Zusammenfassung
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 105 Taschenbuchseiten.
Sie gebietet mit magischen Kräften über die Winde, die unter ihrem Einfluss zu einer tödlichen Waffe werden. Aber Patricia Vanhelsing und Tom Hamilton treten den Mächten der Finsternis entgegen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Jägerin der magischen Winde
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 105 Taschenbuchseiten.
Sie gebietet mit magischen Kräften über die Winde, die unter ihrem Einfluss zu einer tödlichen Waffe werden. Aber Patricia Vanhelsing und Tom Hamilton treten den Mächten der Finsternis entgegen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© by Author
© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
1
Der See war grau wie Spinnweben. Mit einem leeren, in sich gekehrten Blick stand Helen am Ufer, während der leichte Wind, der über die Hügel strich, ihr durch das Haar wehte. Sie fröstelte.
Eine leichte Gänsehaut überzog ihre Unterarme. Ihre Lippen flüsterten einen Namen.
"Jarmila..."
Immer wieder zog es sie an diesen trostlosen Ort. Die Vegetation schien sich von den umliegenden Hügeln aus irgendeinem Grund zurückgezogen zu haben. Es war kaum Gras auf dem steinigen Boden zu sehen. Die knorrigen Bäume wirkten morsch und tot. Wie Ruinen einstigen Lebens. Der Geruch von Moder und Fäulnis stieg aus dem trüben See empor, an dessen Rändern sich eine grauweiße Salzschicht abgelagert hatte. Ein Ort des Todes!
Ein Ort, von dem sich das Leben zurückgezogen und einer Aura des Verfalls platzgemacht hatte.
Ein leichtes Donnergrollen ließ Helen zusammenzucken. Aus den Augenwinkel heraus glaubte sie, eine Gestalt zu sehen. Eine Bewegung...
Sie wirbelte herum und erstarrte.
Eine junge Frau mit goldblondem, schulterlangem Haar stand auf dem nahen Hügel. Und obwohl der Wind jetzt kräftiger wurde, bewegte sich ihr Haar nicht einen einzigen Millimeter. Die junge Frau kam näher. Helen blickte ihr entgegen, während ihr die Furcht wie eine kalte glitschige Hand den Rücken hinaufkroch.
"Jarmila...", flüsterte sie.
Jarmila war schön. So schön wie damals, an jenem Tag, als das Unglück geschehen war.
Es ist schon so lange her und doch kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen.
Auf Jarmilas Gesicht stand ein teuflisches Lächeln, das einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Ihre Augen leuchteten vor Hass. Ihre Bewegungen waren katzenhaft und geschmeidig und hatten beinahe etwas Tierhaftes an sich. Ihr Lächeln wurde breiter. Zwei Reihen makellos weißer Zähne entblößte sie. Ein Zischen ging über die vollen, aber etwas blassen Lippen. Ihre Züge waren feingeschnitten und von fast überirdischer Schönheit. Aber in diesem Moment schienen sie auf groteske Weise durch den Hass entstellt zu sein. Helen atmete tief durch.
Wie angewurzelt stand sie da, unfähig auch nur einen einzigen Schritt zu machen.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Das Donnergrollen wurde stärker.
Helen blickte kurz hinauf in den grauen Himmel. Der Wind riss jetzt heftig an Helens Kleidern und Haaren. Ein wütender Sturm schien wie aus dem Nichts heraus ausgebrochen zu sein. Die wenigen, verkümmert wirkenden Sträucher und Bäume wurden heftig hin und hergebogen. Lediglich Jarmila schien von diesem Sturm völlig unberührt zu sein. Ihr Kleid hing schlaff an ihr herab. Das einzige, was den Stoff ein wenig bewegte, waren die anmutigen, katzenhaften Schritte, mit denen sie sich Helen näherte.
"Was willst du, Jarmila?", rief Helen. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht, das der Wind ihr in die Augen geweht hatte.
Sie schauderte, als sie in die Augen ihres Gegenübers sah. Jarmilas Augen veränderten sich.
Zunächst waren sie leuchtend blau gewesen, aber nun begann sich Schwärze auszubreiten. Innerhalb eines einzigen Augenblicks waren ihre Augen nichts als dunkle Flecken, die aus purer Finsternis zu bestehen schienen.
Wieder grollte indessen der Donner, während es in Jarmilas Augen grell aufleuchtete. Blitze zuckten dort. Ein knallender Donner ließ Helen zusammenzucken und bis ins Mark erschrecken.
Sie machte einen Schritt zurück.
Das Grauen schüttelte sie.
Sie öffnete halb den Mund, wollte schreien, aber kein Laut kam über Helens Lippen.
Der Wind wurde dermaßen stark, dass Helen sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Eine plötzliche Böe riss sie nach hinten. Sie taumelte zu Boden.
Helen wirbelte am Boden herum und blickte Jarmila entgegen.
"Nein", flüsterte sie.
Jarmila lachte leise.
Und in der nächsten Sekunde blitzte es grell vom Himmel herab. Ein Strahl so weiß wie Platin zischte nur Zentimeter von Helen entfernt in den Boden hinein, ein weiterer dicht daneben. Der Donner war ohrenbetäubend und glich nicht mehr einem langen, dumpfen Grollen, sondern einem Kanonenschlag, der unmittelbar auf den Blitz folgte. Ein halbes Dutzend solcher Einschläge folgte kurz hintereinander. Sie alle brannten sich dicht neben der am Boden kauernden Helen in den Boden, versengten die letzten Grashalme und zerschmolzen das Erdreich zu etwas Formlosen.
Ein schwarzer Ring wurde um Helen herum sichtbar. Reglos kauerte sie am Boden.
Sie hatte erwartet, dass die unvorstellbar großen Energien dieser Entladung sie verbrennen würden.
Selbst in einer Entfernung von mehreren Metern konnte ein Blitzeinschlag noch zu schweren Verletzungen oder dem Tod führen.
Aber Helen war unversehrt.
Jarmila lachte schauderhaft.
Sie hob die Arme, öffnete die Hände...
Und dann fuhren die gewaltigen Energien, die gerade in den Boden eingedrungen waren, wieder aus dem Erdreich heraus. Grelle Strahlen schossen aus der schwarzen Linie hervor, die einen Kreis um Helen gebildet hatte.
Diese Strahlen trafen auf Jarmilas Fingerkuppen, und es machte den Eindruck, als würde die blonde Frau mit den abgrundtief dunklen Augen, mit ihren Händen all das an Energie aufnehmen, was noch Sekundenbruchteile zuvor in den Boden gefahren war.
Helen zitterte.
Sie kontrolliert alles!, ging es ihr fröstelnd durch den Kopf. Gewaltige Kräfte, die niemand sonst zu beherrschen wusste...
Helen öffnete die Lippen, sah ihr Gegenüber mit einem Blick an, der eine Mischung aus Hass und blanker Verzweiflung zeigte.
Das Grauen schüttelte sie.
"Jarmila! Warum tötest du mich nicht?", rief sie. "Warum vollendest du es nicht?"
Jarmilas Blick ruhte auf ihr.
Die dunklen Augen verwandelten sich zurück. Sie schüttelte den Kopf.
"Nein, Helen", murmelte sie. "Nein." Ihr Lachen wirkte wie irre. Jarmila drehte sich herum. Mit langsamen Schritten lief sie zurück zu dem Hügel, auf dem Helen sie zuerst gesehen hatte.
"Jarmila!", rief Helen.
Sie schrie es beinahe.
Das dumpfe Grollen des Donners war die Antwort. Helen erhob sich.
Im selben Moment sah sie, wie Jarmila den Hügel erreichte. Ihre Gestalt wurde transparent und wirkte im nächsten Augenblick wie eine schwache, unscharfe Projektion. Aus dem Nichts heraus schoss ein greller, blauweißer Blitz dicht vor Helens Fußspitzen.
Jarmilas Gestalt verblasste zur Gänze.
Regen setzte ein und innerhalb von wenigen Augenblicken klebte Helen das Haar am Kopf.
Reglos stand sie da und blickte zu jener Stelle an der Jarmila verschwunden war.
Es wird nie aufhören!, dachte sie voller Verzweiflung. Nie...
2
Es war bereits Abend, als wir die Lichter Londons in der Dämmerung sahen. Wie ein Spiegelbild des Sternenmeeres. Tom saß am Steuer des Volvo, und ich kämpfte mit meiner Müdigkeit. Ein wunderbares Wochenende in Cornwall lag hinter uns. Morgen früh erwartete uns beide wieder unser Job als Reporter der LONDON EXPRESS NEWS. Ein paar Tage hatten wir in der Nähe von Land's End ausgespannt, die unvergleichliche Landschaft und das Meer genossen.
Und unsere Liebe.
Tom Hamilton war Mitte dreißig, hochgewachsen und dunkelhaarig. Und der Blick seiner graugrünen Augen hatte immer etwas Geheimnisvolles an sich. Ich verband diese Augenfarbe immer mit der Weite des Meeres, mit dem Glitzern der Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche und dem Geruch von Seetang und Salz.
Tom war Reporter einer großen Nachrichtenagentur gewesen, bevor er bei den NEWS angeheuert hatte. Lange Jahre hatte er als Korrespondent in Übersee verbracht - vor allen in Asien.
Für ihn war eine Stelle bei den LONDON EXPRESS NEWS einer Boulevardzeitung! - eigentlich ein beruflicher Abstieg. Ich hatte mich lange gefragt, wie es dazu hatte kommen können. Besonders redselig war Tom nicht, was seine Vergangenheit anging. Aber inzwischen wusste ich, dass das Ende seiner Korrespondenten-Karriere mit einem mehrmonatigem Aufenthalt im Dschungel Südostasiens zusammenhing. In dem geheimnisvollen Tempel von Pa Tam Ran - irgendwo im Dreiländereck Thailand-Kambodscha-Laos gelegen, hatte er die besonderen Konzentrationstechniken der dortigen Mönche kennengelernt. Seit frühester Jugend hatte er unter seltsamen Träumen gelitten, die sich nun als Bilder aus früheren Leben entpuppten, zu denen Tom einen bewussten Zugang gewann. Erinnerungen an vergangene Leben waren für ihn mittlerweile selbstverständlich.
Kein Wunder, dass er über eine besondere Sensibilität verfügte, was übersinnliche Phänomene und dergleichen anging. Nie wäre er bei aller Skepsis zu einem vorschnellen Urteil auf diesem Gebiet gekommen.
Und so hatte ich ihm schließlich auch anvertraut, dass ich über eine leichte seherische Gabe verfügte, die ich vermutlich von meiner verstorbenen Mutter geerbt hatte. Außer meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, die mich auf diese Gabe aufmerksam gemacht hatte, gab es niemanden sonst, der davon wusste.
Ein Beweis des unendlichen Vertrauens, das ich Tom Hamilton gegenüber empfand.
Mein Name ist Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen?
Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle. In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.
"Ich liebe dich, Tom", sagte ich plötzlich in die Stille hinein, während wir über eine mehrspurige Stadtautobahn direkt in das vor uns liegende Lichtermeer der Riesenstadt London hineinfuhren.
Ich sah ihn an.
Er blickte kurz zu mir hinüber.
"Ich liebe dich auch", sagte er und lächelte.
"Ich dachte gerade daran, wie vertraut du mir bereits bist..." Ich zuckte die Achseln und seufzte. "Es ist geradezu unheimlich..."
"Findest du?"
"Ja."
"Patricia, wenn sich zwei verwandte Seelen finden, dann ist das nicht immer eine Frage der Zeit..."
"Vielleicht hast du recht." Ich machte eine Pause. Ich war hundemüde. Die Fahrt von Cornwall, bei der wir uns alle paar Stunden am Steuer abgelöst hatten, war sehr anstrengend gewesen. Aber ich war auch glücklich. Eine regelrechte Welle positiver Empfindungen durchströmte mich.
Ich hätte die ganze Welt in diesem Augenblick umarmen können.
"Wusstest du, dass ich außer mit meiner Großtante noch nie mit jemandem über meine Gabe gesprochen habe?", fragte ich dann.
"Ich glaube, du erwähntest es mal", sagte er.
"Es ist ein Beweis meines Vertrauens", sagte ich.
"Ich weiß."
"Tom, ich fühle mich dir so nah..."
"Patricia!"
"Ich möchte nicht, dass es jemals anders wird zwischen uns, Tom!"
"Das möchte ich auch nicht!"
Ich berührte ihn leicht am Ellbogen. Ich hätte ihn in dieser Sekunde gerne umarmt, mich an ihn geschmiegt und ihn voller Leidenschaft geküsst. Aber leider musste wir in diesem Moment an die Erfordernisse des Straßenverkehrs einen gewissen Tribut zollen.
3
Tom brachte mich nach Hause. Zu Hause - das war die alte viktorianische Villa meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, die von mir einfach nur Tante Lizzy genannt wurde. Tom fuhr seinen Volvo in die Einfahrt der am Stadtrand gelegenen Villa. Wir küssten uns leidenschaftlich. Seine Hand strich mir über das Haar, und ich spürte ein eigentümliches Kribbeln in der Bauchgegend.
"Es ist spät", sagte ich dann. "Morgen werde ich an meinem Schreibtisch einschlafen..."
"Wäre das so schlimm, Patricia?"
"Unglücklicherweise haben wir bei den NEWS ja ein Großraumbüro. Da kann man nie sicher sein, dass der Chefredakteur nicht gerade zuschaut, wenn man sich eine Auszeit nimmt!"
Tom hob die Augenbrauen.
In seinen Augen blitzte es schelmisch.
"Hast du denn morgen nicht zufällig etwas im Archiv zu tun?"
Wir mussten beide lachen.
Dann stiegen wir aus.
Tom ging zum Kofferraum und holte mir meine Reisetasche heraus. Es war das erste Mal seit langem gewesen, dass ich verreiste, ohne mein Laptop mitgenommen zu haben, um einen Artikel über meinen Aufenthalt zu schreiben. Ein ganz ungewohntes Gefühl...
Ich nahm ihm die Tasche aus der Hand, setzte sie auf dem Boden ab und schlang noch einmal meine Arme um seinen Hals.
"Bis morgen", hauchte ich ihm ins Ohr.
"Bis morgen, Patricia!"
4
Ich steckte den Schlüssel in das Schloss der Haustür und drehte ihn herum. Bevor ich die Tür öffnete, drehte ich mich kurz herum und winkte Tom zu, dessen Volvo gerade die Straße entlang fuhr. Ich hoffte, dass er mich noch gesehen hatte. Dann ging ich in die Villa.
Es war bereits nach Mitternacht und es war durchaus möglich, dass Tante Lizzy schon schlief. In dem Fall wollte ich sie nach Möglichkeit nicht aufwecken, denn sie hatte ohnehin Schwierigkeiten einzuschlafen.
Genauso gut war es allerdings möglich, dass sie noch immer über dicken, von einer feinen Staubschicht bedeckten Folianten gebeugt in der Bibliothek saß, völlig vertieft in ihre okkultistischen Studien. Tante Lizzy war nämlich eine Expertin auf diesem Gebiet. Und ihre Villa glich einer Mischung aus Museum und Bibliothek, in dem sich alle nur erdenklichen Bücher, Geheimschriften und Presseartikel befanden, die sich mit unerklärlichen Phänomenen beschäftigten. Tante Lizzy war dabei keine leichtgläubige alte Dame, die in ihren späten Jahren etwas wunderlich geworden war. Ihr war wohl bewusst, dass sich im Bereich des Okkultismus und der Parapsychologie überwiegend Scharlatane tummelten, die nichts weiter im Sinn hatten, als Aufmerksamkeit zu erregen und Ahnungslosen möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber es gab einen Rest an Geschehnissen, für die es mit den Methoden der modernen Wissenschaft keine hinreichende Erklärung gab. Bis heute zumindest. Tante Lizzy hatte sich ganz der Aufgabe gewidmet, diese Fälle zu dokumentieren. So war ihre 'Sammlung' zu einem der größten Privatarchive auf diesem Gebiet in ganz Großbritannien geworden.
Nächtelang saß sie oft in der Bibliothek, wo sich allerdings nur der wichtigste Teil ihrer Sammlung befand. Überall in der Villa gab es überfüllte Bücherregale, in denen sich die dicken, staubigen Lederbände nur so drängelten. Sehr seltene, zum Teil uralte Schriften waren darunter. Tante Lizzy besuchte regelmäßig Versteigerungen nach Haushaltsauflösungen und war auch schon auf Flohmärkten fündig geworden. So manchen Schatz hatte sie da gehoben, der ansonsten vielleicht unrettbar verloren gewesen wäre.
Unterbrochen wurden die langen Reihen der Bücher hin und wieder durch okkulte Gegenstände, Pendel, Glaskugeln, Geistermasken und Ähnliches. Aber es waren auch archaische Kultgegenstände darunter, die aus der Hinterlassenschaft ihres Mannes stammten. Frederik Vanhelsing war ein berühmter Archäologe gewesen, bevor er von einer Forschungsreise in den Regenwald Südamerikas nicht zurückkehrte. Seitdem war er verschollen.
Ich schloss die Tür so leise hinter mir, wie es möglich war. Aber sie knarrte ein wenig. Wie oft hatte ich sie schon eigenhändig geölt, aber es schien zum Charakter dieses verwinkelten und für Außenstehende vielleicht etwas unheimlich wirkenden Hauses zu gehören, dass die Tür knarrte. Vorsichtig ging ich durch den langgezogenen Flur. Die Tür zur Bibliothek stand einen Spalt offen. Aber es brannte kein Licht.
Tante Lizzy war also nicht mehr in ihre Archivarbeit vertieft.
Ich machte kein Licht. Das Mondlicht fiel durch eines der Fenster, und ich hätte den Weg vermutlich auch gefunden, wenn ich gar nichts gesehen hätte. Eine etwa einen Meter durchmessende afrikanische Geistermaske hing als unheimlicher Schatten an der Wand. Tante Lizzy hatte sie vor kurzem aus dem Keller geholt. Diese Maske gehörte auch zu Onkel Frederiks Hinterlassenschaft, und Tante Lizzy brauchte sie für irgendeine ihrer Studien. Sie hatte mir auch erläutert, worum es dabei ging, aber ich war wohl gedanklich zu sehr mit dem bevorstehenden Wochenende beschäftigt gewesen.
Dem unvergleichlich schönen Wochenende, das ich mit Tom Hamilton in Cornwall verbracht hatte...
Allein bei dem Gedanken daran, glaubte ich, das Meeresrauschen zu hören.
Ich ging die Treppe hinauf, die ins obere Stockwerk führte. Dort befanden sich meine Räume - die einzigen im ganzen Haus, die nicht von Tante Lizzys Okkultismus-Archiv belegt waren. Ich nannte meine Räume daher auch manchmal scherzhaft 'okkultfreie Zone'.
Ohne allzuviel Krach zu machen, brachte ich die Treppe hinter mich. Ich machte Licht, durchquerte mein Wohnzimmer und ließ die Reisetasche auf dem Fußboden liegen, bevor ich das Schlafzimmer betrat. Ich zog die Schuhe aus. Ich wollte gerade nach dem Lichtschalter fassen, da hielt ich plötzlich inne.
Ich weiß nicht, was es war, das mich auf einmal erstarren ließ.
Eine eigenartige Empfindung, für die ich keine Worte hatte. Ich blickte zum Fenster, sah, dass sich draußen im Garten die Baumwipfel und Sträucher ziemlich heftig bewegten. Der Wind heulte um die Villa. Ein eigenartiger, stöhnender Laut.
Im nächsten Moment zuckte ich zusammen.
Ein Blitz zuckte dicht vor meinen Augen durch die Dunkelheit. Seine blauweiße Helligkeit war derart grell, dass ich einige Augenblicke blind war. Namenlose Dunkelheit umgab mich. Der Donner war wie ein Kanonenschlag. Bis ins Mark erschreckte mich dieser furchtbare Knall.
Für den Bruchteil eines Augenblicks sah ich ein Gesicht vor meinem inneren Auge.
Das Gesicht einer jungen Frau. Ihr Gesicht war von blondem, schulterlangem Haar umrahmt. Die Züge waren feingeschnitten. Die hohen Wangenknochen gaben ihnen einen Ausdruck, der irgendwo zwischen Stolz und Hochmut zu liegen schien. Eine überirdisch schöne Frau...
Ein Gesicht von beinahe perfektem Ebenmaß. Aber ihre Augen!
Mit ihnen stimmte etwas nicht.
Sie waren dunkel wie die Nacht. Nur Schwärze schien in ihnen zu sein. Keine Pupillen, keine Iris, nicht einmal ein einziger weißer Fleck...
Blitze sah ich in diesen Augen. Grell zuckten sie durch die Dunkelheit, die das gesamte Innere ihres hübschen Kopfes auf geheimnisvolle Weise auszufüllen schien. Die vollen, aber etwas blassen Lippen öffneten sich zu einem spöttischen Lächeln. Zwei Reihen makellos weißer Zähne blitzen auf. Und das Lachen, das dann erscholl, war schauderhaft. Es war dermaßen von Hass durchtränkt, dass einem kalte Schauder den Rücken hinunterjagen konnten.
Das alles dauerte kaum länger als einen Augenaufschlag. Dann war es vorbei.
Nur Schwärze war für mehrere Sekunden um mich herum. Ein Gefühl der Panik stieg in mir auf. Schwindel erfasste mich und ich glaubte zu fallen. Ich tastete mit den Händen und berührte etwas Glattes, Hölzernes. Die lackierte Oberkante einer Kommode aus Kiefernholz. Ich hielt mich daran fest. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Eine Vision!, schoss es mir durch den Kopf. Ich wusste es.
Es musste sich um eine jener Traumvisionen handeln, für die meine Gabe verantwortlich war.
Langsam begannen sich vor meinen Augen wieder Konturen zu bilden. Ich griff nach dem Lichtschalter. Die Helligkeit schmerzte.
Ich schauderte noch immer angesichts dessen, was ich gesehen hatte. Es war eine Vision von schier unglaublicher Intensität gewesen.
Ich war verwirrt.
Mit wenigen Schritten bewegte ich mich auf einen der Sessel zu, die im Raum standen, und ließ mich darin fallen. Ich atmete tief durch.
Eine Vision - aber was hat sie zu bedeuten?, fragte ich mich.
Verstört streifte ich die Schuhe ab.
Ich war hundemüde und noch vor wenigen Minuten wäre ich beinahe im Stehen eingeschlafen. Aber ich wusste, dass ich dennoch in dieser Nacht kaum Ruhe finden würde...
5
Immer wieder erwachte ich schweißgebadet und sah dann für Bruchteile von Sekunden jenes Gesicht vor mir, dass mir in meiner Vision zum ersten Mal begegnet war. Immer dieselben pechschwarzen Augen, die zuckenden, grellen Blitze, das Donnergrollen...
Und das Lachen.
Verzweifelt zermarterte ich mir das Hirn darüber, was diese Traumbilder wohl zu bedeuten haben mochten. Sie standen in irgendeinem Zusammenhang mit mir, mit der Zukunft, mit meinem Schicksal. Aber es war so, als hätte mir jemand lediglich einen winzigen Ausschnitt von einem gewaltigen Gemälde gezeigt. Es war beinahe unmöglich, von diesem Ausschnitt auf die Szenerie zu schließen, die das gesamte Gemälde darstellte.
Immer wieder schlief ich dann vor Erschöpfung ein, wälzte mich dann erneut unruhig hin und her, um wieder schweißgebadet zu erwachen.
Am Morgen fühlte ich mich wie gerädert.
Ich hatte das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Wie in Trance ging ich hinunter in die Küche. Tante Lizzy war bereits auf den Beinen und hatte den Tee aufgesetzt.
"Guten Morgen, mein Kind", sagte sie lächelnd. Ich antwortete ihr zunächst mit einem Gähnen. Dann versuchte ich das Lächeln zu erwidern.
Seit dem frühen Tod meiner Eltern hatte Tante Lizzy mich wie ihre eigene Tochter erzogen. Sie hatte mir die Mutter ersetzt und mich auf das hingewiesen, was sie meine Gabe genannt hatte. Eine Fähigkeit, die ich nicht selten als Fluch empfunden hatte. Nur langsam hatte ich mich damit arrangieren können.
"Du siehst nicht gerade glücklich aus", stellte Tante Lizzy fest. "War dein Wochenende nicht schön?"
"Es war wunderschön" erwiderte ich. "Einfach wunderbar..."
"Dann verstehe ich nicht..."
"Es hat nichts damit zu tun!"
"Womit dann?"
Sie sah mich an.
Tante Lizzy kannte mich einfach zu gut, als dass ich ihr etwas vormachen konnte.
"Du hattest eine Vision", sagte Tante Lizzy, und ihre Augen musterten mich dabei aufmerksam. Was sie gesagt hatte, war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ich nickte.
"Ja", flüsterte ich.
Und mir schauderte allein bei dem Gedanken an die Bilder, die ich gesehen hatte.
Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich das abgrundtief schwarze Augenpaar dieser geheimnisvollen blonden Frau für einen Sekundenbruchteil vor mir sah.
"Möchtest du darüber reden, Patti?"
"Ja... Es war nicht viel, was ich sehen konnte. Das Gesicht einer jungen Frau, deren Augen vollkommen schwarz waren. Blitze zuckten darin. Und sie lachte... Es war schauderhaft. Sie wirkte voller Hass..."
"Du hast diese Frau nie gesehen?" Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, bislang nicht. Aber ich fürchte, dass ihr noch begegnen werde..."
6
Als ich meinen roten Mercedes 190 auf den Parkplatz vor dem Verlagsgebäude der LONDON EXPRESS NEWS fuhr, war ich ziemlich spät dran.
Ich parkte den Wagen - ein Geschenk von Tante Lizzy - in eine der wenigen Parklücken, die um diese Zeit noch zu finden waren, stieg aus und beeilte mich, durch den aufkommenden Nieselregen ins Gebäude zu kommen.
Die Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS nahm eine ganze Etage in dem riesigen Betonklotz an der Lupus Street ein, in dem unser Verlag seinen Sitz hatte.
Als ich das Großraumbüro unserer Redaktion betrat, erwartete mich dort die übliche Hektik. Ein ständiges Kommen und Gehen herrschte zwischen den Schreibtischen. Hin und wieder schrillte ein Telefon.
Michael T. Swann, unser Chefredakteur hatte selbstverständlich ein separates Büro. Die Tür stand offen. Swann stand davor, hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die Krawatte gelockert, so dass sie ihm wie ein Strick um den Hals hing. Swann hatte sich ganz und gar der Aufgabe gewidmet, die Auflage der LONDON EXPRESS NEWS oben zu halten. Oft war er der Erste in der Redaktion und abends nicht selten der Letzte. So etwas wie ein Privatleben schien er nicht zu kennen. Zum Leidwesen so manches Kollegen erwartete er diesen Einsatz allerdings auch von seinen Mitarbeitern.
"Guten Morgen, Patricia!", begrüßte er mich. "Auf Ihrem Schreibtisch liegen ein paar Meldungen. Machen Sie doch bitte so schnell wie möglich einen Artikel daraus. Fünfzig Zeilen. Und sehen Sie im Archiv nach, ob wir nicht ein paar passende Bilder dazu in den Katakomben schlummern haben..."
"Und wenn nicht?", seufzte ich.
"Dann müssen Sie mehr schreiben." Ich sah Mr. Swann an, sah dessen hochroten Kopf und gab den Gedanken auf, ihn danach zu fragen, ob es heute nicht auch eine größere Überschrift tun würde.
Auf dem Weg zum Schreibtisch nahm ich mir einen Becher des dünnen Redaktionskaffees aus der Maschine. Ich sah mich kurz um, bevor ich mich setzte. Von Tom Hamilton war nirgends etwas zu sehen.
Vielleicht war er bereits mit irgendeinem irrsinnig wichtigen Auftrag unterwegs.
Ich nahm einen Schluck des Kaffees und schloss für einen Moment die Augen.
"Hallo, Patti", sagte eine mir nur allzu vertraute Stimme.
"Ich glaube nicht, dass das die Arbeitshaltung ist, die unser geschätzter Mr. Swann gerne sieht!"
Ich blickte auf und sah einen blonden Haarschopf, einen Drei-Tage-Bart und ein ziemlich verknittertes Jackett, dessen Revers vom Riemen einer Kameratasche völlig ruiniert war.
"Hallo, Jim", sagte ich.
Jim Field war als Fotograf bei den LONDON EXPRESS NEWS angestellt. Wir hatten schon oft zusammengearbeitet und so manche Story zusammen bearbeitet. Jim war mehr als nur ein guter Kollege. Er war auch ein Freund.
"Ein schönes Wochenende gehabt?", fragte er.
"Ich kann nicht klagen", erwiderte ich. Ich wusste nicht genau, worauf er eigentlich hinaus wollte. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er nicht nur einfach so um meinen Schreibtisch herumstrich.
"Patti, ich möchte dich um einen Gefallen bitten", begann er dann. Jim kratzte sich im Nacken. Sein Gesicht wirkte viel nachdenklicher als sonst. Eigentlich war er eher der Typ des sunny boys, der immer gutgelaunt und witzig war. Aber im Augenblick schien ihn irgendetwas stark zu beschäftigen.
"Worum geht es?", fragte ich.
"Um dein Spezialgebiet, Patti."
"Ach, ja."
"Ich möchte dir etwas zeigen, Patti..." Er griff in die Innentasche seines Jacketts. Einen Moment später hielt er einige Fotoabzüge in der Hand.
"Worum geht es?", fragte ich.
Er breitete die Fotos auf meinem Schreibtisch aus. Es waren unverkennbar Modefotos. Hinreißend schöne Models posierten in extravaganten Kleidern vor einem ebenso extravaganten Hintergrund, der durch die grauen Mauern eines altehrwürdigen englischen Landhauses gebildet wurde. Dahinter erstreckte sich eine eigenartige, karge Landschaft, die in einem reizvollen Kontrast zu den Models und ihren Kleidern stand.
"Wie ich sehe, warst du mal wieder ziemlich fleißig in deiner freien Zeit", meinte ich.
Er zuckte die Schultern.
"Man tut, was man kann."
Ich wusste, dass Jim über seine Arbeit bei den LONDON EXPRESS NEWS hinaus sich hin und wieder ein paar Pfund dazuverdiente. Landschaftsaufnahmen für Bildkalender gehörten ebenso dazu wie Modefotografien. Michael T. Swann, unser allgewaltiger Chefredakteur, drückte beide Augen zu, solange Jims Arbeit für die NEWS nicht darunter litt. Außerdem wusste er Jims außergewöhnliche Arbeit durchaus zu schätzen. Swann war ein Profi.
Er konnte sich an fünf Fingern einer Hand abzählen, dass ein Kamera-As wie Jim Field nicht ewig bei den LONDON EXPRESS NEWS bleiben würde. Er war zu gut, um nicht den Ehrgeiz zu haben, seine Bilder auf den Hochglanz-Seiten großer Magazine zu sehen, anstatt in vergleichsweise bescheidener Bildauflösung auf billigem Zeitungspapier. VOGUE, ELLE oder PLAYBOY - in deine dieser Richtungen würde Jims Weg unweigerlich gehen. Und je später das geschah, desto besser für die Qualität der Bilder, die in den LONDON EXPRESS NEWS erschienen.
Swann wusste das nur zu gut.
Und deshalb zeigte er in diesem Fall auch etwas, was ihn sonst nicht unbedingt auszeichnete: Nachsicht mit jemandem, der vielleicht nur 98 Prozent seiner Kraft in den Dienst unseres Blattes stellte.
"Hervorragende Aufnahmen", stellte ich fest, nachdem ich sie oberflächlich angesehen hatte. "Ich hoffe, man hat dich gut genug bezahlt, damit du dir endlich mal ein neues Jackett leisten kannst..."
"Das ist keine Frage des Geldes, sondern des Stils", erwiderte er in einem leicht pikierten Tonfall und setzte dann hinzu. "Außerdem ist es mir sehr ernst. Sieh mal genau hin..."
Ich stutzte, nahm eines der Bilder hoch und runzelte die Stirn.
Im Vordergrund waren die posierenden Models in ihren fließenden Gewändern zu sehen. Perfekt gestylt und inszeniert, wie man es aus den teuren Magazinen kannte. Aber im Hintergrund, verloren in der düsteren Landschaft war noch etwas anderes.
Ein Gesicht, eine Gestalt.
Oder vielmehr nur die Ahnung davon.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag vor den Kopf. Der Puls schlug mir bis zum Hals.
Nein!, dachte ich. Das kann nicht wahr sein... Die transparente Erscheinung im Hintergrund war jene blonde Frau, die ich in meiner Vision gesehen hatte. Nur ihre Augen...
Sie waren nicht schwarz, so wie ich sie gesehen hatte. Leuchtend blau waren sie, umgeben von reinstem Weiß. Ausdrucksstarke Augen, die den Betrachter des Bildes intensiv anzusehen schienen. Ein Blick, wie keines der Models ihn besser hätte inszenieren können. Eine Mischung aus Geheimnis, Sehnsucht und Melancholie schien darin zu liegen. Ich schluckte.
"Sieht aus wie eine Doppelbelichtung", murmelte ich.
"Hältst du mich für einen Anfänger, Patti?"
"Nein, so war das nicht gemeint!"
"Diese Frau ist auf all diesen Bildern zu sehen. Manchmal nur ganz schwach, wie eine verblassende Projektion. Auf anderen wirkt es so, als wäre sie wirklich dagewesen." Ich sah Jim an.
"Wer ist sie?"
"Wenn ich das wüsste!"
"Jim, wie kommen diese Aufnahmen zu Stande?" Jim atmete tief durch. Sein Blick wirkte sehr ernst. Er schien wirklich ein wenig verstört zu sein. "Alles der Reihe nach", sagte er dann. "Ich habe das Wochenende mit Modeaufnahmen verbracht, die auf dem Landsitz der Familie Barnstable aufgenommen wurden. Barnstable Manor liegt eine halbe Stunde außerhalb von London. Vielleicht sind die heutigen Besitzer etwas verarmt und auf solche zusätzlichen Einnahmen angewiesen - ich weiß es nicht. Heute morgen habe ich dann die Abzüge gemacht und auf allen ist diese Frau zu sehen... Ich bin mir sicher, sie nicht gesehen zu haben, als die Aufnahmen gemacht wurden."
"Bist du dir sicher?"
"Völlig. Es ist mir ganz und gar unerklärlich, wie diese...", er suchte nach dem richtigen Wort, "...diese Erscheinung auf die Bilder gekommen ist. Es kann keine Doppelbelichtung sein, denn diese Frau war überhaupt nicht dort! Dass die Aufnahmen im Eimer sind ist eine Sache - die andere ist, dass ich gerne wüsste, was hier geschehen ist. Patti - du bist doch anerkanntermaßen eine Spezialistin für das Übersinnliche!"
"Wie kommst du darauf, dass diese Aufnahmen einen übersinnlichen Hintergrund haben könnten?", fragte ich in Gedanken. Ich nahm mir einige der anderen Abzüge, betrachtete sie eingehend und fühlte wachsendes Unbehagen in mir. Das kann kein Zufall sein!, ging es mir durch den Kopf. Diese Frau... Sie muss einen Namen haben...
"Darf ich diese Abzüge behalten?", fragte ich.
"Darfst du. Für meine Auftraggeber werde ich ohnehin retuschierte Bilder herstellen müssen. Da liegt noch einiges an Arbeit vor mir..." Er sah mich an. Wir waren gemeinsam Zeuge verschiedener außergewöhnlicher Vorkommnisse geworden. Und doch war Jim dem Übersinnlichen nach wie vor sehr skeptisch eingestellt - auch wenn er es längst nicht mehr rundweg leugnete.
"Ich habe immer gesagt, dass ich eigentlich nur das glauben möchte, was ich sehen oder messen kann. Ich habe diese Frau nicht gesehen - aber das unbestechliche Auge meiner Kamera sehr wohl! Du siehst die Beweise vor dir! Das sind Tatsachen, keine Einbildungen, die man nach einem anstrengenden Tag in einer sehr merkwürdigen Umgebung vielleicht hat..."
"Ich kümmere mich darum", sagte ich dann.
"Eine Erklärung hast du nicht?"
"Was soll ich dir sagen? Dass du einen Astralleib oder einen Geist fotografiert hast?"
"Ich habe mich etwas schlau gemacht, was das angeht", erwiderte Jim. Ich hob die Augenbrauen und konnte mich nur wundern.
"Ach, ja?"
Es musste ihm wirklich sehr ernst sein.
Er nickte langsam.
"Soweit ich herausfinden konnte, gibt es bereits seit den Anfängen der Fotografie im letzten Jahrhundert Bestrebungen, Geister und Ähnliches festzuhalten. Und tatsächlich gibt es einige merkwürdige Fotografien, deren Entstehung kaum zu erklären sind..."
Ich nickte.
"In Tante Lizzys Archiv kann ich vielleicht mehr darüber finden. Fürs erste wäre es nicht schlecht, wenn..." Ich zögerte. Die blauen Augen der jungen Frau, die als geisterhafte Erscheinung im Hintergrund der Fotos zu sehen war, schienen mich anzublicken. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte ich, dass sie sich veränderten, dass sie vollkommen schwarz wurden und in dieser Dunkelheit Blitze zuckten...
Ich glaubte ein Lachen zu hören und zuckte zusammen.
"Was ist los?", fragte Jim.
"Nichts", murmelte ich und schluckte. "Es ist schon gut..." Er sah mich zweifelnd an.
7
Es war ein Tag, der für mich mehr oder minder nur mit Routinearbeiten verging. Tom sah ich leider nur kurz. Es blieb gerade Zeit genug für einen flüchtigen Abschiedskuss, denn er hatte kurzfristig den Auftrag bekommen, in Glasgow einen schottischen Separatistenführer zu interviewen, der die Auffassung vertrat, Schottland solle sich nach fast dreihundert Jahren im Vereinigten Königreich endlich selbständig machen und vor allem die Ölvorkommen vor der Küste in eigener Regie ausbeuten.
Wie auch immer, fest stand, dass ich Tom frühestens übermorgen Abend wiedersehen würde.
Als ich abends nach Hause fuhr, traf ich Tante Lizzy in der Bibliothek an. Grübelnd saß sie über einem dicken Folianten. Es handelte sich um eine Neuübersetzung des okkultistischen Standardwerkes Absonderliche Kulte von Hermann von Schlichten. Der deutsche Okkultist hatte dieses Werk ursprünglich zur Verschlüsselung in mittelalterlichem Latein verfasst und es schien so, als wäre es in späteren Übertragungen zu mehr oder minder gravierenden Fehlern gekommen.
Tante Lizzy sah mich an.
"Du bist heute früh dran", sagte sie verwundert und klappte das Exemplar der Absonderlichen Kulte zu.
Ich zuckte die Achseln.
"Wir hatten Glück", sagte ich. "Kein aktuelles Ereignis hat uns im letzten Moment noch das ganze Blatt durcheinandergewirbelt!"
"Du Ärmste!", erwiderte Tante Lizzy. "Sag bloß, du hast nicht gewusst, was dich im Reporterberuf erwartet!" Ich lächelte matt.
"Habe ich mich beklagt?"
"Ein bisschen klang das so!"
Ich seufzte. "Tante Lizzy, ich brauche deine Hilfe", begann ich dann.
"Mein Kind, du weißt, dass du dich immer auf mich verlassen kannst..."
Und das konnte ich wirklich. So manches Mal hatte sie mir bei schier aussichtslosen Recherchen weitergeholfen insbesondere natürlich dann, wenn es um ein Thema aus dem Bereich des Übersinnlichen oder Okkulten ging. Ich legte die Fotos auf einen der kleinen runden Tische, die in der Bibliothek standen und erklärte ihr in knappen Worten, was es damit auf sich hatte.
Tante Lizzy machte ein nachdenkliches Gesicht. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, und auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Furchen. "Du bist dir sicher, dass dies die Frau ist, die du in deiner Vision gesehen hast?", fragte sie gedehnt.
Ich nickte heftig.
"Absolut sicher", erklärte ich. "Da gibt es nicht den Hauch eines Zweifels."
"Es gibt eine umfangreiche Literatur über sogenannte Geisterfotos", erklärte Tante Lizzy dann. "Sir Raymond Graylan, ein schottischer Geisterseher, der leider im letzten Jahr verstorben ist, hat eine umfangreiche Dokumentation solcher Fotografien vorgelegt..."
"Ich frage mich, was die Vision bedeutete... Ihr Gesicht, es war so beherrschend darin..."
"Sagtest du nicht auch etwas von Blitzen?", fragte Tante Lizzy.
Ich nickte.
"Ja, Blitze... Blitz in ihren Augen..."
"Vielleicht kommst du weiter, wenn du herausgefunden hast, wer die Frau auf den Bildern ist."
Ich sah Tante Lizzy an.
"Das müsste sich herausfinden lassen..." Tante Lizzy berührte mich leicht an der Schulter. "Lass dir nicht zuviel Angst einjagen, mein Kind!" Ich lächelte matt.
"Keine Sorge, Tante Lizzy."
"Du weißt, dass diese seherischen Visionen nicht zwangsläufig eintreten müssen. Es sind wahrscheinliche Möglichkeiten, mehr nicht..."
"Ja, natürlich."
"Oft genug hast du erlebt, dass sie sich von deinen tatsächlichen Erlebnissen unterschieden haben..." Und dennoch hatte ich in mir ein Gefühl des Unbehagens. Unruhe beherrschte mich, so als erwartete ich jederzeit, dass etwas geschah..
Etwas Furchtbares...
Ich schluckte.
Du solltest auf Tante Lizzy hören!, sagte ich zu mir selbst. Aber das war leichter gesagt als getan.
8
Die ganze Woche über hatte ich viel um die Ohren, was den Vorteil mit sich brachte, dass ich nicht so viel meine Vision und das Gesicht auf Jims Fotos nachgrübeln konnte. Toms Aufenthalt in Glasgow verlängerte sich um einen Tag und natürlich vermisste ich ihn sehr. Aber ich hatte selbst soviel zu tun, dass ich abends zumeist todmüde ins Bett und in einen traumlosen, tiefen Schlaf fiel. Zwischendurch sprach ich noch ein paarmal mit Jim über die Sache. Wir standen beide vor einem Rätsel.
Ich musste einfach zugestehen, keine Lösung parat zu haben. Ich hatte keine Ahnung, wie die seltsamen Bilder entstanden sein konnten. Jim wiederum spekulierte schon, ob bereits Luftspiegelungen oder dergleichen für die Erscheinung des Gesichts verantwortlich sein konnten. Er hatte deswegen Kontakt mit einem ehemaligen Studienkollegen aufgenommen, der jetzt an einem meteorologischen Institut als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt war. Er sah mich seufzend an.
"Weißt du, ich würde gerne glauben, dass es wirklich nur eine Luftspiegelung war", erklärte er. Ich lächelte.
"Und nicht etwas, was nicht in unser wissenschaftliches Weltbild hineinpassen will!", ergänzte ich ihn und erriet damit haargenau seine innersten Gedanken.
"Da könntest du recht haben."
"Wir müssen einfach akzeptieren, nicht alles erklären zu können!"
"Mag sein, dass das Beste wäre. Aber ich kann es einfach nicht, Patti! Ich sehe immer dieses wunderschöne Gesicht vor mir und..."
"Das hört sich fast so an, als hättest du dich verliebt, Jim!"
Er schüttelte den Kopf.
"Nein, das ist es nicht."
"Bist du dir sicher?"
"Ganz sicher. Übrigens - am Wochenende habe ich noch einmal ein Shooting auf Barnstable Manor. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, etwas mehr über die Frau herauszufinden, die zu diesem Gesicht gehört..."
9
Grau und abweisend reckten sich die düsteren Mauern von Barnstable Manor in den Himmel. Das aus dicken Steinquadern errichtete Landhaus wirkte wie ein monumentaler Klotz, der sich nicht harmonisch in die Landschaft einfügen wollte. Die Nebengebäude waren aus demselben Material errichtet. Barnstable Manor lag auf einem Hügel. Von hier aus konnte man das gesamte Umland überblicken. Dieser Herrensitz, der irgendwann im siebzehnten Jahrhundert errichtet worden war, war der Mittelpunkt einer Einöde von unvergleichlicher Trostlosigkeit. Das Gras, das den Boden bedeckte wirkte farblos und fast wie verdorrt - obgleich die Vernunft jedem Betrachter sagen musste, dass das bei dem regenreichen Klima dieser Gegend unmöglich war. Die Bäume und Sträucher wirkten knorrig, seltsam verwachsen und tot. Wie morsche Ruinen einstigen Lebens.
Ein trüber See befand sich ganz in der Nähe. Von ihm stieg ein leichter Modergeruch herauf, der vom Wind bis zum Herrenhaus der Lords von Barnstable getragen wurde. Lord Wilfried Barnstable stand an einem der hohen Fenster seines Landhauses und blickte hinaus. Er war ein hochgewachsener, grauhaariger Mann, dessen Gesicht ein starkes Profil aufwies. Der Blick seiner grauen, falkenhaften Augen wirkte melancholisch.
Stimmen waren draußen zu hören.
Helle Frauenstimmen. Jemand lachte.
"Mir gefällt es nicht, dass all diese Leute hier sind", sagte jemand, den Lord Barnstable nicht hatte hereinkommen hören. Es war Lady Margret Barnstable. Silbergrau leuchtete ihr Haar. Sie trug ein Diadem um den Hals und ihr dunkles Kleid wirkte elegant.
Sir Wilfried drehte sich zu seiner Frau herum. Er zuckte die Schultern und legte die Hände auf den Rücken.
"Es tut mir leid, Margret. Aber wir brauchen das Geld, das man uns dafür gibt..."
"Mir gefällt es trotzdem nicht, dass unser ehrenwertes Barnstable Manor den Hintergrund für Modeaufnahmen abgeben soll", erwiderte sie.
"Darling, wir können es uns leider nicht aussuchen!" Lady Margret seufzte.
"Vermutlich hast du recht, Wilfried. Aber ich darf doch wohl noch meinem Bedauern über diese unabänderlichen Tatsachen Ausdruck geben."
"Sicher..."
In diesem Moment betrat der Butler den Raum. Er war seiner Zunft entsprechend sehr formell gekleidet und schien im selben Alter wie seine Herrschaft zu sein. Sein Gesicht war starr.
"Sir, ein Mr. Jim Field möchte Sie dringend sprechen", erklärte er.
Sir Wilfried drehte sich herum. Auf seiner Stirn erschienen tiefe Falten. Sein Gesicht zeigte Ärger.
"Habe ich nicht gesagt, dass..."
"Tut mir leid, aber Mr. Field lässt sich nicht abweisen. Er besteht darauf..."
"Schon gut, Walter. Sie können nichts dafür. Er soll hereinkommen!"
Die Falten auf Sir Wilfrieds Stirn vertieften sich noch, als er den jungen Mann mit dem etwas überlangen blonden Haar, der zerschlissenen Jeans und dem zerbeulten Jackett sah. Scheu betrat Jim Field den kostbar ausgestatteten Salon. Sein Blick blieb einen Moment lang bei den düsteren Landschaftsgemälden und den kostbaren Wandteppichen hängen, deren ornamentale Verzierungen einzigartig waren. Lady Margret begrüßte Jim recht freundlich, während Sir Wilfried ziemlich abweisend blieb.
"Sie gehören zu diesen Leuten, die unser Landhaus als Kulisse für Fotos benutzen", stellte er dann fest.
"Ich bin Fotograf", erwiderte Jim mit hörbarem Selbstbewusstsein in der Stimme.
"Wie auch immer, Mr. Field. Was wollen Sie von mir? Ich stelle Ihnen und Ihren Leuten zwar mein Anwesen zur Verfügung, damit Sie Ihre Kleider ins rechte Licht setzen können, aber das heißt ja nicht, dass Sie das Recht haben, auch noch meine Zeit zu stehlen..."
"Das ist keineswegs meine Absicht, Lord Barnstable!", erwiderte Jim.
Jetzt mischte sich Lady Margret ein. Sie trat neben ihren Mann und legte ihm ihre Hand auf den Unterarm.
"Lass ihn doch wenigstens aussprechen, Darling..."
"Es geht um einige Fotos, die ich letztes Wochenende hier gemacht habe..." Jim holte die Abzüge aus der Innentasche seines Jacketts hervor und hielt sie den Barnstables zur Ansicht hin. Sir Wilfried nahm sie und betrachtete sie mit skeptischen Blick. Seine Frau nahm ihm einige der Fotos aus der Hand. Ihre sanften, etwas verklärten Züge wandelten sich. Zwischen ihren Augen bildete sich eine tiefe Falte.
"Es geht nicht um die Models", erklärte Jim, "sondern um die Frau im Hintergrund. Das transparente Gesicht..."
"Wie kommen diese Bilder zu Stande?", schnitt Lord Barnstable Jim das Wort ab.
"Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht!" Sir Wilfrieds Augen leuchteten. Er schluckte. Das was er sah, hatte irgendetwas in ihm ausgelöst. Jim hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, was das sein konnte.
"Wer ist diese Frau?", fragte Jim. Die beiden Barnstables sahen sich an. Dann gab Sir Wilfried ihm seinen Teil der Fotos zurück. Lady Margret folgte seinem Beispiel.
Schweigen schlug Jim entgegen.
Abweisende Blicke, voller Schmerz.
"Sie kennen diese junge Frau, nicht wahr?", stellte Jim fest.
"Bitte lassen Sie uns in Ruhe", erklärte Sir Wilfried dann auf eine Art und Weise, die keinerlei Widerspruch zuzulassen schien. "Wir haben nicht umsonst ein zurückgezogenes Leben gewählt..."
"Wir möchten nicht länger von Ihnen belästigt werden, Mr. Field! Ich weiß auch nicht, was Sie mit Ihren Fragen und diesen offensichtlich fotomontierten Bildern bezwecken, aber..."
"Hören Sie, Sir, es war keineswegs meine Absicht!"
"Es ist mir gleichgültig, was Ihre Absicht war, Mr. Field!", donnerte Sir Wilfried dazwischen. "Tun Sie Ihre Arbeit und verschwinden Sie dann aus unserem Leben! Walter wird Sie hinausgeleiten!"
Jim atmete tief durch.
Er registrierte, dass selbst Lady Margret ihren Mann etwas erschrocken musterte. Dieser Ausbruch schien auch für sie unerwartet gekommen zu sein.
Der Butler trat auf Jim zu.
"Sir..."
"Danke, aber ich kenne den Weg", erwiderte Jim. Einen letzten Blick wandte er den Barnstables zu. Irgendetwas stimmt hier nicht!, ging es ihm durch den Kopf. Eine unheimliche, kalte Atmosphäre beherrschte diesen Ort. Selbst die Wände schienen Kälte auszustrahlen. Ein seltsames Haus!, dachte Jim. Er fühlte sich unwillkürlich an eine Totengruft erinnert.
"Auf Wiedersehen", sagte er knapp. Und Sir Wilfried erwiderte unmissverständlich: "Leben Sie wohl, Mr. Field!"
10
Der Tag verlief für Jim recht erfolgreich. Es war ein Sonntag und dazu noch einer, der seinem Namen alle Ehre machte. Es schien tatsächlich für längere Zeit die Sonne. Die Lichtverhältnisse waren fantastisch. Sicher würde er das bei diesem Shooting gewonnene 'Rohmaterial' noch bearbeiten müssen, aber der Aufwand würde sich im Rahmen halten. Film um Film verknipste Jim.
Die Auftraggeber der Bilder hatten ihre ganz bestimmten Wünsche, die nicht immer leicht zu erfüllen waren. Letztlich ging es darum, Kleider so darzustellen, dass jede Frau, die entsprechende Foto in einer Illustrierten sah, sich danach sehnte, in ebenso tollen Kleidern daherzuflanieren wie diese Models.
Gegen Mittag wurde eine kurze Pause gemacht. Jim ging zu seinem Wagen, einer uralten erbarmungswürdigen Rostlaube, die er wohl mehr oder minder um irgendwelcher nostalgischer Gefühle willen fuhr. Er pflegte sie mit viel Liebe zum Detail und man konnte sich nur darüber wundern, dass dieses Gefährt sich überhaupt noch von der Stelle bewegte. Er öffnete die Beifahrertür und holte einen neuen Film aus dem Handschuhfach. Außerdem wollte er sich jetzt die Dose Cola genehmigen, die auf dem Fußboden lag. Er öffnete sie, beplemperte sich dabei etwas und trank die Hälfte des Inhalts in einem Zug leer.
Dann setzte er die Dose vom Mund ab, atmete tief durch und...
Erstarrte!
Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
In einer Entfernung von vielleicht zwanzig, dreißig Metern sah er eine Gestalt hinter einem verwelkt wirkenden Busch auftauchen.
Sie war es.
Die Frau, die auf geheimnisvolle Weise auf seinen Bildern erschienen war.
Ihre blauen Augen sahen ihn an. Sie warf das lange, blonde Haar in den Nacken. Ihre Schritte hatten etwas Graziles, Katzenhaftes an sich.
Das Kleid schmiegte sich eng um ihren anmutigen Körper. Ihre Lippen waren voll, aber seltsam blass. Sie bewegten sich, öffneten sich halb und verzogen sich zu einem Lächeln, das Jim Field eisige Schauder über den Rücken trieb. Nie zuvor hatte er ein Lächeln gesehen, dass so voller Hass und Zynismus war.
Im selben Moment hörte er das leichte Grollen eines Donners. Er blickte auf und stellte fest, dass sich einige Wolken zu immer dunkler werdenden Gebirgen aufgetürmt hatten. Ganz schnell musste das geschehen sein. Die Sonne wurde verdeckt. Und ein kühler Wind strich auf einmal über die sanften Hügel. Ein Wind, der die Models aufkreischen ließ. Irgendjemandem war ein Hut oder Kopftuch weggeweht... Die anderen aus dem Shooting-Team hatten von der jungen Frau mit den blauen Augen keinerlei Notiz genommen. Sie standen abseits, hatten laut gescherzt, Witze gemacht und versucht, sich in der kurzen Pause, die ihnen vergönnt war, etwas zu entspannen. Schließlich lagen noch ein paar Stunden harter Arbeit vor ihnen, die volle Konzentration verlangte. Wieder grollte der Donner.
Es klang bedrohlich. Ein Blitz zuckte bereits.
"Das hat uns noch gefehlt!", war jemand zu hören. "Ich hoffe, wir kriegen unser Programm noch über die Bühne!" Jim achtete nicht darauf.
Die Lichtverhältnisse, die Models, all das war ihm im Augenblick völlig gleichgültig.
Er dachte an die blonde Frau.
Sie drehte sich herum, ging davon.
Schritt um Schritt entfernte sie sich.
Jim schluckte. Einen Moment lang war er unfähig etwas zu sagen. Aus irgendeinem Grund schien ihm ein dicker Kloß im Hals zu stecken.
Dann rief er: "Warten Sie!"
Die junge Frau zeigte keinerlei Reaktion. Sie wurde jetzt bereits halb von dem Gebüsch verdeckt, hinter dem Jim sie zuerst gesehen hatte. Ihre Schritte lenkten sie auf eine Gruppe verdorrter, sehr knorriger Bäume zu, die wie ins riesenhafte vergrößerte Bonsais wirkten.
Jim folgte ihr. "Warten Sie!", rief er. Er setzte zu einem kleinen Spurt an, trank den Rest der Cola-Dose aus, damit der Inhalt nicht herausschwappte und sah dann, wie sie sich langsam herumdrehte.
Jim lief auf sie zu.
Wenige Schritte von ihr entfernt, hielt er an, betrachtete sie und fühlte Unbehagen in sich aufsteigen.
"Wer sind Sie?", fragte er.
Sie bewegte nicht die Lippen.
Und doch war ein schallendes Gelächter zu hören, das auf unnatürliche den akustischen Gegebenheiten dieser Landschaft völlig widersprechende Weise widerhallte.
Ihre blauen Augen musterten ihn.
Und dabei veränderten sie sich.
Sie wurden pechschwarz.
So finster wie die dunkelste Nacht.
In nächster Sekunde zuckten Blitze in diesem Dunkel. Blitze, deren Licht so intensiv war, dass Jim erschrocken die Hände hob, um seine Augen zu schützen. Eine Welle aus purem, weißblauem Licht schien ihn zu überschütten. Sekundenlang war er wie blind. Er konnte nichts sehen, nur dieses unheimlich intensive Licht. Entsetzen packte ihn. Er spürte sehr deutlich, dass in diesem Augenblick etwas mit ihm geschah. Etwas Außergewöhnliches, Unerklärbares... Er nahm die Hände vor die Augen und fühlte ein Prickeln seinen gesamten Körper durchlaufen.
Beinahe wie eine elektrische Entladung.
Ein Augenblick verging.
Dann nahm Jim die Hände zur Seite. Langsam begannen sich Konturen vor seinen Augen zu bilden, die sich nach und nach wieder zu Bildern zusammenfügten.
Er konnte wieder sehen.
Jim blickte sich um, aber von der Frau mit den schwarzen Augen war nirgends etwas zu sehen, obwohl das Gelände weithin ziemlich übersichtlich war.
Wie vom Erdboden verschluckt...
Jim drehte sich herum.
Etwas stimmt hier nicht!, ging es ihm durch den Kopf. Seine Augenbrauen bildeten eine Schlangenlinie. Er fragte sich, wo die anderen aus dem Shooting-Team waren. Aber da war niemand.
Er war allein an diesem Ort. Völlig allein. Und noch etwas war anders.
Jim hatte erst nach einigen Augenblicken wirklich begriffen, was es war.
Die Erkenntnis war für ihn wie ein Schlag vor den Kopf. Er blickte zum Horizont.
Die Sonne schickte sich gerade an, hinter den Hügeln zu versinken, obwohl es eigentlich früher Nachmittag war!
Das Grauen kroch Jim wie eine kalte, glitschige Hand den Rücken hinauf. Was ist hier nur geschehen?, fragte er sich. Die Dämmerung legte sich wie grauer Spinnweben über das karge, unfreundliche Land.
11
"Haben Sie Mr. Field gesehen?", fragte Michael T. Swann mich am Montag. "Wir haben schon fast Mittag und er ist noch immer nicht aufgetaucht. Manchmal nimmt er die Dinge zwar nicht ganz so genau, aber langsam beginne ich mich zu wundern." Ich schüttelte den Kopf.
"Tut mir leid, Mr. Swann, ich habe ihn auch noch nicht gesehen..."
"Vielleicht hat er ja was Besseres gefunden, als Starfotos für die NEWS zu schießen." Swann zuckte die Achseln.
"Irgendwann hat es ja mal soweit kommen müssen." Jim tauchte auch in den nächsten Stunden nicht auf. Ich rief bei ihm zu Hause an. Aber da meldete sich nur sein automatischer Anrufbeantworter.
Kurz vor Redaktionsschluss versuchte ich es noch einmal. Aber auch da meldete er sich nicht.
Ich nahm mir Jims Schreibtisch in der Redaktion vor. Er war kein besonders ordentlicher Mensch. Und so bildete sein Schreibtisch ein mehr oder minder großes Chaos. Das Chaos wurde nur dadurch in Grenzen gehalten, dass sein Metier die Bilder waren und er daher wenig zu schreiben hatte. Ich suchte etwas herum und fand schließlich seinen Terminkalender. Für das letzte Wochenende war der Name einer Agentur für Modefotos eingetragen. Die Telefonnummer fand ich im Telefonbuch. Ich rief von Jims Apparat aus an und hoffte, dass dort zu dieser Zeit noch jemand arbeitete. Ich hatte Glück.
Offenbar stand man in der Modebranche spät auf und arbeitete dafür etwas länger.
Ich erkundigte mich nach Jim Field und erfuhr etwas sehr erstaunliches. "Gestern hatten wir Mr. Field unter Vertrag. Es ging um ein Shooting bei einem alten Landhaus...", erläuterte mir ein Mann mit einer angenehmen, tiefen Stimme.
"Ich weiß, er hat mir davon erzählt", erwiderte ich etwas ungeduldig.
"Nun, er war gestern plötzlich verschwunden. Mitten bei der Arbeit. Wir haben eine kleine Pause gemacht, und ich war noch so ärgerlich, weil eine dieser dummen Gänse - ich meine Models - bei einem ungeschickten Schritt das Kleid zerrissen hat, und dann..."
"Was war dann?", fragte ich.
"Mr. Field war verschwunden. Er ist einfach nicht wieder aufgetaucht. Es hat ihn an dem Tag niemand mehr gesehen. Sollten Sie ihn wirklich so gut kennen, wie Sie behaupten, dann richten Sie ihm doch bitte aus, dass er sich auf eine Schadensersatzklage gefasst machen und sich sein Honorar sonstwohin schmieren kann! Was glauben Sie, was so ein Tag kostet!"
Ich nahm den Hörer etwas vom Ohr.
Mein Gesprächspartner war so erregt, dass die Schmerzgrenze deutlich überschritten war.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich die breitschultrige Gestalt eines dunkelhaarigen Mannes. Tom Hamiltons grüngraue Augen musterten mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Zuneigung.
Ich beendete das Gespräch ziemlich abrupt und legte auf.
"Nanu, habe ich irgendetwas nicht mitbekommen, oder hast du jetzt einen anderen Schreibtisch?", fragte er mich, ging auf mich zu und nahm zärtlich meine Hände. Ich schmiegte mich einen Augenblick an ihn. Er küsste mich. Dann sagte er: "Vermutlich hast du mit Mr. Field getauscht, weil dein Platz dann ein paar Tische näher an meinem Tisch ist!"
"Oh, das wäre ein Grund, diesen Platz rundheraus abzulehnen, Tom!"
"Ach, ja?"
"Glaubst du, ich könnte mich noch auf meine Arbeit konzentrieren, wenn ich weiß, dass mein Liebster nur ein paar Meter entfernt sitzt..."
"Ah, du bist doch Profi!"
"...und mir Blicke zuwirft, die jeden einzelnen Schmetterling, der in meinem Bauch schlummert, erbarmungslos aufweckt und zum Tanzen bringt!"
"Kann es sein, dass du ein bisschen übertreibst!"
"Tom, wir arbeiten bei einer Boulevard-Zeitung! Da gehört die Übertreibung zum Geschäft!"
"Richtig, ich vergaß!"
Ich seufzte, sah ihn an. Unsere Blicke verschmolzen miteinander. Seine ruhigen Augen musterten mich.
"Ich habe ein bisschen von deinem Telefongespräch mitgehört", erklärte er dann. "Du machst dich nicht nur einfach so an Jims Schreibtisch zu schaffen..."
"Man kann dir nichts vormachen, oder?"
"Man schon - du kaum, Patti!"
"Jim ist verschwunden", sagte ich dann. Und dann sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich erzählte ihm von der Vision, von den Fotos und davon, dass Jim das letzte Wochenende auf einem Landsitz mit dem Namen Barnstable Manor verbracht hatte, um Modefotos zu schießen.
Er hörte mir mit nachdenklichem Gesicht zu.
"Es könnte eine ganz harmlose Erklärung dafür geben", meinte er dann.
Ich nickte.
"Ich weiß", gestand ich ein. "Vermutlich hältst du mich jetzt für hysterisch, aber ich habe das Gefühl, dass das nicht der Fall ist..."
Ich wandte mich noch einmal dem Schreibtisch zu. Wie automatisch glitten meine Finger über die herumliegenden Zettel, über die Abzüge von Fotos, die da herumlagen....
Und plötzlich...
Es dauerte nicht länger als einen Sekundenbruchteil. Ich sah wieder das unvergleichlich ebenmäßige Gesicht jener Frau vor sich, deren Gesicht mir das erste Mal in meiner Vision begegnet war.
Das Gesicht der Frau mit den schwarzen Augen. Sie lachte, während es in den dunklen Augenhöhlen blauweiß blitzte. Das Lachen hallte, so als hätte sich die junge Frau in einer großen Kathedrale befunden. Aber die Szenerie befand sich im Freien. Ich sah sanfte Hügel, überwuchert von halbverdorrtem Gras und verkümmert wirkenden Sträuchern und Bäumen. Ein Haus, das aus großen grauen Steinen errichtet worden war, bildete den Hintergrund. Abweisend und kalt wirkte dieses Gemäuer.
Und dann sah ich Jim.
Er stand da, blickte etwas orientierungslos drein. Die junge Frau mit den schwarzen Augen nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich.
In der nächsten Sekunde war die Vision zu Ende.
"Alles in Ordnung, Patti?", fragte Tom. Ich nickte, noch ganz unter dem Eindruck dessen, was ich gesehen hatte.
Dann sah ich Tom an.
"Ich weiß, dass Jim in großer Gefahr ist", sagte ich. "Es klingt vielleicht absurd, aber..."
"Du hattest eine Vision?", fragte er.
"Ja. Ich kann dir nicht viel mehr sagen, aber er muss noch in der Gegend um Barnstable Manor sein..." Mein Blick, mit dem ich Tom bedachte, muss sehr hilfesuchend gewirkt haben. Er strich mir sanft über die Wange. "Hilfst du mir?", fragte ich. Er seufzte.
"Eigentlich hatte ich an einen gemütlichen Abend zu zweit gedacht. Kerzenlicht. Gedämpfte Musik, nur du und ich..."
"Hm, ich..."
Er legte mir den Zeigefinger auf die Lippen.
"Schon gut", sagte er. "Also - wohin geht es?"
"Zunächst einmal zu Jims Wohnung. Ich will sicher sein, dass ich mich nicht völlig getäuscht habe... Obwohl ich mir das kaum vorstellen kann."