tisch, um den sie herumstanden, keine Proben zu sehen, weder vom Zucker, noch von irgendeiner der stark riechenden Substanzen, mit denen hier sonst noch Handel getrieben wurde.
Stattdessen lagen große Pergamente vor ihnen und immer wieder wurde mit den Fingern auf einzelne Punkte gedeutet oder ganze Bereiche umkreist.
Sin begriff, dass es Landkarten waren.
Karten von den Ländern im Osten. Jarmila schien sehr aufmerksam zuzuhören, was unter den Männern am Tisch gesprochen wurde. Sie schienen sehr unterschiedliche Ansichten zu haben. Jedenfalls redeten sie leise, aber äußerst heftig aufeinander ein. Manchmal so heftig, dass man befürchten konnte, dass gleich ein handfester Streit vom Zaun gebrochen wurde.
Ein Mann mit einem schwarzen Bart deutete immer wieder auf eine bestimmte Stelle auf der Karte. Sin reckte etwas den Kopf. Wer weiß, vielleicht ist da ja ein Riesenvogel zu sehen, überlegte er. Aber das wäre wohl zuviel des Glücks gewesen. Und abgesehen davon hätten diese Händler wahrscheinlich auch nicht in aller Öffentlichkeit über Karten gesprochen, die der König Rajaraja doch offensichtlich als geheim betrachtete und in seinem Palast verbarg, damit niemand sonst den Weg dorthin zu finden vermochte.
Man müsste die Gabe haben, alle Sprachen zu verstehen, ging es Sin durch den Kopf. Oder wenigstens diejenige, die diese Männer im Mund führten.
Jarmila hörte jedenfalls ziemlich aufmerksam zu.
„Es ist Krieg im Osten ausgebrochen“, sagte sie schließlich zu Sin, nachdem sie ihn ein Stück mit sich gezogen hatte, denn inzwischen waren einige der Männer trotz der Heftigkeit ihres Gesprächs auf die beiden aufmerksam geworden. Und da war es natürlich das Beste, erst einmal das Weite zu suchen.
„Krieg?“, fragte Sin.
„König Rajaraja und sein Reich kämpfen gegen Sri Vijaya und die Länder von den Inseln. Es können keine Schiffe mehr an die Küste des Reiches der Mitte fahren.“
„Das Reich der Mitte?“, fragte Sin. „Davon habe ich noch nie etwas gehört! Nicht einmal Sindbad der Seefahrer hat dieses Reich jemals in seinen Erzählungen erwähnt!“
„Ach, nein?“ Sie hob die Augenbrauen. „Das könnte daran liegen, dass er jene Gewässer gar nicht befahren hat, an denen es liegt!“
„Oder es existiert gar nicht und ist nur eine Legende?“
„Die Ballen von Seide und die Gefäße aus Porzellan, die ich als kleines Kind auf den Märkten meiner Heimat gesehen habe, waren jedenfalls keine Legenden. Und genauso wenig wie die Wandermönche mit den schmalen Augen, die manchmal von dort zu uns kamen.“
„Der Name dieses Landes ist ziemlich seltsam.“
„Wieso?“
„Naja, ein Land, das sich Reich der Mitte nennt und in Wirklichkeit doch ganz am Rand der bekannten Welt liegen muss!“
„Wahrscheinlich denkt jeder, dass dort, wo er gerade ist, die Mitte der Welt ist.“
„Das könnte natürlich sein“, erwiderte Sin.
„Jedenfalls sind das alles schlechte Nachrichten“, fand Jarmila. „Bis zur Hauptstadt des Rajaraja werden wir sicherlich ungehindert kommen, aber falls deinem großen Seefahrer Sindbad plötzlich einfallen sollte, dass die Insel des Vogels Rock irgendwo weiter im Osten gelegen sein könnte, wird es schwierig!“
„Dann müssen wir das Kapitän Firuz sagen“, meinte Sin.
Sie verließen das Gewürzhaus. Die Wächter ließen sie ungehindert durch, als gerade ein großer Handkarren durch das Tor geschoben wurde. Er war so schwer beladen, dass die hölzernen Räder ächzten. Jarmila und Sin taten kurzerhand so, als würden sie den Männern beim Schieben helfen.
Kurz darauf entfernten sie sich in eine der zahllosen verwinkelten Gassen von Hormus.
PIRATEN!
Später, als sie wieder beim Schiff waren, berichteten sie von dem, was Jarmila gehört hatte. Kapitän Firuz hörte Jarmilas Erzählung mit ebenso tiefem Stirnrunzeln zu, wie er dies sonst bei den Erzählungen von Sindbad dem Seefahrer tat. Sehr schnell gesellten sich auch Branagorn, Ibn Sina und Abdul aus Cordoba dazu.
„Das ist eine durchaus interessante Neuigkeit“, meinte Ibn Sina. „Die Frage ist nur, ob sie uns überhaupt betreffen muss! Aber dazu kann wahrscheinlich unser vielgerühmter Sindbad etwas sagen!“
„Ich?“, wunderte sich Sindbad der Seefahrer.
„Nun, glaubst du, dass wir das Kriegsgebiet durchsegeln müssen, um zur Insel des Vogels Rock zu gelangen?“
„Wenn er jetzt nur genau wüsste, wohin wir überhaupt segeln müssen“, konnte sich Kapitän Firuz mit einer spöttischen Bemerkung nicht zurückhalten.
„Ich schlage vor, wir beraten über den weiteren Weg, wenn wir die Stadt des Königs Rajaraja erreicht haben. Und wer weiß, wenn wir ihm die Grüße des Kalifen ausrichten, vielleicht ist er dann sogar bereit, uns einen Blick auf seine geheimen Karten werfen zu lassen“, glaubte Sindbad.
„Der Kalif hat uns in der Tat ein paar diplomatische Dokumente mitgegeben“, erklärte nun Abdul aus Cordoba. „Mit denen könnte man den Rajaraja sicherlich günstig stimmen. Und vielleicht lässt sich dieser Krieg sogar in unserem Sinne nutzen.“
Sindbad der Seefahrer zuckte mit den Schultern.
„Von diesen Dingen verstehe ich leider nichts. Denn so weit ich auch gereist bin, ich habe mich niemals in die Kriege in den Ländern eingemischt, die dort ausgefochten wurden!“
„Und wie stellst du dir das genau vor, werter Abdul?“, fragte Branagorn aus Corvey ungerührt.
„Ganz einfach: Man kann dem König Rajaraja die Unterstützung des Kalifen anbieten...“
„..als Gegenleistung für die Karten?“, schloss Branagorn.
Abdul nickte. „Ganz genau!“
„Darauf wird er aber wohl nur eingehen, wenn er erstens sehr gutgläubig ist und zweitens das Kriegsglück nicht gerade mit ihm ist“, glaubte Branagorn. „Schließlich wäre der Kalif doch gar nicht in der Lage, König Rajaraja Hilfstruppen zu schicken!“
„Aber das weiß König Rajaraja ja nicht“, meinte Abdul aus Cordoba.
„Wie ich sehe, waren die Neuigkeiten für euch von großem Interesse“, mischte sich nun Jarmila ein. Ihre grelle Stimme fiel zwischen all den Männerstimmen sofort auf. Alle drehten sich im selben Augenblick zu ihr um. Dass sie sich so dreist in die Unterhaltung einmischte, hätten manche sicherlich unverschämt genannt. Aber das schien Jarmila in diesem Moment vollkommen gleichgültig zu sein. Ihr kam es auf etwas ganz anderes an.
Was – das erkannte Kapitän Firuz wohl am besten.
„Keine Sorge, wir werden dich weder hier in Hormus zurücklassen, noch von Bord werfen“, versicherte er.
„Ihr werdet alle noch dankbar dafür sein, dies nicht getan zu haben“, erklärte Jarmila daraufhin.
––––––––
ZWEI TAGE DAUERTE ES noch, bis die 'Flügel des Windes' den Hafen von Hormus endlich verlassen konnte. Sie segelte im Schutz eines größeren Verbandes von Schiffen. Es waren insgesamt zwanzig Daus, die gen Osten segelten, um die Meerenge zu passieren und in den indischen Ozean zu gelangen. Die meisten dieser Schiffe waren überladene Handelssegler. Manche von ihnen lagen so tief im Wasser, dass man sich fragen konnte, wie sie einen höheren Seegang überstehen sollten, ohne zu kentern.
Omar hielt die 'Flügel des Windes' immer etwas auf Abstand zu diesen Nussschalen, wie er sie nannte. Er wollte offenbar vermeiden, mit einem dieser Schiffe zusammenzustoßen und während Sin ihm bei der Arbeit mit Datteln und Trinkwasser versorgte, schimpfte der Steuermann über die angeblich völlig unzureichenden Fähigkeiten der Steuermänner auf den anderen Schiffen.
Flankiert wurde dieser Verband von Schiffen, die im Auftrag des Sultans von Hormus segelten. An Bord befanden sich bewaffnete Soldaten, darunter viele Bogenschützen. Die sollten wohl Piraten abwehren, falls es zu einem Angriff kam.
Als die 'Flügel des Windes' und die anderen Schiffe des Verbandes die Meerenge passierten, war Sin etwas enttäuscht. Er hatte eigentlich dramatische Veränderungen erwartet, nachdem sie doch nun in einen Ozean hineingesegelt waren, der vielleicht sogar die ganze Welt umspannte. Aber da sich die 'Flügel des Windes' und die andere Schiffe des Verbandes noch immer in der Nähe der Küste hielten, um sich zu orientieren, war nur auf einer Seite die bis zum Horizont reichende Unendlichkeit des Meeres zu sehen.
Nur – weiter als bis zum Horizont konnte man auch hier nicht sehen. Und dieser Anblick glich doch sehr jenem, den man auch schon im arabischen Golf hatte. Eine bläuliche, in der Sonne glitzernde Fläche, die so weit reichte, wie das Auge sehen konnte. Das war alles.
„Um weiter zu sehen, musst du bis zum Horizont segeln“, meinte Omar, den er darauf ansprach. „Dort wird es wieder einen Horizont geben, der deinen Blick begrenzt. Und jetzt hol mir etwas zu trinken! Ich bin durstig!“
––––––––
DIE STUNDEN GINGEN dahin. In der Nacht wurde durchgesegelt. Anders als während der Reise innerhalb des Golfes, ging man in den Nächten nicht an Land.
Fackeln wurden auf allen Schiffen entzündet, damit man sich gegenseitig sehen konnte und keines der Schiffe den Anschluss an den Verband verlor.
Trotzdem hörte Sin am nächsten Morgen Kapitän Firuz und den Steuermann darüber sprechen, dass drei Schiffe weniger zu zählen waren.
Immer wieder zählten Omar der Steuermann und Kapitän Firuz die Schiffe. Abdul aus Cordoba unterstützte sie dabei. Aber sie kamen immer wieder zum selben Ergebnis. Drei Schiffe fehlten und waren nirgends auffindbar.
„Ich habe diese Fahrt ja schonmal in die andere Richtung mitgemacht“, meinte Jarmila, während sie zusammen mit Sin im Bug Platz genommen hatte, wo jetzt sonst niemand mehr von der Besatzung sitzen wollte. Der Seegang hatte sich nämlich verändert. Die Wellen waren stärker geworden und immer wieder kam es vor, dass Gischt über die Reling spritzte. Davon abgesehen, hob und senkte sich der Bug immer wieder stark. Davon konnte einem leicht schlecht werden und auch Sin hatte des öfteren ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend.
„Wo sind diese Schiffe geblieben?“, fragte Sin.
„Waren wohl zu langsam“, meinte Jarmila. „Und das bedeutete, sie konnten diesen Anschluss nicht halten.“
„Werden sie uns wieder aufholen können?“
„Glaube ich nicht. Aber du kannst ja Omar mal danach fragen.“
„Ich vermute, die Piraten werde auf solche Schiffe warten!“
„Kann gut ein, Sin. Aber das könnte bedeuten, dass die Piraten uns dafür in Ruhe lassen und sich mit der leichten Beute zufrieden geben!“
„Allah möge mir verzeihen, wenn ich mir das wünsche.“
„Wieso?“
„Weil man sich nicht das Unglück eines anderen wünsche sollte!“
Jarmila runzelte die Stirn und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Kopftuch herausgestohlen hatte und jetzt durch den Wind einen unruhigen Tanz über ihre Augenbraue aufführte. „Bist du wirklich nur der Sohn eines Lastenträgers?“
„Wieso bezweifelst du das? Und wieso sagst du 'nur'? Das ist schließlich ein ehrenhafter Beruf! Wahrscheinlich einer der ehrlichsten, die es gibt, denn es ist unmöglich, dabei zu betrügen! Entweder einer trägt seine Last oder eben nicht! Da ist es unmöglich, nur so tun, als hätte man gearbeitet oder jemand zu betrügen!“
Sie lächelte. „Ich bezweifle das, weil du dir über sehr komplizierte Dinge Gedanken machst und manches, was ganz einfach ist, dagegen nicht begreifst!“
In diesem Augenblick ertönte ein lauter Ruf.
Einer der Männer der 'Flügel des Windes' hatte irgend etwas am Horizont entdeckt und schon bald herrschte helle Aufregung an Bord des Schiffes.
Sin und Jarmila erhoben sich von ihren Plätzen, formten mit der Hand einen Schirm für die Augen, um sich vor der Sonne zu schützen und sahen in die Ferne.
„Schiffe!“, rief einer der Männer. “Bei Allah, es sind Schiffe!“
„Wir wollen nur hoffen, dass es keine Piraten sind!“, meinte Hauptmann Hassan.
„Wer soll es denn sonst sein?“, vermutete der grimmige Kommentar von Firuz dem Perser. „Aber das musste ja so kommen. Sie warten einfach irgendwo an der Küste, bis Schiffe vorbei kommen und stechen dann in See...“
Inzwischen hatten man auch auf den Schiffen, die der Sultan dem Verband mitgegeben hatte, bemerkt, was da aus der Ferne auf sie zu kam. Stimmen drangen hin und wieder herüber. Aufgeregte Rufe und Befehle waren zu hören. Bogenschützen machten sich bereit. Feuerschalen mit Pech wurden entzündet und ihr dunkler Rauch zog sich wie ein langes, schwarzes Band über den Himmel.
„Sie werden Brandpfeile verschießen, um die Piraten zu vertreiben“, meinte Jarmila. „Aber die segeln oft in so kleinen Booten, dass man sie nicht gut treffen kann. Und vor allem nutzt es auch nichts, wenn man ein paar dieser Boote in Brand schießt. Die anderen kommen dann trotzdem durch.“
„Und was sollte man deiner Meinung nach tun?“
„Als ich den Weg in umgekehrter Richtung gesegelt bin, hat der Kapitän das Schiff auf das offene Meer hinausfahren lassen.“
„Seit ihr denn nicht in einem Verband gefahren?“
„Doch. Aber das war dem Kapitän gleichgültig. Er hat den Verband verlassen. Je weiter man nämlich hinaussegelt, desto schwieriger ist es für die kleinen Boote der Piraten, einem zu folgen.“
Sin runzelte die Stirn.
„Du meinst, man sollte so weit hinausfahren, dass man das Ufer nicht mehr sieht!“
„Genau das ist der Trick! Die Piraten werden einem dorthin nicht folgen!“
„Ja, warum wohl! Weil man von dort nicht wieder zurückfindet!“
„Unser Kapitän hat damals sehr wohl zurückgefunden.“ Jarmila zuckte mit den Schultern. „Man muss halt ein bisschen auf sein Glück vertrauen und hoffen, dass irgendwann wieder eine Küste auftaucht, an er man eine bekannte Landmarke erkennen kann. Dann weiß man wieder, wo man ist!“
„Wenn das so ist, dann solltest du das unserem Kapitän sagen!“
Jarmila lachte. „Und du glaubst, er wird auf mich hören?“
„Immerhin bist du auf diesem Meer schon gesegelt. Er hingegen wohl nicht!“
„Aber er ist der Kapitän. Und er wird ganz sicher nicht auf ein Mädchen hören! Eine Diebin, die froh ein sollte, dass man sie nicht über Bord geworfen hat! Wie kannst du nur glauben, dass er auch nur einen Gedanken daran verschwenden könnte, auf mich zu hören!“
Sin dachte nach.
Das stimmte natürlich.
Gerade Firuz der Perser hatte ja einen ausgeprägten eigenen Willen. Und vielleicht wusste er ja auch viel besser, was in dieser Lage zu tun war...
Sin hoffte das zumindest.
––––––––
AUCH DIE SOLDATEN DES Kalifen an Bord der 'Flügel des Windes' griffen zu ihren Waffen. Die Boote der Piraten waren inzwischen nämlich so nahe herangekommen, dass man sie schon sehr gut sehen konnte. Sie manövrierten sehr geschickt. Ihr Weg kreuzte den des Verbandes und es schien möglich zu sein, ihnen auszuweichen.
Hauptmann Hassan rief ein paar Befehle, aber es wirkte auf Sin keineswegs so,als wüssten er und seine Männer, wie sie sich am besten gegen die Piraten wehren konnten. Kein Wunder, dachte Sin. Schließlich hatten Hassan und seine Männer ihren Dienst bisher größtenteils innerhalb der Mauern des Palastes versehen. Für die Sicherheit des Kalifen zu sorgen - das war ihre Aufgabe gewesen. Nicht der Kampf gegen Piraten, die es mit kleinen, wendigen Booten auf die überladenen Handelsschiffe abgesehen hatten, die zwischen Hormus und Indien verkehrten und ihnen einfach wie eine allzu verführerische Versuchung vorkommen mussten. So als ob man einem ausgehungerten Hund mit einem Stück Fleisch vor der Nase herumstrich!
Die ersten Brandpfeile wurden verschossen. Die meisten löschte das Meerwasser. Und viele andere wurden durch die Schilde aus gespannte Tierhäuten abgewehrt, mit denen sich die Piraten schützten. Sie waren nun nahe genug heran, dass Sin erkennen konnte, wie abgerissen und ausgemergelt sie waren. Arme Leute, die selbst nichts hatten und deswegen darauf lauerten, dass Schiffe an ihrer Küste vorbei kamen, überlegte Sin. Aber wer nicht arm und verzweifelt war, der wurde wohl auch kein Pirat und ging das große Risiko ein.
Eines der Boote fing durch die Brandpfeile Feuer. Die Piraten sprangen auf, versuchten sich zu retten und sprangen ins Wasser, während das Boot kenterte. Niemand konnte ihnen helfen. Die meisten konnten nicht schwimmen. Ehe sie eines der anderen Piratenboote erreichen konnten, waren die meisten ertrunken.
Ihre Schreie waren nur kurze Zeit zur hören.
Mehreren Booten erging es so. Aber es waren Dutzende und sie alle zum Abdrehen zu zwingen oder in Brand zu setzen war unmöglich. Diejenigen, die näher an die Handelsschiffe herankamen, schleuderten Seile mit Haken. Fanden sie Halt, dann ließen sie sich mitziehen. Die Schilde aus Tierhäuten boten einen guten Schutz gegen den Pfeilhagel, der über die Piratenboote immer wieder hereinbrach. Sie selbst hatten keine Bögen oder Pfeile. Nur Speere und lange Messer. Aber sobald sie ein Schiff erreicht hatten und an Bord springen konnten, waren diese Waffen sehr wirksam.
Sehr schnell war die erste Dau von den Piraten erobert. Das Segel wurde heruntergelassen. Das Schiff verlor an Fahrt und begann seitlich zu trudeln. Schreie gellten herüber. An Bord wurde noch gekämpft. Aber es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die Piraten das Schiff erobert hatten.
Und am Horizont tauchten weitere Boote auf. Darunter sogar eine Dau, die wohl während eines vorangegangenen Überfalls unversehrt in die Hände der Piraten gekommen war. Sin sprang auf. „Seht, da hinten!“ rief er, aber niemand an Bord hörte ihm zu. Er hatte eine weitere Gruppe von Booten entdeckt, die ihren Weg kreuzen würde.
„Gegen so viele werden wir keine Chance haben“, hörte Sin einen der Seeleute sagen. Währenddessen wurde gerade eine weitere Dau von den Piraten geentert. Ein anderes, völlig überladenes Handelsschiff kenterte, weil der Steuermann zu unvorsichtig war. Von überall her war jetzt das Triumphgeheul der Piraten zu hören. Denn die Begleitschiffe des Sultans von Hormus, die die den Verband ja eigentlich beschützen sollten, begannen bereits abzudrehen und das Weite zu suchen. Der Versuch, die Piraten mit ihren Brandpfeilen abzuwehren, war inzwischen nahezu aufgegeben worden.
Es muss etwas geschehen, dachte Sin. Und die einzige Möglichkeit, sich jetzt noch zu retten, war die, die Jarmila erwähnt hatte.
Aber natürlich hatte sie vollkommen recht.
Auf ein Mädchen – noch dazu eine Diebin – würde niemand hören.
Und auf mich auch nicht, erkannte Sin. Schließlich war er ja nur der Schiffsjunge, Sohn eines Lastenträgers, der froh sein konnte, dass man ihn überhaupt auf diese Reise mitgenommen hatte und er nun dem Steuermann zu trinken bringen durfte, wenn dem der Schweiß auf der Stirn stand.
Und dann kam Sin die rettende Idee!
Es gab jemanden an Bord, auf den jeder hörte, selbst dann, wenn er die erstaunlichsten Geschichten erzählte und behauptete, sie alle persönlich erlebt zu haben. Jemand, der doch die größtmögliche Erfahrung als Seefahrer besaß und dem man glauben würde, dass er etwas Vernünftiges vorzuschlagen hatte, wenn es darum ging, wie man sich vor den Piraten in Sicherheit brachte!
Schließlich konnte man doch annehmen, dass er solche Situationen schon wiederholt erlebt hatte!
Diese Gewässer waren schließlich nichts anderes als der Beginn des großen, möglicherweise unendlichen Weltozeans und wo immer auch die Länder und Inseln liegen mochten, die Sindbad der Seefahrer während seiner Reisen besucht hatte, so stand doch eins fest. Er musste genau hier her gesegelt sein! Denn einen anderen Weg vom arabischen Golf in den großen indischen Ozean gab es nicht!
Sin sah sich um. Er entdeckte Sindbad den Seefahrer im hinteren Teil des Schiffs. Er stand da und klammerte sich mit beiden Händen an die Reling.
Und sein Gesicht war kreideweiß.
So hatte Sin sein großes Vorbild noch nie gesehen!
Für einen Moment erschrak Sin darüber. Konnte es etwa sein, dass die Lage so aussichtslos war, dass selbst ein großer Held der Meere wie der allseits bekannte Sindbad darüber blass wurde und keine Hoffnung mehr sah?
Sin ging zu ihm hin.
„Großer Sindbad, du musst etwas tun“, sagte er.
„Natürlich! Die Piraten werden bei meinem Anblick sicher gleich die Flucht ergreifen“, sagte Sindbad der Seefahrer auf eine Art, wie Sin sonst nie bei bei seinem Namensvetter bemerkt hatte. Es war eine Art Spott, der so sehr mit Verzweiflung gemischt war, dass es Sin einen Stich versetzte.
„Sindbad, du musst dem Kapitän sagen, dass er auf das offene Meer hinausfahren soll! Dorthin, wo man kein Land mehr sieht!“
„Wie bitte?“
Sindbad runzelte die Stirn. Der Kampfeslärm von den anderen Schiffen drang herüber und schon näherten sich die ersten Piratenboote auch der 'Flügel des Windes'.
„Jarmila hat mir gesagt, dass der Kapitän des Schiffes, der sie aus dem Reich des Königs Rajaraja nach Hormus gebracht hat, dies getan und damit sich, sein Schiff und seine Mannschaft vor den Piraten gerettet hat! Aber Firuz der Perser weiß davon nichts! Und die Männer von Hauptmann Hassan sind den Kampf auf einem Schiff nicht gewöhnt!“
Die Bogenschützen unter Hassans Soldaten schossen bereits ihre ersten Pfeile ab. Manche davon trafen auch. Aber die meisten wurden von den Fellschilden abgewehrt.
„Du musst ihnen sagen, dass man einfach auf das offene Meer hinaussegeln muss, soweit es nur geht, denn die kleinen Boote der Piraten sind zwar schneller und wendiger, aber je weiter man sich vom Land entfernt, desto unmöglicher wird es für sie, uns zu folgen...“
„Ja...“, murmelte Sindbad.
„Ich bin mir sicher, dass du so etwas auch schon erlebt und auf deinen Reisen vielleicht sogar selbst angeordnet hast und es nur deshalb nicht in deinen Geschichten erwähntest, weil es zu verrückt klingt! Denn schließlich glaubt ja jeder, dass man sich nicht mehr zurechtfindet, wenn man so weit hinausfährt dass man keine Küste mehr zu sehen vermag! Doch wir werde die Küste wiederfinden, da bin ich mir sicher! Und davon abgesehen, was kann es Schlimmeres geben, als Piraten in die Hände zu fallen, die uns alle umbringen oder in die Sklaverei verkaufen werden! Du musst es den Männern sagen, denn auf mich oder Jarmila wird niemand hören!“
Ein Ruck ging durch Sindbad den Seefahrer. Er sah den jungen Sin an und nickte dann. „Du hast recht, kleiner Sin“, murmelte er. Dann rief er dem Kapitän und den Steuermann zu: „Firuz! Omar! Hinaus aufs Meer mit dem Schiff! Geradewegs zum Horizont, so wie es der Wind zulässt und so lange bis man das Ufer nicht mehr sieht!“
„Was hast du gesagt?“, fragte der Perser.
„Es ist die einzige Möglichkeit, noch zu entkommen! Die kleinen Boote werden irgendwann aufgeben, weil sie uns nicht mehr folgen können!“
„Aber das ist Wahnsinn. Sind wir vielleicht Nordmänner, die ohne Rücksicht auf die Gefahren und ob sie einen Rückweg finden, in See stechen? Denen ist es gleichgültig, wo sie ankommen, mir nicht!“
„Wir werden zurückfinden! So wahr ich hie stehe! Entweder wir finden eine Küste, an der es bekannte Landmarken gibt, die auf unseren Karten verzeichnet sind – oder aber die Rechenkünste von Ibn Sina und Abdul aus Cordoba werden uns helfen!“ Alle sahen zu Sindbad hin. Selbst die Soldaten unter Hauptmann Hassans Kommando hörten damit auf, auch noch sinnloserweise ihre letzten Pfeile in Richtung der Piraten zu verschießen, da ihnen klar war, dass sie damit die Flut der Angreifer nicht würden aufhalten können.
Gut so, dachte der junge Sin. Ihm hören sie zu und vielleicht kann er sie noch rechtzeitig davon überzeugen, wie wir uns retten können!
Sindbad schwang sich mit einem eleganten, leichtfüßigen Satz auf die Reling. Dabei hielt er sich mit einer Hand an einem der Seile fest, die zur Mastspitze gespannt waren und ihn aufrecht hielten. Sin hatte ihn schonmal so erlebt – im Hafen von Bagdad. Auch da war er auf diese Weise auf die Reling eines Schiffs gesprungen, hatte sich hinaufgeschwungen, um einen erhöhten Standpunkt zu haben und von dort aus sein Publikum besser erreichen zu können.
Und dann begann er mit kraftvoller Stimme zu sprechen. Einer Stimme, die sich schon im Hafen und auf den Plätzen Bagdads hatte durchsetzen können und es deswegen selbst unter diesen widrigen Umständen schaffte, die Hörer in den Bann zu schlagen. „Hört mich an! Hört, was einer zu sagen hat, der schon weiter gereist ist, als jeder andere hier an Bord! Der Steuermann soll geradewegs auf das Meer hinaussegeln. Der Wind steht günstig und er wird uns weit hinaustreiben... So weit, dass die von Allah verlassenen Piraten uns nicht mehr folgen werden!“
Es brauchte nicht lange und Sindbad der Seefahrer hatte jeden an Bord davon überzeugt, dass dies die einzige Möglichkeit war, Schiff und Besatzung noch zu retten. Ja, manch einer wunderte sich darüber, nicht vorher schon selbst darauf gekommen zu sein. Und was die Gefahr betraf, die es bedeutete, einfach tollkühn in das Nichts hinauszusegeln, ohne irgendeine Orientierung zu haben, schien nicht so schwerwiegend zu sein.
Zumindest wenn der große Sindbad darüber sprach, klang das alles sehr einfach. Es schien keine besondere Schwierigkeit zu sein, die richtige Küste wiederzufinden.
„Was meint ihr?“, wandte ich daraufhin Firuz der Perser an diejenigen unter der gegenwärtigen Besatzung der 'Flügel des Windes', die als die Klügsten galten.
Ibn Sina und Abbdul aus Cordoba stotterten jedoch nur unverständliche Worte.
Ihre Meinung zu diesem Thema schien nicht eindeutig zu sein.
Dann ergriff Branagorn das Wort. „Tun wir es!“, rief er. „Ehe es zu spät ist.“
SINDBAD DER RETTER
Omar riss am Ruder. Das Segel schwenkte herum. Hier und da schaffe es der eine oder andere Seemann an Bord der 'Flügel des Windes' gerade noch, den Kopf einzuziehen, bevor er vom Segel getroffen werden konnte. Das Schiff wendete und fuhr dann hinaus auf das offene Meer.
Der Wind war bisher von der Seite gekommen, wenn er das Segel gebläht hatte.
Jetzt blies er geradewegs von hinten und drückte es weit nach vorn. Die 'Flügel des Windes' gewann an Fahrtgeschwindigkeit. Die Dau begann sich leicht aus dem Wasser zu heben und über die Wellen zu gleiten.
Am Heck postierten sich einige von Hassans Soldaten. Omar der Steuermann fluchte deswegen. „Diese Kerle stehen mir im Weg, oder wollen sie mir etwa helfe, das Ruder zu halten – diese Schwächlinge!“
Das Ruder hatte Omar sich unter den Arm geklemmt und es war offensichtlich, dass selbst dieser kräftige Mann seine gesamte Kraft brauchte, um es zu halten. Aber um nichts in der Welt hätte er sich dabei helfen lassen. Höchstens während eines schlimmen Sturms wäre so etwas in Frage gekommen. Ansonsten galt: Omar war der Steuermann und nur ihm stand es zu das Ruder zu halten.
Sin wusste davon ein Lied zu singen, denn er hatte Omar während der bisherigen Fahrt schon mehrfach gefragt, ob er nicht auch einmal das Ruder halten dürfte, aber das hatte der Steuermann bisher abgelehnt. Zuschauen, das war erlaubt. „Später einmal werde ich es dir zeigen!“, hatte Sin noch die Worte des Steuermanns im Ohr. „Aber nur, wenn wir in Ufernähe und in seichtem Gewässer sind. Sicher ist schließlich sicher!“
Nachdem Omar das Schiff gedreht hatte, holten die Piratenschiffe zunächst noch auf. Hassans Soldaten verschossen ihre letzten Pfeile.
Dann endlich blieben die kleinen, wendigen Boote mehr und mehr hinter der 'Flügel des Windes' zurück.
„Allah sei gepriesen dafür, dass er uns gerettet hat!“, sagte Sindbad der Seefahrer.
„Und vielleicht wird er uns alle am Tag des Gerichts dafür bestrafen, dass wir die anderen im Stich gelassen haben“, murmelte Firuz der Perser düster. Inzwischen waren sie scheinbar vollkommen allein auf dem Meer. Die Richtung aus der sie gekommen waren, konnten sie nur noch daran erkennen, dass hinter dem Horizont Rauchsäulen von den brennenden Schiffen aufstiegen.
„Wir hätten nicht mehr tun können“, sagte Branagorn schließlich.
„Das stimmt“, erklärte Hauptmann Hassan und straffte dabei seine Körperhaltung. „Meine Männer haben keinen einzigen Pfeil mehr in ihren Köchern.“
„Der, dessen Glaube stark genug ist, kämpft mit bloßen Händen“, knurrte Firuz.
„Ah, das ist doch alles nur Gerede“, meine Hassan.
„Jedenfalls habe ich nicht gehört, dass du dich gegen den Vorschlag des großen Sindbad gewandt hat“, meldete sich nun Ibn Sina zu Wort.
Die Gesichtszüge des Kapitäns der 'Flügel des Windes' wurden noch finsterer, als sie ohnehin schon waren. Seine Augenbrauen zogen sich dabei auf eine Art und Weise zusammen, die Sin noch niemals zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Sie glichen einer gewellten Linie und erinnerten leicht an eine Schlange, die sich über den Boden nach vorne schob.
––––––––
EINE GANZE WEILE WAR die Dau nun schon auf das offene Meer hinausgesegelt und Sin hatte jedes Gespür dafür verloren, wie viel Zeit eigentlich vergangen war. Er saß am Bug und glaubte zu bemerken, dass die Wellen höher geworden waren und das Schiff heftiger schaukelte, als dies bisher der Fall gewesen war.
Allerdings war er sich nicht ganz sicher, ob dieser Eindruck nicht eine Ausgeburt einer Einbildung und seiner Furcht war und in Wahrheit sich nichts geändert hatte.
Nichts, bis auf die Tatsache, dass wirklich nirgends Land zu sehen war. Nicht einmal ein grüner oder brauner oder vielleicht auch nur ein dunstig-grauer Streifen am Horizont, von dem man immerhin vermuten konnte, dass er aus festem Boden bestand, wenn man sich ihm näherte.
Es schien außer dem Meer nichts anderes zu geben.
Wenn man auf das Wasser schaute, sah man das Glitzern der Wellen und bemerkte, wie sich die Wellen leicht aus der Oberfläche heraushoben. Manchmal geschah das so sanft, dass man es zuerst gar nicht merkte und ehe man sich versah, hob dies Welle dann auch gleich das ganze Schiff ein Stück in die Höhe.
Wie die große Hand Allahs, die uns einfach ein Stück versetzt!, ging es Sin schaudernd durch den Kopf. Niemals zuvor hatte er sich über die Kräfte, die im Wasser verborgen waren, nähere tiefergehende Gedanken gemacht. Dass Wasser ein gefährliches Element war, war ihm durchaus bewusst. Selbst in einer Wasserschüssel konnte man ertrinken, wie der Tod eines alten Mannes bewiesen hatte, der in der Nachbarschaft von Sins Familie gelebt und beim morgendlichen Waschen einen Schwächeanfall erlitten hatte.
Aber dass Wasser so mächtig sein konnte, dämmerte Sin erst jetzt, da er ganz von ihm umgeben war.
Bei Anblick der sich hebenden Wellenberge wurde ihm schlecht. Wenn sich das Schiff unter ihm leiht hob, krampfte sich sein Magen zusammen und ihm wurde schlecht. Richtig übel war ihm – und dabei hatte er während der bisherigen Reise nicht einen einzigen Tag an der gefürchteten Seekrankheit gelitten.
Schließlich senkte sich die Sonne hinter den Horizont. Sie sank immer tiefer und verschwand schließlich ganz. Es sah aus, als würde sie in die Fluten des Meeres eintauchen und darin versinken.
Wenig später überwölbte sie das Sternenzelt. Der Mond blickte wie das Auge eines übermächtig großen Wesens auf die 'Flügel des Windes' herab. Der Wind ließ nach. Zuerst trieb er die Dau nur noch schwach voran und Kapitän Firuz ließ jeden Fetzen Segel spannen, den es an Bord gab.
Schließlich konnte ja niemand wissen, ob die Piraten ihnen nicht vielleicht doch noch folgten und die Dau am Ende sogar rudernd einholten.
Denn je schwächer der Wind war, desto größere Vorteile hatten kleine Boote, die sich viel leichter mit Muskelkraft fortbewegen ließen, als eine große und im ganzen doch recht schwerfällige Dau, die darüber hinaus durch die vielen Vorräte, die sie an Bord trug, auch noch schwer beladen war.
Doch von den Verfolgern zeigte sich niemand.
Zwischendurch gelte zwar der der erschrockene Ruf eines Ausgucks durch die Nacht, der am Horizont Fackeln gesehen haben wollte. Fackeln auf einem Piratenboot! Aber nachdem das Schiff sich schon schief auf die Seite zu legen drohte, weil alle, die sich zur Zeit an Bord befanden zur Reling auf der Backbordseite schnellten, um anschließend angestrengt in die Ferne zu blinzeln, stellte sich heraus, dass niemand sonst diesen Lichterschein zu entdecken vermochte.
„Es wird eine Spiegelung der letzten Lichtstrahlen der Sonne auf dem Wasser gewesen sein“, glaubte Ibn Sina. „Oder das Mondlicht, das sich ebenfalls auf höchst eigenartige Weise im Wasser widerzuspiegeln vermag.“
„Da ist wirklich nichts“, bestätigte auch Branagorn aus Corvey. „Glaubt mir, ihr könnt alle ganz beruhigt sein“, setzte der wunderliche Mönch aus dem unzivilisierten Norden noch hinzu. „Wenn die Piraten uns gefolgt wären, dann hätte ich sie gesehen!“
„Dann wollen wir deinen scharfen Augen vertrauen, Branagorn“, sagte Abdul aus Cordoba. „Aber vielleicht könnte der Kapitän trotzdem den Ausguck verdoppeln und zusätzliche Posten aufstellen, damit wir nicht noch eine böse Überraschung erleben.“
„Ich bin ganz deiner Meinung“, nickte unterdessen Hauptmann Hassan. „Und ganz davon abgesehen könnte es ja auch sein, dass es außer uns doch noch andere Schiffe aus dem Verband geschafft haben, den Piraten zu entkommen.“
„Allah lehrt uns, die Hoffnung niemals zu verlieren“, sagte Firuz. „Aber wir sollten deswegen die Augen nicht vor der Wahrheit verschließen.“
„Und was ist deiner Ansicht nach die Wahrheit?“, wollte Hassan wissen.
„Dass wir weit und breit allein und auf uns selbst gestellt sind. Selbst wenn noch anderen Schiffen aus dem Verband die Flucht vor den Piraten gelungen sein sollte, so ist trotzdem fraglich, ob wir sie je wiedersehen würden. Dazu ist der Ozean viel zu groß.“
Hassan wandte sich an Sindbad den Seefahrer. „Trifft das zu, was unser Kapitän sagt?“
„Einerseits ja, andererseits...“ Die Worte des großen Seefahrers brachen plötzlich ab, als er die Aufmerksamkeit aller auf sich gerichtet fühlte.
Sin hatte plötzlich das Gefühl, dass sein berühmter Namensvetter dies mit Absicht tat. Es kam ihm vor, als würde Sindbad es genießen, dass alle an seinen Lippen hingen und darauf warteten, bis er endlich die richtigen Worte fand, um weiter zu sprechen.
Genau wie im Hafen!, dachte Sin.
Aber dann schalt er sich einen Narren.
Es war doch nicht möglich, dass der berühmte Sindbad mit ihnen allen ein Spiel aus Erwartung und Spannung trieb, jetzt, da sie doch gerade aus einer so großen Not gerettet worden und vielleicht in eine noch größere hineingeraten waren!
„Nun, ich stimme dem, was gesagt worden ist zu“, erklärte Sindbad schließlich mit seiner tiefen, durchdringenden Stimme, die so kraftvoll und überzeugend klang, dass es einem kaum etwas ausmachte, wenn man gar nicht richtig mitbekommen hatte, wem oder was er jetzt genau zustimmte. Denn schließlich war ja eine ganze Menge gesagt worden.
Sin fiel das erst nach ein paar Augenblicken auf.
„Heißt das nun, dass du der Meinung bist, wir werden noch welche aus dem Verband wiedertreffen oder glaubst du, dass das eher unwahrscheinlich ist?“, wollte es Abdul aus Cordoba genauer wissen.
Wieder waren alle Augen auf Sindbad gerichtet.
Jarmila, die sich dicht hinter Sin gestellt hatte, flüsterte ihm zu: „Ich glaub, er hat keine Ahnung!“
„Quatsch“, zischte Sin.
„Er hatte sogar vergessen, wie die Frage war!“
„Pst!“
„Das Meer ist zu groß“, erklärte Sindbad der Seefahrer schließlich. „Nur wenn Allah es will, werden wir irgendjemanden, der mit uns nach Indien segelte, irgendwann einmal wiedersehen. Aber ich vermute, dass das das wohl erst im Paradies sein wird.“
––––––––
ES WAR EINE SEHR HELLE Nacht, denn es war Vollmond und keine einzige Wolke stand am Himmel. Nahezu vollkommene Windstille herrschte nun, was aber nicht hieß, dass das Meer jetzt spiegelglatt gewesen wäre, wie Sin es eigentlich erwartet hatte.
Aber offenbar hörte die Bewegung des Meeres nicht einfach auf, wenn es erst einmal aufgewühlt worden war. Und so schaukelte die 'Flügel des Windes' wie eine Nussschale dahin.
Sin konnte kaum schlafen. Immer wieder wachte er auf. Dann war ihm furchtbar übel.
Einmal glaubte er, sich übergeben zu müssen, sprang plötzlich auf und stürzte zur Reling.
Aber obwohl sich sein Magen zusammenkrampfte und er das Gefühl hatte, als wäre ihm gerade ein Faustschlag in den Bauch versetzt worden, kam es dann doch nicht ganz so schlimm und er konnte seine letzte Mahlzeit bei sich behalten.
„Ich glaube, Schiffsjunge zu sein, ist nicht wirklich deine Bestimmung“, sagte Jarmila, die ebenfalls aufgestanden war, um nach ihm zu sehen.
„Das geht schon vorüber“, meinte Sin.
„Sicher tut es das. Aber ich fürchte, du wirst es öfter haben, wenn du mit einem Schiff unterwegs bist und die See etwas rauer wird!“
„Tja, bevor ich diese Höllenfahrt mitgemacht habe, bin ich nur einmal mit einem Lastkahn, auf dem mein Vater zu tun hatte, von einer Anlegestelle im Flusshafen von Bagdad zur anderen gefahren. Und dabei ist das Schiff an einer Sandbank stecken geblieben, weil es überladen war und man wohl auch zu wenig bedacht hat, wie wenig Wasser in der Flussmitte zu dieser Jahreszeit floss.“
„Ja, dies ist etwas anderes.“
„Du sagst es.“
Es musste weit nach Mitternacht sein. Und die anderen waren – abgesehen von den eingeteilten Posten – in einen unruhigen Schlaf gefallen. Selbst Omar hatte sein Ruder an einen der anderen Seeleute abgegeben. Aber das hatte wohl weniger damit zu tun, dass er jemand anderen zutraute, die 'Flügel des Windes' genauso gut zu steuern, wie er das vermochte, sondern war dadurch bedingt, dass es im Moment ohnehin gleichgültig war, wie das Ruder stand. Es blies kein Lüftchen. Das Schiff trieb einfach dahin, getragen von den Wellen.
Bis spät in die Nacht hatte Sin noch gehört, wie Ibn Sina und Abdul aus Cordoba zusammen mit Branagorn darüber beraten hatten, wie man aus der Stellung der Gestirne vielleicht errechnen konnte, in welche Richtung man sich zu segeln hätte. Immer wieder war Sindbad der Seefahrer dabei um seine Meinung gebeten worden. „Es ist das beste, bis zum Morgen zu warten, wenn die Sonne wieder scheint“, hatte der Seefahrer schließlich gesagt. „Dann können wir zumindest die Himmelsrichtungen bestimmen.“
Dass die dahintreibende Dau bis dahin vermutlich sehr weit abgetrieben sein würde, schien den großen Seefahrer nicht weiter zu beunruhigen. „Wir sind alle in Allahs Hand – so oder so“, so war seine Ansicht dazu.
Und Sin dachte, dass er sich dann ja eigentlich keine Sorgen zu machen brauchte.
War Sindbad der Seefahrer nicht bislang noch von jeder seiner Reisen zurückgekehrt? Meistens sogar reich beschenkt oder für große Taten fürstlich belohnt!
Dagegen hätte ich natürlich auch nichts, ging es Sin durch den Kopf, während ihm von Neuem speiübel wurde.
Ein einziger Umstand beunruhigte ihn jetzt noch.
Seinen Erzählungen nach, war Sindbad nicht selten als einziger von seinen abenteuerlichen Reisen zurück in das heimatliche Bagdad gelangt, während das Schicksal derer, die mit ihm zusammen aufgebrochen waren, ungewiss geblieben war.
„Er ist ein furchtbarer Angeber“, wisperte Jarmila in diesem Moment und riss ihn aus seinen Gedanke heraus.
„Wer?“
„Dein großes Vorbild! Der, dessen Namen du trägst! Er tut so, als würde alles wissen, aber ich bin mir sicher, dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hat! Und trotzdem...“ Sie stockte und schüttelte den Kopf. Irgend etwas schien sie über die Maßen in ihren Gedanken zu beschäftigen.
„Trotzdem was?“, hakte Sin nach.
„Trotzdem hören alle auf ihn. Selbst diese schlauen weisen Männer, die so gut rechnen können, dass jeder Händler auf einem Bazar dagegen wie ein Dummkopf wirken muss! Aber wenn Sindbad seine Stimme erhebt, dann kann er ihnen den größten Blödsinn erzählen! Oder gar nichts, in dem er mit vielen Worten zu verstecken weiß, dass er eigentlich auch nicht weiter weiß.“ Sie seufzte. „Na, wenigstens hat er auf mich – beziehungsweise dich – gehört, als du ihm geraten hast, auf das offene Meer hinauszusegeln. Sonst wären wir jetzt mit Sicherheit alle ein Opfer der Piraten geworden!“
„Nein, nein, da irrst du dich“, behauptete Sin.
Jarmila runzelte die Stirn. „Irren? Wie meinst du das?“
„Sindbad der Seefahrer wusste natürlich, dass man bei einem Piratenüberfall in dieser Gegend, der mit kleinen Booten durchgeführt wird, am besten auf das Meer hinaussegelt, soweit es nur geht.“
„Ach, ja? Und warum ist er dann nicht vorher zum Kapitän gegangen und hat ihn an seiner Weisheit teilhaben lassen?“
Sie hatte jetzt etwas lauter gesprochen – so sehr regte es sie offenbar auf, was Sin da behauptete. Einer der Männer drehte sich auf seinem einfachen Lager auf den Planken der Dau um. Und im ersten Augenblick dachte Sin schon, dass Jarmila den Mann geweckt hätte. Aber dann ertönte ein durchdringendes, sägendes Geräusch. Der Seemann hatte angefangen zu schnarchen. Ein Geräusch, das auch deswegen besonders auffiel, weil es ansonsten eine so ruhige Nacht war. Außerdem wurde einer der eingeteilten Ausgucke bereits auf Sin und Jarmila aufmerksam.
„Sei um Allahs Willen leiser“, beschwor Sin Jarmila.
„Wie kannst du nur so einen Unsinn reden, Sin“, flüsterte sie nun. Aber ihre Empörung hatte keinen Deut nachgelassen. Sin sah, wie ihre Augen im Mondlicht blitzten, als sie ihn ansah.
„Es ist aber nunmal so. Sindbad hat nur deswegen nichts gesagt, weil ihm die Risiken klar waren und er so lange wie möglich damit warten wollte!“
„Na, dann können wir ja alle miteinander froh sein, dass er nicht noch länger gewartet hat““, erwiderte sie mit beißendem Spott.
ALLEIN IM UNENDLICHEN OZEAN
Der Morgen kam.
Stimmen weckten Sin. Und außerdem das Sonnenlicht, das ihm ins Gesicht schien.
Ibn Sina und Abdul aus Cordoba diskutierten heftig darüber, in welche Richtung man sich jetzt am besten halten sollte, um so schnell wie möglich Land zu erreichen.
„Aber dieses Land wäre vermutlich Piratenland“, mischte sich Branagorn ein. „Wir werden in einem größeren Bogen segeln müssen.“
„Mit Verlaub, einen wesentliche Punkt scheinst du zu vergessen“, mischte sich Firuz der Perser in das Gespräch ein, das augenscheinlich weit davon entfernt war, zu irgendeiner Einigung zu führen. „Wir haben nämlich keinen Wind und so lange der nicht bläst, werden wir wohl nirgendwo hin gelangen!“
––––––––
DREI TAGE BLIES NICHT ein einziges Lüftchen. Das Meer wurde schließlich spiegelglatt.
Sin bekam die Aufgabe, zusammen mit Jaffar, einem der Soldaten unter dem Befehl von Hauptmann Hassan, die Portionen von Stockfisch aufzuteilen, die es zum Frühstück gab.
Die Portionen waren ziemlich knapp bemessen und an den folgenden Tagen immer kleiner. Zudem wurde die Anzahl der Mahlzeiten auf eine einzige am Morgen beschränkt und das Trinkwasser streng eingeteilt.
Schließlich wusste niemand, wann sie eine Küste erreichen würden. Die Stimmung an Bord wurde entsprechend gereizt. Ein paar der Soldaten des Kalifen murrten. Omar der Steuermann und die anderen Seeleute hingegen nahmen die Situation gelassener.
„Allah schickt den Wind oder er tut es nicht“, sagte einer von ihnen. Und anstatt, dass sie sich beklagten, hielten sie die Gebetszeiten genau ein und beteten mit besonderer Inbrunst.
Ibn Sina und Abdul aus Codoba stritten sich derweil über Berechnungen, die niemand sonst verstand und bei denen vor allem auch vollkommen rätselhaft blieb, wie sie ihnen in der gegenwärtigen Situation irgendwie von nutzen sein konnten.
Sin ging es langsam besser. Dass es wenig zu essen gab, machte ihm aufgrund der Übelkeit wohl am wenigsten aus.
Stockfisch mochte konnte er im Moment nicht mehr sehen und so musste er sich zwingen, die kleiner werdenden Portionen hinunterzuwürgen. Aber etwas anderes gab es nicht. Alle anderen, leichter verderblichen Vorräte waren längst aufgebraucht.
„Wieso rudern wir nicht?“, fragte Hauptmann Hassan ziemlich ungehalten den Kapitän. „Dann kämen wir zwar langsam, aber immerhin ein wenig vorwärts.“
„Die 'Flügel des Windes' ist dafür nicht ausgelegt“, erwiderte Firuz der Perser. „Wir haben zu wenig Ruder an Bord. Um im Hafen zu manövrieren reicht das - aber hier draußen wäre das nur Kraftverschwendung, zumal uns die Strömung einfach fort trägt, wohin immer Allah es auch will.“
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ERST AM FÜNFTEN TAG kam endlich wieder Wind auf. Es war mehr ein laues Lüftchen, aber es reichte immerhin aus, damit sich das Segeltuch wenigstens straffte und die meisten seiner Falten etwas glättete.
„Gepriesen sei Allah!“, rief Omar der Steuermann, der sogleich auf seinem Posten war.
Der Wind hatte kaum kraft, aber eine Dau war so gebaut, dass diese Kraft gut ausgenutzt wurde und so konnte sie selbst bei schwachem Wind leicht Fahrt aufnehmen. Einige der Seeleute meinten, dass man doch die Essensrationen jetzt wieder vergrößern könnte. Schließlich würde man doch sicher bald eine Küste erreichen.
Aber Kapitän Firuz bestand darauf, dass der Stockfisch nur so sparsam wie bisher ausgeteilt wurde. „Sindbad der Seefahrer hat es mir dringend geraten, nicht damit aufzuhören, die Rationen so knapp wie möglich zu halten“, erklärte der Kapitän im Brustton tiefster Überzeugung. „Denn niemand von uns weiß, wie weit wir tatsächlich auf den großen Ozean hinausgetrieben worden sind und wie lange es noch dauern kann, bis wir irgendwo wieder eine Küste erreichen, an der wir unsere Vorräte auffüllen können!“ Und damit streckte Firuz in einer großen, ausholenden Geste die Hand aus und deutete zu Sindbad. „So ist es doch, nicht wahr, größter unter den Seefahrern und am weitesten Gereister unter allen Weitgereisten!“
„Gewiss“, bestätigte Sindbad.
„So bist du also an unserem Hunger schuld“, knurrte einer der Seeleute.
„An eurem Hunger und an eurem Überleben“, sagte Firuz daraufhin mit schneidender Stimme.
Sin saß mit offenem Mund da und hatte nicht aufgehört, an den Lippen seines großen Vorbildes zu hängen. Und das, obwohl Sindbad außer seiner knappen Bemerkung gegenüber Firuz gar nichts mehr gesagt hatte. War es nicht bewundernswert, wie der große Sindbad dafür sorgte, dass alle die unangenehme Nachricht annahmen, dass sie vermutlich noch eine Weile hungern und ihre Vorräte gut einteilen mussten?
Was, so fragte sich Sin, hätten wir auf dieser Seereise nur ohne den berühmten Mann gemacht?
Endlos dehnten sich die Stunden zu Tagen. Zwar blies jetzt ein beständiger Wind, der die Segel einigermaßen blähte, aber nirgends tauchte am Horizont eine Küste auf.
Tagelang ging das so und die Stimmung an Bord wurde zunehmend schlechter.
Die sparsamen Mahlzeiten spielten dabei bald nur noch eine untergeordnete Rolle. Entschiedener wurde nach und nach die Ungewissheit, ob sie nicht vielleicht geradewegs in das Nichts eines unendlichen Ozeans hineingesegelt waren und sie sich vielleicht immer mehr von jeder erreichbaren Küste entfernten.
Die Streitgespräche zwischen Ibn Sina und Abdul aus Cordoba wurden heftiger. Es war jetzt nicht mehr länger einfach nur ein Zeitvertreib, auszurechnen, ob sie sich in einer halbwegs richtigen Richtung bewegten und wie viele Meilen sie sich vermutlich schon von den Ufern der Piratenküste entfernt hatten. Beide nahmen die Dinge jetzt sehr ernst und waren dabei so sehr von ihren jeweiligen Argumenten besessen, dass sie gar nicht mehr auf die Einwände des anderen hörten.
Branagorn mahnte sie mehrfach und vergeblich dazu, sich zu mäßigen.
Erst als Sindbad der Seefahrer schließlich seine Stimme erhob, trat Besserung ein. „Ihr könnt durch eure Berechnungen weder den Wind noch unsere Position ändern“, gab er zu bedenken. „Stattdessen bekommt ihr nur Magenschmerzen und verliert die Klarheit der Gedanken!“
„Und was sollten wir deiner Meinung nach tun?“, fragte Ibn Sina.
„Vertraut auf Allah und darauf, dass sich alles zum Guten wenden wird“, erklärte Sindbad. „Ich sage euch das als einer, der schon so viele Gefahren überstanden hat und nur auf diese Weise davor bewahrt wurde, vor Angst wahnsinnig zu werden.“
Sin hatte die ganze Zeit über dem Streit der Gelehrten zugehört und obwohl er kaum ein Wort von dem, was Ibn Sina und Abdul aus Cordoba miteinander diskutiert hatten zu verstehen vermochte, war er doch die ganze Zeit über sehr aufmerksam gewesen. Was ihn am meisten beunruhigt hatte war die Tatsache, dass nicht einmal so furchtbar kluge Männer, die doch alles zu wissen vorgaben, im Moment noch Rat wussten.
Das galt selbst für Branagorn, von dem Sin glaubte, dass er der Klügste der drei Gelehrten war, auch wenn Ibn Sina und Abdul aus Cordoba dies niemals zugegeben hätten. Schließlich war Branagorn ja ein Ungläubiger aus einem fernen, unzivilisierten Land.
Doch am Allerklügsten erschien Sin jetzt sein Namensvetter Sindbad der Seefahrer. Die Art und Weise, wie er trotz der schlimmen Lage, in der sich Schiff und Mannschaft befanden, ruhig und besonnen zu wissen schien, wie man sich verhalten sollte, beeindruckte ihn.
Jedes Wort von dem, was er erzählt hat, muss wahr sein!, ging es Sin durch den Kopf und er schämte sich schon beinahe, je daran gezweifelt zu haben.
––––––––
EIN DURCHDRINGENDER Schrei weckte Sin im Morgengrauen. Der Junge öffnete die Augen. In der Ferne ging die Sonne auf. Sin gähnte. Es war der Ausguck, der so laut gerufen hatte.
„Land! Da hinten ist Land!“, rief er.
Und diese wenigen Worte reichten vollkommen aus, um dafür zu sorgen, dass innerhalb kürzester Zeit jeder an Bord hellwach war.
„Ich kann dort nichts erkennen“, meinte Firuz der Perser. „Der Ausguck muss sich vertan haben! Da ist nichts weiter, als etwas Dunst am Horizont. Wahrscheinlich hat er sich so sehr gewünscht, dass wir eine Küste erreichen, dass er Dinge gesehen hat, die gar nicht...“
„Du irrst, Kapitän“, unterbrach ihn Branagorn. „Die Küste ist eindeutig zu sehen. Der Ausguck irrt sich nicht!“
Der Mönch aus dem Land der Ungläubigen sagte das im Brustton der Überzeugung, so als könnte es an der Wahrheit seiner Worte überhaupt keine Zweifel geben.
Sin stand unterdessen zwischen den anderen und starrte wie alle zum Horizont. War dort Land oder spielten ihnen ihre eigenen Wünsche nur einen Streich? Er konnte es nicht sagen, so sehr er sich auch bemühte.
Und den anderen schien es zunächst genauso zu ergehen.
„Was sagst du, großer Sindbad, ist dort Land zu sehen?“, wandte sich Sin schließlich an seinen berühmten Namensvetter, der zufälligerweise ganz in seiner Nähe stand. Und diesen Umstand wollte der junge Sin ausnutzen. Vielleicht, so überlegte er, war es ein wenig unverschämt, den großen Seefahrer deswegen so direkt anzusprechen. Aber auf der anderen Seite fand Sin, dass es ihm (als größtem Bewunderer des Seefahrers und treuem Unterstützer) sehr wohl zustand, so eine Frage zu stellen.
„Ich sage, der Ausguck hat sich nicht geirrt“, meinte Sindbad. „Der erfahrene Blick des Vielgereisten und auf allen Weltmeeren zu Hause seienden Abenteurers sagt mir das!“
Es herrschte einige Augenblicke angespanntes Schweigen.
Sie alle warteten darauf, dass die ferne Küste auch für sie sichtbar wurde und so manch einen unter den Besatzungsmitgliedern sah man sich die Augen reiben.
Niemand allerdings achtete auf die schwarzen Punkte am Himmel, hoch über ihnen. Vögel, die von einer Küste herübergezogen sein mussten und offenbar aus ihrer Höhe nach Fischschwärmen Ausschau hielten.
Auch Sin bemerkte diese Vögel nicht, die schon eine ganze Weile auf das Schiff zugeflogen waren und nun darüber hinwegglitten.
Zu sehr war seine Aufmerksamkeit auf das Land gerichtet, das vielleicht am Horizont bald wirklich erscheinen würde – und zwar nicht nur als dunstige Ahnung, sondern als richtige Küste aus Sand und Felsen, mit Bäumen, die auf fester Erde wuchsen, auf die man sicher seine Füße stellen konnte.
Jarmila war die einzige, die durch den Schrei der Vögel veranlasst wurde, emporzublicken.
Sie begegnete dabei kurz dem Blick von Sindbad dem Seefahrer und fragte sich dabei, ob der die Vögel wohl schon bemerkt hatte, bevor er das Land zu erkennen geglaubt hatte.
Dann wäre es wohl kein Kunststück, vorherzusagen, dass Land auftauchen wird, ging es Jarmila durch den Kopf. Dazu braucht man in dem Fall nicht einmal gute Augen!
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ALS DAS LAND ENDLICH deutlich zu sehen war, brandete Jubel unter den Seeleuten auf.
„Ich hatte schon aufgehört zu zählen, wie viele Tage wir schon kein Land mehr gesehen haben“, stieß Sin hervor. „Allah sei Dank, dass wir es wieder sehen können!“ Er wandte sich an Sindbad den Seefahrer und fügte noch hinzu: „Du bist es sicherlich gewöhnt, nur von Wasser umgeben zu sein, aber für jemanden wie mich, der sein ganzes Leben lang nichts anderes gesehen hat, als die engen Gassen von Bagdad, war dieser Anblick schwer erträglich!“
„Ich kann dich gut verstehen, Sin“, sagte daraufhin Sindbad der Seefahrer und legte dem jungen Sin verständnisvoll die Hand auf die Schulter. „Mir ist es einst bei meiner ersten Reise auch nicht anders ergangen.“
„Davon hast du in deinen Erzählungen nie berichtet, großer Sindbad!“
„Natürlich nicht! Was hätten all die Zuhörer in Bagdad gedacht, wenn ich ihnen etwas über Seekrankheit, Übelkeit und den Schauder erzählt hätte, den man beim Anblick des unendlichen Ozeans empfindet? Wenn man nichts als Wasser sieht und die Welt um einen herum so aussieht, als hätte Allah niemals etwas anderes als nur Wasser geschaffen! Das hätte doch niemand verstanden. Oder man hätte mich ausgelacht und nicht glauben wollen, dass es auch dem größten und weitgereistesten aller Seefahrenden Helden einst so ergangen ist.“
Sin nickte. „Ja ich verstehe, was du meinst.“
Und er glaubte noch etwas anderes zu verstehen.
Das, was der berühmte Sindbad ihm nun offenbart hatte, war der Beweis dafür, dass er auch sonst die Wahrheit gesprochen hatte und seine Schilderungen den tatsächlichen Geschehnissen entsprachen. Und Sin überkam tiefe Scham angesichts der großen Ehrlichkeit, mit der sein berühmter Namensvetter sogar über seine Ängste und Schwächen gesprochen hatte.
„Ich werde niemandem von dem erzählen, was du mir gerade geschildert hast“, versprach Sin.
Sindbad senkte leicht den Kopf und nickte langsam.
„Dafür wäre ich dir sehr dankbar, mein Junge.“
„Es muss wirklich niemand erfahren, dass auch der große und berühmte Sindbad Furcht vor der Weite des Meeres hatte. Das würde dich nur in ein ungünstiges Licht rücken!“
„Wie wahr! Aber du, junger Sin, der du jetzt dasselbe durchlitten hast, wie ich bei meiner ersten Reise, wirst jetzt die Wahrheit meiner Erzählungen um so besser ermessen können!“
––––––––
SIE GELANGTEN ZUR KÜSTE. Sumpfiges Marschland war dort zu sehen. Wälder und unwegsames Gelände reihten sich aneinander. Es schien keine Küste zu sein, die stark besiedelt war. Zumindest waren nirgends Spuren irgendwelcher Städte oder Ansiedlungen zu finden.
Sie segelten die Küste gen Süden, denn sowohl Abdul aus Cordoba als auch Branagorn von Corvey waren sicher, dass man dieses Land im Süden umfahren müsste, um zum Reich des Rajaraja zu gelangen.
Ibn Sina war sich da nicht ganz so sicher, aber schließlich gab die Stimme von Sindbad dem Seefahrer den Ausschlag.
„Kann es sein, dass du diese Küsten bereits befahren hast, Sindbad?“, wollte Ibn Sina wissen.
„Nun, wir sind noch nicht auf irgendwelche charakteristischen und unverwechselbaren Merkmale gestoßen“, sagte er. „Deswegen kann ich da nicht vollkommen sicher sein.“
„Zumindest haben wir keine der Landmarken wiedergefunden, die auf unseren Karten verzeichnet sind“, mischte sich Firuz der Perser sein.
„Bei nächster Gelegenheit sollten wir an Land gehen, damit wir zumindest eine vage Ahnung haben, wo wir uns befinden“, schlug Branagorn vor. „Schon wenn irgendeinem von uns die Sprache bekannt vorkommt, die man dort spricht, wäre das eine Hilfe.“ Mit diesen Worten wandte er sich an Jarmila. „Ganz davon abgesehen, dass auch die Tiere und Pflanzen Hinweise darauf liefern können, in welchem Land man sich befindet...“
––––––––
ES VERGINGEN NOCH EINMAL einige Tage, in denen sie nichts anderes taten, als sich von einem gemäßigten Wind die Küste in südlicher Richtung tragen zu lassen. Omar verrichtete wie üblich stumm sein Steuermannshandwerk und die Essensrationen, die Kapitän Firuz den Mitfahrenden genehmigte, waren wieder deutlich größer. Schließlich hätte man ja notfalls jederzeit an Land gehen und etwa durch Jagd etwas Essbares bekommen können.
Vorerst jedoch vermied man das.
Erstens war das Anlanden an diesen sumpfigen Ufern schwierig und wenn man sich dem Ufer zu weit näherte, bestand immer die Gefahr, dass das Schiff auf eine Untiefe auflief und stecken blieb. Mehrmals kratzte der Mittelsteven der Dau über den Grund. Dasselbe galt für Omars Ruderblatt, das sich tief in den Schlamm grub, durch ihn hindurchfurchte wie ein Pflug und schon zu brechen drohte. Der Steuermann hielt daraufhin größeren Abstand zur Küste.
Am vierten Tag seit das Land gesichtet worden war, sah man schließlich Rauchwolken hinter hohen Bäumen aufsteigen, die den Uferbereich säumten und die Sicht verstellten.
„Das sind Lagerfeuer“, war Branagorn überzeugt. „Wir sollten ankern, mit einem Boot an Land rudern und mit den Menschen dort in Verbindung treten. Sie werden uns sicherlich wertvolle Hinweise geben können, wo wir uns befinden!“
„Und wer sagt uns, dass dort wirklich Lagerfeuer brennen und nicht gerade ein Krieg tobt, bei dem Dörfer gebrandschatzt werden?“, fragt Hauptmann Hassan skeptisch.
Branagorn von Corvey lächelte verhalten. „Niemand kann das mit Sicherheit sagen. Aber ich beobachte diese Rauchsäulen schon eine geraume Zeit. Es ist immer dieselbe Anzahl und die Feuer scheinen auch ungefähr gleich gleich groß zu sein. Davon abgesehen habe ich keinen Schlachtenlärm bemerkt oder irgendwelche verdächtigen Beobachtungen am Ufer gemacht, die auf die Anwesenheit fremder Krieger schließen ließen. Auch scheint es keine Flüchtlinge zu geben, was dann ja auch der Fall sein könnte.“
„Schlachtenlärm?“, lachte Hassan. „Denn würde niemand bis hier hören. Und was die Flüchtlinge angeht – vielleicht sind sie schon alle erschlagen worden!“
Branagorn hob leicht die Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie gesagt, man kann das nicht ausschließen. Das Böse ist überall in der Welt anzutreffen, wie uns unser weitgereister Sindbad sicher zu bestätigen weiß...“
„Gewiss! Gewiss! Beim Barte des Propheten, davon kann ich ein Lied singen!“, bestätigte Sindbad.
„Etwas Wagemut werden wir wohl aufbringen müssen, Hauptmann Hassan“, fuhr Branagorn fort.
„Dein Vorschlag erscheint mir vernünftig“, meldete sich Kapitän Firuz zu Wort. „Du sprichst viele Sprachen, Branagorn...“
„Und deswegen sollte ich auch an Land gehen“, erklärte der blasse Mönch, bei dessen Anblick sich Sin jedesmal aufs neue fragte, wie alt er wohl sein mochte. Während seine Bewegungen und sein Körperbau den Eindruck eines jüngeren Manns erweckten, schien das Gesicht allerdings die Erfahrung hohen Alters widerzuspiegeln und abgesehen davon hatten die langen Reisen, die Branagorn unternommen hatte, und die ihn so weit von seinem Stammkloster Corvey fortgeführt hatten, viele Jahre in Anspruch genommen. Er musste schon aus diesem Grund das mittlere Alter längst erreicht, sogar überschritten haben. Aber vielleicht, so überlegte Sin, haben ihn die Strapazen und Entbehrungen all dieser Reisen widerstandsfähig gegen den Verfall des Alters gemacht und dafür gesorgt, dass sein Körper geschmeidiger und kräftiger geblieben ist, als bei den meisten anderen!
Branagorn wandte sich an Jarmila. „Du sprichst die Sprache des Chola-Reichs...“
„Ja, denn das ist meine Heimat.“
„Ich möchte, dass du mich begleitest. Wenn wir uns schon im Reich des Königs Rajaraja befinden, so wirst du das bemerken. Und selbst wenn wir in einem benachbarten Land gestrandet sind, dessen Sprache nur verwandt, aber nicht gleich ist, wirst du vielleicht mehr verstehen als ich, der ich die Art, wie im Chola-Reich geredet wird, nur oberflächlich und beiläufig meinem Wissen hinzugefügt habe...“
Jarmila nickte bereitwillig.
„Ich begleite dich gerne, Branagorn“
„Lass mich auch mit dir gehen!“, verlangte Sin. Er war über sich selbst und seinen Mut erstaunt und überlegte dann fieberhaft, welche Begründung er jetzt eigentlich dafür angeben sollte, dass ausgerechnet er mit an Land gehen sollte. Aber so sehr er auch darüber nachgrübelte, es fiel ihm keiner ein. Was hätte er auch schon an besonderen Fähigkeiten anführen können, die für so eine Unternehmung von unbedingter Wichtigkeit waren? Fremde Sprachen konnte er nicht. Sein Vater hatte wenigstens ein breites Kreuz und starke Muskeln, die er sich in den vielen Jahren als Lastenträger erworben hatte. Sin hingegen war zwar für sein Alter kräftig und gut gebaut, aber der Großteil seiner Muskeln mussten ihm erst noch wachsen!
Branagorn musterte ihn.
„So ein Unsinn. Was soll denn ein Schiffsjunge bei so einer Sache?“, versetzte Kapitän Firuz verständnislos. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, so als wollte er eine Fliege im Flug erschlagen.
„Ein paar meiner Soldaten - das wäre das richtige zu deiner Begleitung“, erbot sich Hauptmann Hassan. „Mich selbst eingeschlossen! Du weißt schließlich nicht, auf wen du in diesem Land triffst, Branagorn!“
„Ich nehme lieber den Schiffsjungen“, erwidertet Branagorn, während Firuz und Hassan einen doch ziemlich erstaunten Blick miteinander tauschten.
„Wieso das?“, fragte Hassan.
„Er macht niemandem Angst. Du und deine Soldaten schon, also bleibt ihr besser auf dem Schiff. Sonst hält man uns noch für fremde Eroberer!“
„Dann kannst du auch mich mitnehmen!“, mischte sich Ibn Sina ein. „Oder sehe ich etwa aus, als ob ich in unfriedlicher Absicht käme?“
„Naseweise Besserwisserei kann einen allerdings auch in sehr schwierige Situationen bringen, wenn man sich in einem fremden Land befindet“, erklärte Firuz. „Dein verehrter Sindbad wird dir das von seinen Reisen mit Sicherheit bestätigen können, wie ich annehme!“
WIEDER FESTEN BODEN UNTER DEN FÜSSEN
Zwei kleine Beiboote wurden von der Dau mitgeführt. Eins davon ließ man nun zu Wasser. Fast ein Dutzend Männer waren dazu nötig. Aber die Mannschaft von Kapitän Firuz war gut eingespielt. Die Männer ließen das Boot zu Wasser, und Sin war der erste, der an Bord des Bootes sprang. Jarmila, Branagorn und Ibn Sina folgten ihm.
Zuletzt stieg Sindbad der Seefahrer auf das kleine, schwankende Boot. Um ein Haar wäre es dabei doch noch gekentert. Jedenfalls schwankte es ganz schön. Und Sindbad war froh, als er endlich im Boot saß. Er hielt sich am Bootsrand fest, so als wollte er auf jeden Fall vermeiden, dass er vielleicht doch noch ins Wasser fallen könnte. Sein Gesicht war kreidebleich.
Der junge Sin begriff nicht so recht, was den großen Seefahrer nun eigentlich so mitgenommen hatte. Von der Dau schaute der Rest der Besatzung zu und ihr Schweigen musste Sindbad als viel schlimmer empfinden, als wenn sie ihn lauthals ausgelacht hätten.
Er war wirklich ungeschickt!, erkannte selbst der junge Sin, der sonst ja eigentlich stets irgendeine Erklärung oder Entschuldigung für die Verhaltensweisen seines großen Vorbildes fand.
Branagorn ruderte das Boot Richtung Ufer.
Sindbad bot dem bleichen Mönch an, ihn dabei zu unterstützen, doch der lehnte dankend ab.
Das Wasser war sehr flach und so dunkel, dass man nicht sehen konnte, was sich darin befand. Hin und wieder waren allerdings Bewegungen und Luftblasen zu erkennen, die vielleicht von Fischen und anderem Meeresgetier stammten.
Es dauerte nicht lange und Branagorn hatte eine bestens geeignete Anlegestelle gefunden, wo das Boot festgemacht werden konnte. Sie stiegen an Land. Der Boden war tief und feucht, aber fest. „Achtet darauf, wo ihr hintretet“, sagte Branagorn zu den anderen. „Schließlich soll niemand von euch in den Sümpfen versinken.“
Sie erreichten schließlich festeres Land und kämpften sich durch hohes Gras und dichtes Gestrüpp. Hin und wieder ragten Bäume dazwischen auf. Sie folgten dem Geruch der Feuer und den Rauchsäulen.
Plötzlich blieb Branagorn stehen.
Im nächsten Moment hörte auch Sin die stampfenden Schritte und das durchdringende, trompetende Geräusch eines Elefanten.
Daneben spürte er einen dumpfen Druck in der Magengegend. So als hätte ihm jemand einen Schlag dorthin gegeben. Gleichzeitig erklangen so tiefe Töne, dass sie kaum noch zu hören waren. Wie ein drohendes, dumpfes Brummen, das selbst die Erde vibrieren ließ.
Die Sträucher bogen sich zur Seite und ein gewaltiger Elefantenbulle mit riesenhaften, geschwungenen Stoßzähnen brach daraus hervor.
Dass dieses Tier von Wut und Angst erfüllt war, lag auf der Hand. Der Elefantenbulle stampfte vorwärts.
„Zur Seite!“, rief Branagorn.
Sindbad der Seefahrer war bereits ein halbes Dutzend Schritte gelaufen, als sein junger Namensvetter noch immer wie erstarrt dastand und sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Er sah den Elefanten an, sein Mund stand offen und es schien so, als wäre er vollkommen von dem Anblick des gewaltigen Geschöpfs gefangen.
Jarmila riss ihn zur Seite während Branagorn einen durchdringenden Schrei ausstieß. Diesen beantwortete der Elefant mit einem dröhnenden, ohrenbetäubenden Trompeten.
Er verlangsamte seinen Sturmlauf nicht, sondern änderte auf Grund von Branagorns Schrei nur geringfügig die Richtung und stampfte dicht an Sin und Jarmila auf der einen und Branagorn auf der anderen Seite vorbei.
Ibn Sina und Sindbad standen etwas abseits.
Der Elefant walzte die Sträucher in seinem Weg förmlich nieder.
Wenig später war er nicht mehr zu sehen. Er verschwand im dichten Unterholz eines Waldstücks. Nur sein wütendes Trompeten war noch zu hören.
„Wieso bist du einfach stehen ge...“
Weiter kam Jarmila nicht. Dutzende von Männern waren von allen Seiten aus den Büschen gekommen. Sie trugen Speere, lange Messer und Holzstöcke. Einige trugen auch Fackeln in den Händen.
Ihre Stimmen redeten in einer Sprache, von der sich Sin sicher war, dass er nie ein Wort davon gehört hatte. Er sah zuerst zu Jarmila und dann zu Branagorn hinüber. Aber auch die schienen nichts von dem zu verstehen, was gesagt wurde. Das ist kein gutes Zeichen!, dachte Sin. Es bedeutete wohl, dass sie weiter vom Weg abgekommen waren, als sie es bisher angenommen hatten. Aber damit mussten wir ja eigentlich rechnen, überlegte Sin. Einige der Männer lief dem Elefanten hinterher. Die anderen umringten die Ankömmlinge von allen Seiten und redeten durcheinander.
„Ob das jetzt ein freundlicher Empfang ist?“, murmelte Sin.
„Das sind Elefantenjäger“, sagte Jarmila.
„Wie?“
„Ja, sie fangen Elefanten und bilden sie zur Arbeit aus. In Gefangenschaft vermehren sie sich nicht so gut, deshalb muss man immer wilde Elefanten hinzufangen! Wahrscheinlich verkaufen sie die, wenn sie gezähmt sind.“
„Und manchmal reißt einer aus?“
„Genau!“
„Dann sind wir hier doch in deiner Heimat! Aber du verstehst doch kein Wort, hast du gesagt!“
„Im Reich des Rajaraja wird mit vielen Zungen gesprochen. Manchmal haben sogar einzelne Dörfer ihre eigene Sprache!“
––––––––
DIE ELEFANTENJÄGER umringten die Ankömmlinge.
Branagorn versuchte in verschiedenen Sprachen, die er offenbar auf seinen Reisen in den Osten kennengelernt hatte, mit ihnen zu sprechen, aber er erhielt keine Antwort. Die Männer, die Jarmila für Elefantenjäger hielt, schwiegen und sahen ihn nur erstaunt an.
Dann deutete Jarmila auf das Amulett, das einem der Männer um den Hals hing.
„Ganesha!“, sagte sie.
„Ganesha“, antworte der Mann. Zumindest konnte man das mit viel Fantasie aus dem heraushören, was er über die Lippen brachte, denn seine Aussprache war völlig anders.
„Was ist Ganesha?“, wisperte Sin.
„Der Elefantengott“, sagte sie. „Der wird überall im Reich des Königs Rajaraja verehrt – und weit darüber hinaus! Es gibt Tempel für ihn und jeder Elefant ist heilig!“
„Und doch wird er gejagt“, meinte Ibn Sina.
„Aber sie würden Elefanten nie töten, sondern sie nur ausbilden. Außerdem sind sie nicht die einzigen heiligen Tiere bei uns und stehen nur in einer Reihe mit Ratten, Kühen, Affen und viele anderen.“
Die Männer begannen wieder zu reden, wovon weder Branagorn noch Jarmila etwas verstanden.
In der Ferne brüllte und trompetete der Elefant.
„Ganesha“, murmelte daraufhin einer der Männer andächtig und berührte das Amulett, dass den Elefantengott darstellte.
Sin bemerkte dabei, dass er an den Handgelenken aufgemalte Zeichen trug, die denen von Jarmila ähnelte.
Vielleicht waren sie ja doch nicht so weit abgetrieben, wie es zwischenzeitlich den Anschein gehabt hatte und der Weg zum Reich des Rajaraja war nicht in unerreichbarer Ferne.
Der Elefant brüllte und trompetete noch ein paarmal und die Blicke der Elefantenjäger wurden etwas sorgenvoller. Einer der Männer rief ein paar Worte, die vermutlich eine Anweisung darstellten. Daraufhin rannte ein Teil der Speerträger los und folgte den anderen. Gut ein Dutzend Mann blieb allerdings zurück und umringten nach wie vor Sindbad den Seefahrer und seine Begleiter.
Die Elefantenjäger schienen zu denken, dass diese Anzahl dazu ausreichte, um sie zu bewachen.
Mit Handzeichen machten die Jäger deutlich, dass man ihnen folgen sollte.
„Ich glaube, wir sollten uns gegen den Wunsch dieser Leute besser nicht sträuben“, meinte Sindbad der Seefahrer.
„Wohin werden sie uns bringen?“, fragte Sin.
„Vermutlich in ihr Dorf.“
„Und was werden sie dann mit uns tun?“
„Nun, ich hoffe nicht, dass sie darüber nachdenken, uns in irgendwelchen blutigen Ritualen ihren Göttern zu opfern. Allah möge uns davor schützen!“
„Es gibt bislang keine Anzeichen dafür, dass wir es mit bösartigen Leuten zu tun haben“, wandte sich Branagorn etwas ärgerlich an Sindbad. „Und davon abgesehen ist es auch wenig hilfreich, völlig ohne Not die Angst zu schüren!“
„Nun, ich habe auf meinen weitläufigen Reisen stets die Erfahrung gemacht, dass man sich am besten das Schlimmste vorstellen sollte, damit einen das, was einen dann wirklich erwartet, weniger schreckt.“
„Es wundert mich, dass du dann nicht vor Angst gestorben bist“, spottete Branagorn.
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SIE WURDEN INS DORF gebracht. Es bestand aus einfachen Hütten, deren Dächer mit geflochtenen Blättern bedeckt waren. Das erste, was Sin auffiel, waren die angeketteten Elefanten. Diese Tiere warteten offenbar darauf, dass man sie als Arbeitstiere verkaufte.
Ein Mann mit einem lautenähnlichen Saiteninstrument spielte Musik. Ein Junge begleitete ihn mit einer Flöte.
Da sich von den Bewohnern des Dorfes niemand um die beiden Musikanten kümmerte, blieb nur eine vernünftige Erklärung übrig: Die Musik wurde für die Elefanten gespielt!
„Musik beruhigt Elefanten manchmal“, sagte Jarmila dazu, die die Frage zu erraten schien, die Sin beschäftigte. „Gerade wenn sie ausgebildet und gezähmt werden, spielt man für sie.“
Sin starrte nur zu den Musikanten hin und schüttelte verständnislos den Kopf.
„Musikanten spielen für sie und man füttert sie und es scheint ihnen besser zu gehen, als vielen Menschen!“
„Sie sind die Verkörperung von Ganesha, dem Gott der Elefanten“, erinnerte Jarmila. „Jeder einzelne von ihnen. Warum sollte man nicht gut zu ihnen sein und sie versorgen, wie es den Göttern gebührt? Und abgesehen davon zahlen sie das mit ihrer Arbeit zurück!“
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DAS GANZE DORF LIEF zusammen und umringte die Ankömmlinge. Eine ganze Zeit geschah nichts anderes, als dass diese unablässig redenden Frauen, Männer und viele Kinder sie ansahen und auf sie einredeten. Zu dumm, dass man kein Wort davon versteht, dachte Sin.
Inzwischen wurde der ausgerissene Elefant zurückgebracht. Er schien sich einigermaßen beruhigt zu haben. Aber seine Rückkehr ins Dorf schien unter dessen Bewohnern im Moment kaum beachtet zu werden. Zu interessant schienen die Neuankömmlinge aus einem fremden Land zu sein. Offenbar kam es nicht allzu häufig vor, dass die Dörfler Fremden begegneten.
Ibn Sina griff jetzt zu einem Beutel, den er am Gürtel trug. Er holte eine Münze hervor, wie sie in Bagdad im Umlauf war. Das Abbild des Kalifen war darauf zu sehen – eine Sitte, die man wohl vom Kaiser in Konstantinopel übernommen hatte. Sin erinnerte sich an die Auftritte von strengen Predigern in wehenden Gewändern. Männer, die aus der Wüste kamen und dagegen wetterten, dass der Kalif sein Abbild anstatt nur seinen Schriftzug in die Münzen prägen ließ und behaupteten, dies sei Sünde und man sollte diese Münzen nicht berühren. Sin erinnerte sich sehr genau daran, als kleiner Junge eine ganze Weile Angst davor gehabt zu haben, Münzen mit dem Bild des Kalifen zu berühren, bis sein Vater ihm schließlich sagte, dass der Prediger sich irren würde. „Die Münzen sind ehrlich erworben worden! Mit meiner Arme Muskeln! Wie kann so etwas Sünde sein?“, hatte Sin die Worte des fleißigen Lastenträgers noch im Ohr. Und seitdem hatte Sin sich über diese Sache keine Gedanken mehr gemacht.
Ibn Sina gab einem der Männer die Münze und der schaute sie sich genau an, hielt sie in die Sonne und gab sie einem anderen, der sie sich ebenfalls sehr genau ansah.
„Darf ich fragen, was du damit bezweckst, junger Gelehrter?“, raunte Sindbad unterdessen Ibn Sina zu. „Ich glaube nicht, dass diese einfachen Menschen so etwas wie Geld überhaupt kennen. Augenscheinlich pflegen sie höchstens einen gewissen Tauschhandel oder dergleichen...“
„Und ich habe gehört, dass es in den indischen Ländern schon Münzen gab, als noch kein Araber wusste, was man damit anfangen soll“, erwiderte Ibn Sina. „Wieso sollte das in diesem Dorf, dessen Männer mit Elefanten Geschäfte machen, anders sein?“
Ibn Sina ging auf die Elefantenjäger zu. Die Kinder wichen scheu zurück oder flüchteten auf die Arme ihrer Mütter und so bildete sich schnell eine Gasse vor dem jungen Gelehrten. Er redete einfach auf die Menschen ein, machte ausholende Handbewegungen und bedeutete ihnen, ihm die Münze zurückzugeben.
Das taten sie schließlich.
Dann zeigte Ibn Sina noch einmal auf den Kopf des Kalifen, der auf der Münze abgebildet war. Anschließend deutete er auf seinen eigenen Kopf.
Das machte er mehrmals hintereinander.
Und dann schien einer der Elefantenjäger zu verstehen, was Ibn Sina von ihm wollte. Er war ein magerer Mann mit grauem Bart. Sein Turban war schneeweiß, ebenso die Tücher, mit denen er sich kleidete und die von einer geflochtenen Kordel zusammengehalten wurde. Unruhe entstand unter den anderen Männern. Es wurden ein paar Worte gewechselt und all das mischte sich mit den schrillen Stimmen einiger Frauen und Kinder, sodass man für kurze Zeit sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
Schließlich lief ein jüngerer Mann zu einer der Hütten und verschwand darin. Er kam wenig später wieder und trug einen Beutel aus Leder bei sich. Diesen reichte er dem graubärtigen Mann, der unter den Jägern große Autorität zu genießen schien. Der Graubärtige öffnete den Beutel und holte etwas hervor.
Eine Münze!
Er legte sie in seine Handfläche, dann tauschten Ibn Sina und der Graubärtige ihre Geldstücke. Beide sahen sich die Münze genau an.
„Seht! Hier ist auch ein Kopf drauf!“, stellte Ibn Sina fest. „Aber ich kann weder die Schrift lesen, noch weiß ich wessen Kopf und Zeichen dies ist... Aber eins steht fest, es muss dieses Landes sein! Denn wer sonst könnte auf einer Münze abgebildet werden!“
„Möglicherweise die Götter dieses Landes“, glaubte Sindbad der Seefahrer.
Aber Ibn Sina schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube der Graubärtige hat genau verstanden, was ich von ihm wollte: Nämlich wissen, welcher Kopf hier in Münzen geprägt wird, denn so können wir herausfinden, in welchem Land wir sind!“
„Lass mal sehen, werter Ibn Sina!“, sagte Branagorn und streckte die Hand aus.
Bereitwillig gab Ibn Sina ihm das Silberstück. Es war fein verarbeitet, das konnte man auf den ersten Blick sehen. Wer immer es angefertigt hatte, verstand sein Handwerk mindestens genauso gut wie die zahllosen Silberschmiede, die in den Straßen von Bagdad überall ihre Dienste anboten. Jarmila konnte ihre Neugier nicht zügeln und ging zu Branagorn, um sich ebenfalls die Münze ansehen zu können.
„Ich nehme an, du hast so etwas schon gesehen“, glaubte Branagorn.
„Ich habe schon solche Münze gestohlen“, sagte Jarmila.
„Nur solche aus Silber – oder auch diejenigen, die denselben Kopf tragen und aus purem Gold sind?“
„Auch die!“
Branagorn lächelte. „Hast du nicht gesagt, du hättest nur gestohlen, um etwas zu Essen zu haben?“
„Ja, ich habe nie gesagt, dass ich nicht gut essen wollte“, erwiderte Jarmila schlagfertig.
„Was ist denn jetzt?“, fuhr Sindbad der Seefahrer dazwischen. „Um wessen Kopf geht es hier – außer vielleicht um unseren, wenn wir uns mit diesen Elefantenjägern nicht gut verstehen sollten? Warum sagst du es nicht einfach und spannst uns stattdessen auf die Folter?“
„Weil er Jarmila prüfen will“, erkannte Ibn Sina. „Oder besser gesagt: Er will den Wahrheitsgehalt der Geschichte prüfen, die bewirkt hat, dass sie nicht einfach wieder über Bord geworfen wurde.“
Jarmila errötete leicht.
Branagorn hob fragend die Augenbrauen. „Nun?“
„Ist es der Kopf des Rajaraja?“, wollte Sin voller Ungeduld wissen.
„Es ist lange her, seit ich so ein Geldstück zuletzt gesehen habe“, sagte Jarmila. „In Hormus findet man sie manchmal in den Taschen der Gewürzhändler, aber schon in Al-Bahrain sind sie so selten, dass man sie kaum je in die Finger bekommt.“
„Du solltest nicht meiner Frage ausweichen“, sagte Branagorn ruhig, aber sehr bestimmt.
Sie erwiderte ruhig den prüfenden Blick des Mönchs.
„Es ist nicht König Rajaraja, der auf der Münze zu sehen ist und dessen Zeichen man hier eingraviert hat“, sagte Jarmila schließlich. „Auf der Münze ist sein Vater, König Rajendra. Es sind immer noch viele Münzen mit dem Bild des alten Königs im Chola-Reich im Umlauf.“
„Das bedeutet, dass wir im Chola-Reich sind!“, stieß Sindbad der Seefahrer erfreut hervor.
Branagorn nickte. „Ja, das denke ich auch.“
„Dies muss das Elefantenland sein“, meinte Jarmila. „Man erzählt sich eine Geschichte. Der Gott Shiva warf eine Axt empor und wo sie zur Erde kam, teilte ihre Klinge das Land, grub eine Furche hinein und schichtete an deren Rand ein Gebirge auf. Und in dem Gebiet zwischen der Küste und dem Gebirge leben besonders viele Elefanten. Das ist überall bekannt.“
„Dann werden wir ja wohl in absehbarer Zeit die Hauptstadt von König Rajaraja erreichen können“, war Ibn Sina überzeugt und wandte den Blick in Richtung von Sindbad dem Seefahrer. „Oder sollte ich mich da irren?“
„Nein, diese Schlussfolgerung ist naheliegend“, bestätigte der berühmte Seefahrer.
DER MANN IN DER SÄNFTE
Aus einer Hütten wurde nun ein Mann in einer Sänfte herbei getragen. Der Grund dafür, dass der Mann auf der Sänfte nicht auf seinen eigenen Füßen stand, war nach dem ersten Blick offensichtlich. Sie waren eigenartig geformt, an Stellen geknickt, an denen sie hätten gerade sein müssen und wirkten insgesamt verkrüppelt.
„Dieser Mann hatte keinen guten Arzt, nachdem ihm seine Beine gebrochen wurden“, meinte Ibn Sina.
„Vielleicht war das ein wütender Elefant, der ihn so zugerichtet hat“, glaubte Sin.
„Durchaus möglich“, stimmte Ibn Sina zu.
Sin atmete tief durch. „Bei Allah!“
Die Sänfte wurde auf den Boden gesetzt. Dann begann der Mann mit den verkrüppelten Beinen zu sprechen.
Sin achtete auf Jarmilas Gesicht. Aber auf der Stirn des Mädchens bildete sich eine so tiefe Furche, dass kein Zweifel mehr bestehen konnte: Sie verstand auch diesmal nichts.
Anders Branagorn. Er begann sich mit dem Mann auf der Sänfte zu unterhalten. Allerdings fiel auf, dass beide sehr viel redeten und es immer eine ganze Weile brauchte, bis der jeweils andere verstanden hatte.
„Er spricht in der Sprache des Chola-Reichs“, sagte der Mönch schließlich zu den anderen, als eine kurze Unterbrechung entstand, weil sich einer der in der Nähe befindlichen Krieger an den Mann auf der Sänfte wandte und auf ihn einredete.
„Aber – wie kann das sein!“, stieß Jarmila hervor. „Dann müsste ich ihn doch verstehen! Schließlich war das die Sprache, die ich von Kindesbeinen an gelernt habe.“
Sie vermied das Wort Muttersprache!, fiel Sin auf. Wahrscheinlich hatte das damit zu tun, dass Jarmila ohne Eltern aufgewachsen war und sich nicht selbst immer wieder an diesen Schmerz erinnern wollte.
„Es ist eine stark abgewandelte Form der Sprache des Chola-Reichs, die der Mann auf der Sänfte spricht“, stellte Branagorn fest. „Aber einigermaßen verständlich - und davon abgesehen scheint dieser Lahme der einzige hier zu ein, der sich überhaupt mit einem von uns unterhalten kann.“