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Mörder-Stories

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2018 200 Seiten

Zusammenfassung

9 Kriminal-Stories des Elben-Autors
Neun Erzählungen des bekannten Autors mit einem gemeinsamen Thema: Mörder!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Alfred Bekker

Mörder-Stories

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Mit Illustrationen von A.Bekker

© by Alfred Bekker

www.AlfredBekker.de

www.Postmaster@AlfredBekker.de

All rights reserved

Ein CassiopeiaPress Ebook

Ausgabejahr dieser Edition: 2017

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Alfred Bekker

Mörder-Stories

Inhalt

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Hinter dem Mond

Zweisam in Sonsbeck

Killer im Käfig (mit M. Munsonius)

Treffpunkt Hölle (mit W.A.Hary)

Der Herr des Schwarzen Todes

Passauer Mords-Dessert (mit Rupert Bauer)

Eis in den Bergen

Langes Leben, schneller Tod

Das Böse regiert

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Alfred Bekker:

Hinter dem Mond

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Eine laue Julinacht Anno 1969.

Da ist ein Raumschiff.

Da ist ein blutiges Messer.

Und da ist ein Junge, der tot im Gras liegt.

Das alles ist in der Erinnerung untrennbar miteinander verbunden.

Aber alles der Reihe nach.

Im Jahr 1864 steht Friedrich Wilhelm Kötter aus Ladbergen im Münsterland an Deck eines Schiffs, das gerade in den New Yorker Hafen einläuft, und blickt seinem neuen Leben entgegen.

Der Mond geht auf und Kötter kann in diesem Augenblick nicht ahnen, dass man ein Jahrhundert später den Mond vor lauter Lichtern in der Stadt, die niemals schläft, gar nicht mehr zu sehen vermag.

Noch weniger kann er ahnen, dass 1969 ein Mensch den Mond betreten wird. Und d

ass es ausgerechnet sein Urenkel sein wird, der diesen großen Schritt für die Menschheit vollbringt, hätte er sich wohl nicht einmal im Traum vorzustellen vermocht.

»Das ist Amerika!«, ruft einer der anderen zerlumpten Auswanderer Kötter zu und klopft ihm auf die Schulter. »Sieh es dir an! Hier ist alles möglich.«

Aber Kötter macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Bauer bleibt Bauer«, meint er, »auch hier.«

Ein Jahrhundert später.

Am 21. Juli 1969 ist keine Nacht wie andere Nächte. Überall sitzen die Menschen an den Fernsehern, sehen auf ein paar verwackelte Schwarzweißbilder und auf die klugen Gesichter von Raumfahrtexperten, die erläutern, was dort gerade zu sehen ist, und herumorakeln, wie lange es wohl noch dauern wird, bis der Adler endlich gelandet ist und Neil Armstrongs Fuß seinen Abdruck in den Mondstaub geprägt hat.

Überall haben weltraumbegeisterte Kinder und Jugendliche ihren Eltern die Erlaubnis abgetrotzt, diesen größten Moment der Menschheitsgeschichte live mitzuerleben, und versuchen nun verzweifelt, ihr Gähnen zu unterdrücken und nicht einzuschlafen, bevor der große Augenblick gekommen ist.

Fast überall. D

a gibt es nämlich ein kleines Dorf im Münsterland, das diesem Zwang zur kollektiven, andachtsvollen Menschheitsverbrüderung widersteht. Ein Dorf, das zum Mantel der Geschichte sagt: Weh mir aus den Augen und streife mich ja nicht! Ein Dorf, dessen größter Spross gerade diese unglaubliche Tat vollendet und das dabei der Versuchung widersteht hinzuschauen.

Denn als Neil Armstrong, der Urenkel jenes Friedrich Wilhelm Kötter aus Ladbergen, sich gerade bei seinem berühmten Satz, in dem er von einem kleinen Schritt für einen Menschen, aber einem Riesenschritt für die Menschheit spricht, verhaspelt, ist in der Bauernschaft Ladbergen-Wester Schützenfest. Und wer käme schon auf die Idee, das wichtigste Ereignis des Jahres zu verschieben. Selbst das Ereignis des Jahrhunderts – ja, des Jahrtausends! – wird daran nichts ändern.

In Ladbergen-Wester sitzt niemand vor dem Fernseher.

Fast niemand. Ein sechsjähriger Junge sieht fern. Er hat sich den Wecker gestellt, der ihn alle zehn Minuten aufschrecken lässt, damit er nur ja nicht einschläft. Er gähnt und sieht auf den Fernsehschirm, wo ein Mann im kobaltblauen Anzug mit wichtiger Miene sagt: »Wir bekommen jetzt gerade Neuigkeiten aus Houston.«

Er heißt Ralf und seine Eltern sind nicht zu Hause. Sie sitzen zusammen mit dem Rest der erwachsenen Dorfbevölkerung im Festzelt. Und die anderen Kinder schlafen. Manche vor Erschöpfung, weil sie vorher soviel Unsinn gemacht haben und herumgetobt sind.

Heute war schließlich niemand da, um es zu verbieten.

Vielleicht hat auch von denen der eine oder andere davon geträumt, sich die Mondlandung anzusehen, wenn er schon nicht mit ins Festzelt zum Biertrinken darf. Aber Ralf ist wohl der einzige, der es geschafft hat, dies auch in die Tat umzusetzen.

Er ist das Ganze sehr planvoll angegangen. Er hat sich darüber informiert, wann mit der Landung zu rechnen wäre, hat vorher etwas geschlafen und sich dann den Wecker gestellt, damit er pünktlich aufwacht. Schließlich wollte er nicht das Risiko eingehen, alles zu verpassen.

Auf dem Boden verstreut liegen ein halbes Dutzend Bücher über die Raumfahrt, über die Planeten und über ferne Sterne. Da steht alles drin, was man bisher darüber weiß.

Das ist nicht sehr viel.

Ralf ist erst sechs, aber er kann besser lesen als manch einer aus dem vierten Schuljahr, von denen einige noch ziemlich herumstottern, wenn sie ein Stück vorlesen sollen, das sie vorher nicht geübt haben.

Die vier Tage Reise zum Mond, die Umkreisungen des Orbiters, das Ausklinken der Landefähre und schließlich das Aufsetzen auf der Mondoberfläche – Ralf kennt jeden einzelnen Schritt auf dem Weg dorthin. Er hat die Berichte über die vorhergehenden Apollo-Missionen, die alle nur bis in die Umlaufbahn des Mondes kamen, verfolgt, und er hat keine der Sendungen von Professor Heinz Haber verpasst.

Ralf hat nicht alles verstanden, was dort erklärt wurde. Aber das, was er nicht verstanden hat, hat er in den Büchern nachgeschlagen und nun fast alles begriffen.

Er hat sich das Lesen selbst beigebracht und ist deshalb ein Jahr früher in die Schule gekommen.

Wäre doch gelacht, wenn es da etwas geben sollte, was er nicht herausfinden könnte.

Seine Neugier ist so grenzenlos wie das Universum selbst.

Ralf sieht auf die Uhr.

Eigentlich hat sein Freund Andreas angekündigt, in der Nacht zu ihm zu kommen, damit sie gemeinsam die Mondlandung erleben könnten.

Andreas wohnt ein Haus weiter – gut hundert Meter entfernt –und seine Eltern würden es nicht merken, wenn er das Haus verließe.

Schließlich sind sie bis zum frühen Morgen ebenso im Festzelt beschäftigt wie Ralfs Eltern.

Andreas ist ein Jahr älter als Ralf, aber trotzdem hatte der immer schon den Eindruck, dass er nicht ganz so helle ist. Man musste ihm manchmal die Dinge dreimal erklären, wenn man sicher sein wollte, dass er sie auch richtig begriff.

Deshalb hat sich Ralf auch große Mühe gegeben, ihm eindringlich klarzumachen, wie er den Wecker zu stellen habe, damit er pünktlich aufwache.

Offenbar vergeblich.

Andreas müsste längst hier sein, geht es Ralf ärgerlich durch den Kopf,

dieser Dussel!

»Hey, bist du jetzt mein Lehrer oder was?«, hatte ihn Andreas noch angefahren, als Ralf seine Kontrollfragen stellte, um herauszufinden, ob sein Freund tatsächlich begriffen hatte, was zu tun war. »Du brauchst nicht zu denken, dass ich doof bin. Nur, weil sie dich früher eingeschult haben, brauchst du dir noch längst nix einzubilden!«

Auch wenn Andreas nicht der Hellste war – Ralf fand es doch angenehm, ihn um sich zu haben.

Dann hatte er jemanden, dem er von seinen Ideen erzählen konnte.

Jemanden, der ihm fasziniert zuhörte, wenn er davon sprach, wie eine Mondfähre aufgebaut war, wie der Orbiter funktionierte, wie stark die Rakete sein musste, die all das aus der Anziehungskraft der Erde herauskatapultierte und so zielgenau in den Weltraum hineinschleuderte, dass es den Mond erreichte.

Über dreihunderttausend Kilometer.

Eine Zahl, die sich nicht mal Ralf vorstellen kann.

Andreas kann fehlerfrei bis 22 zählen. Ralf hat es immerhin schon mal geschafft, einfach so und aus Spaß, die Zahlen bis 1000

aufzuschreiben, ohne eine zu vergessen.

Aber 300 000 – das ist einfach nur ein magischer Begriff.

Ein Kilometer – da weiß er ziemlich genau, wie viel das ist. Einen Kilometer muss man laufen, um ins Dorf zu kommen und im Kiosk von Oma Oelrich ein Bessy-Heft zu kaufen.

Genau tausend Schritte. Ralf hat es abgezählt.

Und hundert Schritte sind es bis zum Haus von Andreas‘ Eltern.

Wenn er den Wecker richtig gestellt hätte, wäre er aufgewacht und hergekommen, denkt Ralf.

Er sieht die verwackelten Schwarzweißbilder der Landefähre EAGLE, sieht die Umrisse von Neil Armstrong. Das ist er also. Der zweite große Moment. Der Adler ist gelandet und jetzt ist Armstrong ausgestiegen und der erste Mensch betritt den Mond.

Mit so einer Fähre möchte ich mal fliegen, denkt Ralf. Wenigstens einmal.

Nach dieser Nacht wird er das nie wieder denken.

Einige Augenblicke lang versinkt er in seinem Traum von einer Zukunft als Astronaut. Den ersten Mann auf dem Mond gibt es ja nun schon, aber da draußen sind noch viele Planeten. Warum sollte er nicht der erste Mann auf dem Mars werden?

Dass Neil Armstrongs Vorfahren aus Ladbergen stammen, darüber haben sie in der Schule geredet. Was ein Ladberger geschafft hat, könnte doch auch einem zweiten gelingen, denkt Ralf.

Er hört einen Schrei und fährt zusammen.

Ein Schrei so hell und schrill – eine Kinderstimme!

Ralf sitzt da und kann sich nicht bewegen, denn obwohl sie so verzerrt klang, hat er die Stimme sofort erkannt. Andreas!

Ein Geräusch lässt ihn sich zum Fenster drehen. Auf dem Fernseher hat man jetzt gerade wieder zurück ins Studio geschaltet und ein Experte sagt ein paar kluge und salbungsvolle Worte über die Zukunft der Menschheit und den Blick von einem anderem Himmelskörper auf die ferne Erde, der uns allen bewusst machen könnte, wie verwundbar wir doch sind. Die Erde als verletzliche Insel des Lebens im All. Ralf hört nicht zu. Er geht zum Fenster.

Ist Andreas vielleicht in einen Kuhfladen getreten? Hat er deshalb so geschrien? Memme!

Er nimmt seine Taschenlampe, die er letztes Weihnachten bekommen hat und die seitdem fast ständig seine Hosentasche ausbeult.

Ralf öffnet das Fenster.

Ein kühler Hauch kommt herein. Und zusammen mit diesem Hauch auch ein wimmernder Laut. Da ist irgendetwas geschehen.

Irgendetwas Schlimmes.

Ralf sieht noch mal zum Fernseher. Immer noch Studio. Nicht Houston. Nicht der Mond. Kein Armstrong, keine EAGLE.

»Andreas?«, ruft Ralf.

Aber da gibt es keine Antwort. Das Wimmern ist verstummt.

Ralf steigt nach draußen. Er läuft ein paar Schritte. Der aufkommende Wind biegt die Bäume und lässt sie rascheln.

»Wo bist du denn, du Blödmann?«

Er lässt den Strahl seiner Taschenlampe suchend durchs Dunkel wandern.

Und dann sieht er ihn. Andreas liegt im Gras.

Er sieht das Blut.

Viel Blut.

Und in den starren Augen spiegelt sich das Mondlicht. Der Mund steht offen – wie gefroren im Schreck.

Da liegt auch ein Messer.

Die Klinge blitzt auf.

Zumindest dort, wo sie nicht mit Blut beschmiert ist.

Dann knackt ein Ast. Ralf lässt den Lichtkegel herumfahren. Eine Gestalt schält sich aus der Dunkelheit heraus.

Ein Mann.

Er hebt den Arm vor das Gesicht, denn die Lampe blendet ihn. Ralf sieht nur die Hand und die Stirn und die hakenförmige Narbe.

Und das Blut an seinem Hemd und dem Ärmel.

Der Mann dreht sich um, stolpert davon. Er geht ganz seltsam. Mit seinem Bein stimmt was nicht.

Ralf hat schon mal jemanden gesehen, der sich so bewegte. Das war im Urlaub am Strand.

Der Mann lief vor ihm her. Ralf starrte die ganze Zeit sein Bein an, bis er bei einer Sandburg stehenblieb, zum Schenkel griff, das Bein abschnallte und in den Sand steckte.

»Das kommt vom Krieg«, hatte ihm sein Vater später erklärt.

Dieser Mann geht genauso. Er hat ein Holzbein.

Aber schon einen Moment später sieht Ralf ihn nicht mehr. Er ist einfach verschwunden, so als hätte es ihn nie gegeben – und Andreas liegt da, wie eine starre Puppe, so als hätte er nie gelebt.

Anno 2009.

Vierzig Jahre später.

Der Fernseher läuft. Die alten Bilder werden noch einmal gezeigt.

Immer wieder aufs Neue. Die Landung von Apollo 11 – in einigen Programmen sogar die Originalübertragung in voller Länge.

Ralf sieht den Adler landen.

Und sitzt wie erstarrt da. Denkt plötzlich an das Blut, das Messer, den toten Andreas und den Mann in der Dunkelheit.

»Wolltest du nicht auch immer Astronaut werden?«, fragt die demente Achtzigjährige im Rollstuhl, die ab und zu noch mal einen hellen Moment hat, ansonsten mit Ralfs Mutter aber nur den Name gemein zu haben scheint.

Ralf antwortet nicht.

»Komisch, du hast dich so sehr dafür interessiert, das weiß ich noch genau. Aber das hatte sich dann ganz plötzlich erledigt ...«»Ja«, murmelt er. »Das hatte es.«»Schade, dass du so weit weg wohnst.«

Nein, denkt er. Das ist gut so.

»Ich hoffe, man sorgt hier in diesem Altenheim gut für dich«, sagt er.

Sie beugt sich vor. »Ich habe da einen Herrn kennengelernt. Der ist nett.«»Ah, ja ...«»Hat aber genauso wenig Haare wie dein Vater früher.«

Zweiundfünfzig ist Ralfs Vater nur geworden. Verkehrsunfall, Kreuzung Lengericher Straße/Saerbecker Straße. So etwas nannte man wohl Schicksal.

––––––––

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EINE DORFKNEIPE.

Ralf ist wegen eines Klassentreffens nach Ladbergen gekommen.

Und jetzt sitzen sie beim Bier – alle die, die damals das Lesen lernten, als Neil Armstrong zum Mond flog.

»Aber der Ralf, der konnte dat schon!«, sagt einer. »Obwohl er der Jüngste war.«

»Hatte ich mir selbst beigebracht«, sagt er.

»Du wolltest doch damals immer schon was Besonderes werden.

Astronaut, glaube ich, oder? So wie unser größter Ladberger, hier, wie heißt er noch – Nils Armstrong.«

Neil – nicht Nils, will Ralf ihn korrigieren, aber er behält die Worte für sich. Was soll‘s?

»Naja, aber Professor für Chemie ist ja auch nix Schlechtes oder?

Nicht gerade so was wie eine Reise zu den Sternen, aber ich schätze mal, das liegt ja auch daran, dass die mit den Astronautenprogrammen damals erstmal eine Pause eingelegt hatten, wenn ich das richtig sehe ...«»Ist damals nicht der Andreas umgekommen?«, fragt eine Frau. Jetzt ist sie dünn und hager wie ein Hering. Damals, hat Ralf noch gut in Erinnerung, konnte sie kaum aus den Augen sehen, wenn sie lachte, so dick waren ihre Wangen. Wie die meisten, die am Tisch sitzen, ist sie nie aus Ladbergen herausgekommen. Anders als Ralf.

Ilona heißt sie. Die dicke Ilona, denn es gab auch noch eine andere, die dünn war. Zu Ralfs Verwirrung ist allerdings in den letzten vierzig Jahren die dünne Ilona dick geworden und die dicke dünn.

»Ja, richtig der Andreas«, sagt jemand anderes. »Ralfi, das war doch dein bester Freund, oder?«»Ja«, murmelt Ralf. Er hört den Stimmen der anderen zu, ihrem Wortschwall aus Erinnerungen und Halbwahrheiten. Das gesammelte Dorfgerede eben, abgeschliffen und in seinem wahren Kern etwas verfälscht durch die Zeit.

»Ich meine, die Polizei, die hat ja damals nicht so richtig herausfinden können, wer das nun eigentlich gewesen ist.«»Ja, aber es gab in den nächsten Jahren noch drei weitere Kinder, die hier in der Gegend umgebracht wurden.«»Ich meine, so 'n Wort wie Kinderschänder, da hat man ja damals nur hinter vorgehaltener Hand von gesprochen.«»Ich weiß noch, dass wir einige Zeit kaum raus durften und unsere Eltern uns überall hingebracht haben.«»Ja, das hat sich dann aber bald auch gelegt. Ich meine, du kannst Kinder doch nicht rund um die Uhr überwachen!«»Hat sich das nicht in der Nacht des Schützenfestes abgespielt?«»Die Nacht des Schützenfestes! Das war doch die Nacht der Mondlandung«, sagt jemand. »Allerdings muss ich zugeben, dass mir das auch jetzt erst aufgefallen ist, weil alle Leute über das Jubiläum von Nils Armstrong sprechen.«

Wieder Nils, denkt Ralf, weil ihn das etwas ablenkt. Eigentlich will er nichts mehr davon hören. Seit er Andreas gefunden hat, ist sein Interesse an Raumschiffen wie weggeblasen. Und wenn jemand das Wort »Apollo« ausspricht oder »Armstrong« oder »EAGLE« oder

»Orbiter«, dann kann es sein, dass er Schweißperlen auf die Stirn bekommt. Immer noch. Wahrscheinlich würde das auch nicht mehr aufhören. Nur ganz dunkel erinnert sich Ralf daran, wie er später vom Dorfpolizisten befragt wurde und noch später von einem Kriminalhauptkommissar und danach von einem Mann, von dem er bis heute nicht weiß, wer das war, aber der immer sehr verständnisvoll nickte, wenn er einen Satz beendete.

Die Zeit unmittelbar nach dieser Nacht erscheint Ralf im Rückblick wie ein verworrener Alptraum. Und manchmal hat er das Gefühl, bis heute nicht wirklich daraus aufgewacht zu sein.

»Echt, dat muss ein Auswärtiger damals gewesen sein«, hört er jemanden sagen.

»Ja, und warum sind dann noch weitere Kinder umgekommen?«, fragt jemand anderes und stört damit den lokalpatriotischen Grundkonsens am Tisch.

»Ja, aber kannst du dir denn vorstellen, dass jemand, der mit unseren Eltern zusammen im Festzelt gesessen und Bier gesoffen hat, so was tun würde? Jemand hier aus der Gegend?«»Vielleicht sogar jemand, der mit Neil Armstrong verwandt ist«, sagt Ilona. Diesmal die dünne, die jetzt dick ist. Einen Augenblick herrscht Schweigen, diese Bemerkung findet jeder unpassend. »Ich mein ja nur«, sagt sie.

Ihre Namensvetterin erlöst die Runde aus ihrer bedrückenden Stille.

»Fährst du morgen noch mal deine Mutter besuchen, Ralf?«»Ja.«»Meine ist auch im Haus Widum in Lengerich. Wir sind zufrieden. Also – sie und ich.«»Verstehe.«»Wann fährst du?«»Weiß noch nicht.«»Kannst du mich mitnehmen? Unser Wagen ist nämlich kaputt, aber wenn ich ihr zu erklären versuche, dass ich deswegen nicht zu ihr kommen kann, versteht sie das nicht.«»In Ordnung«, sagt Ralf.

Ralf sitzt mit seiner Mutter im Tagesraum des Seniorenheims in Lengerich – zehn Kilometer von Ladbergen entfernt. Aber für Mutter ist das Ausland. Schon das Platt, das man hier spricht, unterscheidet sich hörbar vom Ladberger Platt. Wie soll man sich da wohlfühlen?

Darum hat sie sich lange gesträubt, hierher zu ziehen. Aber schließlich war es unumgänglich gewesen.

»Ich hatte ja immer gehofft, dass du mal unseren Hof übernimmst«, sagt sie. »Aber das ist ja alles anders gekommen. Weißt du, was der Onkel Friedhelm gesagt hat: Selbst schuld, wenn du das Kind zuerst ein Jahr früher zur Schule lässt und dann auch noch aufs Gymnasium schickst. Selbst Schuld!«

Ralf hat seit ein paar Jahren einen Lehrstuhl für Chemie in Zürich.

Zuvor war er in New York, Sydney, Tokio und Delhi. Mal in der universitären Forschung und mal als Mitarbeiter an einem Forschungsprojekt in der Industrie.

»Hauptsache weit weg, was?«

Das muss einer von Mutters lichten Momenten sein.

Sie sieht ihn an.

»So kann man das nicht sagen«, meint er.

»Nee?« Sie runzelt die Stirn. »Du bist doch der Ralf, oder?«»Ja, der bin ich.«

Die Tür geht automatisch und rollatorengerecht zur Seite auf, aber der Mann der jetzt hereingefahren wird, sitzt im Rollstuhl. Er blickt starr drein. Aber Mutters Blick hellt sich auf, als sie ihn sieht.

»Das ist der Herr, der so nett ist«, sagt sie. »Er hört mir zu.«»Ah, ja

...«, murmelt Ralf.

Die Altenpflegerin fährt den Rollstuhl an den Tisch.

Der Mann lässt durch nichts erkennen, dass er Mutter überhaupt bemerkt hat. Er interessiert sich mehr für den Kuchen, der an seinem Platz steht, den er aber nicht ohne Hilfe essen kann.

Die Altenpflegerin will ihn etwas näher an den Tisch fahren, aber die Rollen des Stuhls treffen auf einen Widerstand. Der linke Fuß ist vom Tritt gerutscht.

»Oh, tut mir leid«, sagt die Altenpflegerin. Sie ist noch jung. Eine neue. Und wohl auch etwas ungeschickt.

»Das macht nichts«, sagt Mutter. »Links ist alles aus Holz bei ihm!«

Ralf erstarrt, als er die hakenförmige Narbe auf der Stirn des Mannes sieht.

Das ist er!, wird ihm klar und ein eisiger Schauder überläuft seinen Rücken. Wie oft hat er in die Gesichter gestarrt, immer wenn er Menschen begegnete, die im passenden Alter waren, hinkten und eine Narbe am Kopf aufwiesen. Aber in diesem Moment gibt es keinerlei Zweifel.

»Ist er nicht nett?«, hört er Mutter sagen. »Ich weiß nur seinen Namen gerade nicht.«

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Alfred Bekker

ZWEISAM IN SONSBECK

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Die Stimmen.

Sie hören nicht auf.

Ich dachte, ich könnte sie zum Schweigen bringen, aber das war wohl ein Irrtum. Eine gewisse Traurigkeit überkommt mich. Ein Gefühl der Vergeblichkeit.

Zu Hause ist es manchmal ziemlich einsam.

Wenn ich niemanden habe, mit dem ich reden kann, höre ich die Stimmen.

Also muss ich immer dafür sorgen, dass ich nicht allein bin.

Es war an einem heißen Juli-Nachmittag, als die St. Gerebernus-Prozession durch Sonsbeck zog.

Letztes Jahr.

Der Musikverein Harmonie 1911 spielte.

Trotz der komischen Uniform, die nicht gerade feminin wirkt, fiel mir eine Trompeterin auf. Ich bin nicht sehr musikalisch, hatte aber das Gefühl, dass es nicht richtig sein kann, wenn man eine Trompete aus dem Bläsersatz dermaßen schrill heraushört. Dem Gesichtsausdruck des Dirigenten nach hatte ich mit dieser Einschätzung Recht.

Damals sah ich Franziska zum allerersten Mal. Allerdings wusste ich noch nicht, dass sie Franziska hieß.

Ich konnte sie einfach nicht vergessen.

Ihr Gesicht, meine ich.

Ich betrete das Sonsbecker Rathaus in der Herrenstraße 2. Es dauert eine Weile, bis ich mich durchgefragt habe und schließlich im Zimmer des Sachbearbeiters sitze, der dafür zuständig ist, einem Bedürftigen wie mir Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.

Der Sachbearbeiter heißt Wolke. So hat er sich mir gegenüber vorgestellt. Seine Kollegin, die während unseres Gesprächs mehrfach hereinschneit und uns mit irgendwelchen ach so dringenden Lappalien unterbricht, nennt ihn HEBBET.

Nicht HERBERT sondern HEBBET.

Vielleicht kommt sie aus dem Hessischen.

Jedenfalls ist sie nicht von hier.

Zugezogen.

Ihre Sprache verrät sie.

Sie ist blond und quirlig.

HEBBET ist genau das Gegenteil.

Dunkelhaarig und ziemlich behäbig. Richtig lahm. So, wie man sich einen Beamten in seiner Amtsstube eben vorstellt.

Wolke lehnt sich in seinem Sessel zurück und sieht mich abschätzig an.

"Sie wollen also Geld von mir haben."

"Nicht von Ihnen persönlich."

"Logisch", knurrt er. "War ein Witz."

"Ach, so."

Er atmet tief durch, beugt sich vor und greift sich anschließend mit schmerzverzerrtem Blick an den Rücken. Irgendetwas zwickt ihn da.

Das sind eben die Folgen des Dauersitzens. Kann man in jedem Apothekenblatt nachlesen.

"Sie haben zurzeit keine Arbeit?", fragt er mich.

"Nein."

"Seit wann?"

"Seit ... Schon jahrelang."

"Wovon haben Sie gelebt?"

"Vom Geld meiner Mutter."

"Ist Ihre Mutter berufstätig?"

"Nein, jetzt nicht mehr. Sie steht nicht mehr auf. Jedenfalls nicht ohne Hilfe."

"Heißt das, sie ist ein Pflegefall?"

"Kann man so sagen."

"Zahlen Sie Miete?"

"Nein. Ich lebe im Haus meiner Mutter. Also, eigentlich ist es mein Haus. Sie hat es mir vor ein paar Jahren überschrieben."

"Außer den Zuwendungen Ihrer Mutter haben Sie keinerlei Einkünfte?"

"Ich habe hin und hin und wieder mal ..." Ich stocke.

"Schwarzarbeit?", erlöst er mich davon, mich selbst belasten zu müssen.

"Ja."

Er seufzt. Sieht genervt aus. Ich bereue schon, überhaupt hier her gekommen zu sein.

"Sie müssen mir Ihre Vermögensverhältnisse offen legen, sonst gibt es kein Geld für Sie", erklärt mir Wolke jetzt unmissverständlich.

"Wenn Sie Ihre Mutter pflegen, dann hätten Sie auch vielleicht Anspruch auf Leistungen der Pflegekasse. Haben Sie Ihre Mutter vom medizinischen Dienst begutachten und in eine Pflegestufe einstufen lassen?"

"Nein."

"Das sollten Sie schleunigst veranlassen", sagt Wolke. "Ihren Schilderungen entnehme ich, dass Ihre Mutter bettlägerig ist."

"Ja."

"Dann sind Sie auf Grund der übernommenen Pflege auch nicht voll erwerbsfähig." Er seufzt, sieht auf die Uhr. "Wissen Sie was, ich muss heute pünktlich weg. Aber ich habe hier ein Formular für Sie.

Füllen Sie das bitte aus und kommen Sie doch danach wieder in mein Büro."

"Wann?", frage ich.

Er zuckt die Achseln. "Die Tage mal."

Ich bekomme das Formular.

Seine quirlige Kollegin schneit noch einmal hinein. "HEBBET, eine Unterschrift!", säuselt sie, legt ihm was auf den Tisch. HEBBET

unterschreibt ohne sich das Blatt durchzulesen.

"Alles klar?", fragt HEBBET Wolke.

"Alles paletti. Hast du übrigens schon gehört, dass da eine junge Frau vermisst wird?"

"Wirklich?"

"Ja, hier aus dem Ort."

"Nö, weiß ich nix von."

"Kam gerade im Radio. Den Namen habe ich vergessen, aber morgen ist sicher ein Foto in der Zeitung."

"Vielleicht kennen wir sie."

"Sandra Stahlke oder Stahnke."

"Nee, das ist 'ne Schauspielerin, da vertust du dich, Katharina."

"HEBBET ..."

"Ja, wirklich!"

"HEBBET, die heißt Susan Stahnke und ist auch keine richtige Schauspielerin sondern ... Wat weiß ich!"

Ich habe langsam das Gefühl, hier überflüssig zu sein. Immerhin weiß ich jetzt, dass die Quirlige Katharina heißt. Sie gefällt mir. Ich hätte sie gerne zu Hause. Nur so zum Reden. Nur zum Reden. Nicht für mehr.

Das Land hier am Niederrhein ist flach. Bäume, Häuser, Alleen, hin und wieder eine Kirche. So sieht es aus hier in Sonsbeck. Idyllisch könnte man dazu sagen. Mein Haus liegt ein Stück die Weseler Straße raus. Man kann es von der Straße aus nur im Winter sehen, wenn die Bäume kein Laub tragen. Mein Wagen, der Wagen, der meinem Vater gehört hat, steht jetzt in der Garage. Ich habe kein Geld für den Sprit mehr. Ich bin ein sparsamer Mensch, aber vielleicht war ich in der Vergangenheit nicht sparsam genug.

Jetzt fahre ich mit dem Fahrrad in die Stadt.

Geht auch.

Muss gehen.

Muss einfach.

Als ich später meine Mutter umbette, damit sie bequem liegt und keine Druckstellen bekommt, sagt sie: "Wir damals, in der schweren Zeit, wir haben ganz andere Sachen ausgehalten. Und du meckerst, wenn du mal in die Pedale treten musst!"

Als ich das Sozialamt verlasse, fällt mir das Plakat der Volkshochschule auf. "Volkshochschulzweckverband Alpen-Rheinberg-Sonsbeck-Xanten" , so nennt sich diese Institution mit vollem Namen. In Zimmer 22 des Rathauses residiert der offizielle Ansprechpartner, ein Herr mit einem holländisch klingenden Namen.

Ich sehe mir das Plakat an. Karate für Anfänger, Wirtschaftsenglisch für Fortgeschrittene und Kreatives Schreiben.

MORD FÜR ANFÄNGER UND FORTSCHRITTENE, steht da in großen Buchstaben. Lernen Sie literarisch zu morden.

Klingt interessant, denke ich.

Schreiben befreit, heißt es. Man ordnet dadurch angeblich seine Gedanken.

Die vielen Stimmen im Kopf. Auch andere Dinge. Man ordnet seine Welt. Man erschafft seine Welt neu. Besser vielleicht.

Eine Weile habe ich das geglaubt.

Aber es stimmt nicht.

Gleichgültig, mit welch salbungsvollen Worten unsere Kursleiterin dies auch zu beschwören versucht. Die Stimmen sind immer noch da.

Und manch anderes auch. Aber in so einem Volkshochschulkurs für Kreatives Schreiben lernt man nette Menschen kennen. Frauen überwiegend. Und das ist doch auch etwas.

Es ist eine traurige Sache.

Warum bleiben sie nicht?

Warum erschrecken sie, wenn sie das Haus betreten? Weshalb beklagen sie alle sich über einen bestimmten Geruch, von dem sie nicht sagen können, wodurch er verursacht wird?

Sie wollen nicht bleiben und mit mir reden.

Ich weiß nicht warum.

Ist es zuviel, was ich verlange?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Und doch, es ist immer dasselbe.

Sie wollen nicht bleiben. Ich kann von Glück sagen, wenn sie sich wenigstens mit mir an den gedeckten Tisch setzen.

"Hat jemand etwas von Franziska gehört?", fragt die Kursleiterin irgendwann, nachdem Franziska schon das dritte Mal nicht zum Kurs gekommen ist.

Zunächst herrscht Schweigen.

Schließlich sagt eine junge Frau mit mattglänzendem Haar und einem sehr ernsten Gesicht, bei dem man unwillkürlich auf die Idee kommt, dass eine schwere Jugend sehr schwermütige Gedanken zur Folge hat: "Ich habe bei ihr geklingelt, aber es war wohl niemand da."

"Also wenn ihr jemand zufällig begegnen sollte", so die Kursleiterin, "dann möge er ihr doch bitte schöne Grüße von mir ausrichten und sie fragen, ob sie nun an unserer Lesung teilnehmen will oder nicht. Irgendwann muss ich ja auch planen."

Sie wird nicht teilnehmen, denke ich.

Weder an der Lesung, noch an sonst irgendetwas.

Franziska wird gar nichts mehr tun.

Ich zünde die Kerzen an.

Der Schein der Flammen fällt auf ihre ebenmäßigen Züge und taucht sie in ein diffuses Licht.

Ich konnte sie nicht gehen lassen.

Ich konnte einfach nicht.

Ich spaziere gerne am Dassendaler Weg zwischen dem Römerturm und der St. Gerebernus-Kapelle. Manchmal sagen mir Stimmen, ich soll hier hin gehen. Vielleicht suche ich instinktiv die Nähe eines sakralen Gebäudes. Betreten habe ich die Kapelle nie. Auch keine andere Kirche.

Seit Jahren nicht.

Es wäre mir irgendwie unangemessen vorgekommen. Du hast dort nichts zu suchen!, sagt eine Stimme.

Aber eine andere widerspricht: Genau hier bist du richtig. Im Angesicht des Kreuzes. Wo sonst willst du Buße tun?

Ich schließe die Augen.

Kneife sie zu.

Drücke die Handflächen auf die Ohren.

Es ist dunkel.

So dunkel.

Der Chor der Stimmen verstummt nicht.

Ich spüre eine leichte Berührung. Sie wirkt wie ein elektrischer Schlag.

"Ist Ihnen nicht gut?", dringt eine weibliche Stimme in mein Bewusstsein. Ich erkenne sie wieder, öffne die Augen und sehe die quirlige Katharina aus dem Sozialamt. Ihr Gesicht wirkt besorgt.

"Alles in Ordnung."

"Wirklich?"

"Wirklich."

"Ich habe ein Handy dabei. Soll ich einen Arzt rufen?"

"Nein, danke."

Sie sieht mich zweifelnd an. "Na, Sie müssen es ja wissen."

"Eben!"

Geh weg.

Sofort.

"Ich meine, es ist halt so, dass Kurse meistens im Laufe der Zeit kleiner werden", sagt die Leiterin einmal. "Aber wenn man keine Lust mehr hat, könnte man sich eigentlich wenigstens abmelden, finde ich."

Hast du eine Ahnung!, denke ich.

Die Leiterin macht ein erntes Gesicht.

Drei volle Sekunden Schweigen.

Dann wenden wir uns em Text einer rothaarigen, sehr hageren und sehr unzufrieden wirkenden jungen Frau zu, die aussieht, als hätte sie in ihrem jungen Leben schon viel mitgemacht. "Ich habe das Problem, wie ich historische Fakten in meinen Krimi einbauen soll", sagt sie.

"Ich möchte schließlich nicht aufdringlich oder belehrend klingen, andererseits ... Nun, ich habe einen Kompromiss zwischen spannender Handlung und historischer Genauigkeit versucht."

Wir hören ihr zu.

Nachdem sie zwei Seiten lang über die Gründung der Stadt Sonsbeck im Jahre 8 v. Christus durch den römischen Kaiser Tiberius doziert und Bezüge zur Herrschaft der Grafen von Cleve im zwölften Jahrhundert hergestellt hat, die in Sonsbeck eine Bockwindmühle besaßen, denke ich, dass dieser Kompromiss gründlich daneben gegangen ist. Eigentlich geht es ihr nämlich darum, einen Mord zu beschreiben, der in der Turmwindmühle stattfindet, die zu dem daneben liegenden Hotel gehört.

Als die Rothaarige anschließend noch ellenlange und detailreiche Beschreibungen des fast völlig von Efeu übewuchterten Mauerwerks zum besten gibt, denke ich: Man sollte die Todesstrafe wieder einführen. Für Langweilerinnen.

Etwas fasziniert mich doch an ihr.

Ihr Gesicht.

Sie ist nicht mein Typ, das hatte ich innerhalb der ersten zwei Sekunden entschieden, in denen ich sie sah.

Trotzdem...

Ihr Gesicht - nein, ihr Gesichtsausdruck! - dieses fleisch gewordene Monument aus Qual und Entsagung, muskulös durch das Kauen von Grünkernen und Müsli, gezeichnet durch den Ausdruck permanenter Unzufriedenheit, der sich bereits in Form von charakteristischen Falten verewigt hat, erinnert mich an Mutter.

Sie sah auch so drein.

Wenn sie von der schweren Zeit sprach.

Sie sprach oft davon.

Kein Wunder, dass sie früh Falten bekam.

Das mit den Stimmen fing an, als ich etwa fünf Jahre alt war.

"Dafür brauchen wir keinen Arzt", hatte Mutter damals gesagt.

"Das wächst sich aus, wenn du größer wirst."

Es hat nie wieder richtig aufgehört. Sie sind immer da. Das Einzige, was sie vorübergehend übertönen kann, sind die Stimmen anderer.

Die Stimmen meiner Besucherinnen zum Beispiel.

Mutter hat keine von ihnen gemocht - und das, obwohl ich ihr nur das Beste über sie berichtet habe. Keiner von ihnen ist sie persönlich begegnet.

"Was ich gehört habe, reicht mir für ein Urteil", pflegte sie zu sagen.

Ein Urteil.

Das war es.

Ein Urteil ohne Berufung. Ohne Verteidiger. Nur eine einsame Richterin.

"Reg dich nicht so auf", sagte ich.

"Wieso soll ich mich nicht aufregen, wenn du dich mit den falschen Frauen triffst? Welche Mutter würde sich da nicht aufregen?"

"Weißt du nicht, dass so etwas einen zweiten Schlaganfall auslösen kann?"

"Ach, Junge!"

Gegenüber vom Sonsbecker Rathaus befindet sich ein Parkplatz.

Dahinter ragt die Silhouette der evangelischen Kirche hervor. Zwei Einsatzwagen der Polizei stehen auf dem Parkplatz. Als ich mit dem Fahrrad in die Herrenstraße einbiege, fallen sie mir wegen der eingeschalteten Blinklichter gleich auf. Irgendetwas muss passiert sein. Ich fahre auf den Parkplatz. Um die Polizisten hat sich ein Pulk von schaulustigen Passanten gebildet. Uniformierte Beamte teilen Handzettel aus. Das Bild einer jungen Frau ist darauf zu sehen.

Darunter die Frage, ob jemand ihr in den letzten Tagen begegnet sei.

Ein Beamter kommt auf mich zu, drückt mir auch so einen Zettel in die Hand.

"Was ist passiert?", frage ich.

"Versuchen wir gerade herauszufinden."

"Sie ist doch nicht tot?"

Meine Stimme vibriert.

Warum eigentlich?

Der Beamte sieht mich an. Seine Augen sind dunkelgrau. Genau wie sein Schnauzbart, der so dick ist, dass man von den Lippen nichts sehen kann. Er mustert mich. Ich fange an zu schwitzen. Ich fange immer an zu schwitzen, wenn mich jemand so ansieht. Genau auf diese Weise. Unmöglich zu sagen, woran das liegt. Ich weiß nur, dass sich dann meistens die Stimmen melden.

Geh weg.

Sofort.

Flieh!

"Sehen Sie sich das Bild genau an", sagt der Polizist. "Vielleicht kennen Sie die junge Frau ja ..."

Ich nicke.

Senke zögernd den Blick.

Bislang habe ich es vermieden, mir das Gesicht anzusehen.

Tu es nicht!

Sieh nicht hin!

"Schreckliche Sache", sage ich.

"Naja, wir wissen ja noch nicht sicher, was wirklich passiert ist", erwidert der Uniformierte.

"Ich glaube, dann würden Sie nicht so eine große Aktion starten."

"Also, was ist? Kennen Sie die Frau?"

"Nein."

Ich muss schlucken.

Er sieht dir deine Lüge an, denke ich. Er sieht dir an, dass du jeden Tag mit ihr sprichst, dass sie an deinem Tisch sitzt, dass ihr zusammenlebt wie ein altes Paar.

Ich höre die Leute reden. Von härteren Strafen und perversen Schweinen, von schlampigen Gutachtern und zu milden Urteilen wegen einer schweren Kindheit. Das ganze Stammtischgequatsche eben. Der Polizist geht weiter.

Geh weg.

Sofort.

Ich steige auf das Fahrrad, zittere dabei.

"Sie wollen wirklich schon gehen?"

Ihr Gesicht wirkt verlegen.

"Ja."

"Aber ..."

Woran liegt es nur? Mutter kann nichts damit zu tun haben. Sie liegt seit ihrem Schlaganfall starr da und wenn ich sie nicht alle paar Stunden umbetten würde, bekäme sie Druckstellen, die sich nach einiger Zeit dunkel verfärben. Manchmal ruft sie nach mir, das hat sie jetzt nicht getan. Der Hass, den sie meinen Besucherinnen entgegenbringt, kann doch nicht durch die Wände ihres Zimmers gedrungen sein wie eine schwarze Giftwolke!

Ich höre Stimmen.

Einen dumpfen, choatischen Chor, der lauter wird, anschwillt.

"Ich muss mich auf den Weg machen. Verstehen Sie mich doch, es ist höchste Zeit ..."

"Ich habe den Tisch gedeckt!"

"Hören Sie, ich will Sie nicht kränken, aber ..."

"Aber?"

"Ich weiß nicht, ob es richtig war, Ihre Einladung anzunehmen ...

Was ich sagen will ist ..."

"Sie können mir das nicht antun! Ich habe für Sie gekocht!"

"Das ist sehr nett, aber - "

"Alles ist vorbereitet ... "

Sie runzelt genau in diesem Moment die Stirn.

"Vorbereitet?"

Viele von ihnen haben genau in diesem Moment die Stirn gerunzelt.

Ich kann es unmöglich erklären, aber es ist so.

Ich habe kein gutes Gefühl.

"Es gibt Lachs in Kräuterbutter. Dazu einen guten Wein. Es wird Ihnen schmecken ..."

Ich habe etwas Scheußliches getan.

Naja, das haben die meisten vielleicht irgendwann schon mal in ihrem Leben. Aber das, was ich getan habe, ist von besonderer Scheußlichkeit. Ich weiß es, aber ich kann es nicht ändern.

Ich empfinde auch keine Schuld.

Es ist so gekommen.

Aus.

Fertig.

Reden wir über etwas anderes.

Ich sehe ihr in die Augen, diese leuchtend blauen Augen, die mich ganz friedlich anblicken.

Sie sitzt mir gegenüber, mit diesen Augen, mit ihrem schmalen Mund, mit ihrem feingeschnittenen Gesicht. Ihr Mund lächelt nicht mehr. Er ist vielmehr unbeweglich, etwas starr, ich weiß auch nicht.

Ich hebe mein Glas und proste ihr zu.

Sie schweigt.

Ich rede mit ihr. Oder besser: Ich erzähle ihr alles Mögliche. Über mich. Über meine Ansichten. Über Gott. Und die Welt.

Nein, vielleicht doch nicht über Gott. Was ich damit sagen will ist Folgendes: Gott hat in dieser Geschichte eigentlich nicht allzu viel verloren.

Ich sollte ihn aus dem Spiel lassen.

Um seinetwillen.

Mein Mund produziert Worte. Eins nach dem anderen, ohne Unterlass. Eigentlich bin ich ein schweigsamer Mensch, vielleicht sogar schüchtern. Ich lebe zurückgezogen mit meinen drei Katzen.

Wie schon gesagt: Das Haus, in dem ich wohne, liegt etwas abseits.

Ich habe es für mich allein und das ist gut so.

Ein Tag vergeht. Und ein weiterer.

Ich lasse sie am Tisch sitzen. Sie blickt mich starr an, wenn wir uns unterhalten.

Hätte ich sie doch gehen lassen sollen?

Vielleicht.

Ich konnte es nicht.

Es war einfach unmöglich.

Ich brauchte sie.

Und ich hoffe nur, dass ich ihr nicht allzu sehr wehgetan habe.

Jedenfalls hat sie nicht geschrieen. Sie war wohl sofort tot. Ganz bestimmt.

Ich bette Mutter um. Von links nach rechts. Ihre Gliedmaßen sind starr. Ich packe Kissen zwischen die Gelenke.

Sie redet nicht mit mir. Sie ist beleidigt.

"Ist deine Besucherin noch da?", fragt sie plötzlich.

Der erste Satz - seit Tagen.

"Ja."

"Sie ist nicht gut für dich."

"Mutter!"

"Bring sie weg."

"Nein, noch nicht!"

"Ich mag sie nicht. Sie ist ..."

"Ja?"

"... wie die anderen."

Im Innersten meines Herzen weiß ich, dass Mutter Recht hat.

Bedauerlicherweise.

Ein Kursteilnehmer trägt eine Geschichte vor, die von einem Raubmord handelt. Er stottert beim Lesen. Der Text bricht plötzlich ab. "Mir fällt kein Ende ein", meint der Schreiber, der sich mit der flachen Hand bei jeder Gelegenheit über das schüttere Haar streicht.

Dadurch lädt es sich statisch auf, steht in der Gegend herum. Wie bei jemandem, der auf dem elektrischen Stuhl sitzt.

"Ich habe jetzt eine richtige Schreibhemmung, weil ich einfach nicht weiterkomme!", stöhnt er noch mal auf.

Er kann noch nicht richtig dichten, aber so gequält dreinschauen wie ein richtiger Dichter kann er schon.

Immerhin etwas.

Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben, heißt es.

"Vielleicht kann ich mich einfach nicht so richtig in einen Mörder hineinversetzen", meint der Wie-ein-gequälter-Dichter-Dreinschauende dann.

Er wendet sich an mich.

Ausgerechnet.

"Wie schaffst du das denn?"

"Ich?"

"Du hast doch letzte Woche auch eine Mörder-Story geschrieben."

"Ja."

"Na?"

"Ich weiß nicht."

Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich höre die Stimmen. Ich versuche zu verstehen, was sie sagen ...

"Ist Ihnen nicht gut?", dringen die Worte der Kursleiterin plötzlich in mein Bewusstsein.

"Mir? Wieso?"

"Sie sehen so blass aus!"

Am vierten oder fünften Tag nahm ich meine Besucherin über die Schulter und setzte sie in einen der großen Ohrensessel, die bei mir im Wohnzimmer stehen. Wir saßen beieinander. Es war schön. Jedenfalls besser, als wenn man alleine dasitzt.

Von Tag zu Tag gab es mehr Fliegen im Haus und mir war klar, woher das kam.

Ich betrachtete wehmütig ihr Gesicht.

Schade, aber ich würde mich von ihr verabschieden müssen.

Ich schob es noch ein paar Tage vor mir her. Schließlich hatte ich mich an ihre Gesellschaft gewöhnt.

Dennoch, es war unvermeidlich.

Ich löste ein paar Fußbodenbretter, unter denen ich eine Grube angelegt hatte und legte sie zu den anderen.

Später gehe ich zu Mutter.

Sie hat schon nach mir gerufen. Ziemlich ungeduldig. Die Stimmen in meinem Kopf haben die ihre übertönt. Das ist manchmal ganz angenehm. Gegen den großen Chor kommt sie eben doch nicht immer an. Ich lächele. Trotz der Sache mit meiner Besucherin.

"Willst du, dass ich Druckstellen bekomme?"

"Nein."

"Willst du, dass mir irgend ein Quacksalber das tote Fleisch herausschneiden muss?"

"Nein, natürlich nicht."

"Du weißt, dass ich Ärzte hasse und um keinen Preis einen dieser Pfuscher an mir herummachen lasse!"

Das hatte sie auch nach dem Schlaganfall gesagt, als ich sie fand.

Mit starren Gliedmaßen, verkrampften Fäusten, einem hängendem rechten Augenlid.

Ich hatte sie damals kaum verstehen können, so undeutlich sprach sie. Immerhin - das ist von allein besser geworden. Oder ich habe mich mehr daran gewöhnt. Ich bin mir nicht ganz sicher.

"Warum hast du mich dann solange warten lassen, Junge?"

"Ich habe sie weggebracht."

"Deine Besucherin?"

"Ja."

"Gott sei Dank."

Ich bette sie um.

Diesmal von rechts nach links. Sie liegt zusammengekrümmt wie ein Fötus da.

Ich schiebe Kissen unter die Gelenke.

Routine.

Jedesmal dieselbe Prozedur.

Ich muss sie genau einhalten - sonst bekommt Mutter Druckstellen, hat Schmerzen und wird sauer.

Außerdem bekomme ich die Klappe der großen Kühltruhe nicht zu, wenn ich sie falsch lagere. (c)A.Bekker

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Alfred Bekker & Marten Munsonius

KILLER IM KÄFIG

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Er war kein Berliner.

Nicht mehr.

Aber er kam noch ab und zu in die Bundeshauptstadt, um zu arbeiten. Immerhin das hatte er mit den Bundestagsabgeordneten gemein.

Weil sich in seinem Gepäck eine Automatik mit aufgeschraubtem Schalldämpfer und genügend Munition befand, konnte er nicht mit dem Flugzeug anreisen, sondern war auf das Auto angewiesen.

Eigenartig, dachte er. Wenn du nach Berlin kommst, fällt dir immer dasselbe ein. Der Tag, an dem die Mauer brach. Du saßt vor dem Fernseher wie Millionen Deutsche in Ost und West. Im öffentlich- rechtlichen Fernsehen wird der Bundeskanzler interviewt.

Du zappst auf die Privaten. Da sagt der Moderator vor jubelnden Berlinern: "Unsere öffentlich-rechtlichen Kollegen haben, wie ich höre, den Bundeskanzler vor dem Mikro. Aber wir haben einen gleichwertigen Ersatz: Harald Juhnke!"

Er schaltete einen Gang höher.

Der Motor heulte auf.

Jedesmal, wenn du nur daran denkst, musst du schon lachen!

Für jemand anderen würde es jetzt nichts mehr zu lachen geben.

Dafür würde er sorgen.

Das war sein Job.

*

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VON DER ORANIENBURGER Straße, nahe der Synagoge waren es nur ein paar hundert Meter bis zu den Hackeschen Höfen.

Es war nicht sonderlich kalt, nur regnerisch. Ungemütliches Nieselwetter eben. Aber der Killer trug dennoch Handschuhe.

Schließlich waren seine feingliedrigen Hände ein Teil seines wichtigsten Handwerkszeugs. Und klamme Finger konnte er sich einfach nicht leisten. Der andere Teil seines Handwerkszeugs, eine speziell für ihn umgebaute Automatik – Geschenk eines russischen Gönners – befand sich gut verborgen in einem Holster unter seinem Mantel.

Der Mann war hochgewachsen und ziemlich kräftig gebaut. Der blonde Kurzhaarschnitt unterstrich die kantigen Gesichtszüge.

Er war sauber rasiert - ein wenig hatte er von einem Geschäftsmann an sich, mit Freizeit für eine kleine Stadttour.

Die Oranienburger Straße mit ihren zahlreichen Clubs, den Lokalen, der „Mitte Bar“ und dem „Café Orange“ ließ der Killer links liegen. Er kannte die Gegend zur Genüge, selbst den Straßenstrich, der aber dort endet, wo der Hackesche Markt einmündet. Der Killer hatte früher einmal als Knochenbrecher für einen der Zuhälter gearbeitet. Aber das war lange her.

Der Schöne Bodo war der Lude überall genannt worden, bis ihm ein Konkurrent ein Schrotgewehr ins Gesicht gehalten und abgedrückt hatte.

Der Schöne Bodo hatte überlebt und wohnte jetzt in einem Pflegeheim.

Wie eine Pflanze vegetierte er mit schweren Schädel-Hirn-Verletzungen dahin. Seine Girls waren an die Konkurrenz verteilt worden und für den Killler hatte es bedeutet, sich nach einem anderen Job umsehen zu müssen. Selbst in dieses brandheiße Geschäft einzusteigen, daran hatte er niemals gedacht. Es war einfach zu gefährlich, seit sich die Konkurrenz auf dem ehemaligen Ostblock im Reich der Bordsteinschwalben breitgemacht hatte. Die guten alten Zeiten waren vorbei. Jetzt wehte ein anderer Wind.

Eins der Girls vom Schönen Bodo hatte dem Killer damals einen Braunen gegeben.

Tausend Deutschmark.

Dafür hatte er den Kerl mit der Schrotflinte umlegen müssen. Sein erster Mordauftrag. Heute war er für eine derart lächerliche Summe nicht mehr zu haben. Und das hatte nur am Rande etwas mit der Teuerungswelle durch die Einführung des Euro zu tun.

Der Killer mit den wässrigen Augen ging zielsicher zu seinem Treffpunkt.

Der Wind frischte auf, und feiner Nieselregen hinterließ winzige Perlen auf seinen kräftigen Augenbrauen. So ein verdammter Mist! , dachte er. Das Wetter ändert sich. Da kriege ich bestimmt wieder meine Scheiß-Migräne... Ist nicht so gut, wenn man dann arbeiten muss.  Er spürte ein leichtes Ziehen am Hinterkopf. Die ersten Vorboten. Hoffentlich ist alles erledigt, bevor die Scheiße richtig losgeht!,  ging es ihm durch den Kopf.

Es schien, als würde der Blonde mürrisch auf die nassen Gehwegplatten starren. Dabei beobachtete er seine Umgebung trotzdem sehr genau. Am frühen Vormittag hatte sein Handy geklingelt. Das war eigentlich nichts Ungewöhnliches. Es sei denn, es klingelte danach gleich wieder. Und wieder. Insgesamt vier mal.

Jedesmal ein Klingelzeichen mehr.

Der Blonde unterbrach seine Tätigkeit, verstaute die Digitalkamera in seiner Manteltasche und schaute auf die Uhr. Es gab jetzt einiges für ihn zu erledigen.

Schade – gerne hätte er noch einige Bilder gemacht. Der alte Südwest-Friedhof Stahnsdorf war in verwildertes Areal von eigentümlicher, morbider Schönheit. Der Killer liebte es in seiner Freizeit ( und davon hatte er zwischen zwei Aufträgen genug ) über Friedhöfe zu wandern. Ausnahmsweise schoss er hier nur mit der Kamera.

Den Plan für das Friedhofsgelände ließ er in seine Manteltasche, als er sich auf den Rückweg machte. Obwohl die Bestattungsfelder sich kaum vom Wald unterschieden, fand er zielsicher den Hauptweg.

Er hatte einige wirklich interessante Grabstellen ausfindig machen können.

Der Himmel bezog sich, obwohl am Morgen eine fahle Sonne wenigstens einen trockenen Tag versprochen hatte.

Vor ihm tauchte der Eingang des „Restaurants Hackescher Hof“

auf, und der Killer verscheuchte die kurze Tagträumerei aus seinem Kopf.

Selbst im Nieselregen waren die Höfe mit ihren renovierten Jugenstilfassaden ein magischer Anziehungspunkt für Touristen und Einheimische. Der Blonde kannte alle acht Höfe flüchtig. Viele Ladenpassagen und noch mehr Menschen. Zu unübersichtlich. Er hatte seinem Kontaktmann das Restaurant gleich am Eingang vorgeschlagen.

Der Blonde setzte sich in die Nähe eines großen Fensters, um seine Umgebung drinnen wie draußen unter Beobachtung zu haben. Er bestellte einen Kaffee, zog die Handschuhe aus, ließ aber den geöffneten Mantel an. Die Waffe blieb weiterhin unsichtbar.

Er schaute auf die Uhr. In fünf Minuten würde ein halbwüchsiger junger Mann mit einem Stapel Zeitungen hereinkommen.

Er würde ihn erkennen.

Ein Russe, der kein Deutsch sprach. Der Killer würde eine Zeitung kaufen. Darin war ein brauner Umschlag versteckt. Mehr musste er vorerst nicht wissen.

Er holte die Kamera hervor. Er wippte kurz im Menue herum, bis die Gräber auf dem Display erschienen. Das fahle Morgenlicht ließ den Friedhof und die Grabsteine verwunschen aussehen. Er hatte Murnau gefunden, der jetzt selbst ein Gespenst unter all den filmischen Gespenstern war, die dieser große Regisseur erschaffen hatte.

Er wippte weiter. Zille, Lovis Corinth, Langenscheidt und zuletzt den berühmten Hanussen.

Er spürte, wie sich ihm jemand näherte. Das Lokal war um die späte Mittagszeit nicht mehr ganz so gut besucht. Zwischen den Tischen schlängelte sich ein pickelgesichtiger schwarzhaariger Jüngling durch die Reihen.

Der Blonde tat so, als bemerke er das gar nicht. Er beschäftigte sich weiter mit seiner Kamera. Aber seine fünf Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft. Nur für den Fall, dass etwas bei der Kontaktaufnahme schief ging, war seine rechte Hand unauffällig unter seine Jacke geglitten, und die feingliedrigen Finger seiner rechten Hand ertasteten den kalten Stahl der Waffe. Mit der freien Hand legte er die Kamera auf den Tisch.

Sein Blick schweifte ab. Nach draußen. Selbst in dem feinen Nieselregen kamen genug Touristen in die Hackeschen Höfe. Sie drängten sich um die Stände, schlüpften in die kleinen Läden und sahen alle harmlos aus. Der Killer gab sich selbst Entwarnung.

Während er so tat, als beobachtete er das rege Treiben außerhalb des Restaurants, behielt er den jungen Mann im Visier.

Niemand wollte eine der angebotenen Zeitungen. Langsam näherte er sich dem Tisch des Blonden.

Er sagte etwas auf Russisch, was sich so anhörte, wie: „Möchten Sie eine Zeitung kaufen? Diese Zeitung!“ Und seine Hand glitt hinter den Stapel, und holte das letzte Exemplar hervor, und packte es auf das erste Exemplar von vorne...

Der Junge hatte große Augen. Das war kein Job, den er jeden Tag machte. Auch seine Haltung stimmte nicht.

Das war sein Kontaktmann!

Der Killer zauberte etwas Kleingeld aus seiner Hand, die eben noch die Waffe umklammert hielt.

Der Junge beeilte sich das Geld zu nehmen und verließ überhastet das Lokal.

*

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SPÄTER, ZURÜCK IN SEINEN Wagen gelangt, hatte er sich alles in Ruhe angesehen. Die Kamera landete im Handschuhfach – und dort würde sie auch eine ganze Weile bleiben.

Der Kontakt war reibungslos verlaufen. Auch der Killer war sich nicht sicher, ob seine Mittelsmänner nicht von der anderen Seite waren, oder eine rivalisierende Gang ihn nicht ausschalten wollte, oder ihn an die Behörden verriet.

War diese Übergabe, und der Eingang des Geldes erst reibungslos vonstatten gegangen, war der Rest für ihn fast ein Kinderspiel.

Der Blonde hatte zwar keine Kerben in seiner Automatik, aber die Zahl seiner Aufträge, seiner erfolgreich ausgeführten Aufträge, war beachtenswert. In gewissen Kreisen hatte er es zu einer Berühmtheit gebracht, die ihm quasi wie von selbst neue Aufträge bescherte. Ob in Berlin, oder im Kosovo – unter Soldaten oder Zivilisten, wo es brenzlig wurde, griff man als probates Mittel auch schon einmal zu einem „Killer“. Jedenfalls wurde er besser bezahlt, als in seiner Zeit als Knochenbrecher. Von anderen, noch bürgerlicheren beruflichen Tätigkeiten einmal ganz abgesehen.

Was könnte man über meinen Job sagen? Ich habe mit Menschen zu tun...  Er kicherte. Das löste etwas die Anspannung.

Der Umschlag war dünn. Das Material war gut zusammengefasst.

Einige Fotos. Ein paar verstreute Notizen, die wohl erst in letzter Minute hereingekommen waren.

Für den Killer war Joseph „Joe“ Grotzki ganz einfach ein Auftrag wie jeder andere. Er unterdrückte jede Gefühlsregung.

Es hatte ihm niemand gesagt, weshalb die Russen-Mafia Grotzki aus dem Weg haben wollte, aber der Blonde konnte es sich zusammenreimen. (Einige Notizen auf einer alten Schreibmaschine.

Das „r“ war ein Stück höher angesetzt, als die restlichen Buchstaben!) Grotzki war nach den Notizen von Beruf Richter. Das erklärte schon fast alles. Gute Freunde und die Mitglieder eines Western Clubs durften ihn Joe nennen. Und einige Leute in der Unterwelt nannten ihn den "harten Joe". Grotzki versuchte, sich als Law-and-Order-Mann zu etablieren und man sagte ihm politische Ambitionen nach.

Justizsenator, vielleicht sogar mal Regierender... Das wär's doch gewesen. Es gab so viele Leute, denen der "harte Joe" mal auf die Füße getreten hatte, dass sie kaum zu zählen waren. Wer wirklich hinter dem Auftrag stand, wusste der Killer nicht. War auch besser so.

Einfach seinen Job machen und ansonsten auf die Affen vertrauen.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Noch einmal zog er das Material über seine Zielperson aus dem Umschlag. Grotzki wohnte in Zehlendorf im gediegenen Villenviertel in der Fabeckstraße in Höhe der Krankenhausaußenstelle, die im Volksmund zu Westberliner Zeiten „US-Hospital“ genannt wurde.

(Damals - ein gut florierender Umschlagsplatz für zollfreie Waren! ) Der Killer schaute sich die Farbfotos genau an.

Grotzki aus einem Hauseingang kommend.

Grotzki vor dem Berliner Dom.

Der Blonde konnte auf dem Portrait trotz der Unschärfe des Hintergrundes sogar noch den Fernsehturm erkennen. Ein Bild aus dem vergangenen Sommer.

Das letzte Bild zeigte Grotzki im Profil mit einigen anderen Personen. Grotzki schien nicht besonders groß zu sein. Der Killer grübelte einen Moment darüber nach, wo das Bild gemacht worden war. Die Hochhäuser wirkten verzerrt. Eine Vergrößerung und eine Spiegelung. Er fühlte sich in seine Zeit, die er in Miami verbracht hatte, zurückversetzt.

Aber in den Händen hielt er ein Bild der Moabiter Spreebogentürme. Keine besonders professionelle Vergrößerung, dachte er.

Doch es reichte.

Ein letzter Blick, die Adresse noch einprägen, dann vernichtete er das Material sorgfältig und stopfte die Reste in einen Benzinkanister, den er später entsorgen würde.

Der Umschlag enthielt noch zwei Restaurantquittungen und etwas

„Handgeld“.

Wie praktisch,  dachte der Killer. In einer halben Stunde würde er diese Rechnung in Frankfurt/Oder beglichen haben, eine Stunde später noch einen „Absacker“ und zwei Cola. Das gab ihm etwas Vorsprung. Heute Nacht würde er in Polen übernachten, und dann ging es weiter auf „Geschäftsreise“ nach Osten.

Er startete den Wagen wieder und reihte sich in den Verkehr ein.

Am Botanischen Garten vorbei. In seiner Erinnerung zweigte die Fabeckstraße hier gleich rechts ab.

Dann wurde er etwas langsamer. Seine Augen suchten nach der richtigen Hausnummer.

Im Radio plärrte ein Song, der seine Aufmerksamkeit erregte.

Er drehte etwas lauter, lauschte dem dreckigen Text.

Der Refrain ging so:

Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause... mein Block!

Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt... reichen vom 1. bis zum 16.Stock.“

Nicht schlecht, Melodie und Rotz,  dachte der Killer, sind wohl echte Gangsta-Rapper. In Fahrtrichtung hatte er die Hausnummer entdeckt. Er wurde nicht langsamer, bog aber in die nächste Seitenstraße ab und suchte einen passende Parkmöglichkeit.

*

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SEINEN BLAUEN FORD hatte er am Straßenrand hinter einem Lastwagen abgestellt.

Von dem Wagen drang der Duft frischen Kaffees in seine Nase.

Der Blonde schaute sich das Werbelogo an und dachte an einen bekannten Fernsehspot, wo es bei Weißbier heißt: „In Bayern daheim, in der Welt zuhause.“ Wohl nicht das Einzige, was die Bayern in die Welt transportieren.

Jetzt ging der Blonde die Zeile der Reihenhäuser entlang bis er wieder in die Fabeckstraße abbog.

Grotzkis Haus, zwischen Bauten aus der Jahrhundertwende gequetscht, war aus den frühen Siebzigern. Kein Klinker, nur verputzt, dachte der Killer. Das Haus eines Mannes, der es unauffällig liebte – aber leider nicht unauffällig genug, sonst hätte die Russenmafia ihm schließlich keinen Auftrag erteilt.

Mit der Rechten umklammerte er den Griff der Automatik, die in seiner tiefen Manteltasche verborgen war. Er musste vorsichtig sein, denn der Mann, mit dem er es zu tun haben würde, war nicht irgendwer, sondern einer, der auch einige Tricks kannte. Der Blonde hielt an, ließ den Blick die Häuserzeile entlang gleiten. Alles sah unverdächtig aus.

Eine ältere Frau ging die Straße entlang. Der Blonde wartete, bis sie um die nächste Ecke gegangen war und überquerte dann die Fahrbahn.

Jetzt musste alles ganz schnell gehen.

Einen Augenblick später stand er an der Haustür und klingelte.

Grotzki wurde wohl unvorsichtig, sonst hätte er einen scharfen Rottweiler gehabt. Nicht das dies bei der Durchführung des Auftrags ein echtes Hindernis dargestellt hätte, aber eine kleine Zeitverzögerung hätte es schon gegeben.

So beobachtete der Blonde den Türspion.

Aber niemand musterte ihn ungebührlich lang. Grotzki schien ahnungslos.

Wenn es stimmte, was seine Auftraggeber ihm über Joe Grotzki gesagt hatten, dann war er um diese Zeit wahrscheinlich in seinem Arbeitszimmer über einem Berg Akten, die er eifrig studierte. Genau die richtige Zeit für solch einen Besuch also...

Der Blonde klingelte ein zweites Mal und fasste die Pistole mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer fester. Endlich kam jemand und machte auf. Aber es war nicht Grotzki, der die Tür öffnete. Es war eine Frau, die den Killer ziemlich erstaunt ansah.

Sie war hübsch, fand der Blonde. Langes, rostbraunes Haar, dunkle Augen. Erinnerte ihn an eines der Girls vom Schönen Bodo. Schade um sie!,  dachte der Killer. Aber es war ziemlich ausgeschlossen, dass er sie am Leben lassen konnte.

"Ist Joe... ich meine Herr Grotzki nicht da?", fragte er und versuchte den Anschein einer gewissen Vertrautheit zu erwecken .

"Häh?"

War sie auf Drogen oder nur schwerhörig?

"Ob Joe da ist!", wiederholte der Killer.

"Nein, tut mir leid", erwiderte die Frau, während sie den Killer einer eingehenden Musterung unterzog. Auf ihrer hübschen Stirn erschienen ein paar Falten, die eine deutliche Portion Misstrauen signalisierten. Zu schnell hatte sie dem unbekannten Besucher Auskunft darüber gegeben, dass sie wohlmöglich allein zu Hause war.

Und das war in einer Stadt wie Berlin nicht anders wie in New York oder Paris oder London. Man erzählte einem wildfremden Menschen nicht einfach Details aus seinem Privatleben!

Der Blonde trat einen kleinen Schritt zurück, signalisierte eine gewisse Bereitschaft, die Privatsphäre der Frau zu respektieren. Nur keinen Stress.

Er setzte einen verwirrten Gesichtsausdruck auf, um die Situation ein wenig zu entschärfen.

Von der Frau hatte man dem Blonden in den Notizen nichts mitgeteilt. Er fluchte innerlich. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann war es Unprofessionalität. Sie hatten ihm ein Dossier zukommen lassen, in dem alles über Grotzkis Lebensgewohnheiten zusammengetragen war. Der Killer wusste über jede Kleinigkeit Bescheid. Nur die Frau, die war in dem Dossier nicht vorgekommen.

Es hatte immer Gerüchte darüber gegeben, dass Grotzki schwul war.

Offenbar waren sie falsch oder sogar von interessierter Seite gestreut worden. Wenn der Blonde etwas nicht leiden konnte, dann war es Unprofessionalität. Und das hier war unprofessionell.

"Was wollen Sie von Joe?", fragte die Frau.

"Ich muss ihn dringend sprechen."

"Sind Sie ein Bekannter von ihm?"

Der Killer zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde mit der Antwort.

"Ja", sagte er dann.

"Joe kommt gleich zurück", berichtete die Frau. "Er ist nur kurz Zigaretten holen gefahren."

"Gut."

Sie wusste nicht, wer Grotzki war. Sie konnte nichts von seiner Vergangenheit wissen oder von dem, was er jetzt tat. Das war dem Blonden sofort klar, denn hätte sie Bescheid gewusst, dann wäre ihr Misstrauen größer gewesen. Die andere Möglichkeit war, dass sie hervorragend schauspielern konnte. Der Blonde hob die Schultern.

"Kann ich bei Ihnen auf ihn warten?"

"Nicht so gerne. Ich bin allein und ich kenne Sie gar nicht.

Außerdem ist das nicht meine Wohnung und ich weiß nicht, ob es Joe recht wäre, wenn..."

Aha!,  dachte der Blonde. Grotzki kannte die Frau noch nicht lange. Vielleicht sogar erst seit dem gestrigen Abend. Aber das würde ihr auch nicht helfen.

"Es wäre ihm recht!", behauptete der Killer im Brustton der Überzeugung.

"Nein, das möchte ich nicht!", sagte sie mit überraschender Bestimmtheit. Sie versuchte die Tür zu schließen, aber der Blonde ahnte das voraus und stellte seinen Fuß dazwischen. Ein schneller Griff und er hatte die Automatik aus der Manteltasche herausgerissen.

Der lange Schalldämpfer zeigte direkt auf den Oberkörper der jungen Frau und ließ sie schreckensbleich zurückweichen. Der Blonde trat ein und gab der Tür einen Stoß mit der Hacke, so dass sie geräuschvoll ins Schloss fiel. Die Frau schüttelte stumm den Kopf. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie wieder soweit beieinander war, dass sie etwas sagen konnte.

"Was wollen Sie?", fragte sie schluckend, während sie noch einen Schritt rückwärts machte und dabei gegen die Kommode stieß, die in dem engen Flur stand. Auf der Kommode stand das Telefon. Sie hatte den Hörer schon fast in der Hand, aber sie begriff, dass sie keine Chance hatte, irgend jemanden anzurufen, bevor ihr Gegenüber sein Geschoss auf die Reise geschickt haben würde.

"Ist noch jemand in der Wohnung?", fragte der Killer knapp. Sie schüttelte stumm den Kopf. Dann hob der Blonde die Schalldämpferpistole ein wenig an und drückte ab. Es gab ein Geräusch, das Ähnlichkeit mit einem kräftigen Niesen hatte und auf der Stirn der jungen Frau erschien ein roter Punkt, der rasch größer wurde. Sie taumelte rückwärts und schlug der Länge nach hin.

Der Blonde atmete tief durch. Die Sache mit der Frau war nicht eingeplant gewesen, aber sie hatte nun einmal sein Gesicht gesehen.

Und das war ihr Todesurteil gewesen. Der Blonde stieg über ihren leblosen Körper hinweg und achtete dabei peinlichst darauf, nicht in kleinen See aus Blut zu treten, der sich rasch in der Diele ausbreitete.

Hier im Flur gab es nichts Auffälliges, und sah er sofort sich im Rest der Wohnung um. Ein Zimmer nach dem anderen nahm er sich vor.

Er musste auf Nummer sicher gehen, aber die Frau hatte die Wahrheit gesagt. Sie war tatsächlich allein gewesen.

Der Killer steckte die Waffe ein, fasste die junge Frau unter den Armen und schleifte sie einige Schritte bis ins Wohnzimmer, wo er sie achtlos vor dem Fernsehtisch ablegte. Dann ließ er sich in einen der klobigen Ledersessel fallen und wartete. Die Diele war kurz, nicht mehr als 4 Meter – und ein Nachtlicht ließ er auch brennen. Es dauerte auch nicht lange, höchstens zehn Minuten. Dann waren an der Haustür Schritte zu hören. Ein Schlüssel wurde herumgedreht und jemand öffnete die Haustür. Das musste Grotzki sein.

Na endlich.

Wurde auch Zeit.

Der Killer hielt den Atem an. Konzentrierte sich.

"Jennifer?" Grotzki stand noch im Türrahmen der Eingangstür. Der Blonde erkannte ihn sofort von den Fotos, die man ihm gegeben hatte.

Grotzki machte noch ein, zwei Schritte in die Wohnung. Die Haustür fiel krachend zu. Alles was nun geschah, ging blitzschnell. So schnell, dass Joe Grotzki nicht den Hauch einer Chance hatte.

Er schluckte.

"Heh, worum immer es geht... Wir könnten uns einigen!"

So habe ich den harten Joe ja noch nie reden hören!,  dachte der Killer. Wenn das seine Parteifreunde noch erleben könnten... So mancher würde ihn im anderen Licht sehen.

Der Killer zielte.

Der "harte Joe" stierte ihn entgeistert an, öffnete halb den Mund, so als wollte er etwas sagen oder gar schreien.

Der einzige Laut, der in diesem Augenblick zu hören war, glich einem heftigen Niesen.

Mündungsfeuer leckte aus dem Schalldämpfer heraus.

Zweimal feuerte der Killer.

Grotzki sank getroffen zu Boden.

Mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht blieb er liegen.

Seine starren Augen blickten ins Nichts.

War nichts Persönliches! , dachte der Killer, als er an den Toten herantrat, ihn mit dem Fuß herumdrehte, um ihm nicht in die starren Augen blicken zu müssen. Ein verkrampftes Lächeln spielte um seine Lippen. Er dachte: Tausende von Taschendieben, Schwarzfahrern und Fixern werden aufatmen, wenn sie vom Tod des harten Joe hören! 

*

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ALS DER KILLER SEINEN Job erledigt hatte, sah er sich noch ein bisschen im Haus um.

Es gab etwas Bargeld.

Ein paar Hunderter, die steckte er ein.

Er zog die Schubladen aus den Schränken und kippte den Inhalt auf den Boden.

Es sollte wie ein Einbruch aussehen.

Der Killer ging er ins Kellergeschoss und da erlebte er eine Überraschung.

In Grotzkis Keller befand sich ein voll ausgerüsteter Atomschutzraum. Ein Schild an der Wand verriet das. Es standen auch gleich ein paar Verhaltensregeln für den Ernstfall dabei. Die dicke Tür, die diesen Raum Luftdicht von der Außenwelt abschließen konnte, stand offen. Er ging hinein und inspizierte den Raum interessiert. Dabei fragte er sich, ob Grotzki wirklich Angst vor einem Atomkrieg gehabt hatte oder ob er nur auf die Steuervorteile und Fördergelder aus gewesen war, die es für solche Schutzräume früher gegeben hatte.

Der Killer zuckte die Schultern.

Es konnte ihm gleichgültig sein. Aber auf jeden Fall war dieser Raum ein idealer Platz, um die Leichen unter zu bringen.

Er konnte die Tür von außen verschließen und dann würde man eine Weile brauchen, um sie zu finden. Das bedeutete auch, dass die Polizei länger brauchen würde, um zu rekonstruieren, was in diesem Haus passiert war.

Für den Killer war das nur von Vorteil.

Er würde weitere Zeit gewinnen, um sich abzusetzen.

So ging er hinauf ins Erdgeschoss. Entschlossen nahm er Grotzkis Leiche über die Schulter und schleppte sie in den Keller. Der Eingang zum Schutzraum war ziemlich eng, wenn man eine Leiche auf den Schultern trug. Einer von Grotzkis Ärmeln verhakte sich im Türgriff und die dicke Sicherheitstür fiel mit einem zischenden Geräusch zu.

Der Killer legte die Leiche auf eine der Liegen, die man hier für den Ernstfall aufgestellt hatte. Dann ging er zurück zur Tür, aber bekam sie nicht auf. Es war wie verhext, aber was er auch versuchte, sie ließ sich nicht öffnen...

Der Killer wurde blass.

Er saß fest.

*

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DIE BEIDEN MÄNNER, die an Grotzkis Haustür klingelten trugen Kittel mit der Aufschrift 'Schlüsseldienst'. Der Jüngere der beiden klingelte bereits zum zweiten Mal und wurde schon ungeduldig. Aber es machte niemand auf.

"Vielleicht ist niemand zu Hause", meinte er.

"Dat kann nich sein!"

"Du siehst es doch!"

"Ey, wat issn ditte?", regte sich der Ältere auf und fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch das schüttere Haar. "Diese Bonzen glauben doch immer, sie können machen, wat sie wollen! Dat ist wie bei uns früher inne DDR."

"Ja, ja..."

"Du weißt doch gar nich, wat dat is, Mustafa. Aber icke... Ick sach dir..."

"Sach lieber, was wir machen sollen."

"Ick hab einen anderen Termin extra abgesacht, weil's angeblich verdammt eilig war. Aber jetzt is der feine Herr nich da! Wunderbar!

Echt wunderbar!"

"Immer cool bleiben, Horst!"

Horsts Gesicht bekam eine ungesunde dunkelrote Gesichtsfarbe.

"Wat hasse gesagt?"

"Verstehst du kein Deutsch?"

"Jetzt komm mir nicht so!"

"Ist doch wahr!"

"Pup mich nicht an, hörste? Ich kann dat nich haben!" Horst schüttelte den Kopf. Er atmete schwer und wischte sich über das Gesicht. Fast so, als könnte er damit auch seine Ärger hinwegwischen. "Handwerk hat goldenen Boden... Darüber kann ich echt nich mehr lachen. Wirklich!" Nach kurzer Pause fuhr er schließlich fort: "Ick habe jestern Nachmittag mit Herrn Grotzki telefoniert und er hat mir jesagt, dass er um diese Zeit zu Hause sei..."

Details

Seiten
Jahr
2018
ISBN (ePUB)
9783738916188
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
mörder-stories

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Mörder-Stories