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Patricia Vanhelsing: Sidney Gardner - Jägerin der Dämonen

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 130 Seiten

Zusammenfassung

Jägerin der Dämonen
von Alfred Bekker

Die übersinnlich begabte Patricia Vanhelsing und ihr mysteriöser Gefährte Tom Hamilton sind auf der Spur grausamer Walddämonen...

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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1

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Ich habe eine besondere Gabe.

Eine Gabe, die ich geerbt habe. Sie ist Teil der Familie Vanhelsing. Ein Fluch, der auf mir lastet – und eine große Verantwortung.

Mein Name ist Patricia Vanhelsing und schon die entfernte Verwandtschaft zu einem gewissen Vampirjäger ähnlichen Namens sollte jedem klarmachen, dass er es nicht mit einer gewöhnlichen Frau zu tun hat, wenn er mir begegnet.

Denn ich sehe die Zulunft.

In Ausschnitten. In Visionen und auf manchmal beängstigemde Art und Weise.

Aber lassen Sie mich die Geschichte von Anfang an erzählen.

*

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BLEICH STAND DER MOND als großes Oval am Nachthimmel. Das fahle Licht schien durch die Kronen der knorrigen, seltsam verwachsenen Bäume, die wie bizarre Skulpturen wirkten. Dunklen, schattenhaften Gestalten gleich standen sie da. Und dort, wo das Mondlicht auf die aufgesprungene Rinde schien, glaubte man, verzerrte, fratzenhafte Gesichter erkennen zu können. Es war kein gewöhnlicher Wald. Die Aura unvorstellbaren Alters haftete ihm an. Ein klagender Laut war aus der Tiefe des Waldes heraus zu hören. Vielleicht der Wind...

Oder ein Tier?

Am Waldrand standen einige Gestalten. Zitternd. Es war eine für die Jahreszeit ungewöhnlich kalte Nacht.

"Die Geister der Verfluchten... Hört ihr sie?", sagte eine Männerstimme. Vorsichtig näherte sich die kleine Gruppe den ersten Bäumen.

"Wir müssen uns beeilen", sagte eine Frau. "Wenn wir es in dieser Nacht nicht vollbringen, wird das Böse wieder Überhand gewinnen..."

Unter dem Arm trugen einige der Männer dicke Bündel, die in mottenzerfressene Decken eingewickelt waren.

"Seht nur...", flüsterte eine der Frauen. Ihre Stimme wurde von dem stöhnenden Wind beinahe verschluckt.

Ängstlich blickten sie sich um. Kaum merklich schienen sich die Strukturen auf den Baumrinden zu verändern. Formen begannen sich hier und da aus den Stämmen herauszubilden. Zunächst wirkten sie wie eigenartige Verwachsungen und Beulen, die sich innerhalb von Augenblicken herauszuheben begannen. Man konnte zusehen, wie sie wuchsen. Das seltsame Klagen schwoll zu einem schauerlichen Chor an. Wie ein Chor der verdammten Seelen... Nasen, Augen und Münder schälten sich auf gespenstische Weise aus den verkrüppelt wirkenden Baumstämmen heraus.

Köpfe materialisierten sich aus dem Holz heraus. Die Gesichter waren verzerrt, in den Augen leuchtete es unheimlich. Sie waren vollkommen weiß.

Äste wurden zu grotesken Greifarmen.

Die Männer und Frauen blieben stehen und blickten wie erstarrt diesen geisterhaften Erscheinungen entgegen.

"Die Geister des Bösen, sie gewinnen die Oberhand..."

"Aber das ist doch unmöglich!"

"Nur die Ruhe!"

Die Bündel wurden auf den Boden gelegt und ausgerollt. Das Mondlicht beschien dicke Holzpfähle, die unten zugespitzt waren, so dass man sie in den Boden rammen konnte.

Oben befanden sich eigenartige Schnitzereien.

Fratzenhafte Gesichter, die nur entfernte Ähnlichkeit mit den Zügen von Menschen aufwiesen. Mit raubtierhaften Reißzähnen ausgestattete Mäuler waren weit aufgerissen und verliehen diesen fratzenhaften Gesichtern ein grimmiges Aussehen.

Wie auf ein geheimes Kommando hin bildeten die Anwesenden eine Art Halbkreis. Jeder der Anwesenden hatte einen der Pfähle gepackt und vor sich in den weichen Waldboden gerammt. Einer der Männer führte einen schweren Vorschlaghammer mit sich und trieb jeden der insgesamt dreizehn Pfähle mit genau drei Schlägen in den Boden hinein.

Drei Schläge...

Mehr durften es nicht sein.

Alles musste genau so vor sich gehen, wie es das alte Ritual verlangte, mit dem schon vor Jahrtausenden dem Ansturm des Bösen getrotzt worden war... Dumpf klangen die Hammerschläge in den Wald hinein. Und es schien beinahe so, als würde dort jemand jedesmal aufstöhnen. Die Stämme der Bäume formten Gesichter, die zu schreien schienen. Züge des Schmerzes zeichneten sie. Und namenloser Hass leuchtete aus den Augen dieser geisterhaften Wesen heraus, die dem Wald ein derart gespenstisches Leben eingehaucht hatten.

"Es ist vollbracht", sagte der Mann, der den Vorschlaghammer führte, schließlich keuchend. Die Furcht leuchtete auch aus seinen Augen heraus. Aber er wusste, dass das, was sie hier taten, zu Ende gebracht werden musste. Schon begann sich eines der gespenstischen Baumwesen zu bewegen. Der Anblick allein ließ die Männer und Frauen am Waldrand bereits schlucken. Ein groteskes Zwitterwesen aus Baum und Mensch stand vor ihnen. Der Kopf trug einen großen, zylindrischen Hut. Der große weiße Kragen über der schwarzen Jacke erinnerte an die Mode der Puritaner zu Zeiten eines Oliver Cromwell. Diese Gestalt schien ein Stück aus dem Baum herauszuwachsen. Die Schultern mündeten in dicken, knorrigen Ästen, die sich wie tentakelhafte Arme bewegten. Auf geheimnisvolle Weise schien das Holz mit einem Mal biegsam und lebendig geworden zu sein. Wie krallenbewehrte Finger bewegten sich die letzten kleinen Verästelungen hin und her. Ein grimmiger Laut drang aus dem dünnlippigen Mund inmitten des totenbleichen Gesichts. Mit einem furchtbaren, reißenden Geräusch begannen sich die Wurzeln aus der Erde zu lösen. Von einem Augenblick zum nächsten lief ein Riss durch die Erde. Eine Furche, wie von einem unsichtbaren Pflug innerhalb von Sekunden gezogen. Und schon im nächsten Moment hatte sich eine zweite gebildet. Langen Würmern gleich, begannen die Wurzelstränge ein Eigenleben zu entwickeln und aus der Erde herauszukriechen.

Eine der Frauen schrie auf, als eine dieser unterirdischen Verästelungen sich wie eine Schlinge um ihren Fuß zu legen begann. Sie wich zurück.

Und mindestens ein Dutzend dieser seltsamen Zwittergestalten zwischen Baum und Mensch stimmten ein höhnisches Gelächter an.

Das Dunkel des Waldes wurde erfüllt von immer mehr kleinen Lichtquellen. Wie kleine Sterne in der Dunkelheit funkelten sie. Es waren die Augen dieser unheimlichen Wesen...

Eines dieser Baumwesen machte nun so etwas wie einen Schritt.

Weitere Furchen zogen sich durch den weichen Boden.

"Zurück!", rief der Mann mit dem Vorschlaghammer, der sein Werkzeug fallenließ. Auch er konnte sich der grausamen Faszination dieses übernatürlichen Schauspiels kaum entziehen.

"Es ist vollbracht", flüsterte er, während sich die anderen, die mit ihm gekommen waren, um ihn scharrten und angstvoll in den Wald hineinblickten.

Der Mann, der den Vorschlaghammer getragen hatte, griff in seine Jackentasche. Er umfasste einen kalten Stein. Ein Prickeln durchlief seinen Arm und breitete sich von dort aus über seinen gesamten Körper aus.

Er holte den Stein aus der Tasche heraus und hielt ihn ins Mondlicht. Der Stein veränderte sich. Er leuchtete mattrot, als ob ein eigenartiges Feuer in ihm brannte... Das Prickeln wurde stärker und stärker. Schließlich war es beinahe schmerzhaft. Eine unheimliche Kraft durchflutete den Mann. Eine Kraft, die sich kaum ertragen ließ. Er verzog das Gesicht, schloss die Augen und stöhnte auf.

"George!", rief eine der Frauen.

Aber der Mann schien sie jetzt nicht hören zu können. Er befand sich in einer Art Trance. Die Augen öffneten sich wieder. Und dasselbe mattrote Leuchten, das den Stein in seiner Hand erfüllte, war nun auch in seinen Augen zu finden. Das Leuchten pulsierte in einem unregelmäßigen Rhythmus.

Aus dem Wald kam aus vielen Kehlen ein Aufschrei des blanken Entsetzens. Ein Laut der Verstörung. Verzweiflung begann sich in den Gesichtern zu spiegeln, die sich auf so schauderhafte Weise aus den knorrigen Bäumen herausmaterialisiert hatten.

Der Mann, der den Stein hielt, warf ihn in diesem Moment mit einer ruckartigen Bewegung von sich. Er taumelte dabei rückwärts und fiel zu Boden.

Der Stein segelte mit unnatürlicher Langsamkeit durch die Luft, fast so, als hätte er nur das Gewicht einer Feder. Sanft und ohne einen Laut kam er auf dem weichen Waldboden auf - genau im Zentrum des Halbkreises, der durch die Pfähle gebildet wurde.

Mit einem Zischen schossen rotglühende Strahlen aus dem Stein heraus. Genau dreizehn Lichtblitze zuckten durch die Nacht. Und jeder dieser rotglühenden Strahlen traf eines der geisterhaften Gesichter, die in die Pfähle hineingeschnitzt worden waren. Ein Leuchten begann daraufhin deren Augen zu erfüllen. Und ihre tierhaften Mäuler bewegten sich. Laute begannen sich zu formen. Dumpfe Silben einer unbekannten, vielleicht vergessenen Sprache. Die Pfahlgesichter bildeten einen geradezu gespenstischen Chor.

Aber diese dunklen Stimmen schienen große Macht zu haben.

Und wenn man auch kein einziges, dieser uralte Worte zu verstehen vermochte, so war doch sofort zu erkennen, dass es sich um so etwas wie Befehle handeln musste.

Und die Baumgespenster gehorchten.

Unter lautem Wehklagen wurden aus den tentakelhaften Armen wieder starre, verwachsene Äste und die Köpfe schrumpften zurück in die Baumstämme, aus deren Holz sie herausmaterialisiert waren. Die Männer und Frauen am Waldrand sahen wie gebannt zu. Bald war nichts mehr von den Waldgespenstern zu sehen, als die gewöhnlichen Unregelmäßigkeiten, wie man sie häufig bei sehr alten oder durch Blitzeinschlag oder andere Umstände verkrüppelten Bäumen antrifft. Eine Art Totenruhe breitete sich aus.

"George, wann wird dieser Spuk ein Ende haben?", fragte eine weibliche Stimme.

Es dauerte einen Augenblick, bis die Antwort kam.

"Ich weiß es nicht."

"Aber..."

"Sie werden wiederkehren! In der nächsten Nacht schon..." Es folgte ein Augenblick des Schweigens. Niemand sagte etwas. Kalter Wind strich zwischen den Bäumen hindurch. Und der Mond wirkte jetzt wie ein großes Auge, das sie mitleidlos beobachtete.

"Da kommt jemand", flüsterte eine der Frauen. "Seht nur!" Von einem nahen Hang kam eine Gestalt mit schnellen Schritten herbei. Als dunkler Schattenriss hob sie sich gegen das blasse Mondlicht ab.

"Wer ist das?", fragte jemand.

Einen Augenblick fiel das Mondlicht so, dass das Gesicht des Ankommenden deutlich zu sehen war.

"Das ist Reverend Meany!", zischte der Mann, der George genannt worden war. Und seine Hände ballten sich dabei zu Fäusten.

"Was will er hier?", fragte die Frau.

"Ich kann es mir denken", brummte George. "Aber er kommt zu spät... Zum Glück für uns alle!"

Die Gestalt blieb jetzt stehen. Der Mann richtete den Blick auf die Gruppe der wie erstarrt dastehenden Männer und Frauen.

"Was habt ihr getan?", rief er.

"Du bist zu spät gekommen, Meany!", rief George. Mit eiligen Schritten kam Meany jetzt näher, während die anderen ruhig zusahen, wie der Reverend herannahte. Als Meany die Gruppe erreicht hatte, atmete er tief durch. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte auf den Halbkreis der in den Boden gerammten Pfähle...

"Ihr wisst nicht, was ihr da tut", flüsterte er.

"Wir tun das, was Sie auch tun sollten, Reverend! Wir bekämpfen das Böse!", erklärte eine der Frauen. Meany schüttelte den Kopf. "Nein", flüsterte er. "Ganz im Gegenteil! Ihr verhelft dem Bösen zu immer größerer Stärke!"

Verzweiflung spiegelte sich in Meanys Zügen.

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2

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Der Schein der Straßenlaternen ließ Tom Hamiltons markante Züge etwas weicher erscheinen. Ein Lächeln spielte um seinen Mund und der Blick, mit dem seine graugrünen Augen mich musterte, ging mir durch und durch.

Wir hatten uns in einem der zahlreiche italienischen Restaurants gegenübergesessen, die es in London gab. Jetzt schlenderten wir die Uferpromenade entlang und hatten einen herrlichen Blick auf die Themse und die nächtliche Skyline vom anderen Flussufer. Das Lichtermeer einer Großstadt. Als dunkler Schatten glitt ein großer Frachter flussabwärts. Es war eine nasskalte Nacht, aber Tom hatte seinen Arm wärmend um meine Schultern gelegt, so dass ich mich dennoch warm und geborgen fühlte.

Wir hatten es nicht sehr eilig.

Auf die Uhr gesehen hatte ich schon seit langem nicht mehr.

Irgendwann blieben wir stehen. Wir sahen uns an und unsere Lippen fanden sich zu einem Kuss voller Leidenschaft. Ich hatte ein Gefühl, als ob alles in mir sich zu drehen begann. Eine Art Glückstaumel.

Ein rauschhafter Traum, aus dem ich eigentlich nie wieder erwachen wollte.

Ich umfasste seine Taille.

Wir sahen uns an.

Der Blick dieser grüngrauen Augen hatte noch immer kaum etwas von seiner Rätselhaftigkeit verloren.

"Es war ein wunderbarer Abend, Patricia", sagte Tom mit seiner dunklen Stimme. Seine Hand ergriff die meine und ein wohliger Schauer überlief mich.

"Das fand ich auch", flüsterte ich und schenkte ihm ein verliebtes Lächeln.

Tom Hamilton war seit einiger Zeit bei derselben Boulevard-Zeitung als Reporter angestellt wie ich. Ich hatte diesen großen, dunkelhaarigen Mann von Anfang an sympathisch gefunden, allerdings waren wir uns erst vor kurzem wirklich nähergekommen.

Und nun hatte ich mich unsterblich in diesen geheimnisvollen Mann verliebt.

Den ganzen Abend über hatte ich viel geredet. Es war einfach so aus mir herausgesprudelt. Episoden aus meiner Jugend bei meiner Großtante Elizabeth Vanhelsing, bei der ich seit dem frühen Tod meiner Eltern wohnte und in deren verwinkelter viktorianischer Villa ich bis heute lebte. Er hatte sich sehr für das Archiv interessiert, das Tante Lizzy - wie ich Elizabeth nannte - betrieb. Ein Archiv in dem alles, was an Berichten, Dokumenten oder Büchern zum Thema Okkultismus und übersinnliche Phänomene existierte, gesammelt wurde. Vermutlich hatte Tante Lizzy auf diesem Gebiet eine der größten Sammlungen an seltenen, teils sehr abseitigen Schriften und Presseartikeln, die es im gesamten Vereinigten Königreich gab.

Schon oft hatte sie mir bei Recherchen zu diesem Themenbereich wertvolle Hilfe geleistet. Nicht selten hätte ich ohne sie gar nicht gewusst, wie ich weiterkommen sollte. Ihr Mann Frederik Vanhelsing war einst ein berühmter Archäologe gewesen, der von einer Forschungsreise in den südamerikanischen Regenwald nicht zurückgekehrt war. Seitdem war er verschollen.

Ich sprach sogar über den Tod meiner Eltern, ein Thema, das ich nicht sehr gerne anschnitt, weil es mich innerlich aufwühlte.

Aber Tom vertraute ich.

Nur über eine Sache hatte ich bisher nicht mit ihm gesprochen. Die Tatsache, dass ich über eine leichte übersinnliche Begabung verfügte. Meine seherischen Fähigkeiten zeigten sich in Träumen und tagtraumhaften Visionen. Manchmal auch nur in vagen Ahnungen. Ich war in bestimmten Augenblicken in der Lage, die Abgründe von Raum und Zeit zu überbrücken und Dinge zu sehen, die in der Zukunft, der Vergangenheit oder an entfernten Orten geschahen. Tante Lizzy war es gewesen, die mich auf diese Gabe einst als erste aufmerksam gemacht hatte. Aber ich hatte diese mehr als unheimliche Fähigkeit, fast schon als Fluch empfunden. Langsam nur war es mir möglich gewesen, mich mit ihr zu arrangieren.

Mehr als einmal war ich anderen Menschen begegnet, die über ähnliche, oft viel stärker ausgeprägte Fähigkeiten verfügten. Den meisten war es nicht gut bekommen, sofern ihre Begabung bekannt wurde. Manche von ihnen waren zu Gejagten von Geheimdiensten oder Medien geworden anderen hatte es das Leben gekostet, Dinge gesehen zu haben, die sie nicht sehen sollten.

Das Schicksal meiner Mutter, von der ich meine Begabung vermutlich geerbt hatte, war mir in dieser Hinsicht immer eine Warnung.

Ich bin Patricia Vanhelsing und – ja, ich bin tatsächlich mit dem berühmten Vampirjäger gleichen Namens verwandt. Weshalb unser Zweig der Familie seine Schreibweise von „van Helsing“ in „Vanhelsing“ änderte, kann ich Ihnen allerdings auch nicht genau sagen. Es existieren da innerhalb meiner Verwandtschaft die unterschiedlichsten Theorien. Um ehrlich zu sein, besonders einleuchtend erscheint mir keine davon. Aber muss es nicht auch Geheimnisse geben, die sich letztlich nicht erklären lassen? Eins können Sie mir jedenfalls glauben: Das Übernatürliche spielte bei uns schon immer eine besondere Rolle. In meinem Fall war es Fluch und Gabe zugleich.

"Was denkst du?", fragte Tom.

Der angenehme Klang seiner Stimme riss mich aus meinen Gedanken heraus.

"Nichts", sagte ich und schmiegte mich an ihn.

"Du bist auf einmal so schweigsam."

"Und du das genaue Gegenteil, Tom!"

Er lachte. "Ist das ein Vorwurf?"

"Nein, eine Tatsache. Ich rede wie ein Wasserfall und inzwischen müsstest du beinahe meine gesamte Familiengeschichte kennen... Aber ich weiß noch immer so gut wie nichts über dich..."

"Ist das nicht übertrieben?"

Ich sah ihn an. Er zwinkerte mir zu.

"Vielleicht ein bisschen", gab ich zu.

"Haben wir nicht noch so viel Zeit?", erwiderte er lächelnd. Ich hob die Augenbrauen. "Das weiß man nie, Tom." Er zuckte die Achseln. "So düstere Andeutungen passen gar nicht zu dir!"

"Irre ich mich, oder weichst du meinen Fragen ein wenig aus, Tom!"

Er nahm mich in den Arm, und wir schlenderten weiter die Uferpromenade entlang.

"Da sieht man, dass du ein journalistischer Profi bist, Patti", meinte er.

"Wieso?"

"Kein Ablenkungsmanöver entgeht deinem Scharfsinn!"

"Du tust gerade so, als würde ich..."

"...mich ausquetschen", vollendete er scherzhaft. "Ganz recht, Patti. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sich jemand fühlt, der so unvorsichtig war, sich von dir interviewen zu lassen."

"Bis jetzt haben es alle überlebt, Tom! Ob du es nun glaubst oder nicht!"

Ich blieb stehen und schaute ihn an. Was wusste ich über ihn? Er war etwa 35 Jahre alt und für eine große Nachrichtenagentur in Übersee tätig gewesen. Keiner in der Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS hatte sich zunächst erklären können, weshalb jemand, der einen solchen Traumjob hatte, zu einem Boulevardblatt wie die NEWS ging. Für Tom war das ohne Zweifel ein Karriereknick gewesen. Sein Rauswurf hatte damit zu tun, dass er einige Monate in einem einsamen Kloster verbracht hatte. Pa Tam Ran hieß jener Ort und er lag irgendwo im undurchdringlichen Dschungel zwischen Laos, Kambodscha und Thailand.

Dort hatte man ihn spezielle Konzentrationstechniken gelehrt, mit deren Hilfe er in der Lage war, sich an seine früheren Leben zu erinnern. Tante Lizzy hatte natürlich sofort weitere Nachforschungen angestellt.

Tom Hamilton jedoch blieb, was diese Sache anging, einsilbig.

Als Kind schon hatte er unter seltsamen Träumen gelitten. Erst die Mönche von Pa Tam Ran hatten ihm gezeigt, worum es sich dabei wirklich handelte. Um Erinnerungen aus vergangenen Leben.

Ich konnte ihn nur zu gut verstehen.

In jeder Hinsicht. Und ich verstand auch, dass er damit zögerte, mehr darüber preiszugeben, so wie auch ich es bisher nicht übers Herz gebracht hatte, ihm von meiner Gabe zu erzählen.

Ich nestelte etwas verlegen am Revers seines Mantels herum.

"Vielleicht hast du recht", sagte ich schließlich leise, während ein kühler Wind von der Themse heraufblies. Im Licht der Laternen war zu sehen, wie sich die Wasseroberfläche kräuselte. "Wir haben wirklich genug Zeit, Tom..."

Er gab mir einen Kuss.

"Tom", sagte ich dann.

"Ja?"

"Bring mich nach Hause, Tom..."

"Ja."

"...und lass mich in dieser Nacht nicht allein!" Eng umschlungen gingen wir zum Wagen. Er machte mir die Tür auf. Ich setzte mich hinein. Und einen Augenblick später fuhren wir zusammen durch die Nacht. Ich blickte zu ihm hin, sah sein von der Straßenbeleuchtung nur teilweise erhelltes Gesicht im Profil.

Ich liebe ihn!, dachte ich und hatte dabei ein Gefühl, als ob ein gutes Dutzend Schmetterlinge in meiner Bauchgegend verrückt spielten.

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Als ich am nächsten Morgen das Großraumbüro betrat, in dem die Redaktion der LONDON EXPRESS NEWS untergebracht war, war dort der Teufel los.

Das Redaktionsbüro ist zwar stets ein Ort, an dem ständiges Kommen und Gehen herrscht.

Eine Atmosphäre hektischer Betriebsamkeit entfaltet sich hier zumeist, was viel damit zu tun hat, das man es bei einer Zeitung mit sehr schnell verderblicher Ware zu tun hat: Neuigkeiten aus aller Welt. Manchmal musste das ganze Blatt in letzter Sekunde noch mal komplett umgestaltet werden, wenn irgendeine wichtige Nachricht über die Fernschreiber tickerte oder uns eine Agentur sensationelles Bildmaterial zufaxte. Die Leser erwarteten von uns, das wir auf dem aktuellen Stand der Ereignisse waren.

An diesem Morgen allerdings bevölkerten nicht nur die Redakteure und freien Mitarbeiter das Büro, sondern auch noch Männer in blauen Kitteln, die schwere Kisten durch den Raum trugen. Das Stimmengewirr war auch deutlich hektischer als sonst üblich.

"Scheint heute einiges los zu sein", meinte Tom Hamilton, der kurz nach mir das Büro betrat. Ich drehte mich herum und erwiderte sein Lächeln. Wir hatten die Nacht zusammen in Tante Lizzys Villa verbracht, waren aber getrennt zum Verlagsgebäude gefahren, da jeder von uns seinen eigenen Wagen brauchen würde.

Ich nahm zärtlich seine Hand und drückte sie.

"Weißt du, heute Morgen kann mich vermutlich überhaupt nichts mehr aufregen, Tom", meinte ich. "Heute nicht..." Tom seufzte.

"Wenn du mich fragst, stehen große Veränderungen ins Haus!"

Ich runzelte die Stirn. In Toms Augen blitzte es mit leichtem Spott.

"Was meinst du damit?"

"Der Verlag der NEWS scheint ganz gegen seine sonstige Gewohnheit tief in die Tasche gegriffen zu haben, um jemanden anzuheuern, der deinen Schreibtisch für dich aufräumt, Patti!"

Ich folgte seiner Blickrichtung und erstarrte. Das darf doch nicht wahr sein!, ging es mir ärgerlich durch den Kopf. Da machte sich tatsächlich jemand an meinem Schreibtisch zu schaffen!

"Nein!", entfuhr es mir ärgerlich.

Tom legte mir den Arm um die Schulter. Aber auch das konnte den aufkeimenden Zorn in mir nicht beruhigen.

"Versuche, das Positive zu sehen", meinte Tom.

"Vermutlich will man uns Reporter jetzt von nicht journalistischen Aufgaben entlasten!"

"Sehr witzig!"

Ich ging mit schnellen, energischen Schritten auf meinen Schreibtisch zu. In einem Großraumbüro war die Privatsphäre ohnehin auf ein Minimum eingeschränkt. Man konnte zum Beispiel kaum ungeniert an seinem Bleistift herumkauen und nichts tun. Aber der Schreibtisch, das war mein Königreich. Da hatte niemand etwas dran zu schaffen.

"Dürfte ich mal wissen, was Sie da tun?", fragte ich mit bemühter Höflichkeit, als ich den Tisch erreichte. Ich fragte gegen den gebeugten, ziemlich breiten Rücken eines Mannes mit kurzgeschorenen grauen Haaren. Die Sachen, die auf meinem Schreibtisch gelegen hatten, hatte er einfach auf den Boden gelegt. Dort bildeten sie nun einen pittoresken Turm aus Papieren, Mappen, einem nicht richtig zusammengefalteten Stadtplan Londons und einer uralten Reiseschreibmaschine. Das Laptop, das ich vor allem auf Reisen immer mitzunehmen pflegte, hatte er wenigstens neben diesen eigenartigen Turm platziert, so dass ich hoffen konnte, dass es noch funktionierte.

Der breitschultrige Mann trat zur Seite und grinste.

"In Ihrer Redaktion brechen jetzt moderne Zeiten an", sagte er, während er einen halben Schritt zur Seite trat und so den Blick auf den Computerbildschirm freigab, den er auf meinem Schreibtisch installiert hatte.

Tom war mir gefolgt und warf einen fast bewundernden Blick auf die Anlage.

"Hätte ich unseren Verlagsoberen nie zugetraut, dass sie irgendwann einmal einsehen, dass man die Zeitung von morgen nicht mit mittelalterlichem Equipment gestalten kann", erklärte er leicht spöttisch.

Der Mann mit den grauen Haaren wandte sich indessen an mich. "Dies ist das Terminal für eine zentrale Computeranlage. Spaltenumbruch, Eingabe von Bildern und so weiter - das kann alles von hier aus gemacht werden." Er deutete auf ein dickes Handbuch und lachte. "Aber was erzähle ich! Lesen Sie es selbst nach!"

Ich trat an den Tisch heran.

"Alles installiert?", fragte ich.

"Sie brauchen nur auf den POWER-Knopf zu drücken." Genau das machte ich dann. Aber alles blieb dunkel. Kein Lämpchen blickte auf, kein Tonsignal erklang, und der Bildschirm blieb eine dunkle, glatte Fläche. Der Mann mit den kurzgeschorenen grauen Haaren kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

"Tja, da scheint irgendetwas mit der Stromzufuhr nicht zu klappen."

"Offensichtlich!"

"Ich werde mich drum kümmern. Es kann jetzt nur noch Stunden dauern!"

"Wie tröstlich..."

Ich drehte mich herum und sah, dass Tom mir mit zwei Bechern des dünnen Redaktionskaffees entgegenkam.

"Hier", sagte er. "An Arbeit ist im Moment wohl nicht zu denken. Und der Kaffee wird bald kalt sein. Die Kaffeemaschine hat nämlich auch keinen Strom. Scheint wohl an derselben Sicherung zu sitzen, wie der Kasten da!" Und dabei deutete er auf die neu installierte Computeranlage auf meinem Schreibtisch.

Ich nahm Tom einen der Kaffeebecher ab.

"Ich sehe schon kommen, dass wir heute eine Notausgabe zusammenstellen müssen!"

Tom zuckte die Schultern.

"Im Archiv lagern doch noch jede Menge Nachrufe und Kurzbiographien bekannter Persönlichkeiten. Damit könnten wir sicherlich eine Woche lang das Blatt füllen." Beiläufig war mein Blick auf den Schreibtisch des Kollegen Clark Dalglish gefallen, an den sich noch niemand zu schaffen gemacht hatte. Dalglish war ein Liebhaber japanischer Bonsai-Bäume. Daher hatte er auch einen dieser verkrüppelten kleinen Gewächse auf dem Schreibtisch stehen. Ich wusste nicht, wie oft ich diesen Bonsai schon kurz mit dem Blick gestreift hatte. Hundertmal an einem normalen Arbeitstag in der Redaktion. Vielleicht auch noch öfter. Er war mir nie besonders aufgefallen.

Aber als ich ihn diesmal ansah, war etwas anders. Der Baum schien sich vor meinen Augen zu verwandeln. Für Sekundenbruchteile glaubte ich, sehen zu können, wie sich die Konturen eines Gesichtes aus dem knorrigen Stamm des Bonsai herausbildeten. Zwei ganz und gar weiße Augen, die kleinen Feuern gleich leuchteten, schienen mich anzustarren. Der Mund verzog sich wie zu einem verzweifelten, aber stummen Schrei.

Alles um mich herum schien zu verschwimmen. Nichts blieb, außer diesem Baum. Wie aus weiter Ferne hörte ich, wie jemand meinen Namen aussprach.

"Patricia..."

Mit Verzögerung registrierte ich, dass es Toms Stimme gewesen sein musste.

Ich sah diesen Baum vor mir. Er schien auf die Größe eines normalen Baumes angewachsen zu sein. Und die Umgebung war eine andere. Nicht mehr das Redaktionsbüro der LONDON EXPRESS NEWS, sondern...

Ein Wald!

Der Baum hatte noch immer seine eigentümlich verkrüppelte Form. Die Gesichtszüge traten jetzt deutlicher hervor. Es war ein menschlicher Kopf mit einem zylindrischen Hut auf den Schultern. Und diese Schultern wuchsen aus dem harten Holz des Baums heraus. Sie endeten in zwei Armen, die eigentlich Äste gewesen waren. Wie Tentakel ließen sie sich in alle Richtungen bewegen. Sie schienen nach mir zu greifen...

Eisige Schauder erfassten mich.

Der Puls schlug mir bis zum Hals.

Was geschieht?

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück und traf dort auf einen Widerstand.

Hände umfassten meine Schultern.

Erst jetzt bemerkte ich, dass sich auch aus den knorrigen Strukturen der anderen Bäume des eigenartigen Waldes Gesichter herauszumaterialisieren begannen. Knollenartige Verdickungen wuchsen vor meinen Augen aus den aufgesprungenen Rinden und bildeten Nase und Kinn. Augen, so hell wie die Sonne funkelten mich dutzendfach an. Und ich hörte einen eigenartigen, klagenden Chor von Stimmen...

Ich blickte zu meinen Füßen.

Die Wurzeln begannen sich zu bewegen. Furchen bildeten sich - wie von Geisterhand gezogen und die weit verzweigten Wurzeln krochen wie lange, wurmartige Ranken aus der Erde heraus. Die erste Schlinge legte sich um mein rechtes Fußgelenk. Ich schrie aus Leibeskräften, wollte mich losreißen und stolperte.

Arme hielten mich.

Ich drehte mich herum, schlug in heller Panik um mich und...

Tom!

Ich sah in sein besorgtes Gesicht, dessen grüngraue Augen mich fragend musterten. Seine starken Arme hielten mich fest. Ich atmete tief durch und schmiegte mich an ihn.

"Patti, was ist los?", fragte er.

"Oh, Tom..."

"Ist dir nicht gut?"

"Ein bisschen schwindelig..."

Vorsichtig ließ ich den Blick schweifen. Clark Dalglishs Bonsai stand unverändert an seinem Platz.

Mein Herz schlug noch immer wie wild.

Eine Vision!, dachte ich. Eine Vision, die mit deiner Gabe in Zusammenhang steht...

Ich konnte fühlen, dass es so war. Und inzwischen hatte ich mir angewöhnt, mich in dieser Hinsicht auf meine Intuition zu verlassen.

Was hat diese furchtbare Traumszene nur zu bedeuten?, ging es mir durch den Kopf, während sich in meiner Magengegend ein Gefühl des Unbehagens ausbreitete. Jetzt erst sah ich den Kaffeebecher auf dem Boden. Ich hatte ihn offenbar fallengelassen. Der Inhalt sog sich in den grauen Teppichboden.

"Wirklich alles in Ordnung?", fragte Tom. Unsere Blicke begegneten sich.

Und ich nickte.

Aber ich konnte in seinen Augen lesen, dass er mir nicht glaubte.

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Die Stunden vergingen ziemlich hektisch. Es war nicht so ganz einfach, sich in das Computerprogramm hineinzufinden und das dazugehörige Handbuch war auch nicht gerade im Stil eines mitreißenden Bestsellers geschrieben worden. Außerdem war ich nicht völlig bei der Sache.

Immer wieder kehrten meine Gedanken zu der seltsamen Vision zurück, die ich gehabt hatte.

Jedesmal, wenn ich daran dachte, erfasste mich eine Ahnung des Grauens, das ich in jenem Augenblick empfunden hatte. Und die Frage nagte weiter an meiner Seele, was diese Vision für eine Bedeutung haben mochte. Würde ich tatsächlich selbst in eine so alptraumhafte Situation hingeraten? Oder jemand, der mir in irgendeiner Form nahestand?

Ich fröstelte bei dem Gedanken.

Diese Szene hatte irgendetwas mit meinem Schicksal zu tun. Ich zermarterte mir das Gehirn darüber, worin dieser Zusammenhang bestehen mochte.

Und selbst, wenn man in Betracht zog, dass die Sprache der Träume oft nur symbolhaft war, so war das in diesem Fall kaum eine Beruhigung.

Du wirst bald mehr wissen!, sagte eine Stimme in mir. Und ich fürchtete, dass sie recht behalten würde. Du kannst im Augenblick nichts tun, außer abzuwarten und die Augen offenzuhalten, Patti!

Ich seufzte.

Später, wenn ich nach Hause kam, nahm ich mir vor, mit Tante Lizzy über die Angelegenheit zu sprechen. Ich quälte mich weiter durch das Computerhandbuch, dessen unübersichtliches System von Querverweisen dazu gemacht zu sein schien, möglichst viele Menschen vor dem Gebrauch dieses Systems abzuschrecken.

Immerhin schaffte ich es aber noch bis zum frühen Nachmittag, meinen ersten, aus mehreren Agenturmeldungen zusammengeschusterten Artikel mit diesem Programm zu schreiben.

Irgendwann tauchte mein Kollege Jim Field, wie ich sechsundzwanzig Jahre alt und bei der LONDON EXPRESS NEWS angestellt, vor meinem Schreibtisch auf. Er war flachsblond und das etwas zerbeulte Jackett, das er trug, hatte ein völlig ruiniertes Revers. Jim war Fotograf und trug ständig irgendwelche Kamerataschen um den Hals. Ich hatte oft mit ihm zusammengearbeitet und daher verband uns so etwas wie Freundschaft.

"Hallo, Patti", sagte er.

"Hallo, Jim", erwiderte ich. "Erlaubt dir der Chef neuerdings, erst in der Redaktion aufzutauchen, wenn die ersten schon wieder gehen?"

Jim lachte.

Er setzte sich mit einer Pobacke auf die Tischplatte meines Schreibtischs und strich sich das etwas zu lange, ungebändigte Haar aus dem Gesicht.

"Nein, ich war unterwegs. Im Gegensatz zu dir bin ich nämlich schon im Morgengrauen losgezogen, um den Sonnenaufgang in London einzufangen..."

"Hört sich ja ganz nach brandaktueller Berichterstattung an", erwiderte ich spöttisch.

"Ist für einen Kalender!"

"Das würde ich an deiner Stelle nicht so laut sagen!", sagte ich tadelnd.

Jim zuckte unbekümmert mit den Schultern. "Weshalb nicht. Es sind keine Fotos, für die man sich schämen müsste... Man könnte sogar behaupten, dass sie einen gewissen künstlerischen Wert haben."

"Das behaupten die vom PLAYBOY-Kalender auch immer!", neckte ich ihn. Ab und zu fischte Jim in fremden Gewässern. Bilder für Modekataloge oder Kalender. Unser Chefredakteur Michael T. Swann sagte nichts dazu, solange Jim seine Pflichten für die LONDON EXPRESS NEWS über diesen Nebentätigkeiten nicht vernachlässigte.

"Ach, Patti! Neidest du mir etwa den Erfolg? Dieser Kalender wird mich berühmt machen..."

"Hoffentlich berühmt genug, um Swanns Wutanfall und den Rauswurf bei der NEWS überleben zu können, wenn unser Chef erfährt, dass du so etwas während deiner Arbeitszeit machst." Jim lächelte spöttisch. In seinen Augen blitzte es angriffslustig. Und ich wurde das leise Gefühl nicht los, dass er mich irgendwie aufs Glatteis geführt hatte.

"Swann weiß Bescheid", erklärte er.

Ich sah ihn erstaunt an. "Und er hat nichts dagegen?"

"Er hat mir den Auftrag gegeben."

"Was?"

Jim genoss sichtlich meine Fassungslosigkeit. Dann nickte er. "Ja, die LONDON EXPRESS NEWS wird nächstes Jahr einen Kalender mit Fotomotiven aus London und Umgebung herausbringen. Für treue Leser und Abonnenten... Und natürlich auch, weil man die Rückseiten der Fotobögen als Werbefläche nutzen kann. Tja, und da ich in diesem Hause der mit Abstand beste Fotograf bin, hat man mich eben bekniet, diese außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe auszuführen... Die Sache hat nur den Haken, dass es ziemlich schnell gehen muss. Ehe sich die Geschäftsleitung zu einem Okay für diesen Kalender durchringen konnte, ist jede Menge Zeit verplempert worden. Und jetzt soll das Ding am besten schon gestern fertig gewesen sein!"

"Typisch!", musste ich zugeben.

"Ach, ehe ich es vergesse, du sollst übrigens zu Mr. Swann ins Büro kommen..."

Während Jim sich nach der Kaffeemaschine umsah, wandte ich ihm einen ziemlich ärgerlichen Blick zu.

"Ach, und das sagst du mir so nebenbei!"

"Hätte ich es dir nicht sagen sollen?"

"Du weißt genau, wie ungeduldig Swann ist! Der wird vor Wut an die Decke gehen, weil ich noch immer nicht bei ihm aufgetaucht bin..."

"Er wird sich zusammennehmen, Patti. Schließlich weiß er genau, was er an dir hat..."

"Na, hoffentlich!"

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Als ich Michael T. Swanns Büro betrat, erlebte ich zwei Überraschungen. Die erste betraf Tom Hamilton, der offenbar ebenfalls hier einen Termin hatte. Er hatte in einem der dunklen Ledersessel platz genommen, die Swann in seinem Büro aufgestellt hatte.

Die zweite Überraschung betraf Swanns Schreibtisch. Ich war den Anblick einer völlig überladenen Tischplatte gewohnt, auf der sich Stapel von Akten, Manuskripten und Papieren zu Türmen von zweifelhafter Statik aufschichteten. Jedesmal, wenn Swann eine heftige Bewegung machte oder aus Versehen mit einem Fuß ein Tischbein berührte, fürchtete man, dass eines dieser Gebäude umstürzen könnte und in einer Art Domino-Effekt einige weitere mit sich in die Tiefe reißen würde.

Aber diese Papiertürme waren verschwunden. Stattdessen befanden sie sich neben dem Schreibtisch und ein Computer-Terminal stand jetzt unübersehbar dort, wo sich früher die Manuskripte freier Mitarbeiter ins Uferlose stapelten.

Swann tauchte hinter dem Bildschirm hervor. Er war ein breitschultriger, etwas untersetzt wirkender Mann. Seine Krawatte saß ihm wie ein Strick um den Hals und die Hemdsärmel waren hochgekrempelt. Swann war ein Mann, der von seiner Arbeit besessen war. So etwas wie ein Privatleben schien es für ihn kaum zu geben. Oft war er der erste, der morgens in der Redaktion war, und abends war er nicht selten der letzte, der das Verlagsgebäude verließ. Einen ähnlichen Einsatz verlangte Swann auch von allen anderen Angestellten der LONDON EXPRESS NEWS.

Gefürchtet waren seine cholerische Anfälle, die ihn insbesondere immer dann überkamen, wenn er schlecht recherchierte Artikel zu redigieren hatte. Aber gute Leistung erkannte er immer an. In dem Punkt war er absolut fair.

"Hallo, Patti!", sagte er. "Ein hektischer Tag heute. Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht gesehen..." Ich schielte am Bildschirm vorbei und sah das aufgeschlagene Computerhandbuch. Manchmal ist es ein Trost, zu sehen, dass auch andere Menschen nicht perfekt sind...

Wie gewohnt kam Swann gleich zur Sache.

Er warf mir den Ausdruck einer Pressemeldung zu, die ich gerade noch auffangen konnte, bevor sie zu Boden segelte.

"Ich erwarte nicht, dass Sie den kleinen Ort Darrenby in der Grafschaft York kennen. Aber vielleicht haben Sie schon einmal etwas von einem gewissen Brian Meany gehört..." Ich überlegte und kramte fieberhaft in meinem Gedächtnis herum. "Meinen Sie vielleicht Reverend Brian Meany?", fragte ich dann.

Der Name war mir tatsächlich ein Begriff.

Swann nickte.

"Dachte ich mir doch, dass Sie damit etwas anfangen können!", grinste er. "Ein wirklicher Reverend irgendeiner Kirche ist Meany allerdings nicht - auch wenn er von denen, die an seine besonderen Fähigkeiten glauben, so genannt wird."

"Dieser Meany machte doch vor einiger Zeit Schlagzeilen mit seinen Teufelsaustreibungen...", stellte ich fest. Swann kratzte sich am Kinn. "Sie haben recht, Patti. In der Zwischenzeit hatte sich der Rummel um ihn jedoch wieder etwas gelegt... Bis jetzt!"

"Nun, es scheint so, als hätte jemand eine Teufelsaustreibung durch ihn nicht überlebt... Sie können das der Meldung entnehmen, die gerade bei uns eingetrudelt ist. Die Polizei ermittelt und der Staatsanwalt grübelt wohl noch darüber nach, ob Anklage wegen Mordes oder Totschlags erhoben werden soll." Swann atmete tief durch. "Ich möchte, dass Sie in der Sache recherchieren..."

Ich war etwas verwirrt und blickte zu Tom hinüber.

"Meinen Sie uns beide?"

"Sehen Sie hier noch jemanden im Raum, Patti?"

"Nun..."

"Sie sind ja anerkanntermaßen unsere Spezialistin für Themen, die den Bereich des Okkulten streifen. Und das scheint ja hier der Fall zu sein. Mr. Hamilton hingegen kennt sich ganz gut in der Gegend da oben aus..." Ich sah Tom überrascht an.

"Ich dachte, du wärst mehr in Asien zu Hause", sagte ich dann, während sich unsere Blicke trafen. Er hatte nie erwähnt, dass Yorkshire eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte. So erfuhr ich über diesen, was sein Leben anging, ziemlich lakonischen Mann mal wieder etwas per Zufall...

"Ich hatte Verwandte dort", sagte er und es klang aus seinem Mund fast wie eine Entschuldigung.

Die volle Bedeutung dessen, was er in diesem Moment gesagt hatte, sollte mir erst sehr viel später klarwerden.

"Mr. Field ist leider unabkömmlich, Patti", hörte ich Swann sagen.

"Sie meinen, wegen des Kalenders..."

"Sie sagen es! Aber keine Angst, Sie brauchen die Bilder nicht selbst zu machen. Mr. Hamilton hat auch schon als Fotograf gearbeitet, wie aus seinen Unterlagen hervorgeht. Er kennt sich bestens aus. Und in seiner Zeit als Agentur-Reporter ist er ohnehin überwiegend auf eigene Faust unterwegs gewesen und musste natürlich auch für entsprechendes Bildmaterial sorgen!"

Auch etwas, was ich noch nicht über ihn gewusst hatte!

Langsam begann es mich ein wenig ärgerlich zu machen, das Meiste über den Mann, den ich liebte, aus zweiter Hand erfahren zu müssen.

Mr. Swann trat näher an mich heran. Sein Blick war sehr ernst. Seine Augenbrauen bildeten eine Schlangenlinie. Zwischen ihnen zog sich eine tiefe Furche die Stirn hinauf.

"Wie ich höre, verstehen Sie beide sich ja außerordentlich gut", sagte er dann.

"So, hört man das?", erwiderte ich vielleicht eine Nuance zu spitz in Anbetracht der Tatsache, dass ich mit meinem Chefredakteur redete.

"Ich denke daher, dass es bei der Zusammenarbeit keinerlei Probleme geben dürfte..."

"Das denke ich auch."

Swann ballte die Hände zu Fäusten. "Versuchen Sie, in dieser Sache etwas auszugraben, Patti! Ich schicke nicht umsonst zwei meiner besten Leute los, um dieser Sache nachzugehen. Es könnte eine spektakuläre Story dahinterstecken... Ich habe das im Gefühl, Patti! Und mein Instinkt hat mich in dieser Hinsicht selten getrogen..." Er drehte sich mit einer ruckartigen Bewegung zu seinem Schreibtisch herum, ließ suchend den Blick kreisen und schaute dann zu den Papiertürmen auf dem Fußboden hin. Ganz oben lag eine gelbe Mappe.

Er nahm sie mit der Rechten und reichte sie mir.

"Was ist das?", fragte ich.

"Ich war schon mal kurz unten im Archiv. Ich wusste, dass es da etwas über Meany gab und ich bin auch sofort fündig geworden... Vor Jahren gab es schon einmal eine ähnlichen Fall! Die Ermittlungen verliefen im Sande. Ein Mord konnte Meany nicht nachgewiesen werden. Aber die alte Dame, der er den Satan ausgetrieben hat, vererbte ihm ihr Vermögen und ihr Landhaus..." Ich nahm die Mappe. Swann fuhr indessen in einem fast feierlichen Tonfall fort: "Geben Sie nicht so schnell auf wie die Polizei, Patti!" Ich nickte nur.

Wenn der Chef persönlich sich einmal hinunter ins Archiv von uns Reportern häufig auch die Katakomben genannt bemühte, dann war das kaum anders zu erklären, als dass er wirklich an eine Riesenstory glaubte.

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An diesem Tag kam ich etwas früher nach Hause. Swann hatte mich von allen Routineaufgaben entbunden. Die Meany-Story hatte absoluten Vorrang. Am nächsten Morgen würden Tom und ich nach Yorkshire aufbrechen. Zuvor hatte ich noch ein paar Reisevorbereitungen zu treffen. Außerdem wollte ich das vorhandene Material über diesen geheimnisvollen Reverend sichten. Ich nahm an, dass sich in Tante Lizzys Archiv auch etwas über ihn fand.

Und dann war da noch diese seltsame Vision, die mich im Büro der LONDON EXPRESS NEWS heimgesucht hatte... Ich musste unbedingt mit Tante Lizzy darüber reden. Ein Gefühl des Unbehagens beschlich mich und wich nicht mehr von mir. Zwischendurch glaubte ich, es sei nicht mehr vorhanden, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass es lediglich ein wenig in den Hintergrund getreten war. Immer wieder erschienen diese knorrigen Baumstämme vor meinem geistigen Auge. Ein mysteriöser Wald von dicken, verwachsenen Bäumen, die sich auf geheimnisvolle Weise in etwas ganz anderes verwandelten. So als schlummerte irgendetwas in ihnen.

Eine Kraft.

Ein Wesen...

Vielleicht wird die Arbeit an der Meany-Story dich ablenken!, ging es mir durch den Kopf. Eine Story, die mit Sicherheit meinen vollen Einsatz verlangen würde. Schon bei oberflächlichem Überfliegen der Fakten zeigte sich, dass die Todesfälle eine Reihe von Parallelen aufwiesen. Und damals hatten sich Polizei und Staatsanwaltschaft an Brian Meany die Zähne ausgebissen. Es war noch nicht einmal zu einer Anklage gekommen. Bis auf die Knochen hatte man sich blamiert und das Presseecho war entsprechend gewesen. Natürlich würde man heute - immerhin fünfzehn Jahre später - alles daran setzen, dass sich eine derartige Blamage der Ermittlungsbehörden nicht wiederholte. Das bedeutete aber auch, dass die entsprechenden Stellen übervorsichtig handeln würden. Ein winziger Fehler konnte alles kippen.

Ich lenkte den roten Mercedes 190 in die Einfahrt von Tante Lizzys verwinkelter viktorianischer Villa. Der Mercedes war im Grunde bereits als Oldtimer zu bezeichnen. Aber er war liebevoll gepflegt und ich dachte nicht im Traum daran, ihn gegen ein neueres, dafür aber seelenloses Modell einzutauschen. Der 190er war ein Geschenk von Tante Lizzy gewesen, die mich seit dem frühen Tod meiner Mutter wie ihre eigene Tochter aufgezogen hatte. Schon deshalb hätte ich mich nie von diesem Wagen trennen können. Er hatte eben eine ganz besondere Bedeutung für mich.

Ich stieg aus.

Der Mond stand schon als weiße Kugel am blauen Himmel. Es würde eine klare Nacht werden. Und vermutlich eine ziemlich kalte. Aber wenigstens bestand eine gewisse Aussicht, dass am nächsten Morgen nicht das typische Londoner Dunstwetter herrschte, das einen nur in Depressionen stürzen konnte.

Ich ging in Richtung Haustür, wurde dann aber durch ein Geräusch abgelenkt. Ich ging über den etwas ungepflegten Rasen, der die Villa teilweise umgab und umrundete den Westflügel. Dann sah ich Tante Lizzy mit einer großen Schere eine Hecke beschneiden. Als sie mich kommen sah, ließ sie die Heckenschere sinken.

"Hallo, Patti!", begrüßte sie mich und wischte sich über die Stirn. Die alte Dame trug ein paar Arbeitshosen ihres verschollenen Mannes, die ihr natürlich viel zu groß waren. Normalerweise war ihre äußere Erscheinung immer ladylike und sehr stilvoll. So hatte ich sie selten gesehen.

"Tante Lizzy, lass mich doch solche Sachen machen!", sagte ich.

"Du denkst wohl auch, dass ich schon zum alten Eisen gehöre, was?"

"Nein, bestimmt nicht, Tante Lizzy!"

"Ich bin etwas schwach auf dem Herzen und deswegen werde ich wohl leider nie die Gelegenheit haben, den Tempel von Pa Tam Ran aufzusuchen, in dem dein Freund, dieser Mr. Hamilton, so faszinierenden Geheimnissen wie der Reinkarnation auf die Spur kam... Das Dschungelklima würde mich umbringen! Aber ansonsten bin ich noch ganz fit!"

Und während sie das sagte, atmete sie tief durch. Sie sah mich lächelnd an. Dann setzte sie hinzu: "Aber vielleicht werde ich für heute erst einmal Schluss machen. War doch ganz schön anstrengend..."

Gemeinsam gingen wir um die Villa herum. Durch eine Verandatür, die Tante Lizzy offengelassen hatte, gingen wir hinein.

Jeden Fremden hätte das Innere der Villa schlicht erschlagen. Es war beinahe gleichgültig, in welchem Raum man sich befand: Überall waren lange Regale zu finden, die übervoll mit dicken Lederfolianten waren. Tante Lizzys Okkultismus-Archiv füllte beinahe das ganze Haus, einschließlich Keller und Dachboden. Ausgenommen waren nur die Küche, das Bad und jene Räume, die ich bewohnte. Scherzhaft nannte ich letztere daher auch oft die 'okkultfreie Zone'.

"Möchtest du eine Tasse Tee, Patti?", fragte Tante Lizzy.

"Habe ich dazu schon jemals nein gesagt?" Ich folgte ihr durch einen Raum, der eigentlich ein Salon war, auch wenn er mehr Ähnlichkeit mit dem Lesesaal einer Bibliothek hatte. Dann gingen wir durch einen Flur. Selbst hier war kaum ein Zentimeter an der Wand frei. Wurden die langen Reihen, der teilweise recht obskuren Bücher, die oft nur in geringen Sammlerauflagen oder als Privatdrucke erschienen waren, mal unterbrochen, so fanden sich an den entsprechenden Stellen dann eine Reihe von eigenartigen 'Ausstellungsstücken'. Geistermasken waren darunter, aber auch Kristallkugeln oder kleine Bronzestatuen vergessener Götter, die ihr Mann Frederik von seinen Forschungsreisen mit nach London gebracht hatte.

Ich folgte Tante Lizzy in die Küche.

Sie machte sich am Herd zu schaffen und setzte das Teewasser auf.

"Ich merke doch, da du mir irgendetwas sagen willst, Patti! Also nicht lange um den heißen Brei herum!" Ich musste unwillkürlich lächeln.

"Hast du nicht schon einmal überlegt, ob es nicht sein könnte, dass auch in deinem Zweig der Familie übersinnliche Begabungen vorkommen?"

"Wie kommst du darauf?"

"Ich denke an Telepathie - Gedankenübertragung!"

"Damit hat das nichts zu tun, mein Kind. Ich kenne dich einfach nur schon sehr lange. Das ist alles." Ich seufzte.

"Beruhigend zu wissen."

"Wie meinst du das?"

"Ein paar Geheimnisse möchte man ja schon gerne für sich behalten." Ich sah Tante Lizzy einen Augenblick nachdenklich an und berichtete ihr dann von dem Auftrag, den Swann Tom und mir gegeben hatte.

Tante Lizzy hörte mir aufmerksam zu.

Als ich den Namen Brian Meany erwähnte, zogen sich ihre schmalen Augenbrauen etwas zusammen.

"Der Name ist mir ein Begriff. Meines Wissens verfasste Brian Meany die weltweit umfangreichste Sammlung exorzistischer Rituale, ein Buch mit über tausend eng bedruckten Seiten. Ich besitze ein Exemplar der Erstausgabe, die vor Jahren in einem etwas obskuren esoterischen Verlag erschien. Ich habe diesen Verlag mal anzuschreiben versucht, bekam aber meine Brief als unzustellbar zurück. Heute bin ich mir nicht einmal sicher, ob die Verlagsadresse nicht getürkt war und es sich in Wahrheit um einen schlichten Raubdruck handelte, wie er in manchen okkultistischen Zirkeln kursiert..."

Tante Lizzy warf noch einen letzten Blick zum

Dampfkessel und registrierte befriedigt das zischende Geräusch, das sich in dessen Inneren einstellte. Dann nickte sie mir zu. Ich folgte ihr durch den Flur in die Bibliothek, wo sich das Herzstück ihrer umfangreichen Sammlung okkultistischer Literatur befand. Außerdem der aktuellere Teil ihrer Pressedokumentation übersinnlicher Phänomene oder Ereignisse, die damit möglicherweise in irgendeinem Zusammenhang standen.

Zunächst suchte sie nach ihrer Lesebrille und fand sie schließlich auf einem der runden Tische, die sich im Raum befanden.

Dann setzte sie sie auf und ließ den Blick die lange Reihe der dicken und ziemlich staubigen Ledereinbände entlang gleiten. Vorbei an Hermann von Schlichtens Standard-Werk Absonderliche Kulte und dem geheimnisvollen Buch des Wahnsinns, das Tante Lizzy für ihre Zwecke extra aus dem Spanischen hatte übersetzen lassen. Dann fand sie, wonach sie gesucht hatte: Theorie und Praxis des angewandten Exorzismus und der Vertreibung übler Geister von Brian F. Meany. Sie zog den großen, dicken Lederband aus dem Regal heraus und ächzte unwillkürlich.

Ich sprang hinzu, um ihr zu helfen, aber sie schüttelte den Kopf.

"Lass nur, das kann ich noch selbst!"

Die Erleichterung war ihr allerdings deutlich anzusehen, als sie den dicken Klotz endlich auf einen der runden Tische gehievt hatte.

"Meany behauptete immer, in direkter Linie von Cedric Meany abzustammen, einem berüchtigten Hexenjäger, der um 1620 herum in Yorkshire sein Unwesen trieb. Über Cedric Meany kursieren noch heute die grausigsten Geschichten und selbst wenn nur ein Bruchteil dieser blutigen Legenden wahr sein sollte, muss es sich um einen recht ungemütlichen Zeitgenossen gehandelt haben, der beseelt von einem missionarischen Eifer eine regelrechte Hexen-Hysterie entfachte. Auch dazu habe ich eine recht interessante historische Analyse, an der Frederik übrigens mitgearbeitet hat... Weißt du, das war in der Zeit, als er noch Assistent war..." Tante Lizzy seufzte und fügte dann, mehr zu sich selbst noch hinzu: "Mein Gott, ist das jetzt lange her!" Ihr Tonfall bekam dabei einen Anflug von Melancholie. Aber dann ging ein Ruck durch sie. Sie schien nicht die Absicht zu haben, mit ihren Gedanken länger in der Vergangenheit zu verweilen. Einen Sekundenbruchteil später war sie schon wieder ganz im Hier und Jetzt. Ich erinnerte mich daran, wie sie einmal zu mir gesagt hatte: "Im Schaukelstuhl sitzen und an die guten Zeiten von früher denken, das ist noch nichts für mich. Das kann ich immer noch machen, wenn ich alt bin." Und dabei hatte sie mir schelmisch zugezwinkert und hinzugefügt: "Richtig alt, verstehst du?" Ich verstand sie sehr gut. Mit ihrer Tätigkeit für ihr Archiv leistete sie ein Pensum, dass mancher jüngeren auch einiges abverlangt hätte.

Sie sah mich an und berichtete weiter über Brian F. Meany. "Er hat ursprünglich Theologie studiert, das Studium aber vor dem Examen abgebrochen und sich dem Studium des Okkultismus und der Grenzwissenschaften hingegeben. Später hat er dann von sich Reden gemacht, als er begann, Teufel und böse Geister aus den Körpern sogenannter Besessener auszutreiben. Er benutzte dabei oft christliche Symbole und ließ sich Reverend nennen, obwohl sämtliche Kirchen sich auf das Schärfste von ihm distanziert hatten. Soweit ich weiß, hat es um die Führung dieses Titels sogar Prozesse gegeben. Aber diese Bezeichnung ist nicht geschützt. Im Vereinigten Königreich gibt es Religionsfreiheit und das bedeutet auch, dass jeder sich Reverend nennen kann, auch wenn er nur seiner eigenen Ein-Mann-Kirche angehört."

"Ein Mann soll dabei gestorben sein, als Meany bei ihm einen Exorzismus durchführte", sagte ich. "Und vor Jahren gab es einen ähnlichen Fall..."

Tante Lizzy nickte nachdenklich.

"Ich weiß. Ich habe den Fall seinerzeit intensiv verfolgt. Bei den Ermittlungen wegen der alten Dame, deren Testament Meany zu einem relativ reichen Mann gemacht hat, ist nichts herausgekommen. Ich fand das schon damals skandalös... Und zwar auch deshalb, weil Meany genau wusste, was er tat..."

"Wie meinst du das?"

Tante Lizzy begann jetzt sehr hektisch in Meanys Theorie und Praxis des angewandten Exorzismus und der Vertreibung übler Geister herumzublättern, bis sie schließlich gefunden hatte, was sie suchte. Sie tickte mit dem Finger auf eine bestimmte Überschrift, rückte sich die Lesebrille zurecht und sah mich dann triumphierend an.

"Hier ist es", erklärte sie. "In diesem Kapitel beschreibt Meany ein Ritual zur Austreibung sogenannter Quantanii."

"Was ist das?"

"In Hermann von Schlichtens Absonderlichen Kulten werden sie unter der Bezeichnung Totenteufel geführt. Es handelt sich um die ruhelosen Seelen von Menschen, die zumeist unter entsetzlichen Umständen ums Leben gekommen sind. Sie können aufgrund der schrecklichen Umstände ihres Hinscheidens nicht ins Totenreich eingehen..."

"Du sprichst von einem ähnlichen Phänomen wie den Rachegeistern?", warf ich ein und erinnerte mich dabei mit Schaudern an die Ereignisse um den geheimnisvollen Leichenwagen, in die ich erst vor kurzem verwickelt gewesen war.

Aber Tante Lizzy schüttelte den Kopf.

"Nicht ganz. Das besondere an den Quantanii soll angeblich sein, dass sie von Menschen Besitz ergreifen können. Aber das ist auch nicht der Punkt, auf den ich hinauswill!"

"Sondern?"

"Meany beschreibt ein Ritual, bei dem dem Besessenen drei schwarze Kreuze auf die Stirn gemalt werden. Dann sagt der Exorzist die Worte..." Tante Lizzy beugte sich über Meanys Buch und zitierte mit gerunzelter Stirn: "Quantanii estor morcutorem!"

"Was soll das heißen?"

"Niemand weiß das, Patti. Meany stellt die Theorie auf, es handele sich um verbalhorntes mittelalterliches Latein, aber das scheint mir ziemlich weit hergeholt. Aber Tatsache ist, dass dieses Ritual den Tod desjenigen bewirkt, bei dem es angewandt wird. Der Quantanii stirbt dann allerdings auch. Meany schreibt, dass man den Tod des Besessenen notfalls in Kauf nehmen müsse, um dem Bösen zu begegnen..."

"Eine fragwürdige Ansicht."

"Für mich ist er ein skrupelloser Mörder, für den der Zweck die Mittel heiligt!"

"Ein Mord mit übernatürlichen Mitteln...", murmelte ich schaudernd.

Tante Lizzy nickte.

"Meany scheint genau das getan zu haben!" Tante Lizzy zuckte die Achseln. "Ich habe den Behörden selbstverständlich Kopien dieser Textstellen zur Verfügung gemacht, aber ich brauche dir wohl nicht zu sagen, wie wenig man das alles ernstgenommen hat. Und nun scheint es erneut geschehen zu sein, Patti..."

Der Wasserkessel pfiff in diesem Moment.

"Einen Moment", sagte Tante Lizzy und war im selben Augenblick auch schon aus dem Raum. "Ich komme gleich wieder", versprach sie.

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Trotz der Tatsache, dass Tom und ich am nächsten Morgen sehr früh aufbrechen wollten, wurde es an diesem Abend sehr spät. Tante Lizzy und ich stöberten in den alten Folianten nach weiteren Hinweisen, die ich vielleicht verwerten konnte. Ich war wild entschlossen, Brian Meany seine eigenen Schriften unter die Nase zu halten, in denen er schließlich nicht weniger getan hatte, als eine genaue Anleitung zu dem tödlichen Ritual zu geben, das er später durchgeführt hatte.

Auf seine Reaktion war ich gespannt.

Irgendwann - ich hatte den Blick zur Uhr im Verlauf des Abends immer mehr zu vermeiden gesucht - kam ich dann auf die Tagtraumvision zu sprechen, die mich im Redaktionsbüro der LONDON EXPRESS NEWS heimgesucht hatte. Ich berichtete Tante Lizzy von den sich in grauenhafte Schreckgestalten verwandelnden Bäume, den Wurzeln, die sich wie Schlingpflanzen um die Füße legten, von den bleichen Gesichtern mit den zylindrischen Hüten und den gespenstisch leuchtenden Augen.

"Es war furchtbar, Tante Lizzy", sagte ich. Ich musste unwillkürlich schlucken. Vielleicht ist diese Vision der unbewusste Grund dafür, dass du noch immer hier in der Bibliothek sitzt, obwohl du längst im Bett liegen müsstest!, sagte eine Stimme in mir. Unwillig musste ich zugeben, dass sie vermutlich Recht hatte. Ich hatte Angst. Angst davor, dass diese alptraumhafte Szenerie mich in meine Träume hinein verfolgte.

Unwahrscheinlich war das nicht.

Tante Lizzy seufzte und legte mir eine ihrer dürren Hände auf die Schulter.

"Ich kann dir auch nicht sagen, was du da gesehen hast, Patti. Es klingt ziemlich abstrus, aber..."

"Auch andere dieser seherischen Träume sind bereits in Erfüllung gegangen, Tante Lizzy. Und manche von ihnen waren mindestens ebenso absurd!"

"Ich weiß, Patti!"

"Ich habe Angst, Tante Lizzy!"

"Mein Kind..."

Sie sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, in dem sich ohnmächtige Verzweiflung widerspiegelte. Nur zu gerne hätte sie mir geholfen. Aber sie konnte keine Wunder vollbringen. Sie nahm meine eiskalt gewordene Hand. Tante Lizzys Lächeln wirkte etwas gezwungen.

"Es ist die Ungewissheit, die mich so quält, Tante Lizzy. Ich weiß, dass dieser Traum eine Bedeutung hat... Aber es ist unmöglich, sie zu enträtseln."

"Ich weiß, Patti!"

"Es ist so, als hätte man nur ein einziges kleines Teilchen aus einem riesigen Puzzle und müsste von daher erraten, um welches Bild es sich handelt..." Ich atmete tief durch. "Aber es tut gut, mit jemandem darüber reden zu können", fügte ich dann hinzu. "Und vermutlich wird mich die Arbeit an der Meany-Story etwas ablenken!"

"Das hoffe ich für dich."

Ich konnte ein Gähnen nicht unterdrücken.

Es war ein eindeutiges Signal.

Ich sagte Tante Lizzy gute Nacht. Sie selbst wollte noch nicht zu Bett gehen. "Alte Leute brauchen nicht so viel Schlaf", sagte sie lächelnd. Diesen Spruch hatte ich schon dutzendfach von ihr gehört. In ihrem Fall schien er wirklich zuzutreffen, denn es war keine Seltenheit, dass sie bis zum frühen Morgen in ihrer Bibliothek zwischen all den absonderlichen Büchern saß und darin herumstöberte.

"Patti...", hörte ich ihre Stimme sagen, als ich die Tür erreichte. Ich hatte sie bereits einen Spalt geöffnet und war mit einem Fuß in die Dunkelheit des Flures getreten. Jetzt wandte ich noch einmal den Kopf.

"Ja?"

"Wie hieß dieser Ort noch mal, an den du und Mr. Hamilton fahren werdet?"

"Darrenby in Yorkshire. Warum?"

"Nur so..."

"Ein Nur so gibt es doch bei dir nicht, Tante Lizzy. Worüber denkst du nach?"

"Der Ortsname kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich kann ihn im Moment nur nirgendwo so richtig einordnen..." Sie lächelte. "Schlaf gut, mein Kind!"

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Ich schlief nicht gut. Daran konnten auch Tante Lizzys fürsorglichen Wünsche nichts ändern.

Immer wieder wälzte ich mich von einer Seite zur anderen, um dann schweißgebadet und mit wild klopfendem Herzen zu erwachen. Immer wieder tauchten diese furchtbaren Monsterbäume vor meinem inneren Auge auf. Ihre tentakelhaften Arme griffen nach mir. Ihre hell aufleuchtenden Augen sahen mich blicklos an.

Kalt waren sie.

Kalt wie der Tod!

Ich zitterte jedesmal am ganzen Leib. Die Traumszenen waren derart realistisch, dass ich kaum noch wagte, die Augen zu schließen. Ich wusste, welche Hölle mich dann erwartete. Was mochte das nur für ein furchtbarer Wald sein, den ich da in meiner Traumwelt gesehen hatte?

Ich war mir sicher, dass es für ihn irgendeine Entsprechung in der Realität geben musste. Ja, ich war mir sicher... Verzweifelt versuchte ich, mir Einzelheiten aus den grauenerregenden Traumbildern zu merken. Irgendetwas, einen kleinen Hinweis, der mir vielleicht bei der Lösung dieses Rätsels behilflich sein konnte...

Oder nur neue Fragen aufwarf.

Beides war möglich.

Schließlich senkte sich doch noch traumloser Schlaf über mich. Ich lag fast wie bewusstlos da, um mich herum war nur Schwärze.

Schlafen wie ein Stein.

Am tiefsten, dunkelsten Grund des Ozeans konnte man sich nicht schwerer, einsamer und lebloser fühlen. Ein schwarzes Nichts umfing mich, und ich empfand es in diesem Moment als eine Art Erlösung.

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Am Morgen kam ich nicht rechtzeitig aus dem Bett und überhörte den Wecker. Die Folge war, dass mir nur noch Zeit für ein Schnellfrühstück blieb. Für die Linie ist es vielleicht besser!, tröstete ich mich.

"Ich habe noch einmal darüber nachgedacht, woher ich den Ortsnamen Darrenby kenne", sagte Tante Lizzy mir, während ich schnell ein paar Bissen hinunterschlang.

Ich sah sie interessiert an, konnte aber nichts erwidern, weil ich den Mund voll hatte.

"Hier, ich habe eine dünne Broschüre gefunden. Ist schon gut zehn Jahre alt. Aber damals scheint Darrenby den Ruf eines Zentrums für Okkultisten und Esoteriker gehabt zu haben. Für kurze Zeit pilgerten die in Massen dorthin, weil sich in Darrenby angeblich eine Quelle psychischer Energie befand... Nun, auch diese Welle ging vorbei." Ich nahm den Prospekt an mich und schluckte den Bissen hinunter, der mir noch im Mund steckte. Aus irgendeinem Grund scheute ich mich davor, die Broschüre zu öffnen. Sie war primitiv hergestellt. Mit einer Schreibmaschine, deren Großbuchstaben man allesamt einer gründlichen Reinigung hätte unterziehen können. Man konnte nur raten, um welche Anfangsbuchstaben es sich jeweils bei den schwarzen Klecksen handelte. Ich überflog den Text. Allerlei esoterisches Geschwafel, so schien es mir. Von Wunderkräften und den Energien der Erde war da die Rede. Ich blätterte weiter.

Zur Auflockerung des schlecht fotokopierten Textes war ein Bild eingefügt. Ein Schwarzweißfoto, das sehr schlecht wiedergegeben wurde. Aber es war eindeutig, was es zeigte. Einen Wald!

Es war für mich wie ein Schlag vor den Kopf, als ich die eigentümlich verkrüppelte Form einiger Bäume wiedererkannte.

Es waren dieselben, charakteristischen Linien, die ich in der Vision und in meinen Träumen gesehen hatte. Ich war mir sicher.

"Du bist ja ganz blass geworden", hörte ich Tante Lizzy sagen.

Ich zeigte ihr das Bild.

"Das ist der Wald, von dem ich geträumt habe", erklärte ich.

"Bist du dir sicher?"

"Ja."

"Die Esoteriker, die damals dorthin pilgerten glaubten, dass es sich bei diesem Ort um ein Zentrum kosmischer Energie handelte..."

"Vielleicht hatten sie auf gewisse Weise sogar recht, Tante Lizzy", murmelte ich tonlos.

Tante Lizzy ergriff meine Hand. "Pass auf dich auf, Patti!"

"Natürlich!"

"Ich werde versuchen, noch etwas mehr herauszufinden!"

"Ich danke dir!"

Sie nahm mich in den Arm. Und in diesem Augenblick war das genau das Richtige.

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Tom holte mich wenig später ab. Er half mir, meine Sachen in den Kofferraum seines Volvos zu laden. Wir waren übereingekommen, mit seinem Wagen zu fahren, weil er einfach die modernere Ausstattung - und etwas mehr PS unter der Haube - hatte.

Außerdem war ein roter Mercedes-Oldtimer in einer so ländlichen Umgebung wie Darrenby sicher recht auffällig. Und Aufsehen wollten wir eigentlich nicht erregen. Tom fasste mich bei den Schultern und küsste mich zärtlich.

"Ich freue mich über unsere Zusammenarbeit", erklärte er. Ich versuchte, einigermaßen heiter und gelöst zu wirken.

Details

Seiten
Erscheinungsjahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738916454
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
patricia vanhelsing sidney gardner jägerin dämonen

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Patricia Vanhelsing: Sidney Gardner - Jägerin der Dämonen