Zusammenfassung
König Beiran schickt sich an, die benachbarten Reiche zu erobern, doch dies ist für den Schmiedesohn Wybran Zirkena nicht von Bedeutung. Für ihn sind es nur ferne Kriege großer Könige.
Wybran macht sich auf, sein Glück zu finden, doch was ihm auf seiner Reise begegnet, hätte er sich nie träumen lassen.
Werwölfe, Riesen, Sklavenhändler und auch Nixen kreuzen seinen Weg, den möglicherweise jemand anderes für ihn bereitet hat. Wo wird ihn das Schicksal hinbringen? Wird er den Gefahren gewachsen sein, die ihm begegnen? Was will der geheimnisvolle Mann in seinen Träumen von ihm? Wozu entscheidet man sich, wenn einen die Welt vor die Wahl stellt?
Mit Illustrationen von Mara Kreimeier.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Für Mara und meine Eltern
Prolog
Es begab sich aber im Lande Rasurlan, dass der König Hironimura der Zweite verstarb. Sein Sohn, König Beiran der Erste, kam auf den Thron, nachdem seine Brüder bereits alle verstorben waren. König Beiran der Erste hatte nun schon immer einen Streit mit dem Herrn des Königreichs Neeird. Dieser hieß König Nerthur und sie hatten sich stets verabscheut. König Nerthur hatte die Brüder Beirans immer mehr gemocht und war sehr bestürzt gewesen, als diese gestorben waren. Er glaubte nicht daran, dass Beiran ein guter König würde, so munkelte man am Hofe. Oft hatte Nerthur, der ein guter Freund von König Hironimura war, auf ihn eingeredet, dass Beiran eine schlechte Wahl war.
Als nun König Hironimura verstorben war und das große Begräbnis mit allen Ehren abgehalten wurde, begann König Beiran bereits mit seinen Generälen einen Angriff auf das Land König Nerthurs vorzubereiten. Einige von ihnen, die noch im Dienste seines Vaters gestanden hatten, weigerten sich das unschuldige Nachbarkönigreich anzugreifen, doch König Beiran brachte all diese Stimmen zum Schweigen.
Kurz darauf griff das Königreich Neeird das Königreich Beirans an, Togrot. Es heißt, dass Beiran selbst den Angriff befahl, dass er eigene Truppen einsetzte, um ein Grenzdorf zu überfallen und so einen Kriegsgrund schuf. Doch weiß heute niemand mehr, ob es wahr ist oder König Nerthur nur einen Erstschlag verüben wollte. Die Historiker streiten darüber, doch es soll uns nicht interessieren. König Beiran begab sich in den Krieg und zog mit seinen Männern mordend und plündernd durch das Königreich Neeird, so dass sich sein Heer von den umliegenden Dörfern ernährte. Den Bewohnern wurde oft alles genommen. In manchen Dörfern wüteten sie schlimmer als in anderen, vor allem in denen, die über Verteidigungsbefestigungen verfügten und sich stark fühlten. Jene wurden mit Gewalt geplündert, die Jungen wurden hingerichtet und die Frauen geschändet oder in die Sklaverei verkauft.
So kam es, dass eine Frau, Ayuana, von Beiran selbst geschändet wurde. Als er mit ihr fertig war, wehrte sie sich immer noch so sehr, dass er sie heftig schlug. Er hielt sie für tot und ließ sie so liegen, weshalb sie überlebte. Es heißt, sie heiratete einen Schmied, nicht weit von Tolga.
- Das ältere Buch Zirkena
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ALS KÖNIG BEIRANS HEER die Hauptstadt von Neeird erreichte, die stolze Stadt Amung, gab es keine Warnung. Im Schutze der Dämmerung griffen sie die Stadt an. Welle um Welle brandete sein Heer gegen die Mauern der Stadt bei dem Versuch sie einzunehmen. Schließlich vermochten seine Truppen in die Stadt einzufallen und plünderten und brandschatzten fürchterlich. Doch die Feste der Stadt schien uneinnehmbar.
Hier nun widersprechen sich die Aussagen. Einige berichten, König Beiran wurde beim Sturm auf die Feste im Herzen der Stadt von einem Pfeil getroffen. Andere meinen, der Pfeil habe ihn verfehlt, weil er kurz darauf wieder im Kampfgeschehen zu sehen war und fürchterlich unter den Verteidigern wütete. Manche behaupten gar, er habe mit Nidrr, dem finsteren Drachen im Jenseits, eine Abmachung getroffen. Nidrr, der sich an den Seelen labt, habe einen Pakt mit Beiran geschlossen. Deswegen habe Beiran seit damals kein Jahr vergehen lassen, in dem er nicht im Krieg war. Er müsse Nidrr einen steten Strom Seelen liefern, für dessen Gunst.
Beiran heiratete nie und hatte keine Kinder. Man sagt, es sei aus Angst, weil Nidrr, bekannt für seine Verschlagenheit, ihm prophezeite, dass sein eigener Sprössling ihm den Tod bringen würde.
- Die Chroniken der Stadt Amung
Kapitel 1: Aufbruch
Ein Vogel zwitscherte nicht weit entfernt von ihrem Haus. Es war ein sonniger Tag mit leichtem Westwind, als Wybran das Haus betrat.
Wybran blickte auf die breite Gestalt von Albrionan Zirkena. Dessen braunes Haar hatte bereits begonnen grau zu werden und sich von der Stirn zurückzuziehen. Sein Vollbart war ebenfalls silbern durchwirkt, was ihm etwas Weises gab, wie Wybran fand.
„Nun mach die Augen zu“, sagte Albrionan mit seiner freundlichen, sonoren Stimme.
„Wenn es sein muss“, sagte Wybran mit gespielt genervtem Tonfall und schloss die Augen.
Er hörte, wie sein Vater einige Schritte ging, dann ein Knarzen. Wybran vermutete, dass es die alte Holztruhe unter dem Fenster war, aus der er nun das Geschenk holte.
Sein Vater kam zu ihm zurück.
„Streck deine Hände aus“, sagte sein Vater. Wybran tat wie geheißen. Er spürte ein Gewicht in den Händen. Er öffnete seine Augen. Er hielt in Händen ein Schwert, einen Einhänder. Es hatte eine recht breite Klinge mit einer kleinen Aussparung auf der Hälfte. Der Griff war aus einem harten Holz gefertigt und von den kleinen, kaum vorhandenen Parierstangen ging ein Verbindungsstück bis zum Knauf des Schwertes, als Handschutz. Er wog es in den Händen.
„Probiere es ruhig aus, es ist gut ausbalanciert“, sagte sein Vater. Wybran schlug ein paar Mal mit dem Schwert in die Luft und ließ die Klinge kreisen. Sie war wirklich gut ausbalanciert, nein, fast schon perfekt im Vergleich zu den Schwertern, mit denen er bisher trainiert hatte.
„Die gibt es natürlich dazu“, sagte sein Vater und reichte ihm einen schmalen Gürtel aus dunklem Leder, an dem eine Schwertscheide für die Klinge war. Die Scheide war mit sechs Nieten beschlagen, die symmetrisch angeordnet waren. Wybran legte den Gürtel an und steckte die Klinge in die Scheide.
„Danke, Vater“, sagte er und umarmte Albrionan. Sein Vater hatte ihm bisher nie erlaubt, eine eigene Klinge zu haben. Albrionan war Schmied und hatte Wybran gezeigt, wie man Messer und Schwerter fertigte, wie man mit ihnen umging und wie man sich bewaffnet und unbewaffnet gegen sie verteidigte. Doch er hatte immer gesagt, ein Schwert zu besitzen sei etwas für einen Mann, nicht für einen Jungen. Bisher hatte Wybran nur ein Messer besessen.
„Du hast es dir verdient“, sagte Albrionan und Wybran lächelte.
„Das heißt, ab heute bin ich ein Mann?“
„Nun, in deinem Alter schickte mich mein Vater auf Wanderschaft. Ich sollte mich in einer fremden Stadt verdient machen, reisen so fern es mir möglich war und mein Glück machen. Wobei du auch eingeladen bist, jederzeit heimzukommen und mir in der Schmiede zu helfen“, erklärte sein Vater und Wybran fand, dass es aussah, als würde sich sein Vater eine Träne verkneifen.
„Ich werde nach Tolga gehen und von dort meine Reise beginnen“, überlegte Wybran und sein Vater nickte. „Eine weise Entscheidung.“ Er nahm sich noch ein Stück von dem Kuchen, den er Wybran zum Geburtstag vom Dorfbäckermeister hatte backen lassen. Tolga war die nächste große Stadt.
„Dort sollen über zwölftausend Menschen leben, jene, die nur im Hafen hausen ohne rechtes Dach, nicht mitgezählt“, sagte Wybran. „Dort werde ich sicher Arbeit finden.“
„Die Stadt fasziniert dich doch, seit wir das erste Mal dort waren“, stellte sein Vater fest und Wybran nickte. „Ja, sie hat Eindruck auf mich gemacht. So groß, so voller Leben.“
„So dreckig“, fügte sein Vater lächelnd hinzu. Wybran nickte und musste schmunzeln. Er erinnerte sich daran, wie schmutzig die Seitenstraßen gewesen waren, abseits der gepflasterten Hauptstraßen.
„Ich will hoffen, dass meine Stiefel noch dicht sind“, sagte er und tätschelte seine dunkelbraunen Stiefel, die er zu seiner abgewetzten Hose und dem schwarzen Hemd trug.
So saßen sie da und redeten über allerlei Dinge, bis die Sonne bereits versank.
Wybran hatte bereits während des Redens seinen Rucksack gepackt und seinen alten Mantel darüber geworfen, der so oft geflickt worden war, dass es schien, dass er mehr aus vielen kleinen Lederflicken bestand.
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ES WAR NACHT UM WYBRAN, er stand auf dem Wehrgang einer Festung, die im Dunkeln dalag und unbewohnt wirkte. Kein Feuer brannte, kein Mensch, kein Tier war zu sehen.
Er kannte diese Träume. Sie waren anders als seine normalen Träume. Sie waren beängstigender. Realer. Er wusste, wer nun kommen würde.
„Guten Abend, mein junger Mann“, sagte eine schmeichelnde Stimme aus dem Dunkeln neben Wybran. Etwas Spöttisches schwang bei der Betonung des Wortes „Mann“ mit. Die Stimme war rau und tief, doch gleichzeitig beruhigend in ihrer Vibration. Sie war körperlos im Dunkel.
„Nidrr, was willst du diesmal, lass mich schlafen“, erwiderte Wybran. Er hatte den Fremden, der in seine Träume eindrang, nach dem Drachen der Unterwelt benannt. Dieser war bekannt für seine Verschlagenheit. Es hieß, dass Nidrr verantwortlich für alle Albträume war. Als Wybran das allererste Mal solch einen Traum gehabt hatte, war ihm der Fremde als Drache erschienen. Er hatte sich nie gegen den Namen Nidrr gewehrt, noch etwas dagegen gesagt, weshalb Wybran ihn weiter benutzte. Er wusste nicht, ob es der wirkliche Nidrr war, doch wieso sollte ein so mächtiges Wesen immer wieder ihn im Traum besuchen? Vielleicht war es ja auch nur Einbildung? Einfach ein Traum.
„Ich bin hier, um dich zu fragen, ob du es wirklich tun willst.“
„Was?“, erwiderte Wybran. Er ahnte, dass der Fremde wieder in seinen Gedanken gewesen war. Er wusste manchmal Dinge einfach. Anfangs hatte Wybran dies Sorgen bereitet, doch er hatte gelernt, dass der Fremde nicht seine Gedanken lesen konnte. Das hatte ihn beruhigt.
„Die Reise. Du hoffst, deine Mutter zu finden, vielleicht ein oder zwei Abenteuer zu bestehen. Du bist hungrig. Hungrig auf die Welt dort draußen. Hungrig auf alles, was fremd ist in der Welt, was nicht bekannt dem kleinen Schmiedesohn.“
„Du sprichst aus, weshalb ich gehen will“, stellte Wybran fest.
„Du könntest dabei auf mannigfaltige Weise sterben, junger Mann“, erklärte die Stimme. Die Dunkelheit schien an einer Stelle in Bewegung zu geraten wie tausende kleine Insekten.
Eine bleiche, hochgewachsene Gestalt, die nur eine lange, mönchsartige Kutte trug, bildete sich aus den Teilen heraus. Der Körper war dünn, so als hätte man nur Haut über die Knochen gespannt. Ein kahler Schädel mit tiefliegenden Augen ohne Pupille, voller tiefer Schwärze, wandte sich Wybran zu.
„Ich will dich warnen“, stellte die Gestalt fest. Ihr Mund bewegte sich dabei kaum, er öffnete sich leicht und die Stimme klang diesmal doppelt, sie schien von überall zu kommen und doch auch von dem Mann geflüstert zu werden.
„Was bist du?“, fragte Wybran. Er fragte es nicht zum ersten Mal, doch konnte er sich oft nicht vollständig an diese Träume erinnern. Er wusste nicht, ob ihm Nidrr schon einmal geantwortet hatte.
„Bist du ein Magier?“
„Was lässt dich denken, dass ich etwas dir Fremdes bin?“, erwiderte Nidrr und grinste höhnisch.
Wybran überlegte, ob Nidrr das Böse war, das in jedem Menschen lebte, so wie ihm einmal sein Vater erklärt hatte. Man müsse sich gegen die Stimme des Bösen, gegen seine Ideen wehren und nicht tun, was es wollte, sonst beherrsche es einen.
„Bist du das Böse?“, fragte Wybran nach einer Weile völliger Stille.
„Was des einen böseste Tat, ist des anderen glanzvolle Stunde“, erwiderte Nidrr. „Ist ein Soldat böse, der seinen Feind tötet? Ist er böser, als ein Mann, der einen anderen aus Hass erschlägt?“
„Der Zusammenhang ist wichtig, in welchem sie geschah, ebenso wie die Tat salbst“, erwiderte Wybran. Er wusste es nicht, doch hatte er die Unterhaltung schon oft mit Nidrr im Traum geführt.
„Bist du das Böse in mir?“
Nidrr lachte laut und hämisch. Er löste sich auf, die vielen kleinen schwarzen Teilchen, in die er zerstob, bildeten eine große Echse, die sich auf Wybran stürzte!
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WYBRAN SCHRAK AUS SEINEM Traum auf und blickte in sein dunkles Zimmer, das nur beleuchtet wurde vom fahlen Mondlicht. Er schüttelte den Kopf und beruhigte seine Atmung. Dann legte er sich zurück in die Kissen und fiel in traumlosen Schlaf.
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AM NÄCHSTEN MORGEN warf sich Wybran seinen Mantel nach dem Frühstück über und schickte sich an, das Haus zu verlassen. Sein Vater begleitete ihn bis draußen vor die Tür. Der Bach neben ihrem Haus plätscherte und das Rad, das in ihn hineinragte, knarzte, während es von ihm angetrieben wurde.
„Danke“, sagte Wybran schließlich nach einem langen Schweigen zwischen ihnen. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und seinem Vater schien es ähnlich zu gehen. „Ich komme wieder, Vater“, versprach er. Albrionan lächelte.
„Ayuana wäre stolz auf dich“, sagte er und musterte seinen Sohn. „Ich wünschte, du hättest deine Mutter noch richtig kennengelernt.“
Wybrans Mutter, Ayuana, war verstorben, wenige Monate nach seiner Geburt. Sein Vater redete nicht oft von dieser Zeit.
„Mach uns stolz. Aber denk immer daran, dass du dich nicht übernimmst“, sagte sein Vater. Wybran nickte und kämpfte gegen eine Träne an. Er blinzelte sie weg. Er wollte nicht weinen, er war nun neunzehn Winter alt. Er wollte erwachsen wirken.
Er umarmte seinen Vater und ging los, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack mit seinem Hab und Gut, an seiner Seite das Schwert. In der Rechten hielt er einen Stock, der fast genauso groß war wie er. Er begann ein Lied zu pfeifen und war gespannt darauf, was auf ihn wartete.
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GEGEN MITTAG ERREICHTE er Tolga, die große Hafenstadt am Horag und Knotenpunkt der meisten Handelsrouten nach Togrot hinein oder hinaus.
Der Horag war so etwas wie eine Lebensader für den Handel, die meisten Waren wurden über ihn verschifft.
Tolga selbst wirkte bereits beeindruckend, als Wybran den Wald verließ. Vor ihm erstreckten sich eine weite Wiese und das Ufer des Horag. Tolga selbst wurde von mehr als dreimannhohen Stadtmauern umgeben und war eher länger als breit. Die Stadt schmiegte sich an den Horag, der für sie den stetigen Fluss an Waren bedeutete. Die meisten Gebäude waren Fachwerkhäuser, an denen Wybran vorbeikam, als er die Hauptstraße entlangging. Sie führte vom Haupttor der Stadt, das hier meist „großes Tor“ genannt wurde, gerade zum Hafen herunter. Immer wieder zweigten kleinere und größere Gassen von der Hauptstraße ab. Der Reichtum der Stadt zeigte sich für Wybran auch darin, dass jede Nebenstraße und Gasse gepflastert war. Manche zwar nur mit den Schieferplatten der nahen Hisos-Bergkette, aber trotzdem mehr als nur plattgetretene Erde.
Er erreichte den Hafen. Über die gesamte Länge der Stadt schien sich der Hafen zu ziehen, überall ragten Stege, gemauert und aus Holz, ins Wasser, an denen Schiffe aller Arten an- und ablegten. Kriegsschiffe, Fischerboote, kleine Segelschiffe und große, schwere, bauchige Transportschiffe.
„Wenn du anheuern willst, da versammeln sie sich immer“, erklärte ein Mann mit starkem Sonnenbrand, der an Wybran vorbeiging.
„Wie bitte?“, erwiderte Wybran, doch der Fremde war schon weiter. Wybran vermutete, dass er durch seine neugierigen Blicke als ein Fremder aufgefallen war. Da er tatsächlich Arbeit suchte, schlenderte er hinab zu einer größeren Gruppe Menschen. Alle Altersklassen waren vertreten, sie saßen beisammen und spielten Karten und Würfelspiele, manche um Geld, andere um das, was sie am Leib trugen.
„Ich suche Söldner und solche, die sich in einer Miliz verdienen wollen“, erklärte ein untersetzter Mann mit kahlem Schädel und einer dunklen ledernen Haut, der zu der Gruppe getreten war. Er wurde flankiert von einem hochgewachsenen Mann mit braunem, fettig-strähnigem Haar, der einen Mantel ohne Ärmel zu einer braunen Hose trug. Seine Haut war etwas heller als die des kleinen dicken Mannes, doch immer noch dunkler als die Wybrans. Er hatte ein schmales Kadvanisches Schwert umgegürtet, wie auch der kleine Dicke. Die Schwerter aus Kadva waren lang wie Einhänder, hatten aber längere Griffe, so dass man sie ein- und beidhändig führen konnte. Außerdem waren ihre Klingen geschwungen und an mehreren Stellen perforiert, wodurch sie leichter waren.
„Wie wär‘s mit dir, Bursche?“, fragte der kleine Dicke und rückte sich den breiten Gürtel zurecht, mit dem er seine Kutte zusammenhielt. „Ihr habt sicher davon gehört, das glorreiche Königreich Kadva wurde von Togrot in der Schlacht bei Entakan besiegt. Leider ist dabei ein erheblicher Teil der Armee draufgegangen, nun brauchen wir frische Männer, die mit dem Schwert die öffentliche Ordnung aufrechterhalten. Wer ist dabei?“
Einige Männer standen auf und gesellten sich zu den beiden Männern. Einige zögerten, genau wie Wybran.
„Nun ziert euch nicht, ihr feigen Weiber“, sagte der kleine Dicke. „Ihr verdient euch die Überfahrt, indem ihr auf dem Schiff helft und das Deck schrubbt. Wer mitgenommen wird, wird in Kadva-Stadt gemustert. Wer nicht genommen wird, kann sich gerne die Überfahrt zurück wieder verdienen. Oder er macht was draus, dass er im großartigen Ken‘Kassad ist und findet schnell eine andere Tätigkeit.“
Den Begriff Ken‘Kassad hatte Wybran schon einmal gehört. Es hieß „Reich der Sonne“, denn das Königreich Kadva galt als sehr trockene und heiße Region.
Wybran stellte sich nun ebenfalls dazu. Es erschien ihm eine interessante Gelegenheit.
Der Lange schien sie kurz zu zählen und nickte dann dem Dicken zu. Er schien zufrieden zu sein.
„Folgt uns“, erklärte dieser und ging mit kleinen Schritten voraus. Wybran sah kurz noch einmal in die Augen des Langen und es schauderte ihm innerlich vor ihm. Der Lange musterte, während sie gingen, die Umgebung und in seinen Augen lag eine berechnende Kälte. Es war ein seltsamer harter Zug um seine Augen, der im Kontrast stand zu den gutmütigen braunen Augen des Dicken.
Sie wurden zu einem Schiff geführt, das an einem der hölzernen Stege anlag. Wybran vermutete, dass es ein mittleres Transportschiff war, denn obwohl es einen recht großen Laderaum besitzen musste, wirkte es dabei noch schnittig genug, um im Notfall bei einem Angriff gut manövrierbar zu sein.
„Ihr“, sagte der Dicke. „Ich bin Kapitän Hirowaz und das ist mein Erster Maat Rozza, ihr werdet uns entweder so anreden oder mit ‚Herr‘. Die erste Schicht von euch wird jetzt das Deck der schönen ‚Irene‘ schrubben und sonst alles tun, was von der Deckmannschaft befohlen wird. Die zweite Hälfte geht unter Deck und ruht sich bis zum Wachwechsel aus.“
Wybran wurde für die zweite Schicht eingeteilt und mit den anderen unter Deck geschickt. Dort saßen sie in einem großen Raum, der ansonsten der Fracht diente, und warteten. Die meisten waren viel zu aufgeregt, um sich auszuruhen, und auch Wybran war nervös. Ihm fielen seltsame Geschichten von den Sklavenhändlern aus Kadva, dem „Ken‘Kassad“, ein. Doch er vertrieb diese Gedanken. Man hätte sie entwaffnet, wenn man sie für so etwas in eine Falle hätte locken wollen. Oder? Unter einem Vorwand hätte man sie ganz sicher entwaffnet. Er blickte sich im Raum um, mindestens ein halbes Dutzend der Anwesenden trug ein Schwert, ein weiteres Dutzend hatte Messer oder Beile bei sich. Viele der Älteren im Laderaum wirkten entspannter als die Jüngeren. Sie saßen selbstsicher da. Wybran vermutete, dass einige sich bereits auf ähnliche Weise ihr Geld im Dienste eines Reiches verdient hatten. Sie waren ruhig, was Wybran als gutes Zeichen wertete. Es schien alles in Ordnung zu sein.
Er war sicher, zumindest vorerst, beruhigte sich Wybran selbst.
Kapitel 2: Der Radaman
Sterne beleuchteten das Deck, als Wybran zum ersten Mal aus dem Frachtraum zu seiner Schicht geholt wurde. Zu beiden Seiten des Flusses erstreckte sich ein dichter Wald.
„Wo sind wir?“, fragte Wybran einen der dunkelhäutigen Männer, die mit ihm zusammen Dienst hatten und zur regulären Mannschaft gehörten.
Dieser reichte Wybran ein Tau und sagte lediglich: „Zieh, wenn ich es sage.“ Er selbst ging zu einem anderen Tau und rief: „Zieh!“ Wybran zog, der Fremde löste ein anderes Tau und spannte ein weiteres neu, da Wybran mit dem Ziehen seines Taus von einem anderen die Spannung genommen hatte. Alle Taue waren über Umwege mit dem Mast und dem Segel verbunden.
„Wir sind auf dem Radaman“, erklärte der dunkelhäutige Mann unvermittelt, als er fertig war. „Lass los.“ Wybran tat wie geheißen.
Der Radaman war ein Nebenfluss des Horag, der ein ganzes Stück von Tolga entfernt von ihm abzweigte.
„Ist der schnellste Weg“, fügte der Dunkelhäutige hinzu.
„Wieso sind so viele Bewaffnete an Deck?“, fragte Wybran etwas später, als er dem Dunkelhäutigen half, eine Kiste zu tragen. Es standen sicherlich vier dunkelhäutige Männer mit Pfeil und Bogen an Deck, die nichts anderes taten als Wache zu schieben. Dazu kam, dass zwei Männer im Krähennest saßen und ein weiterer vorne am Bug saß, ebenfalls mit Bogen.
„Piraten“, erwiderte der Dunkelhäutige. „Dafür seid ihr ja da.“
„Wie?“
„Kadva fehlen die Mittel, um gegen die Piraten auf dem Fluss vorzugehen und die Städte zu sichern, deswegen werdet ihr so dringend gebraucht.“
Wybran nickte abwesend. Er vermutete, dass Kapitän Hirowaz und seine Männer eine Provision dafür bekamen, dass sie mögliche Rekruten von überallher brachten.
„Seid ihr schon einmal überfallen worden?“, fragte Wybran nach einer Weile, als seine Arbeit erledigt war und er sich neben den dunkelhäutigen Mann setzte. Dieser schüttelte den Kopf. „Die Irene wurde noch nie im Kampf eingesetzt, aber Hirowaz hat früher in der Marine von Kadva gedient, so sagt man.“
„Wie lange dienst du schon hier unter ihm?“, fragte Wybran. Er blickte den dunklen Mann an und dieser erwiderte den Blick. Er rollte genervt mit den Augen.
„Lass die Fragerei, Jodash“, knurrte er und schloss seine Augen. „Ich hab eine zu lange Schicht und du freu dich einfach still, dass du nichts zu tun hast. Von mir aus bete zu wem auch immer, dass es so bleibt, aber halte deine Lippen dabei verschlossen.“
Wybran nickte und schwieg. „Jodash“ hatte er schon einmal in Tolga gehört, als er mit seinem Vater in der Stadt auf dem Markt gewesen war. Es war ein Wort aus einer Sprache Kadvas und bedeutete Fuchs, wurde aber oft von Menschen von dort benutzt, um auszudrücken, dass jemand neugierig war, zu neugierig.
Der Mond schien hell am Himmel und beleuchtete die klare Nacht. Es war noch eine ganze Weile hin bis zum Winter und der Wind war angenehm kühl auf Wybrans Gesicht im Vergleich zur Wärme des Tages.
Wybran sah hinauf zu den Sternen. Es hieß, dass der Eine Gott, dessen Namen man nicht aussprechen durfte, sie an den Himmel gesetzt habe und sie sein größtes Kunstwerk sein sollten. Während Wybran sich die Sterne ansah, befand er, dass der Eine Gott ein gutes Werk damit getan hatte.
Sein Vater hatte ihm vom Einen Gott erzählt, der Glaube an ihn verbreitete sich seit einigen Jahren rasch von den Ländereien Kadvas aus über das ganze Land. Niemand kannte seinen wahren Namen, doch es hieß, er sei mächtiger als alle anderen Götter. Er sei der Schöpfer des Himmels und der Erde und habe sich den Menschen, seiner Schöpfung, offenbart, um sie den rechten Weg zu lehren. Wybran hatte nicht allzu gut zugehört, doch er erinnerte sich, dass die Anhänger des Einen Gottes davon sprachen, dass Respekt und Aufrichtigkeit zueinander als oberstes Gebot galten.
Wybran vermutete, dass im Königreich Togrot bei König Beiran die Religion kaum Fuß fassen würde, respektvolles Behandeln aller schien ihm zu unvereinbar mit der Kriegstreiberei, die dieser Mann veranstaltete. Die Geschichten über König Beirans Schlachten und Feldzüge waren legendär. Es hieß, dass kein König vor ihm so lange Zeit mehr Krieger in seinem Reich gehabt habe als Bauern und Handwerker.
Langsam döste Wybran ein.
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WYBRAN STAND AUF EINER Lichtung. Er blickte sich um. Irgendetwas stimmte nicht. Er wusste nicht was, doch es war falsch. Der Boden unter seinen Stiefeln fühlte sich an wie Boden, der Wind in seinem Gesicht fühlte sich an wie Wind sich anfühlen musste, doch etwas war nicht richtig. Dann begriff Wybran, was es war. Es war still. Vollkommen still. Der Wald machte kein einziges Geräusch, kein Tier, kein Insekt, kein Rascheln. Alles hielt den Atem an, so schien es. Dann rannte eine Kreatur auf die Lichtung. Sie war gigantisch. Als sie sich vor ihm aufrichtete und zum Himmel schrie, war sie mehr als drei volle Schritte hoch. Sie war bedeckt mit dichtem Pelz, die Schnauze erinnerte an einen Wolf, auch die Tatzen an den Füßen. Doch die Hände hatten eher Finger, sie wirkte wie eine widernatürliche Mischung eines Wolfes mit einem Menschen.
Wybran griff an seine Seite, wo er sein Schwert vorzufinden erwartete, doch es war nicht da! Er wirbelte herum und rannte. Er hörte das Brüllen der Kreatur. Folgte sie ihm?
Er war sich nicht sicher, weshalb er weiterrannte, immer noch das Bild der großen Reißzähne der Kreatur vor Augen.
„Wybran“, hörte er eine Stimme. Nidrr, der hagere Mann, stand nicht weit von ihm im Wald und betrachtete ihn. Wybran wurde langsamer, als er sich ihm näherte. Der Hagere grinste süffisant.
„Du bist also den Gefahren der Welt begegnet“, stellte dieser fest. Wybran schüttelte den Kopf. „Wenn du hier bist, ist das ein Traum“, erwiderte er.
„Das heißt, dir kann nichts geschehen?“, versicherte sich Nidrr. Wybran zögerte. Konnte ihm etwas geschehen? Die Träume mit Nidrr waren anderes. Sie waren anders als alle Träume, die er sonst hatte.
„Ja, mir kann hier nichts geschehen“, stellte Wybran fest. Nidrr grinste böse und warf ihm sein Schwert zu, das er aus der Falte seiner Kutte zog. Wybran fing es am Heft auf. Dann zog Nidrr ein zweites Schwert, nicht länger als der Arm eines erwachsenen Mannes und leicht gebogen.
Er schlug damit nach Wybran, der den Schlag blockte.
„Wieso blockst du, wenn es ein Traum ist?“, fragte Nidrr.
Wybran erwiderte nichts, da er einen weiteren Schlag Nidrrs abblocken musste.
„Wieso verlässt du dein behagliches Nest?“, fragte Nidrr und erhöhte das Tempo seiner Schläge. Wybran hatte Mühe sie zu blocken, doch bald erkannte er Nidrrs Schlagmuster und schaffte es zu kontern. Er griff mit der Hand nach Nidrrs Hand, die eisig kalt war, und drückte so seine Klinge zur Seite, während er selbst mit seiner Klinge Nidrr in die Schulter stach. Dieser verzog keine Miene.
„Weil ich unvollständig bin“, stellte Wybran fest. „Ich bin neugierig auf die Welt, ich will mir ansehen, was sie zu bieten hat, und abwägen.“
„Und wenn du falsch wägst? Ein Leben nimmst, das du nicht nehmen solltest? Ein vermeintlicher Dieb, der doch auch ein Vater sein kann, der sich um seine Kinder sorgt?“, fragte Nidrr und griff Wybran erneut mit seinem Schwert an.
Nidrr schien die Wunde gar nicht zu spüren. Wybran bemerkte, dass sie nicht blutete.
„Doch trifft er seine Entscheidung, wenn er ein Dieb ist“, erwiderte Wybran und schlug horizontal fest nach Nidrr, der nach hinten mit einer Schnelligkeit auswich, die man dem knochigen Mann nicht zutraute.
„Wenn er gezwungen ist, ein Dieb zu sein? Er könnte keine Wahl haben, für seine Kinder stiehlt er, bis es ihnen besser geht“, sagte Nidrr. Er nutzte die Tatsache, dass Wybran nachdachte, um ihm einen Schnitt an der Wange zu versetzen. Er war nicht tief, aber tief genug, dass er blutete. Und es schmerzte wie ein echter Schnitt.
„Er ... es gibt immer eine Wahl, nur weil die Not es verlangt, wird ein Unrecht nicht recht“, stellte Wybran trotzig fest. „Was bezweckst du mit alledem?“
Die letzten Worte brüllte er, während er wütend nach Nidrr schlug. Dieser blockte und Wybran schmerzte der Arm, er hatte das Gefühl, nicht gegen eine andere Klinge geschlagen zu haben, sondern gegen Fels.
„Du bist eine Klinge, die es zu schleifen gilt“, erklärte Nidrr und lachte.
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„WACH AUF, JODASH“, zischte der schwarze Mann, während er Wybran hart an der Schulter riss. „Wach auf!“
Wybran öffnete die Augen. Er war eingeschlafen, auf einem Bündel zusammengerollter Taue liegend. Er schüttelte den Kopf, um die seltsamen Bilder zu verdrängen. Dunkel erinnerte er sich an einen Wald, doch sein Traum war verflogen, sobald er versuchte, sich an ihn zu erinnern.
„Was ist?“
„Alle Männer an Deck müssen wach sein, es nähert sich uns ein Schiff. Wir können die Flagge im Dunkeln nicht erkennen, sie scheint schwarz zu sein“, erklärte der schwarze Mann.
Wybran blickte ihn fragend an. „Und?“
„Nur Piraten fahren mit schwarzer Flagge“, erklärte er. „Sie kommen schnell näher, sie fahren gegen den Wind, aber mit der Strömung, wir haben Rückenwind.“
„Deswegen können wir nicht einfach umdrehen und fliehen“, stellte Wybran fest. Der schwarze Mann nickte. „Genau.“
Wybran sah, dass einige Männer mehr an Deck standen und Bögen in den Händen hielten. Sie trugen Köcher mit Pfeilen und hatten ein Fass in die Mitte des Schiffes gestellt, in dem Pfeile waren. Zwei andere schleppten gerade ein Fass an Deck, aus dem Speere wurfbereit herausragten.
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DAS FREMDE SCHIFF NÄHERTE sich schnell und bald wurde darauf eine Feuerschale entzündet.
„Ergebt euch, wir wollen eure Ladung, nicht eure Leben“, rief jemand vom anderen Schiff herüber und wiederholte den Ruf dann in der knurrenden Sprache, die man in Kadva sprach.
„Wenn der wüsste, was wir geladen haben“, brummte Kapitän Hirowaz zu seinem ersten Maat, der nickte.
„Alle Männer an Deck, an die Waffen“, befahl nun Kapitän Hirowaz. „Ich will jeden mit einer Waffe ausgerüstet haben. Die Löschmannschaft weiß, was zu tun ist.“
Die Löschmannschaft waren einige derer, die mit Wybran zusammen angeheuert worden waren und nun fleißig Wassereimer mit einem Seil in den Fluss hinabließen und an Deck zogen. Dort reihten sie die Eimer auf, damit die Männer im Falle eines Brandes schnell reagieren konnten.
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DAS FREMDE SCHIFF KAM näher und ein gutes Dutzend brennender Pfeile flog zu ihnen hinüber.
Einige schlugen an Deck ein und blieben stecken, manche nahe genug an der Takelage, um die Seile in Brand zu setzen. Einer durchschlug das Segel und zündete es an, es brannte sofort und ein brennendes Loch entstand. Ein Mann in der Nähe Wybrans wurde getroffen und war sofort tot, der Pfeil ragte ihm aus dem Hals.
Mehrere kleine Feuer breiteten sich nun von den Pfeilen an Deck aus.
Sie waren in einem Öl getränkt worden, das Wybran kannte. Es kam aus dem Königreich Kadva und wurde oft für Lampen benutzt, es brannte lange und hell. Vor allem war es schwer zu löschen, wie sich herausstellte, als Wybran sah, wie die Löschmannschaft sich abmühte das brennende Segel zu löschen.
„Feuert“, rief der Kapitän, als die Irene etwas näher am fremden Schiff war, und auch Wybran schnappte sich einen Speer und warf. Pfeile und Speere flogen hinüber auf das Deck des Piratenschiffes, das weniger als zwei Dutzend Schritte weg war. Mehrere Männer wurden getroffen. Schreie waren zu hören. Wybran selbst verschanzte sich mit einigen Bogenschützen hinter Kisten, die sie an Deck der Irene gebracht hatten. Es war ihr Proviant, denn da sie unterwegs waren, um Männer nach Kadva zu bringen, hatten sie viel Proviant geladen.
Die Piraten warfen Seile mit metallenen Widerhaken hinüber, die sich überall festhakten, und zogen die Schiffe aneinander. Wybran schaffte es, einige dieser Seile zu durchtrennen, als sich zwei Enterhaken dicht neben ihm in der Reling festklemmten. Aber es waren zu viele und an einige Seile kam man nicht heran, ohne im Pfeilhagel zu sterben.
Pfeile flogen von Deck zu Deck, bis die gegnerische Seite zwei Planken an Deck holte und sie zwischen der Reling des Piratenschiffes und der Irene befestigte. Nun stürmten sie herüber. Es war eine bunte Mischung von Männern, viele von ihnen hatten die typische Hautfarbe der Menschen Kadvas, aber auch viele mit heller Haut waren darunter.
Ein großer schwarzer Mann stürmte auf Wybran zu und hieb mit einem langen Säbel nach ihm. Wybran wich dem vertikalen Hieb aus und stach nach dem Mann. Er schaffte es, ihn am Oberschenkel zu verletzen, was diesen aber nicht sonderlich behinderte, sondern ihn nur wütend zu machen schien. Er brüllte laut und hieb mehrmals horizontal nach Wybran. Dieser wich aus und blockte einen Schlag. Seine Hände schmerzten von der Wucht des abgefangenen Schlages und er verlor beim Blocken eines zweiten Schlages das Gleichgewicht, so dass er zur Seite fiel. Auf dem Rücken liegend musste er einen vertikalen Hieb des Angreifers abfangen. Dieser schlug erneut zu und wieder schaffte Wybran es, den Schlag abzublocken, wobei er die Zähne so fest aufeinander presste, dass sie schmerzten.
Als der Angreifer erneut ausholte, rollte sich Wybran zur Seite und stach zu. Seine Klinge drang bis zur Hälfte in den Bauch des Fremden ein. Mit einem beherzten Tritt gegen den Oberkörper des Mannes löste Wybran seine Klinge. Entsetzt sah er auf das Blut an seinem Schwert und begriff, dass er das erste Mal getötet hatte. Kein Tier. Einen Menschen.
Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, griff ihn ein weiter Pirat an. Mit einem sehr langstieligen Beil hieb er horizontal nach Wybran. Dieser wich einen Schritt nach hinten aus und anschließend einen zur Seite, als der Fremde erneut zuschlug.
Ein weiterer Hieb folgte, den Wybran blockte. Axtstiel und Klinge schlugen aufeinander. Der Pirat grinste und veränderte den Winkel der Axt, so dass die Klinge Wybrans sich verkeilte. Er riss sie Wybran aus der Hand. Das Schwert fiel klappernd ein paar Schritte weiter zu Boden.
Wybran griff sich eine Lampe, die in seiner Nähe stand, und schleuderte sie mit aller Kraft auf den Angreifer. Diesem schlug sie gegen seine linke Hand, die er nutzte, um sich zu schützen. Die Lampe zersprang und helles Lampenöl floss über seinen Arm. Der Pirat grinste und Wybran sah sich fieberhaft suchend nach einer neuen Waffe um. Er fand keine und musste sich unter einem Axthieb wegducken. Er sprang zur Seite und schnappte sich sein Schwert zurück. Als er gerade im Aufstehen begriffen war und sein Schwert hob, um sich zu verteidigen, knallte die stumpfe Seite der Axt gegen seinen Kopf.
Der Pirat hatte sich im Winkel verschätzt, so dass Wybran nur die Seite abbekam.
Sterne tanzten vor Wybrans Augen und er spürte, wie seine Beine nachgaben. Der Pirat schlug erneut zu, doch verfehlte er Wybran um Haaresbreite, als dieser nach hinten über die Reling fiel. Er konnte den Lufthauch des Beils spüren.
Dann schlug er mit dem Rücken hart auf der Wasseroberfläche auf und tauchte in den Fluss ein.
Die kalten Fluten schlugen über ihm zusammen. Er versuchte mit einigen Zügen an die Wasseroberfläche zu kommen. Sein Mantel wirkte wie ein schweres Gewicht und behinderte ihn bei jeder Bewegung. Mehrere Pfeile schlugen über ihm in die Wasseroberfläche ein und glitten langsam an ihm vorbei, gebremst durch das Wasser.
An den Rändern seines Blickfeldes war es dunkel und die dröhnenden Kopfschmerzen wurden schlimmer.
So sank er in die Finsternis.
Bevor er das Bewusstsein verlor, hatte er das Gefühl, dass ihn etwas am Bein packte.
Eine Hand.
Kapitel 3: Malusine
Warmes Sonnenlicht schien auf sein Gesicht.
Ein angenehmer Wind wehte ihm um die Nase, als Wybran Zirkena die Augen öffnete. Er lag an einem kleinen flachen Sandstrand. Es war vermutlich eine der vielen geschützten Buchten, die es entlang das Radaman geben sollte. Neben sich steckte sein Schwert bis zur Hälfte im Sand.
Wybran erhob sich langsam und berührte seine Schläfe, wo ihn die Axt getroffen hatte. Er verzog das Gesicht vor Schmerzen. Er blickte in das Wasser vor sich, das seine Stiefel umspülte, und sah sein Spiegelbild. Seine linke Schläfe war dunkelblau verfärbt, aber ansonsten schien ihm nichts zu fehlen. Plötzlich fiel ihm auf, dass ihm sein Mantel fehlte.
„Du bist wach“, sagte eine melodische Frauenstimme leise, aber klar und deutlich hörbar.
Eine Frau saß einige Meter von ihm entfernt, mit nichts weiter bekleidet als mit seinem Mantel, wie es schien. Ihr langes schwarzes Haar fiel ihr bis über die Schultern, als sie ihn verschmitzt lächelnd mit ihren seltsamen Augen musterte. Die Augen waren grün mit kleinen roten Sprenkeln.
Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte ihn belustigt. Wybran senkte schamvoll den Blick und drehte sich um.
„Bist du meine Retterin?“, fragte er. Ihm war klar, dass er nicht von alleine hergetrieben worden sein konnte.
„Ja, das bin ich“, sagte sie.
„Wie, wenn ich fragen darf? Ich war recht tief im Wasser und wir wurden angegriffen, nirgendwo war ein Dorf zu sehen am Ufer, wie hast du mich gerettet? Wo sind wir?“
„In den Ashoriar-Wäldern, am Radaman gelegen. Es ist eine kleine Bucht, niemand außer mir kommt hierher. Hier habe ich meine Ruhe“, sagte sie. Sie klang belustigt, als sie weitersprach: „Wie ich, ein schwaches kleines Mädchen, dich aus dem Wasser fischen konnte, willst du wissen?“, fragte sie und er nickte. „Ja“, fügte er hinzu. Er hörte, wie sie hinter ihm zum Ufer ging und seinen Mantel ablegte. Dann sprang sie einen großen Satz und tauchte im Wasser unter.
„Ich bin eine Nixe“, erklärte sie, als sie auftauchte und sich mit beiden Händen die langen Haare aus dem Gesicht nach hinten strich.
„Was?“ Wybran drehte sich zu ihr. Er ging den Strand entlang und sammelte seinen Mantel ein, nachdem er im Vorbeigehen seine Klinge aus dem Boden gezogen und eingesteckt hatte.
„Der Name, den sich mein Volk selbst gibt, wird dir nichts sagen. Deinesgleichen nennt mich eine Nixe“, sagte sie und lachte melodisch. „Sieh her“, sagte sie und tauchte ein. Sie schwamm ein Stück hin und her, nicht allzu weit vom Ufer entfernt. Wybrans Augen weiteten sich, als er sah, dass sie kurz unter dem Bauchnabel keine Haut mehr hatte. Dort begann ein dichtes Schuppenkleid, statt Beinen hatte sie einen kräftigen Fischschwanz, der sich im Wasser hin- und herbewegte.
„Ich habe Geschichten gehört, dort wo ich herkomme, nennt man euch Wassermenschen“, erwiderte Wybran. Sie schwamm auf der Stelle und legte den Kopf schief.
„Wie passend“, sagte sie und lachte. „Der Name, den wir euch gegeben haben, heißt in eurer Sprache so viel wie ‚Landmenschen‘, musst du wissen“, erklärte sie.
„Aber es heißt, dass die Wassermenschen sterben, wenn sie an Land gehen. Es gibt ein Märchen von einer, die durch eine Hexe verwandelt wurde und deswegen Beine bekam. Bist du die, von der das Märchen erzählt?“, fragte Wybran.
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich kann laufen“, sagte sie. „Du hast meine Beine gesehen. Wenn ich das Wasser verlasse, bekomme ich Beine. Doch wir Nixen sterben, wenn wir ein paar Stunden außerhalb des Wassers sind. Ihr sollt einst wie wir gewesen sein. Angeblich wurde deine Art verflucht, so dass sie nur noch an Land leben kann.“
„Wie ist dein Name?“, fragte Wybran. „Ich bin Wybran Zirkena.“
Sie machte einen seltsamen Laut, zischend und flüsternd, fast wie eine kleine Melodie. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nenn mich Malusine, denn meinen Namen wirst du nie aussprechen können, Wybran.“
„Wie kann ich dir danken für meine Rettung, Malusine? Ohne dich wäre ich jetzt tot.“
„Zweifellos. Du bist gesunken, als hättest du versucht einen Stein zu imitieren“, stimmte sie ihm zu und lachte wieder ihr melodisches Lachen. Es lag kein Spott in diesem Lachen, nur Freude. „Du kannst tatsächlich etwas für mich tun. Mir wurde etwas gestohlen.“
„Gestohlen?“
„Ich lag eines Nachts an einem Strand, näher zu dem Berg dort“, sie deutete auf einen Berg, der aus dem Dickicht des Waldes herausragte und weithin sichtbar war. „Dort lag ich im feinen Sand und spielte an meiner silbernen Kette herum, die mir einst mein Liebster schenkte. Es ist eine silberne Münze an einer Kette. Auf der Münze sind zwei ineinandergreifende Kreise einziseliert, mit Gold. Es ist aus feinstem Metall, doch für mich ist die Erinnerung noch viel wichtiger“, erklärte sie. „Ein Zwerg, den ich vor dem Ertrinken rettete, stahl sie mir. Er schlich in die Wälder und wartete, bis ich in der Brandung einschlief. Dann kam er herbei und riss mir die Kette herunter, ich bemerkte es erst, als er bereits im Wald verschwand. Ich verfolgte ihn, musste aber aufgeben, weil ich um mein Leben fürchten musste, so lange fern des Wassers“, erklärte sie und eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab und blieb an ihrem Kinn hängen. Wie in Zeitlupe schien sie von dort ins Wasser zu fallen. Wybran blickte gebannt der Träne hinterher, bis sie aufs Wasser aufschlug. Dann suchten seine Augen erneut ihren Blick.
„Würdest du sie mir zurückholen?“, fragte sie. Wybran nickte.
„Ich verspreche es, denn ich schulde dir mein Leben, Malusine“, erwiderte er und überlegte zugleich, ob das Versprechen klug war. Andererseits meinte er, was er sagte. Sie hatte sein Leben gerettet, so stand er in ihrer Schuld. Es wäre unehrenhaft, ihr nicht zu helfen.
„Wo ist der Zwerg hin?“
„Nachdem ich ihn, Horadag nannte er sich, gerettet hatte, erzählte er mir, dass er in einer Höhle im Berg lebt. Ich glaube, sein eigenes Volk hat diesen diebischen Halunken verstoßen. Deswegen muss er hier draußen hausen. Ich hätte ihn ersaufen lassen sollen“, zischte Malusine und verlor dabei ihre heiteren Züge. Aber auch jede Trauer und Gutmütigkeit wich aus ihrem Gesicht. Dann schien sie ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu haben und sah ihn mit einem hinreißenden Lächeln an. Wybran nickte und blickte hinauf zum Berg.
„Ich werde ihn finden“, versprach er. „Warte hier auf mich.“ Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg ins Dickicht des Waldes.
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ER GING QUER DURCHS Unterholz und immer wieder musste er einen Umweg in Kauf nehmen, weil irgendein größeres Gewächs oder ein Dornenbusch ihm den Weg versperrte. Irgendwann musste er sogar ein Stück weit auf einen Baum klettern, um zu überprüfen, wo er war und ob er immer noch auf den Berg zuging. Zwar merkte er die Steigung, hatte aber Sorge an ihm vorbeizulaufen. Zum Glück stellte sich heraus, dass er immer noch richtig ging.
Langsam sank die Sonne tiefer und als der Wald im schummrigen Zwielicht dalag, öffnete er sich zum Berg hin auf eine große Lichtung.
Ein paar Baumstämme lagen entwurzelt herum und faulten vor sich hin. Satte Farne wiegten sich in einer leichten Brise.
Plötzlich stob ein großer, schwarz-rot gefiederter Vogel aus dem Dickicht vor Wybran auf. Er zuckte und wollte sein Schwert ziehen, als er begriff, dass es nur ein Vogel war.
Wybran legte die Hand auf seinen Schwertgriff und schlich vorwärts. Er musterte die Umgebung, darauf gefasst angegriffen zu werden.
Wybran entdeckte eine Schneise im hohen Gras, das musste ein schmaler Trampelpfad sein. Er ging vom Waldrand aus auf den Berg zu. Wybran folgte ihm in Richtung des Berges und sah immer wieder Hufabdrücke, die recht frisch wirkten.
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EINIGE ZEIT NACH EINBRUCH der Dämmerung lagerte er in eine kleine Baumgruppe, die noch in die Lichtung hineinragte.
Der Mond erhob sich langsam über dem Horizont und beschien in dieser klaren und hellen Nacht schwach Wybrans Weg. Es war nun fast windstill um ihn herum. Einige Meter entfernt vernahm er Geräusche, das Wiehern eines Pferdes und leise Stimmen.