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Zwei Fantasy Sagas - Schwert und Magie

von Alfred Bekker (Autor:in) Pete Hackett (Autor:in)
©2017 900 Seiten

Zusammenfassung

Der Umfang dieses Buchs entspricht 838 Taschenbuchseiten.
Dieses Buch enthält folgende zwei Romane:

Alfred Bekker: Axtkrieger - Der Namenlose

Pete Hackett: Godwin - Freund der Götter (Gesamtausgabe)

AXTKRIEGER:

Kryll, der junge König von Pragan ist ohne Macht. Sein Reich ist mehr oder weniger auseinandergefallen und wird von außen bedroht. Da bietet der geheimnisvolle Namenlose, eine düstere, von einer Kutte verhüllte Gestalt, die eine monströse Streitaxt mit sich führt, dem jungen König seine Hilfe an. Der Namenlose behauptet, ein Diener des Schattenlandes zu sein und verspricht ihm Hilfe durch die Schattenkrieger, deren Arme nie erlahmen. Viel zu spät bemerkt Kryll, daß er längst ein Spielball jener Kräfte geworden ist, _die er selbst gerufen hat...
Endlich wieder verfügbar! Ein Fantasy-Epos des Elben- und Drachenerde-Autors Alfred Bekker!


GODWIN - FREUND DER GÖTTER:

Godwin, der größte Krieger einer dunklen Zeit... Sein Weg war blutig. Und man sagte, die Götter seien auf seiner Seite...

Eine Heroic Fantasy-Saga, wie es sie lange nicht gegeben hat!


COVER: STEVE MAYER

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Schwert und Magie: Zwei Fantasy Sagas

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von Alfred Bekker & Pete Hackett

Der Umfang dieses Buchs entspricht 838 Taschenbuchseiten.

Dieses Buch enthält folgende zwei Romane:

Alfred Bekker: Axtkrieger - Der Namenlose

Pete Hackett: Godwin - Freund der Götter (Gesamtausgabe)

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch

© by Authors

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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AXTKRIEGER – Der Namenlose

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Fantasy Roman von Alfred Bekker

Kryll, der junge König von Pragan ist ohne Macht. Sein Reich ist mehr oder weniger auseinandergefallen und wird von außen bedroht. Da bietet der geheimnisvolle Namenlose, eine düstere, von einer Kutte verhüllte Gestalt, die eine monströse Streitaxt mit sich führt, dem jungen König seine Hilfe an. Der Namenlose behauptet, ein Diener des Schattenlandes zu sein und verspricht ihm Hilfe durch die Schattenkrieger, deren Arme nie erlahmen. Viel zu spät bemerkt Kryll, dass er längst ein Spielball jener Kräfte geworden ist, die er selbst gerufen hat... Und so vollzieht sich im Verlauf der Handlung eine doppelte Wandlung: Kryll wird immer mehr zu einer Kreatur des Schattenlandes, während sich der Namenlose mehr und mehr seiner verschütteten Menschlichkeit erinnert.

––––––––

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INHALT

Erstes Buch: KRYLL

1. Die Gesandten

2. Ein König ohne Macht

3. Ein Fremder ohne Namen

Zweites Buch: DER RING VON KULDAN

1. Die Prophezeiung

2. Das Monstrum aus der Tiefe

3. Die Zitadelle des Ringes

4. Die Ringwächter

Drittes Buch: DER SPIEGEL VON UZ

1. Die gläsernen Dämonen

2. Der Kampf um den Spiegel

3. Die Eismenschen

4. Gefangen in der Eisfestung

5. Der katzengesichtige Magier

6. Auf den Schwingen des weißen Vogels

Viertes Buch: DAS HEER DER SCHATTEN

1. Eine Versammlung in Wallana

2. Das Tor der Finsternis

3. Der Lärm vieler Schlachten

Fünftes Buch: SHYRKONDAR

1. Die Armee der Toten

2. Im Nebel der Illusionen

3. Der Zwerg Thauriach

4. Der Kampf mit dem weißen Vogel

Sechstes Buch: DER NAMENLOSE UND DER STEUERMANN

1. Die Fahrt über das Schattenauge

2. Das Dorf der Schatten

3. Verblassende Schatten

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Erstes Buch: KRYLL

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"Es war im Jahre 7462 nach Gründung der Stadt Ilkyn, als Kryll von Arkull den Thron von Pragan, dem großen Inselreich im Norden, bestieg. Die hohen praganischen Lords hatten Kryll auf ihrer Versammlung in Wallana zum Nachfolger ihres Königs Hangi gewählt, der in seiner Heimatstadt Thront einem Giftattentat zum Opfer gefallen war. Die Mehrzahl der Lords vermutete, dass die Drahtzieher dieses Anschlags im Königreich Remur zu suchen waren, aber dies konnte nie bewiesen werden.

Der Thron von Pragan war keine leichte Aufgabe, denn das Land war arm. Auf der von einem rauen, kalten Klima gezeichneten Insel konnte man kaum etwas anbauen. So mussten die Praganier oft Raubzüge unternehmen, welche sie vor allem nach Remur, Naru und Dagarien führten. Die praganischen Schiffe waren die Schrecken der Meere und natürlich trugen sie nicht zu guten Beziehungen mit den Nachbarländern bei..."

(Aus der GESCHICHTE DER WELT, einem Werk des Geschichtsschreibers Yulariz aus Kroz Dor)

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1. DIE GESANDTEN

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Wild donnerte die Brandung gegen die Felsen, auf denen Burg Arkull errichtet war.

Kryll, der neue König von Pragan, hatte es abgelehnt, seine Residenz in die Landeshauptstadt Wallana zu verlegen. Er wollte auf seiner Heimatburg bleiben.

Die Sonne stand schon tief am Horizont, als die kleine Gruppe von Reitern sich der Burg näherte. Es waren alles schwerbewaffnete Krieger, die in fremdartige Gewänder gehüllt waren. Kunstvolle Ornamente zierten ihre Rüstungen.

"Herr!", sagte einer der Männer zu dem offensichtlichen Anführer der Gruppe. "Herr, der Karte nach muss dies Burg Arkull sein!"

"Ja", kam die missmutige Antwort.

"Graf Yakurul, ich schlage vor, dass wir jemanden vorausschicken, der unsere Ankunft ankündigt!"

Der Graf drehte sich zu dem Sprecher herum.

"Ich glaube kaum, dass dies nötig sein wird, Lirahat!"

"Vielleicht lauert in diesem alten Gemäuer eine Falle", erklärte Lirahat jetzt in gedämpftem Tonfall.

Die Züge Yakuruls veränderten sich.

"Niemand würde es wagen, den Botschafter und Vertrauten des Königs von Remur anzugreifen! Nicht einmal Kryll von Arkull ist so eine verwegene Tat zuzutrauen!"

"Die Praganier haben schon ganz andere Dinge gewagt! Wyllck, Kruss, Doban, Kenun - fast jede unserer großen Küstenstädte ist schon von praganischen Piraten angegriffen worden! Ihre Schiffe will man seit einiger Zeit auch an den Küsten von Kroz und Lukkare gesichtet haben. Seit auf der Hut, Herr! Die Praganier gehören zum Hinterlistigsten, was die Götter geschaffen haben!"

Yakurul schüttelte trotz allem den Kopf.

"Wir sind in Sichtweite der Burg, Lirahat. Wenn man uns etwas hätte tun wollen, dann wäre das schon längst geschehen."

Lirahat wagte es nicht, dem Grafen ein weiteres Mal zu widersprechen. Doch ihm war anzusehen, dass er mit dessen Ansichten nicht übereinstimmte.

"Die Burg sieht wirklich sehr alt aus", meinte eine der anderen Männer fast ehrfürchtig.

Und jemand anderes setzte hinzu: "Seit über 500 Jahren residieren hier die Lords von Arkull!"

Diese Burg musste wirklich schon seit Urzeiten hier stehen, dachte Yakurul.

Und doch machten ihre massiven Mauern einem sofort klar, dass sie einem Angriff ohne Weiteres standzuhalten vermochte.

Einige wenige Wachen patrouillierten hinter der Brustwehr auf und ab.

Der Reitertrupp kam jetzt den schmalen Felspfad empor, der zum Burgtor führte.

Sie erreichten den Burggraben, über den nur die im Augenblick hochgezogene Zugbrücke führte. Der Graben war nichts anderes, als eine Spalte im Fels - aber er erfüllte seinen Zweck nur zu gut.

Yakurul wagte es nicht, hinab in den Abgrund zu schauen. Stattdessen hob er den Kopf.

"Lasst die Brücke herunter und macht das Tor auf!", rief der Graf.

Eine Wache blickte über die Brüstung.

"Wer seid Ihr?"

Der Ton war misstrauisch, aber nicht unfreundlich.

"Ich bin Graf Yakurul, der Botschafter des Königs von Remur. Ich muss mit Eurem König sprechen!"

Der Wächter nickte.

"Ich werde den König fragen, ob er Euch Einlass gewährt, Graf!" Damit war er dann verschwunden.

"Vielleicht ruft er nur seine Leute zusammen, um uns gefangenzunehmen", raunte Lirahat.

"Wir müssen abwarten!", zischte der Graf ungehalten. Er klopfte den Nacken seines Pferdes. "Zu viel Misstrauen kann schaden, mein Freund!"

"Aber wenn man zu wenig davon hat, kann das zuweilen tödlich sein, Graf Yakurul", erwiderte Lirahat.

Der Graf wollte etwas entgegnen, doch kam in diesem Moment der Wächter zurück.

"Der König erlaubt Euch, in der Burg zu verweilen! Ihr seid seine Gäste! Ich werde nun die Brücke hinunterlassen!"

"Richtet Eurem König aus, wie dankbar ich ihm bin!", rief Yakurul dem Wächter zu.

Doch dieser war bereits wieder verschwunden.

Knarrend und ächzend, mit lautem Stöhnen und Quietschen, kam nun die Zugbrücke herab.

Als sie unten war, ging das Tor auf.

Yakurul erschien die Brücke als reichlich morsch und ihm war im ersten Moment nicht wohl bei dem Gedanken, sie überqueren zu müssen.

Die Brücke ächzte zwar bedenklich, als der Graf sie mit seinem Gefolge passierte, aber sie hielt.

Dann erreichten sie den Burghof, der auf Yakurul jetzt größer wirkte, als er von außen vermutet hatte.

"Jetzt werden wir sehen, ob es sich nicht doch um eine Falle handelt", wisperte Lirahat in remurischer Sprache, damit die Praganier nichts mitbekamen. Der Graf erwiderte nichts.

Merkwürdig, dachte er, von innen sieht Burg Arkull gar nicht so verfallen und ruinenhaft aus. Der äußere Anschein trog, daran gab es keinen Zweifel.

Ein Knecht half dem Grafen geschickt aus dem Sattel.

"Um Euer Pferd kümmern wir uns! Ebenso um die Pferde derer, die mit Euch gekommen sind!"

Yakurul nickte dem Knecht zu.

"Gut! Bringt mich nun in mein Quartier!"

Die Worte des Grafen klangen zufrieden. Lirahat trat an seine Seite.

"Seid vorsichtig, mein Graf! Überall könnte hier der Tod lauern!"

"Das glaube ich nicht, Lirahat!"

"Aber..."

"Seht lieber zu, dass Ihr unsere Gastgeber nicht beleidigt, denn in diesem Fall könnte diese Burg tatsächlich zu einer Falle werden. Zu einer tödlichen Falle..." Yakurul wandte sich wieder an den Knecht. "Geh voraus und zeige mir das Quartier, das dein Herr mir zugedacht hat."

Der Knecht nickte untertänig.

"Mein Graf! Ihr könnt unmöglich von mir erwarten, dass ich Euch mit diesem...", er deutete mit einer abfälligen Bewegung auf den Knecht, "...diesem Kerl hier alleine lasse!"

Einen Moment lang blickte Yakurul sein Gegenüber scharf an. So scharf, dass Lirahat fast zusammenzuckte.

Der Graf wandte sich wieder an den Knecht.

"Nun komm schon! Zeig mir jetzt endlich das Quartier!"

Yakurul wandte sich zum Gehen.

"Mein Graf!", rief Lirahat.

"Was ist noch?"

Der Graf bemühte sich, trotz allem freundlich zu bleiben.

Trotzdem schlich sich eine Spur Ungehaltenheit in seinen Tonfall hinein.

"Ich bestehe darauf, Euch zu begleiten!"

Yakurul nickte.

"Kommt mit, wenn Ihr es für nötig haltet!"

Zusammen folgten sie dann dem Knecht.

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SIE WURDEN IN EINEN schlicht, aber geschmackvoll ausgestatteten Raum geführt. An den Wänden hingen mit Ornamenten verzierte Teppiche. In der Mitte stand ein Tisch mit zwei Stühlen. In einer Ecke war ein weiches Lager zum Schlafen zu sehen.

"Nicht ganz das, was ich aus Remur gewohnt bin - aber ich werde mich hier wohlfühlen", meinte Graf Yakurul, wobei er sich auf das Lager warf.

"Hier..."

Der Knecht deutete auf eine kunstvoll gearbeitete Glocke, die auf dem Tisch ihren Platz hatte. "Wenn Ihr etwas braucht, dann läutet nur!"

"Danke. Du kannst jetzt gehen!", gab der Graf zurück. Der Knecht verneigte sich und verließ den Raum.

"Warum seid Ihr nur so misstrauisch, Lirahat! Hier sind doch alle sehr freundlich zu uns, oder etwa nicht?"

"Warten wir erst einmal ab, wie der König sich verhält. Er hat es es hier zu sagen - nicht dieser Knecht!"

"Hört mir zu, werter Lirahat. Wenn wir Freundlichkeiten aussähen, so werden wir auch entsprechend ernten."

"Freundlichkeiten? Mein Graf, Ihr vergesst die tiefgreifenden Differenzen zwischen Remur und Pragan!"

"Differenzen sind noch lange kein Grund, um die Formen über Bord zu werfen! Also, reißt Euch zusammen, mein Freund! Sonst wird diese Geschichte noch ein böses Ende nehmen!"

"Wenn Ihr nicht mit der nötigen Wachsamkeit vorgeht, kann das noch weitaus schlimmere Folgen haben!"

"Nun, gleichgültig, wie Ihr auch darüber denken mögt, Lirahat! Ich befehle Euch, Euch zurückzuhalten. Habt Ihr mich verstanden?"

"Ja."

Die Stimme Lirahats klang dumpf und ausdruckslos.

"Und nun lasst mich bitte allein!"

"Jawohl."

Lirahat verneigte sich tief und verließ dann auch den den Raum. Yakurul war nun allein.

Gedankenverloren lag er auf dem weichen Lager.

Hoffentlich erreiche ich beim König, dass die Überfälle auf die Küstenstädte aufhören, sonst sehe ich für die Beziehungen zwischen unseren Ländern schwarz, überlegte der Graf. Er schnallte sein Schwert ab und legte es neben sich auf das Lager.

Als dann völlig unerwartet eine Gestalt den Raum betrat, richtete er sich augenblicklich auf. Es schien ein Ritter zu sein, ein ganz gewöhnlicher praganischer Ritter - und doch umgab diesen Mann eine Aura, die Yakurul unwillkürlich fesselte.

"Wer seid Ihr?", fragte der Graf.

"Ich bin der König", kam es knapp zurück.

Graf Yakurul runzelte unwillkürlich die Stirn.

"Ihr seid Kryll von Arkull?"

"Ja, so ist es."

Der Graf erhob sich nun von seinem Lager und richtete sich zu voller Größe auf. "Ich hatte mir den König von Pragan etwas anders vorgestellt", bekannte er dann freimütig und mit einem schwachen Lächeln um die Lippen.

Der König lächelte zurück.

"Und wie, wenn ich fragen darf?"

"Ich dachte, Ihr wäret wie alle Könige sind! Aber Ihr scheint mir anders zu sein, Kryll von Arkull! Zum Beispiel tragt Ihr die Kleidung eines einfachen Ritters, nicht die Gewänder eines Herrschers!"

"Stört Euch diese Tatsache?"

In Krylls Worten schwang eine Spur Spott mit.

"Es verwirrt mich etwas. Ich bin so etwas nicht gewöhnt!"

Kryll nahm auf einem der beiden Stühle Platz, die sich im Raum befanden. Der Graf folgte seinem Beispiel und nahm den anderen.

"Kein Wunder", lachte Kryll. "Die Könige von Remur sind ja auch für ihre Arroganz und Großmannssucht bekannt!"

Yakuruls Gesicht verfinsterte sich.

"Ihr wollt mich doch wohl nicht beleidigen, mein König?", fragte mit drohendem Unterton.

Kryll blieb hingegen gelassen, fast heiter.

"Sollte ich Euch mit meiner Bemerkung beleidigt haben, so bitte ich vielmals um Entschuldigung."

"Vielleicht sollten wir nun zum eigentlichen Gesprächsthema kommen: Den Beziehungen zwischen unseren Ländern", schlug der Graf vor. Und bei sich dachte er: Er nimmt das Leben für einen Regenten nicht ernst genug!

Dann sah Graf Yakurul, wie sein Gegenüber bedächtig, aber doch bestimmt, den Kopf schüttelte.

"Dafür ist noch immer Zeit." Er lächelte. "Es besteht wirklich nicht der geringste Anlass zur Eile."

"Keine Eile?"

Der Graf erhob sich von seinem Platz. Empörung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

"Ich will Euch etwas sagen, mein König: In diesem Augenblick greift eine Eurer Piratenflotten vielleicht Darjos, Shian oder sonst einen unserer Häfen an und versucht, ihn auszuplündern. Und was sagt Ihr dazu, mein König? Keine Eile!"

Der Graf schüttelte den Kopf. "Es ist nicht zu fassen!", rief er laut aus.

Auch über das Gesicht des Königs hatte sich indessen ein düsterer Schatten gelegt.

"Ich wusste, dass Ihr deshalb kommen würdet, werter Graf. Leider kann ich Euch nicht helfen." Die Stimme Krylls war heiser geworden.

Yakurul beugte sich nun vor und stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch auf.

"Nun habe ich die gefährliche Seereise nach Alark und den anschließenden, nicht minder gefährlichen Landweg nach Arkull auf mich genommen - und das alles nur, damit Ihr mir sagt, dass Ihr mir in dieser Sache nicht helfen könnt?"

Yakurul ging zum Fenster und blickte hinaus auf die See. Am Strand lagen sie: die gefährlichen und schnellen Langschiffe der Praganier. Die Hafenanlagen von Arkull waren nur sehr spärlich ausgebaut, aber die Schiffe der Praganier benötigten im Grunde genommen gar keine Häfen. Sie konnten fast überall landen und anlegen.

Ihr Hafen war die gesamte Küste der Welt...

"Ich dachte, dass Ihr ein König seid, Kryll", keuchte Yakurul bitter.

"Das bin ich", erwiderte Kryll, nicht ohne verletzten Stolz. Er hatte sich inzwischen ebenfalls erhoben. Jetzt kam er neben den Remurier ans Fenster.

"Wenn Ihr hier der König seid, weshalb könnt Ihr dann nichts gegen die Piraterie Eurer eigenen Flotte tun?"

"Auch einem König sind Grenzen gesetzt!"

"Jedem König sind Grenzen gesetzt, aber diese Grenzen dürfen auf keinen Fall im eigenen Land liegen!"

Kryll zuckte mit den Schultern.

"Die Lords haben in diesem Land zu viel Macht, als dass ich ihnen die Piraterie verbieten könnte..."

Yakurul wandte seinen Blick den Langschiffen zu, die an der Küste festgemacht hatten.

Ihre Schiffe sind gefährlich, dachte der Graf. Remur täte gut daran, die Praganier nicht zu unterschätzen.

"Ich fürchte, es wird zum Krieg kommen, wenn Ihre Flotten die Räuberei weiter fortsetzen", meinte Graf Yakurul dann. "Wir haben bereits ein Bündnis mit Dagarien geschlossen."

Kryll zuckte die Achseln.

"Ich werde Euch nicht daran hindern können, gegen mein Land zu Felde zu ziehen!"

Er amüsiert sich über mich, dachte Yakurul.

Der Graf wandte sich von Kryll ab und lief ein paar Schritte hin und her.

Als er dann den Blick wieder auf Kryll richtete, sah er er, dass das Gesicht seines Gegenübers jetzt nicht mehr so gelöst wirkte.

"Ihr müsst auch unsere Seite verstehen, Graf! Wovon sollen die Praganier leben? Unser Land ist karg. Oben im Norden taut der Boden nur für wenige Monate im Jahr einige Zentimeter tief auf. In den letzten Jahren sind die großen Fischschwärme ausgeblieben, so dass viele Menschen bei uns in wirkliche Bedrängnis gekommen sind. Bei Euch in Remur kann man sich so etwas vielleicht nicht vorstellen. Schon gar nicht in den Palästen, in denen Euresgleichen zu wohnen pflegt, Graf Yakurul! Ihr habt Euch über meine Kleidung gewundert! Wäre mein Land fruchtbarer, die Fischschwärme beständiger, so könnte ich hohe Steuern erheben und mich auch mit solcher Pracht umgeben, wie man es dem König von Remur nachsagt! Aber dieses Land ist arm. Und die Armut macht auch vor seinem König nicht Halt!"

Yakurul schwieg eine Weile. Er schien zu überlegen, wie er weiter vorgehen sollte.

"Ihr schweigt, Graf Yakurul?"

Der Graf atmete tief durch.

"Was soll ich darauf noch erwidern? Ich habe alles gesagt, was zu sagen war. Meine Pflicht ist somit getan. Wie Ihr Eure Lords dazu bewegen könnt, die Räuberei aufzugeben, ist Euer Problem, nicht das meinige. Falls es Euch allerdings nicht gelingen sollte, die Lords zu überzeugen, nun... Dann wird es eben Krieg geben! Und Ihr könnt Euch sicherlich an zwei Fingern abzählen, dass Pragan in einem solchen Kampf nicht den Hauch einer Chance hätte! Nicht eine Schlacht würde an die Praganier gehen!"

Der König gewann sein altes Lächeln zurück.

"Wenn die Praganier wirklich so leicht zu schlagen sind, wie Ihr behauptet, dann verstehe ich nicht, warum Ihr Euch so sehr vor ihren Überfällen fürchtet!"

Der Graf antwortete nicht.

Stattdessen fuhr Kryll fort: "Höchstwahrscheinlich hat man in Remur große Angst vor uns, denn sonst hätte Euer König es nicht für nötig befunden, sich mit Dagarien gegen uns verbünden zu müssen! Was Ihr sagtet, hat weder Hand noch Fuß! Ihr wollt mir Angst machen, aber das soll Euch nicht gelingen! Ich lasse mich nicht auf die gleiche Weise einschüchtern, wie Ihr dies vielleicht von Euren dagarischen Verbündeten gewohnt seid!"

Graf Yakurul trat an den König heran und baute sich vor diesem auf. Sein Herzschlag musste ihm vor Erregung bis zum Hals gehen. Er war rot angelaufen.

Gut, dass er sein Schwert abgelegt hat, dachte der König unwillkürlich.

Deutlich sah er die nackte Wut im Gesicht des Grafen.

"Wagt es nicht noch einmal, uns und unsere Verbündeten zu beleidigen. Ihr verspielt Eure letzten Sympathien, die Ihr noch bei uns genießt."

Kryll verzog das Gesicht.

"Sympathien? Wer würde uns schon in Remur Sympathien entgegenbringen? Reden wir doch nicht von Dingen, die es nicht gibt und die es in den nächsten hundert Jahren auch nicht geben wird!"

Plötzlich hielt Kryll inne.

Es ist unsinnig, dass wir gegenseitig Beleidigungen austauschen, dachte er. Der König bedachte den Grafen mit einem nachdenklichen Blick und erschrak über den Grimm, der ihm aus den Augen des anderen entgegenschlug. "Wenn die hohen Lords von Pragan nicht einsehen, dass sie mit dem Rauben aufhören müssen - nun, dann wird es eben Krieg geben. Genau, wie Ihr sagtet, Graf Yakurul." Ein kurzes Schulterzucken folgte, so als wäre dies eine unumstößliche Tatsache, etwas, dass mit aller Gewissheit eintreten würde, ganz gleich, was man auch immer dagegen unternähme.

"Ihr nehmt das mit einer erstaunlichen Gleichgültigkeit", stellte Yakurul nicht ohne Bitterkeit fest. Die Augen des Grafen waren zu schmalen Schlitzen geworden, als er dann mit vor Hohn triefender Stimme sagte: "Euer Volk wird Euch dafür bis in alle Ewigkeit hinein dankbar sein, König Kryll!"

Aber Kryll antwortete keineswegs in derselben Schärfe.

"Alles, was ich tun kann ist folgendes: Ich kann den Rat der Lords in Wallana einberufen. Dazu habe ich das Recht. Sie werden dann entscheiden, was geschieht - ob es Krieg oder Frieden geben wird!"

Kryll sah die Enttäuschung im Gesicht seines Gegenübers und so setzte er noch hinzu: "Mehr kann ich nicht tun!"

Er hasst mich, durchfuhr es den König in diesem Moment, als das Blitzen in Graf Yakuruls Augen sah.

Kryll fragte dann nach einer kurzen Pause den Grafen: "Wie lange werdet Ihr noch mein Gast sein, Graf Yakurul?"

Yakurul hob sein finster gewordenes Gesicht.

"Ich werde Euch nicht länger als unbedingt nötig belästigen. Morgen früh reise ich mit meinem Gefolge ab!"

Kryll nickte.

"Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Graf Yakurul", sagte er dann, bevor er sich zum Gehen wandte. Mit weiten Schritten verließ er dann den Raum, ohne sich noch einmal umzuwenden.

Graf Yakurul verharrte schweigend.

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2. EIN KÖNIG OHNE MACHT

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Knarrend ging am nächsten Morgen das Burgtor herab. Graf Yakurul und seine Männer verließen Burg Arkull. König Kryll war auch gekommen, um dem Abschied beizuwohnen, der im übrigen sehr kurz und wenig herzlich ausfiel.

Mit versteinerten Gesichtern zogen die Remurier davon und wenig später schloss sich das Tor von Burg Arkull hinter ihnen. Die Zugbrücke wurde mit einem unüberhörbaren Ächzen hochgezogen.

"Sagt mir, mein König: Was wollten diese Remurier von Euch?", fragte dann jener Ritter, der Kryll zur Rechten stand. Es war Norjan, einer der verdientesten Gefolgsleute des Königs.

"Sie wollten, dass ich die Piraterie untersage!"

Über Norjans Züge huschte ein Schatten.

"Und was hat mein König ihnen gesagt?"

"Ich werde den Rat der Lords einberufen. Er wird entscheiden. Die Remurier drohen mit Krieg, falls praganische Piraten weiterhin ihre Küsten heimsuchen."

"Wäre ein Krieg für uns nicht sehr willkommen?", meinte Norjan. "Er würde das Volk von seiner Not und den Schwierigkeiten, die wir haben, ablenken!"

Doch der König schüttelte den Kopf.

"Ich denke da anders, mein Freund. Doch ich werde den Rat entscheiden lassen!"

"Warum eigentlich - wenn diese Frage erlaubt ist, mein König!"

"Weil ich nichts, aber auch gar nichts tun kann, wenn die Lords nicht hinter mir stehen!" Und insgeheim fragte Kryll sich, weshalb es überhaupt noch einen König von Pragan gab, da dieser doch kaum Befugnisse hatte.

"Ich bin dafür, dass Ihr diese Frage allein entscheidet, König Kryll. Damit würdet Ihr gegenüber den Lords ein Signal setzen, ihnen zeigen, dass der König noch Herr über sein eigenes Land ist", sagte Norjan.

Der König zuckte mit den Schultern und schlenderte gemeinsam mit Norjan über den Burghof.

"Eben das ist der Kern des Problems", erwiderte Kryll. "Ich habe keine Macht! Die Lords bestimmen, was im Lande gespielt wird. Es ist mir nie so klar gewesen, wie in diesem Augenblick: Ich bin lediglich eine Marionette!"

Tiefe Bitterkeit sprach aus diesen Worten und ein kleiner Schuss Verzweiflung schwang wohl auch in seiner Stimme mit.

Norjan versuchte ein Lächeln.

"Es liegt an Euch, ob der Thron an Macht gewinnt oder nicht. Eure Vorgänger haben viele ihrer Befugnisse aus der Hand gegeben und ist es nun an Euch, sie für die Krone zurückzuerobern! Ihr müsst die Lords in ihre Schranken weisen, ihnen sagen, wo der Weg ist, den sie zu nehmen haben! Nur so können wir das Land auf die Dauer vor dem Zerfall und dem Chaos retten. Schon jetzt gebärdet sich jeder einzelne dieser Lords wie ein kleiner König! Nicht mehr lange und es wird Anarchie ausbrechen! Einer wird gegen den anderen kämpfen!"

"Oh, Freund Norjan, ich glaube, jetzt übertreibt Ihr ein wenig! Von Anarchie kann noch lange keine Rede sein!"

Norjans Züge waren jetzt sehr ernst.

"Bis zur Anarchie wird es vielleicht gar nicht kommen, denn zuvor werden uns die Remurier in ihr Reich einverleiben. Aber gerade um das zu verhindern, müssen wir einig sein."

Kryll kratzte sich am Kinn.

Er schien unschlüssig darüber zu sein, was getan werden sollte.

Im Grunde habe ich Norjans Ideen schon längst akzeptiert, dachte der junge König bei sich.

Dann meinte er: "Ich werde in jedem Fall auf Widerstand stoßen, wenn ich meine Entscheidungen in dieser Frage getroffen habe. Was werden die Lords sagen, die mit meiner Entscheidung nicht zufrieden sind? Womöglich erklären sie dem Königtum den offenen Krieg! Lasse ich aber den Rat entscheiden, so trage nicht ich die Verantwortung, sondern die Lords selbst!"

Norjan dachte: Er hat Angst davor, Verantwortung zu tragen. Eine Eigenschaft, die eines Herrschers unwürdig ist...

"Jemand, der keine Verantwortung zu tragen bereit ist, braucht nicht damit zu rechnen, jemals mächtig zu werden", erklärte der Ritter dann kalt.

Den König erschrak über die Härte, mit der diese Worte ausgesprochen wurden.

Kryll erkannte, dass er von einem Mann wie Norjan noch viel lernen konnte.

Norjan wäre ein besserer König als ich, durchfuhr es ihn. Er war von seinen eigenen Gedanken überrascht. Ich darf nicht an mir zweifeln, rief es in ihm.

"Was würdet Ihr also vorschlagen, Norjan?", erkundigte sich Kryll dann. "Ich bin ganz Ohr!"

Die Stimme des Königs klang leise, vielleicht auch ein wenig zaghaft.

Er fühlte sich seiner Haut nicht so recht wohl.

"Ich würde ruhig auf einen Krieg mit Remur ankommen lassen, mein König!", erklärte nun Norjan im Brustton der Überzeugung.

Der König und der Ritter hatten nun eine Bank im Freien erreicht und setzten sich.

"Ein Krieg?" Die Stimme des Königs klang besorgt. "Könnte ein Krieg meine Position nicht auch erheblich schwächen?"

"Ganz im Gegenteil! Wenn der Krieg erst da ist, werden die Lords schon zusammenfinden, dessen bin ich mir sicher! Sie wissen genau, dass sie einzeln nicht den Hauch einer Chance gegen die Remurier haben. Deshalb werden sie wohl oder übel zu Euch halten, mein König."

"Bleibt nur zu hoffen, dass die Lords ebenso klug sind, wie Ihr es seid, Freund Norjan. Was geschieht, wenn sie mir sogar im Angesicht des Krieges die Loyalität verweigern? Was dann?"

Norjan machte ein unbestimmtes Gesicht.

"Ein gewisses Risiko müssen wir in Kauf nehmen, da geht kein Weg dran vorbei! Wenn tatsächlich der von Euch geschilderte Fall eintreten sollte, so müssen wir dann überlegen, was zu tun ist. Aber jetzt sollte uns das nicht belasten." Er machte eine Geste mit der Rechten. "Wer weiß, mein König! Vielleicht kommt es ja gar nicht zum Krieg! Vielleicht geben die Remurier doch noch klein bei und alles war nichts weiter als Donnergrollen ohne Blitz. Wer kann das heute schon voraussagen?"

Die Remurier werden nicht nachgeben, dachte der König. Wie konnten sie auch? Sollten sie hinnehmen, wie ihre Städte geplündert wurden? Wie praganische Piraten ihre Schiffe überfielen? Nein, für die Remurier gab es keinen anderen Weg, als den, den Graf Yakurul gegenüber König Kryll aufgezeigt hatte.

"Den Rat der hohen Lords von Pragan werden wir auf jeden Fall nicht einberufen!" Norjans Stimme klang fest und bestimmt.

"Warum nicht? Nichteinmal, um den hohen Herren meine Entscheidung mitzuteilen?"

"Nicht einmal dazu. Euren Entschluss werdet Ihr ihnen durch Boten schriftlich überbringen!"

"Warum das?"

"Nun, mein König, es ist nicht gut, wenn die Lords alle an einem Ort sitzen. Sie können sich dann untereinander zusammentun und möglicherweise Gegenmaßnahmen aushecken! Ihr wisst so gut wie ich, dass Ihr nicht der erste König von Pragan wärt, der einer Intrige eben jener Lords zum Opfer fiele, die ihn kurz zuvor noch zu ihrem Anführer gewählt hatten!"

Kryll bedachte Norjan mit einem nachdenklichen Blick.

Er ist fast wie ein Vater zu mir, dachte er.

"Wir wollen hoffen, dass alles so kommt, wie Ihr Euch das gedacht habt, Norjan", sagte er dann langsam. Ein Schuss von Traurigkeit und Resignation lag in der Stimme des Königs - etwas, das auch Norjan keineswegs entging.

"Ich kann Euch verstehen, Kryll! Es ist nicht gerade erfreulich, ein König ohne Macht zu sein. Aber ich werde Euch helfen, dass dieser Zustand geändert wird. Darauf könnt Ihr Euch verlassen."

Der König nickte schwach.

Bin ich überhaupt noch im Stande, einen einzigen Entschluss zu fassen?, fragte er sich in Gedanken.

Kryll erhob sich.

Er fühlte sich leer und matt.

Ein König ohne Macht!, dachte er zynisch. Was ist das für ein König!

Er blickte sich nicht zu Norjan um, als er davonging.

Mir fehlt die Initiative, etwas an diesem unbefriedigenden Zustand zu ändern, kam es Kryll in den Sinn. Die Initiative und die Kraft.

Er seufzte.

Nein, dachte er dann, das Schicksal oder die Götter - oder irgendwelche anderen finsteren Mächte - müssen es sehr schlecht mit mir meinen!

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3. EIN FREMDER OHNE NAMEN

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Kryll saß auf einem einfachen Thron aus Holz. Ein König von Pragan konnte sich den Luxus der südlicheren Länder nicht leisten. Aber dieser Holzthron - er war ohne jegliche Verzierungen - war für Kryll von Arkull so gut, wie es jeder andere Thron gewesen wäre.

In diesem Augenblick war er völlig allein im Thronsaal.

Ein so großer Raum für eine einzige Person - und anderswo in Pragan sind die Menschen obdachlos, dachte der junge König.

Welch eine Ungerechtigkeit!

Aber so war die Welt nun einmal, ungerecht und schlecht, hier im Norden ebenso wie im Süden. Und Kryll gehörte keinesfalls zu jenen, die glaubten, dass es in ihrer Macht lag, daran irgendetwas zu ändern.

Einer der königlichen Soldaten betraten den Raum.

Kryll kannte ihn. Er tat seit langem auf Burg Arkull seinen Dienst.

Der König blickte auf.

"Was gibt es, Lorson?"

"Mein König, ein Fremder bittet um Audienz!"

Kryll war ziemlich desinteressiert.

Er zuckte nur die Achseln.

Schließlich brummte er: "Dann lass ihn herein, Lorson!"

"Mein König! Ich muss Euch warnen! Dieser Mann macht einen recht merkwürdigen Eindruck! Er ist mir nicht ganz geheuer!"

"Lass ihn trotzdem herein! Ich habe keine Angst, Lorson, das solltet Ihr wissen."

"Das weiß ich, mein König!"

"Außerdem wird der Fremde mich vielleicht etwas unterhalten und aus meiner Langeweile erlösen!"

"Wir Ihr meint!"

Der König nickte leicht ungehalten, während Lorson sich verneigte und dann den Thronsaal verließ.

Kurze Zeit später kehrte der Soldat zurück. Ihm folgte eine sonderbare, in eine schwere Kutte gehüllte Gestalt.

So sehr Kryll sich auch bemühte, er konnte die Züge dieses Fremden nicht erkennen. Sie waren im Schatten der Kapuze verborgen, die tief ins Gesicht gezogen trug.

Ohne, dass er von irgendwem dazu aufgefordert worden wäre, trat der Düstere einige Schritte vor. Er stand nun sehr dicht vor dem Thron des Königs.

Lorson wollte im ersten Moment einschreiten, aber Kryll winkte ab.

"Lass gut sein", murmelte der König und lehnte sich zurück.

Und dabei dachte er verwundert: Warum kann ich sein Gesicht nicht erkennen?

Mit einer Mischung aus Misstrauen und Interesse musterte Kryll den Düsteren.

"Was willst du von mir?", fragte er dann.

Er bemühte sich, seiner Stimme keinen unfreundlichen, mürrischen Ton zu geben.

"Ich muss mit dir sprechen, Kryll!"

Kryll runzelte unwillkürlich die Stirn. Die ungewohnt persönliche Ansprache des Fremden irritierte ihn. Aber er sagte nichts. Den Grund dafür konnte er nicht erklären.

"Sprich, Fremder! Worum geht es?"

Der Düstere schüttelte jedoch den Kopf.

"Ich muss mit dir allein sprechen, Kryll von Arkull!"

Kryll lachte heiser.

"Ist es denn so vertraulich, was du mir zu sagen hast, Fremdling?", fragte er dann mit einer deutlichen Spur Spott in der Stimme. "So wichtig?" Kryll lachte erneut, aber es wirkte gezwungen.

"Ja, es ist sehr wichtig."

Kryll gab Lorson einen Wink, worauf der Soldat - zunächst etwas widerwillig und sichtlich irritiert - den Saal verließ.

Der König beugte sich dann nach vorne.

"Nun, was gibt es, Fremder?" Er runzelte die Stirn. Das Verhalten seines Gegenübers begann ihm mehr und mehr zu missfallen. "Wer bist du überhaupt?"

Der Düstere blieb ruhig, fast bewegungslos.

"Das ist nicht wichtig!"

"Und was willst du?"

"Ich will dir etwas geben, Kryll!"

Kryll zog die Augenbrauen hoch.

"Was könnte das sein? Wie ein reicher Herr siehst du nicht gerade aus! Ein Mann, die wie ein Bettelmönch aussieht und mir etwas geben will! Das muss man gehört haben!"

"Ich will dir das geben, wonach du am meisten dürstest und was du im Augenblick auch am dringendsten brauchst, König von Pragan!"

Kryll überlegte.

Diesem düsteren Fremden schien es zu gefallen, in Rätseln zu sprechen. Was konnte er meinen? Wovon sprach er?

Ein leichtes Unbehagen überkam den König.

"Kannst du dich nicht klarer ausdrücken?"

Kryll ertappte sich dabei, wie er das Gesicht des Fremden suchte. Aber da war nichts, als die Dunkelheit seiner Kapuze.

Alles Licht schien von dem Schatten, der der dort wohnte, verschluckt zu werden...

Kryll wurde ungeduldig.

"Also, raus mit der Sprache, was willst du mir geben?"

Der Düstere hob ein wenig den Kopf, aber von seinem Gesicht war noch immer nichts zu sehen.

Dann kam seine Antwort.

"Macht!"

"Macht?"

Der König begriff zunächst nicht richtig. Dann zeigte sich ein spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel.

Kryll lachte freudlos.

"Wie willst du mir Macht geben, Fremder? Du scheinst mir nicht mehr als ein dahergelaufener Bettler zu sein! Du hast selbst keinerlei Macht, wie willst du mir da etwas abgeben?"

"Du irrst!", erwiderte der Düstere. "Du irrst, wenn du glaubst, dass ich dir von meiner Macht etwas abzugeben gedenke - denn wie Ihr richtig vermutet habt: Ich besitze nicht ein bisschen davon. Aber ich bin der Diener einer Macht - einer Macht, die größer ist, als alles, was du kennst, Kryll!"

Der König atmete deutlich hörbar durch.

Dann fragte er: "Von was für einer Macht sprichst du, Fremder?"

In Krylls Tonfall war jetzt kein Spott mehr. Unruhe schwang nun vielmehr darin mit.

"Du zeigst also Interesse", stellte der Düstere fest. Er nickte leicht. "Das ist gut..."

"Ich zeige gar nichts!", kam es unwirsch zurück. "Ich will lediglich wissen, worum es hier geht!"

Der Düstere trat nun noch näher an den König heran. Eine seltsame, unheimliche Aura umgab diesen Sonderling.

"Ich diene einer Macht, die tausendmal größerer ist, als die aller Königreiche dieser Welt zusammen! Wenn du dich in den Dienst dieser Macht stellst, so wirst du der mächtigste Mann dieser Welt werden! Deine Feinde wirst du mit Leichtigkeit zerschlagen können! Es gibt da nur einen Haken bei der Sache..."

"Und der wäre?"

"Diese Macht, von der ich gesprochen habe, hat noch keinen Zugang zu dieser Welt."

"Was kann sie mir dann nützen?"

"Es wird deine erste Aufgabe sein, dieser Macht ein Tor zu dieser Welt zu eröffnen!"

Der Düstere war nun wirklich schon sehr nahe an Kryll herangekommen, aber der junge König sah das Gesicht des Fremden noch immer nicht.

"Welche Macht ist es, der du dienst?", fragte Kryll schließlich.

"Ich diene Tarak, dem Herrn des Schattenlandes!"

Erschrocken fuhr Kryll ein wenig zurück. Doch der König konnte sich seinen eigen Schrecken nicht erklären. Es war unbestimmtes Gefühl, das ihn plötzlich erfasst hatte, nicht mehr. Der König des Schattenlandes... Was mochte das nur für ein Land sein, von dem der Fremde sprach?

Kryll erhob sich von seinem Thron. Unruhig lief er hin und her. "Worin besteht Taraks Macht?" Er gestikulierte mit den Händen. "Kann mir Tarak Schiffe und Krieger für den Krieg gegen meine Feinde geben? Kann er mir das Brot für meine Landsleute geben, damit sie nicht mehr hungern brauchen? Kann dieser Tarak machen, dass die Fischschwärme in Zukunft beständiger kommen, als sie es jetzt tun?" Krylls Worte klangen wild und unbeherrscht.

Er schien sich von dem Düsteren verhöhnt zu fühlen.

Doch der Fremde blieb ruhig.

Es war eine geradezu unmenschliche Ruhe...

Und die Antwort, die er gab, überraschte den König.

"Tarak wird dir Schiffe geben, die auch ohne Wind segeln. Er wird dir Krieger geben, deren Schwertarme nie ermüden und er wird den Hunger der Praganier zu stillen wissen!"

Diese Antwort hatte Kryll nun wirklich nicht erwartet. Er horchte auf. Seine Augen verengten sich etwas, als er einen bohrenden Blick auf sein Gegenüber richtete.

Er musterte den Düsteren prüfend.

"Wann und wo kann ich mit diesem Tarak zusammentreffen?"

"Sofort, wenn du willst!"

Kryll nickte.

"Wo ist Tarak zu finden?"

"Ich kann dich zu ihm führen?"

"Wie weit werden wir reisen müssen?"

"Nicht länger als eine Stunde, wenn wir zu Pferd sind!"

"Dann befindet sich Tarak hier in Pragan!"

Angst und Unbehagen ergriffen den König.

"Tarak ist überall - und nirgends!"

Kryll wusste nicht, was er von den letzten Worten des Düsteren halten sollte.

"Lorson!", rief er barsch und einen Moment später kam der Soldat in den Thronsaal geeilt.

"Lorson, mein Pferd soll gesattelt werden!"

"Wie Ihr befehlt, mein König!" Lorson verneigte sich untertänig und verschwand wieder.

"Wir brechen sofort auf!", wandte er sich dann an den Düsteren. Seine Stimme klang hart und entschlossen. Zusammen mit dem Düsteren verließ er den Thronsaal.

Auf dem Burghof wartete Lorson mit einem gesattelten Pferd. Auch Norjan war dort.

Misstrauisch musterte der Ritter den düsteren Mann, der sich selbst als Diener Taraks bezeichnete.

Trotz der hellen Sonne war sein Gesicht unter der Kapuze nicht zu erkennen.

"Wie ich höre, wollt Ihr verreisen, mein König!" Norjans Worte waren nicht ohne Vorwurf.

"Ja."

"Ich denke, Ihr werdet Lorson und mir erlauben, Euch zu begleiten!"

Kryll lachte.

"Falls mein düsterer Freund hier nichts dagegen hat..."

"Von mir aus können sie mit uns kommen", sagte dieser mit seiner tiefen, unheimlich klingenden Stimme. "Tarak kann jeden Diener gebrauchen!"

"Tarak?", fragte Norjan.

Kryll erläuterte ihm schnell, was er bis jetzt über Tarak, den Herrn des Schattenlandes, wusste.

Hoffentlich glaubt er diesem mystischen Unsinn nicht! dachte der alte Ritter Norjan besorgt.

"Und wohin geht nun Eure Reise, mein König?"

"Ins Schattenland - zu Tarak!"

"Du irrst", ließ sich der Düstere nun vernehmen. "Wir werden nicht zu Tarak reisen, sondern an einen Ort, an dem wir mit ihm in Kontakt kommen können!"

Norjan und Lorson wechselten einen verwunderten Blick, hüteten sich aber davor, noch etwas dazu zu bemerken.

Wie kann er diesem Fremden nur so schnell vertrauen, durchfuhr es Norjan. Er wandte sich an den düsteren Mann.

"Wie ist Euer Name, Fremder?"

Der Diener des Schattenkönigs zögerte etwas, bevor er antwortete.

Dann sagt er leise: "Ich habe keinen Namen."

"Wollt Ihr mich auf den Arm nehmen? Jeder trägt einen Namen! Vielleicht wollt Ihr nur Eure wahre Identität verbergen...."

"Im Schattenland trägt niemand einen Namen - außer Tarak selbst."

Norjan atmete tief durch.

"Wie du willst, Fremder... Ich muss schon sagen, Ihr seid ein komischer Vogel. Ihr sagt Euren Namen nicht, Ihr verbergt Euer Gesicht..."

Nun mischte sich Kryll, der junge König ein. Ungeduld stand ihm im Gesicht geschrieben.

"Lasst es gut sein, Norjan! Wir sollten nun langsam aufbrechen! Gebt dem Namenlosen ein Pferd! Ich habe keine Lust, länger zu warten!"

*

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WENIG SPÄTER RITTEN die vier über die Zugbrücke und dann den schmalen Bergpfad hinab. Der Namenlose aus dem Schattenland führte die Gruppe an.

Je weiter sie ritten, desto unheimlicher wirkte dieser Fremde auf Kryll. Aber der junge König hütete sich davor, etwas zu sagen. Der Düstere hatte ihm schließlich genau die Dinge versprochen, nach denen er sich am meisten sehnte.

Der Namenlose führte die kleine Gruppe über schmale Bergpfade und enge Schluchten. Er blickte sich nicht ein einziges Mal um. Stur und folgte er seinem Weg und überließ es den anderen, ihm entweder zu folgen oder es nicht zu tun.

Diese Sicherheit, mit der er seinen Weg fand, erstaunte Kryll.

Er kennt sich in dieser Gegend gut aus, schoss es Kryll durch den Kopf. Aber das konnte nur bedeuteten, dass er nicht zum ersten Mal hier war und diese Gegend durchstreifte...

Oder waren es andere, finstere Mächte, die seinen Schritt lenkten und ihm den Weg wiesen?

Sein Gesicht, dachte Kryll. Warum liegt es stets im Schatten der Kapuze, selbst dann, wenn das Licht so fällt, dass es eigentlich erkennbar sein müsste?

Fast schien es Kryll, als wäre dort gar kein Gesicht unter der Kapuze, sondern nur eine namenlose, undurchdringliche Schwärze...

*

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EIN FLUSS SCHLÄNGELTE sich in Mäandern zwischen den Bergen hindurch. Es war eher ein großer Bach als ein richtiger Strom, aber die Menschen dieser Gegend nannten ihn 'den Fluss'.

"Wir werden hier unsere Pferde tränken und dann eine Rast einlegen!", kündigte der Namenlose an.

Wie selbstverständlich hatte er die Führung dieser Gruppe an sich gerissen. Und es gab niemanden, der sich dagegen wehrte - schon gar nicht der junge König.

Norjan nickte.

"Das ist eine vernünftige Idee", meinte er.

Sie ritten also ans Wasser heran, stiegen ab und ließen die Pferde trinken.

Es fiel Kryll auf, dass sich der Namenlose stets etwas abseits von den anderen hielt. Er war schweigsam und Kryll fragte sich, was im Innern dieses finsteren Fremden wohl vor sich gehen mochte...

Lorson trat indessen nahe an den König heran.

"Habt Ihr eigentlich schon einmal in Betracht gezogen, dass dies hier auch Falle sein könnte? Der König von Pragan hat schließlich nicht nur Freunde..."

"Nein, das habe ich nicht in Betracht gezogen, Lorson."

"Ihr seid unvorsichtig, mein König!"

"Ich weiß nicht warum. Ich kann es nicht erklären, aber ich traue diesem seltsamen Fremden... Vielleicht ist es diese seltsame Kraft, die er ausströmt..."

Dann wandte sich Kryll an den Namenlosen. "Wie weit müssen wir noch reiten, mein Freund?"

Er nennt ihn 'Freund', durchfuhr es Lorson.

Langsam wandte sich die finstere Gestalt des Namenlosen herum.

"Es ist nicht mehr weit, Kryll. Wir sind bald dort."

Kryll stellte sich breitbeinig und verschränkten Armen vor dem Namenlosen auf.

"Lorson meint, dass dies alles vielleicht eine Falle sein könnte!", stellte der König dann in herausfordernder Weise fest.

Der Namenlose wandte sich an Lorson.

Im Gesicht des Soldaten zeigte sich deutliches Unbehagen. Mit ausgestreckter Hand deutete er auf die Kapuze des Namenlosen.

"Zum Beispiel hat noch keiner von uns dein Gesicht gesehen! Das ist verdächtig! Warum willst du unerkannt bleiben, Fremder? Warum sagst du uns nicht deinen Namen?"

"Ich besitze keinen Namen", wiederholte der Fremde. Seine Stimme war ruhig und doch schien ihr Klang eine leise Drohung zu enthalten...

In Lorsons Tonfall hingegen mischte sich nun eine deutliche Spur von Furcht.

"Zeige dich, Mann aus dem Schattenland! Leg' deine Kapuze zurück, damit wir dich erkennen können!"

Der Namenlose schwieg eine Weile.

Dann tastete er mit seinen dürren, unwahrscheinlich langen Fingern nach dem Saum der Kapuze.

Mit einer schnellen Bewegung legte er sie dann zurück.

Entsetzt und fast starr vor Schrecken sahen Kryll, Norjan und Lorson auf den Namenlosen.

Der Fremde besaß kein Gesicht.

Sein Kopf war eine einzige schwarze Kugel, die metallisch glänzte.

"War es das, was du sehen wolltest, Lorson?", erkundigte sich nun der Namenlose mit fast flüsternder Stimme.

Vorsichtig legte er dann die Kapuze wieder über die Kugel, die sein Kopf war.

"So sehen also die Menschen des Schattenlandes aus", stellte Norjan fest.

Der Namenlose gab darauf keine Erwiderung.

Er wandte sich ab.

"Gut!", sagte Lorson. "Wir haben sein wahres Gesicht gesehen - das vielleicht auch nichts weiter, als eine geschickte Maske ist. Aber sagt das schon irgendetwas über seine Loyalität aus?"

Er wechselte einen kurzen Blick mit Norjan und wandte sich dann an Kryll. Der junge König spürte, dass zwischen den beiden Männern eine Art stillschweigender Einigkeit herrschte.

"Wie wollen wir wissen, ob uns der Namenlose nicht doch in eine Falle führt, anstatt zu diesem Tarak", sagte Lorson dann.

Norjan studierte indessen Krylls Züge.

Er glaubt an diesen mystischen Unsinn, durchfuhr es ihn dann.

Der Namenlose wandte den Kopf ein wenig in Richtung des Königs. Aber die Worte, die dann über seine Lippen kamen, waren ebenso an die beiden anderen Männer gerichtet.

"Vertrauen wir einander, so werdet ihr die mächtigsten Männer dieser Welt! Misstraut ihr mir aber, so wird Taraks Rache furchtbar sein!"

Die Worte des Namenlosen hatten in Krylls Ohren einen seltsamen Klang.

"Also gut!", meinte Norjan. "Reiten wir weiter! Reiten wir weiter; sehen wir, was hinter diesem ganzen Gerede steckt!"

Die Stimme des Namenlosen war kaum mehr als ein gefährliches Zischen, als er antwortete: "Du wirst noch sehen, wie groß Taraks Macht ist! Und dann wird es dir nicht mehr einfallen, so zu reden! Noch vor Einbruch der Nacht wirst du deine abfälligen Worte zurücknehmen, das prophezeie ich dir!"

Eine unheilschwangere, spannungsgeladene Stimmung schien die Luft zwischen ihnen erfasst zu haben und förmlich zum Vibrieren zu bringen.

"Große Worte!", stellte Norjan fest. Seine Lippen verzogen sich zu einem fast spöttischen Lächeln. Ich muss verhindern, dass sie ernstlich aneinandergeraten, wurde es Kryll in diesem Moment klar. Zu einer Auseinandersetzung durfte es auf keinen Fall kommen...

"Ihr werdet mir und Tarak noch dankbar sein!" Die Stimme des Namenlosen verriet eine schier grenzenlose Selbstsicherheit.

"Reiten wir endlich weiter!", rief Kryll hastig.

Norjan nickte.

"Wie Ihr meint, mein König!"

Er misstraut sogar mir, dachte Kryll, als er sich wieder in den Sattel schwang. Die anderen folgten dem Beispiel des Königs, wenn auch zunächst etwas zögernd.

Kryll, hörte, wie Lorson leise vor sich hin fluchte.

"Wir sollten dem Namenlosen eine Chance geben", sagte Kryll zu ihm gewandt.

Lorson nickte düster.

"Auch ich habe Euch gewarnt, mein König!"

Er war seinem König ein loyaler Gefolgsmann, ebenso wie Norjan. Aber für beide galt, dass sie im Augenblick die Meinungen ihres Herrschers nicht teilten.

Sie ritten schweigend.

*

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SIE RITTEN IN DIE KAHLEN praganischen Berge hinein.

Die kleine Gruppe erreichte schließlich eine steile, viele Meter hochreichende Felswand

Merkwürdig, dachte Kryll. Diese Felswand war annähernd glatt... Von klein auf war er in diesen Bergen umhergeklettert, aber so etwas hatte er noch nie gesehen!

"Wir sind am Ziel!", verkündete der Namenlose. Kryll sah das Erstaunen in den Gesichtern von Lorson und Norjan.

Und auch der König selbst wunderte sich. Mit gerunzelter Stirn wandte er sich an den Namenlosen.

"Wo ist Tarak denn nun, Namenloser?"

Der Namenlose deutete auf die Felswand.

"Seht nur!"

Kryll und seine Gefolgsleute starrten angestrengt auf den nackten, glatten Fels.

Etwas blitzte.

Waren es Sonnenstrahlen, die das glatte Gestein reflektierte?

Wieder blitzte etwas.

Was dann geschah, ging unsagbar schnell.

Ein Gesicht erschien auf der Felswand. Ein Gesicht mit finsteren Zügen und von einem gelben Bart umrahmt. Das rechte Auge wurde durch eine bestickte Filzklappe verdeckt.

"Ich bin Tarak!", donnerte eine gewaltige Stimme.

"Und ich bin Kryll von Arkull, der König von Pragan!", kam es - zwar erstaunt, aber dennoch selbstbewusst - zurück. "Dein namenloser Diener hat mir deine Hilfe versprochen!"

"Ich weiß, Kryll."

"So wirst du mir helfen?"

"Ja das werde ich. Aber alles hat seinen Preis, wie du vielleicht auch schon erkannt hast!"

"Was willst du?"

"Hör zu, Kryll! Das Schattenland, über das ich gebiete, ist gleichzeitig sehr nahe und unerreichbar weit entfernt."

"Das ist ein Paradoxon!"

"Ja, so scheint es. Mein Reich liegt in einer anderen Dimension, in einer anderen Welt. Um dir zu helfen, muss ich in deine Welt gelangen - ich und die Wesen, die mir dienen. Aber ich kann mit meinen Heerscharen erst in deine Welt gelangen, wenn es ein Tor zu ihr gibt. Die schwache Verbindung zwischen den Welten, die uns diese Unterhaltung führen lässt, reicht nicht aus. Du, Kryll, musst mir ein solches Tor errichten! Dann kann ich dir helfen!"

Krylls Augen verengten sich.

"Wenn du keinen Zugang zu dieser Welt hast, wie kam dann dein namenloser Diener hier her? Das verstehe ich nicht!"

Das Gesicht im Fels lachte freudlos.

"In ferner Vergangenheit existierte einst ein Tor zu deiner Welt, Kryll. Die Wesen des Schattenlandes konnten zwischen den Welten hin und her wandern. Aber dann wurde das Tor zerstört. Wahrscheinlich durch rebellische Magier, aber das konnte nie bewiesen werden. Viele der unseren blieben nun auf deiner Welt zurück, Kryll - und der Namenlose gehört zu ihnen. Ich habe sehr lange gebraucht, um wieder Verbindung zu deiner Welt zu bekommen. Es könnte ein neues Tor zwischen den Dimensionen errichtet werden! Aber ein solches Tor können wir nur mit Hilfe eines Menschen aus deiner Welt erbauen. Und Tarak hat dich dazu ausersehen!"

"Dann sag mir, was ich zu tun hätte!", forderte Kryll.

"Zwei Dinge musst du finden und dann hier an diesen Ort bringen! Da ist einmal der Ring von Kuldan - ein Ring mit magischer Gewalt. Und dann ist da der Spiegel von Uz - ein magischer Spiegel, der eine Art Dimensionstor sein kann. Beides muss hier her gebracht werden!"

Kryll atmete tief durch.

"Keine leichte Aufgabe. Kuldan ist die Hauptstadt des Landes Thark und Uz liegt weit unten im Süden - in Lukkare.

"Wenn du der mächtigste Mann dieser Welt werden willst, dann wirst du diese Mühen auf dich nehmen müssen!"

"Und wie kann ich den Ring von Kuldan und den Spiegel von Uz erkennen? Es gibt unzählige Ringe und ebenso viele Spiegel!"

"Der Namenlose wird dir zur Seite stehen und dich beraten!"

Langsam verschwand nun die Erscheinung an der Felswand. Die Verbindung zwischen den Welten schien abzureißen. Als das Gesicht des Schattenherrschers nicht mehr zu sehen war, wandte sich der Namenlose an die anderen und rief: "Wer will es jetzt noch wagen, die Existenz Taraks, des Schattenkönigs, zu leugnen? Tarak will nichts, als euch helfen. Durch ihn werdet ihr zu großer Macht gelangen. Ohne ihn werden die Remurier über euer Land herfallen und es zu einer Kolonie machen! Ich hoffe, ihr seht das ein!"

"Scheint als hätten wir uns geirrt!", knurrte Lorson und Norjan murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin. Dann hob der alte Ritter den Kopf und wandte sich an seinen König.

"Es scheint, als hätte dieser Tarak tatsächlich die Macht, unsere Probleme zu lösen!"

Kryll nickte.

"Ja, wir werden einen Krieg mit Remur nicht mehr zu fürchten haben..."

"Kehren wir nach Arkull zurück!", forderte der Namenlose.

Und Kryll schloss sich dem an.

"Ja, kehren wir zurück und machen wir uns auf den Weg ins ferne Kuldan!"

"Es wird nicht leicht sein,die Remurier lange genug hinzuhalten", gab Norjan zu bedenken.

Kryll lachte.

"Auch ohne Hilfe aus dem Schattenland kann Pragan dem Ansturm der Remurier eine Weile lang standhalten", meinte er dann selbstsicher.

Sie bestiegen einer nach dem anderen die Pferde.

"Dennoch tun wir gut daran, uns damit zu beeilen, den Ring und den Spiegel zu finden!", erklärte der Namenlose.

"Wir werden es schaffen!", sagte Kryll zuversichtlich. "Ich bin mir dessen ganz sicher!"

Norjan sah seinen König verwundert an.

Wo ist seine alte Unsicherheit und Unentschlossenheit?, fragte er sich im Stillen.

Kryll hatte andere Gedanken im Kopf.

Vor seinem geistigen Auge sah er prächtige, hochgerüstete Schlachtreihen in seinem Namen in den Krieg ziehen. Tarak, der Herr des Schattenlandes, wollte ihn zum mächtigsten Mann dieser Welt machen!

Der junge König spürte einen unheimlichen Hunger in sich aufsteigen. Es war der Anfang einer unersättlichen Gier nach unbegrenzter Macht.

Und insgeheim ahnte er, dass er diesen Hunger nie würde stillen können...

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Zweites Buch: DER RING VON KULDAN

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"Der, der sich magischer Kräfte bedient, um Herrschaft und Macht zu erlangen, begibt sich in die Gefahr, die Herrschaft über sich selbst zu verlieren. Er glaubt lange Zeit, er sei der Herr über die dämonischen Wesen, die er zu beschwören vermag und bemerkt nicht, wie er ihr Sklave wird."

(Aus einem Vortrag des Yulariz aus Kroz Dor vor einer Gruppe von Gelehrten in Ilkyn)

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1. DIE PROPHEZEIUNG

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Die Sonne ging auf und der Wind pfiff eisig über die Klippen von Arkull. Die GEEDRA war ein gewaltiges Schiff. Kryll stand am Bug und blickte auf das Meer hinaus.

Hinter ihm stand Norjan.

Die Segel blähten sich auf und gaben dem Schiff bald eine beträchtliche Geschwindigkeit.

"Mein König, Ihr wisst, dass es ein riskantes Unternehmen ist, den Ring von Kuldan zu erobern", erklärte der alte Ritter. "Wir wissen noch nicht einmal genau, worum es sich bei diesem Ring handelt!"

Kryll wandte sich nicht um.

"Der Namenlose begleitet uns. Er wird uns zu helfen wissen!" Die Stimme des Königs klang ruhig und gelassen.

"Mein König, ich will auf etwas anderes hinaus!"

"Sprecht nur, Freund Norjan!"

"Vielleicht wäre es besser, wenn Ihr diese Reise nicht mitmachen würdet!"

"Und wie kommt Ihr auf diesen Gedanken?"

"Ihr setzt Euch einer unnötigen Gefahr aus!"

Aber Kryll lachte nur.

"Ich habe keine Angst!"

Kryll blickte zurück. Die Zinnen von Burg Arkull verschwanden am Horizont.

Dann fiel des Königs Blick auf die zusammengekauerte Gestalt des Namenlosen. Er hatte sich gegen den Mast gelehnt und harrte dort schweigend und fast bewegungslos aus.

Kryll fragte sich, ob der Namenlose von seinem Äußeren her ein typischer Bewohner des Schattenlandes war.

Aber dann sagte er sich, dass das ziemlich unerheblich war.

Es kam schließlich einzig und allein auf die Wirkungskraft jener Heerscharen an, die Tarak ihm zu schicken versprochen hatte.

Die Gischt spritzte wild gegen die Planken des Schiffes.

Kryll genoss das Gefühl, auf einem praganischen Langschiff zu stehen und durch die Wellen zu schneiden. In der Ferne war noch so etwas wie eine Ahnung der praganischen Küste zu sehen. Wild und rau ragten die Felsen in die Luft, so dass man sie bereits aus meilenweiter Entfernung ausmachen konnte.

Nicht dieses öde Land ist die Heimat der Praganier, sondern die Langschiffe, ging es dem König durch den Kopf.

"Na, wie gefällt Euch die GEEDRA, mein König?", fragte der Kapitän, der sich neben Kryll gestellt hatte. Sein Name war Lathor, und er war kein Praganier. Seine Heimat war Drakanien im tiefen Süden. Mochte der Teufel wissen, was ihn in den Norden verschlagen hatte. Jedenfalls stand er schon seit Jahren im Dienste des Lord von Arkull.

"Die GEEDRA ist ein Schiff nach meinem Geschmack, Lathor", bekannte Kryll. Sein Gesicht hatte einen zufriedenen Ausdruck.

"Wir sind nicht viele, aber es ist eine schlagkräftige Truppe, und ich bin sicher, dass es uns gelingen wird, den Ring von Kuldan zu erobern!", meinte Lathor zuversichtlich.

Der Kapitän schickte einen kurzen Blick zu dem Namenlosen hinüber und wandte sich dann wieder an Kryll. "Euer namenloser Freund gefällt mir nicht, mein König", raunte er.

Kryll winkte ab. "Keine Sorge, er ist in Ordnung."

"Trotzdem! Ich traue ihm nicht!"

Kryll legte dem Kapitän die Hand auf die Schulter.

"Wenn Ihr Euch schon nicht dazu durchringen könnt, ihm zu vertrauen, dann lasst ihn Euer Misstrauen wenigstens nicht spüren. Von ihm hängt wesentlich das Gelingen unseres Unternehmens ab! Ohne ihn sind wir nichts..."

Der Kapitän nickte leicht.

Ich werde aber dennoch die Augen offenhalten, dachte Lathor stumm bei sich.

*

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KRYLL KAM ES SO VOR, als fliege das Schiff geradezu über die Wellen.

Die Stunden vergingen.

Sie segelten an der praganischen Stadt Thorcor vorbei. Am Abend sahen sie dann in der Ferne Alark, den südlichsten Hafen Pragans.

Aber für einen Kapitän wie Lathor war die Nacht kein Hindernis. Kryll bewunderte den Drakanier dafür, wie er ein Schiff wie die GEEDRA so sicher und souverän zu führen vermochte.

Sicherheit, Souveränität...

Das was ich an Lathor bewundere, ist dasselbe, was mir fehlt, wurde es dem jungen König klar.

*

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DER NAMENLOSE STAND einfach da und schaute auf das Meer.

Er hatte während der ganzen Fahrt noch kein Wort gesprochen. Jetzt trat Kryll zu ihm.

"Ich möchte mehr über den Ring von Kuldan wissen", forderte der König. "Was hat es mit diesem Artefakt auf sich?"

Der Namenlose sprach, ohne sich dabei umzuwenden.

"Dem, der diesen Ring trägt, gibt er Kraft - magische Kraft. Aber nicht jeder kann ihn tragen."

"Das klingt seltsam", meinte Kryll.

Jetzt erst wandte der Namenlose sich zu ihm um.

"Du bist derjenige, der den Ring tragen muss! Du kannst es!" Kryll zuckte mit den Schultern.

"Warum ich?"

"Du bist dafür bestimmt!"

"Was ist mit dir, Namenloser? Warum hast du kein Verlangen danach, selbst den Ring zu tragen, wenn wir ihn erobert haben?"

"Ich kann es nicht."

"Warum nicht?"

"Kein Wesen aus dem Schattenland ist fähig, diesen Ring zu tragen."

Kryll atmete tief durch.

Sein Gegenüber schien zu dieser Sache nicht mehr sagen zu wollen.

Vielleicht wäre es gut, mehr über den Namenlosen zu erfahren, kam es Kryll in den Sinn.

"Erzähle mir vom Schattenland!", forderte der König jetzt.

Der Namenlose wandte sich wieder von Kryll ab und starrte hinaus auf das dunkle Meer.

Nach einer kurzen Pause begann er zu sprechen.

"Im Schattenland herrscht ewige Dämmerung. Es gibt dort einen See, der so schwarz wie die Finsternis selbst ist. Die Bewohner des Schattenlandes nennen ihn das Schattenauge. Genau in der Mitte dieses Sees gibt es eine Insel, auf der Tarak sein Schloss errichtet hat!"

Der Namenlose wandte den Kopf zur Seite. Die Finsternis unter seiner Kapuze erschien Kryll blicklos.

"Wir werden aus dieser Welt eine zweite Schattenwelt machen! Du und ich! Wir werden es schaffen, dessen bin ich mir sicher, denn wir haben Tarak auf unserer Seite, den Herrn des Schattenlandes!"

Ungezügelter, wilder Fanatismus war aus diesen Worten herauszuhören.

Kryll hob die Augenbrauen.

"Ein Land der ewigen Dämmerung mag für die Wesen des Schattenlandes gut sein. Aber für Menschen...?"

Der Namenlose schwieg daraufhin eine ganzer Weile lang, bis er schließlich vor sich hin murmelte: "Ich vertraue auf Tarak."

"Ich ebenfalls." Krylls Bekenntnis war wenig überzeugend.

Auf einmal spürte Kryll, dass jemand hinter ihm war. Blitzartig wirbelte er herum und blickte dann in das Gesicht von Norjan.

"Was gibt es?"

"Mein König, Ihr solltet Euch auch ein wenig schlafen legen. Morgen ist ein anstrengender Tag."

Aber Kryll schüttelte den Kopf.

"Ich noch nicht schlafen Norjan. Ich würde keine Ruhe finden..."

"Müdigkeit und Trägheit können schlimmere Feinde sein, als eine ganze Horde von Remuriern."

Als Norjan dem Blick des Königs begegnete, dachte der alte Ritter: Kryll hat an Sicherheit gewonnen!

Norjan zuckte mit den Schultern. "Nun, wie Ihr meint, mein König. Ich werde mich jedenfalls aufs Ohr legen."

Mit diesen Worten ging Norjan davon.

"Mir ist aufgefallen, dass du dir von diesem einfachen Ritter eine Menge sagen lässt, Kryll", stellte der Namenlose fest.

"Norjan ist für mich mehr, als nur irgendein Ritter."

"Tarak hätte so etwas nie von einem Untergebenen geduldet!"

Die Stimme des Namenlosen klang absolut kalt und gefühllos.

Der König bedachte den Mann aus dem Schattenland mit einem nachdenklichen Blick. Wenn er glaubt, dass ich bereits ein Sklave dieses Tarak bin, dann irrt er sich aber gewaltig, durchzuckte es es Kryll.

Er hatte einen Entschluss gefasst.

Er wollte den Herrn des Schattenlandes betrügen!

*

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DIE SEE BOT BEI NACHT einen düsteren, fast unheimlichen Anblick. Der Mond leuchtete fahl auf das unruhige Wasser herab und tauchte alles in sein bleiches Licht.

Vom Horizont her sah Kryll etwas durch die Luft herannahen.

Etwas Flatternders, Helles... Etwas Weißes!

Ein Vogel!

Doch je näher dieser Vogel herankam, desto deutlicher wurde es Kryll, dass dies kein gewöhnliches Tier seiner Art sein konnte.

Der Vogel war von riesiger Gestalt und war ganz und gar weiß. Er strahlte in einem merkwürdigen, übernatürlichen Licht, dass sich deutlich vom Licht des bleichen Mondes unterschied.

"Seht dort!", hörte Kryll einen der Seeleute rufen.

Die Männer der GEEDRA blickten wie gebannt in Richtung dieses seltsamen Geschöpfes.

"Dieser Vogel ist gefährlich", zischte die Stimme des Namenlosen an Krylls Ohr. Den düsteren Mann aus dem Schattenland hatte mit einem Mal eine kaum erklärliche Unruhe gepackt. Kryll glaubte sogar so etwas wie Furcht aus seinen Worten heraushören zu können.

"Ha!", machte der König. "Wir haben uns vorgenommen, den Ring von Kuldan zu erobern - da werden wir doch keine Angst vor solch einer fliegenden Kreatur bekommen!"

Mit den Augenwinkeln sah Kryll flüchtig, wie Norjan sich wieder von seiner Schlafstatt erhoben hatte. Nachdenklich betrachtete der alte Ritter den weißen Vogel, der mit ruhigen, würdevollen Flügelschlägen auf die GEEDRA zusteuerte.

"Gebt mir Pfeil und Bogen!", krächzte der Namenlose. "Schnell! Worauf wartet ihr?"

Niemand rührte sich, keiner sagte ein Wort.

"Na los!", forderte der Namenlose grimmig.

"Soll ich ihm einen Bogen geben?", fragte Lathor, der Kapitän, unsicher an den König gewandt.

Aber Kryll schüttelte energisch den Kopf.

"Nein!"

"Dieses Wesen ist gefährlich!", rief der Namenlose nochmals.

"Nein, der Vogel stellt keine Gefahr dar!" Der König wandte seinen Blick an die Männer, die noch immer wie gebannt waren.

Der Vogel kreiste jetzt direkt über der GEEDRA.

Er ist so groß wie ein erwachsener Mann, durchfuhr es Kryll. Und auch der König war fasziniert von diesem geheimnisvoll leuchtenden Wesen.

"Lasst mich den Vogel töten!", kreischte Namenlose fast außer sich. Aber der König hörte ihm kaum zu. Er blickte wie die anderen Männer gebannt auf den Vogel...

"König Kryll!", rief ihm der Vogel dann mit mit sanfter Stimme zu.

Einen Moment lang war Kryll wie erstarrt.

Aber es war kein Zweifel möglich. Dieses rätselhafte Wesen hatte ihn angesprochen.

"Wer bist du?", rief Kryll zurück.

Norjan stürzte herbei und packte ihn bei den Schultern.

"Mit wem redet Ihr, mein König?", fragte er besorgt.

Kryll sah den alten Ritter erstaunt an.

Hatte er den Ruf des Vogel nicht gehört?

"Kryll!", kam es erneut von oben an das Ohr das Königs. Kryll blickte hinauf zu dem weiß leuchtenden Vogel hinauf. "Kehrt um, Kryll von Arkull! Dient nicht länger dem König der Schatten oder Ihr werdet großes Unglück über die Welt bringen! Rührt den Ring von Kuldan nicht an und kehrt zurück nach Arkull!"

Kryll schüttelte stumm den Kopf und löste sich aus der Umklammerung, in der Norjan ihn noch immer hielt.

"Nein!", schrie Kryll. "Ich kann nicht zurück!"

"Ihr werdet Eure Entscheidung bereuen, Kryll", prophezeite der weiße Vogel mit schrecklicher Endgültigkeit.

*

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IN DIESEM MOMENT VERNAHM Kryll ein hässliches, pfeifendes Geräusch, das ihn abrupt aus einem Zustand herausriss, der einer Art Trance nahekam.

Es war ein Pfeil! Es folgte verzweifeltes Flügelschlagen, ein Kreischen und wenig später platschte es, als der tote Körper des Vogels ins Meer stürzte.

Kryll wirbelte herum und sah den Namenlosen, in dessen dünnen, feingliedrigen Fingern sich ein Bogen befand. Kalter Grimm stieg in Kryll auf.

"Wer hat ihm den Bogen gegeben?", flüsterte er.

Schweigen.

Niemand wagte es, einen Ton von sich zu geben und die düstere, unheilschwangere Stille zu durchbrechen.

"Ich frage noch einmal: Wer von euch hat ihm den Bogen gegeben?"

"Mein König...", begann einer der Seeleute zu stottern.

"Rede schon, Olkyr!", wurde der Mann von Kryll angeherrscht.

"Der Namenlose...", stieß Olkyr hervor. "Er hat mir meinen Bogen aus den Händen gerissen!"

Der König nickte und atmete deutlich hörbar aus.

"Schon gut", murmelte er und wandte sich an den Namenlosen.

"Warum hast du das getan?", rief er dem Düsteren entsetzt entgegen. Die Hände des Namenlosen hielten den Bogen fest umklammert.

"Der Vogel war gefährlich", behauptete er zum wiederholten Male, ohne es weiter zu erklären.

Krylls Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

"Was an ihm war gefährlich?"

Der Namenlose schwieg.

Kryll sah nichts weiter, als das Dunkel unter seiner Kapuze. Dann spürte der König, wie Norjan ihm eine Hand auf die Schulter legte.

"Warum regt Ihr Euch über den Tod eines gewöhnlichen Vogels so auf, mein König?", fragte der alte Ritter.

Kein anderer in den Reihen des Königs von Pragan hätte sich ein solches Verhalten erlauben können.

Der weiße Vogel hat nur zu mir gesprochen, drang es in Krylls Bewusstsein. Die Männer hatten davon nichts mitbekommen. Zweifellos mussten sie ihren König in diesem Moment für verrückt halten...

In Krylls Innerem hallte die Warnung des weißen Vogels dutzendfach wider. 'Ihr werdet großes Unglück über die Welt bringen!' hatte ihm der Vogel vorausgesagt. Wie ein spitzer Pfeil hatten sich diese Worte in Krylls Seele gebohrt. Kalte Schauder liefen ihm über den Rücken.

"Ihr seht müde aus, mein König", stellte Norjan fest.

Kryll nickte stumm. Er fühlte sich tatsächlich sehr müde.

"Legt Euch jetzt schlafen, mein König", sagte Norjan sanft.

"Ja", echote der König.

Man bereitete ihm einen Schlafplatz nahe am Mast. Die Schiffe Pragans hatten keinerlei Luxus, sondern waren ganz auf ihren praktischen Zweck hin ausgerichtet. So fehlten beispielsweise jegliche Aufbauten, wie sie für die Schiffe des Südens so kennzeichnend waren. Alles geschah an Deck und selbst ein König hatte keine andere Wahl, als im Freien zu schlafen.

Der weiße Vogel - er ließ den König der Praganier auch die Nacht über nicht los und verfolgte ihn bis in seine dumpfen Träume hinein.

Aber Kryll war wild entschlossen, sich durch nichts und niemanden von seinem Weg abbringen zu lassen.

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2. DAS MONSTRUM AUS DER TIEFE

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Die helle Sonne war es, die Kryll weckte. Er sprang von seinem Lager auf und wandte sich an den Kapitän, der längst wieder in gewohnter Manier seine Befehl bellte.

"Wo befinden wir uns jetzt?", erkundigte sich der König. Lathor, der Kapitän, deutete zum Horizont. Eine graue Silhouette war dort zu erkennen. Von der Ausdehnung her konnte es eigentlich nur Festland sein.

"Dort ist schon die Küste von Thark, mein König."

"Wie lange werden wir bis dorthin noch brauchen?", erkundigte sich Kryll.

Lathors Gesicht wurde ernst.

"Auf der Route von Arkull nach Alark blies uns der Wind in den Rücken und wir kamen unverhältnismäßig schnell vorwärts. Aber jetzt... Der Wind kommt annähernd von vorn und wir werden gegen ihn kreuzen müssen. Das kostet Zeit. Vielleicht erleben wir unterwegs auch eine Flaute."

"Wenn erst Taraks Schiffe die Meere dieser Welt befahren, werden wir nicht mehr vom Wind abhängig sein", schaltete sich der Namenlose in die Unterhaltung ein.

"Mir ist die GEEDRA lieber, als eines dieser Dämonenschiffe aus dem Schattenland", sagte Lathor bissig. Kryll zuckte nur mit den Schultern.

"Gegenüber Taraks Schiffen sind Schiffe wie die GEEDRA nicht mehr als armselige Nussschalen", behauptete der Namenlose hochnäsig.

Lathor machte eine ärgerliche Geste.

"Wer bist du schon, Namenloser, dass du so zu reden wagst?"

Der Namenlose wandte den Kopf.

Seine Stimme klang eiskalt.

"Ich würde dir raten, einen Diener Taraks nicht zu beleidigen, wenn du nicht seine Rache herausfordern willst!"

Drohend standen sich die beiden gegenüber.

"Lasst Euren Streit ruhen! Ihr gefährdet nur unsere Sache damit!", stellte Kryll fest.

Einen Moment lang hing alles in der Schwebe. Keiner der beiden rührte sich.

"Der König hat recht", sagte schließlich Lathor. Seine Haltung entspannte sich etwas, aber man sah ihm die Mühe an, die er dabei hatte, sich selbst unter Kontrolle zu halten.

Der Namenlose nickte leicht.

"Das ist eine vernünftige Einstellung", sagte er.

Kryll atmete auf.

Der Namenlose ging zum Bug der GEEDRA und stellte sich dort auf. Er blickte hinaus auf das Meer.

"An Eurer Stelle würde ich den Namenlosen genau im Auge behalten, mein König", raunte der Kapitän.

Kryll wandte den Kopf.

"War es nötig, ihn zu provozieren?"

Lathor fluchte leise vor sich hin. Einige unartikulierte Laute gingen ihm über die Lippen. Dann ging er und wandte sich wieder seinen Pflichten als Kapitän zu.

Kryll konnte Lathor mit seinem Misstrauen gut verstehen. Auch ihm war der Mann aus dem Schattenland unheimlich, aber er sagte nichts. Er brauchte den Namenlosen einstweilen noch...

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AUF GRUND DES UNGÜNSTIGEN Windes kam die GEEDRA nur verhältnismäßig langsam vorwärts. Lathor, der Kapitän gab sich zwar alle Mühe, aber ein Wunder konnte auch er nicht bewirken.

So leicht wie der Wind glitt das Schiff über die Wellen, aber die GEEDRA musste wieder und wieder kreuzen, um ihrem Ziel ein Stück näher zu kommen.

Eine unheilschwangere Stimmung lastete schwer auf dem Schiff und seiner Besatzung. Eine angespannte Atmosphäre herrschte an Bord, obwohl es dafür eigentlich keinen wirklich greifbaren Grund gab.

Als der Vogel aufgetaucht war, hat sich alles verändert, schoss es Kryll auf einmal durch den Kopf. Vielleicht hatte der Namenlose recht und dieses geheimnisvolle Wesen bedeutete tatsächlich eine Gefahr.

In Gedanken hörte Kryll wieder und wieder Warnung des weißen Vogels. Der König von Pragan sollte umkehren, wenn er nicht großes Unglück über die Welt bringen wollte...

Nur ich selbst habe die Stimme des weißen Vogels gehört, vergegenwärtigte sich der König. Wahrscheinlich war sie nichts weiter, als die Manifestation meiner Zweifel und meiner Unsicherheit...

Und doch...

Er hatte jedes einzelne Wort ganz deutlich gehört. Einen Moment lang dachte Kryll an Magie, aber wenn etwas damit zu tun hatte, dann verhielt es sich ganz offensichtlich so, dass diese Magie gegen den Namenlosen und die überlegene Macht, die hinter ihm stand, nichts auszurichten vermochte.

Nein, Kryll hatte sich längst entschieden.

Er würde seinen Weg zu Ende gehen und nichts und niemand würde ihn davon abbringen können!

Er wollte nach Kuldan, um sich den Ring zu holen.

Der Ring bedeutete Macht...

Und es gab nichts, wonach es Kryll im Augenblick mehr verlangte. Der Ring bedeutete Macht und der Ring und der Spiegel zusammen bedeuteten noch mehr Macht. Er würde mehr davon bekommen, als er sich überhaupt vorstellen konnte.

Lange genug habe ich auf dem Thron von Pragan gesessen, ohne wirkliche Macht zu besitzen, durchfuhr es ihn. Aber das würde bald ein Ende haben, wenn er erst einmal den Ring und den Spiegel in seine Gewalt gebracht und ein Tor zum Schattenland errichtet hatte.

Aber Kryll wusste auch, dass er vorsichtig sein musste,

Er durfte Tarak und seinem Diener, dem Namenlosen, nicht blind vertrauen.

Es war dem jungen König klar, dass ihn Tarak nur als Werkzeug ansah, dass er fallenlassen konnte, wenn er es nicht mehr brauchte.

Aber Kryll hatte nicht die Absicht, nur ein Werkzeug zu sein.

Er würde sich etwas einfallen lassen, um Tarak hereinzulegen.

Macht kann trügerisch sein, überlegte er, während er hinaus auf das Meer blickte, auf dessen Oberfläche die Sonne glitzerte.

Das Problem ist, dass man oft nicht weiß, über wie viel Macht man wirklich verfügt, ging es ihm durch den Kopf. Und einen Moment lang fragte er sich, ob nicht auch er seine Möglichkeiten maßlos überschätzte.

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DER WIND WURDE HEFTIGER.

Dunkle Wolken zogen am Himmel auf.

Die Wellen wurden spürbar höher und das Schiff schaukelte bald stark.

"Hoffentlich gibt es keinen Sturm!", meinte Kraynar, der Steuermann der GEEDRA.

Mit eisernem Griff hielt er sicher das Ruder. Kryll bemerkte, wie Kapitän Lathor besorgt seinen Blick zum Himmel hob.

"Es sieht nicht gut aus", raunte er.

Der Steuermann nickte kaum merklich.

Kryll war es so, als flüsterte der Wind ihm etwas zu. Der Wind flüsterte und der König hörte die Stimme, mit der der weiße Vogel zu ihm gesprochen hatte.

"Kehrt um, König Kryll! Kehrt um!", schien der aufbrausende Wind ihm zuzurufen.

Krylls Züge verhärteten sich unwillkürlich.

"Ich werde nicht umkehren", murmelte er vor sich hin. Der Wind hatte indessen aufgehört zu flüstern.

Regen setzte ein.

Dicke Tropfen platschten auf die GEEDRA und ließen die Planken nach kurzer Zeit rutschig werden.

Kryll schlang sich seinen warmen Umhang enger um die Schultern und marschierte mit langen Schritten zum Heck.

"Es wird ein ausgewachsener Sturm", meinte Kryll an seine Männer gewandt.

Er hatte das im Gefühl.

"Solange wir nur vom Regen heimgesucht werden, kann man noch nichts sagen", erklärte Olkyr, der jetzt zusammen mit Kraynar das Ruder hielt.

Lathor, der Kapitän wandte einen kurzen Blick gen Himmel zu den aufgetürmten Wolken.

"Es wird nicht dabei bleiben", prophezeite er.

"Ich schlage vor, zur Vorsicht die Segel zu reffen", schlug Kraynar, der Steuermann vor.

Aber Kryll schüttelte energisch den Kopf.

"Nein, das kommt nicht in Frage!"

"Es wäre aber ratsam, mein König!", rief Kraynar.

"Wir würden zu viel Zeit verlieren", erwiderte Kryll kühl.

"Das Schiff könnte kentern!"

"Ich sage, die Segel werden nicht gerefft!" Krylls Stimme klang jetzt eisig und hart. Olkyr und Kraynar wechselten einen etwas verwunderten Blick und schwiegen dann.

Lathors düstere Vorhersagen schienen sich zu erfüllen, als ein heftiger Windstoß die GEEDRA packte und sie für einige Augenblicke in eine Schräglage versetzte.

Die Männer wurden durcheinandergewirbelt, während Kraynar und Olkyr verzweifelt das Ruder zu halten versuchten.

"Wir müssen die Segel reffen!", rief Lathor, der drakanische Kapitän beschwörend. "Wir haben keine andere Wahl!"

Kryll verzog das Gesicht zu einer grimmigen Maske.

"Wir müssen gar nichts!", war seine knappe Antwort, die das Getöse von Wind und Wellen schon fast verschluckte.

*

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DIE RIESENHAFTEN WELLEN schaukelten die GEEDRA hin und her.

Der Sturm wird uns wertvolle Zeit kosten, durchfuhr es Kryll nicht ohne Grimm.

Der König konnte es kaum erwarten, in Kuldan anzukommen und den Ring an sich zu bringen.

Der Wind zerrte an seinem Umhang.

Das Schiff rang verzweifelt und ächzend mit Wind und Wellen.

"Dort! Seht!", war plötzlich Norjans Stimme zu hören. Der alte Ritter deutete mit der flachen Hand auf die See hinaus. Ein amorpher, glutäugiger Schuppenkopf ragte aus dem Wasser heraus.

"Ein Locori!", entfuhr es Olkyr. Seine Züge verrieten Angst.

Die Locori waren riesenhafte, echsenartige Monstren, deren Lebensraum die Tiefe der nördlichen Meere war. Immer wieder kam es vor, dass Schiffe angegriffen und die Tiefe hinabgerissen werden...

"Diese Ungeheuer haben uns gerade noch gefehlt!", zischte Lathor.

Die Männer des praganischen Langschiffes waren für ein paar Augenblicke wie erstarrt, während das Monstrum sich auf die GEEDRA zubewegte. Lathor wandte sich mit bleichem Gesicht an Kraynar.

"Wir müssen schneller werden!", rief er.

Aus der Stimme des Kapitäns sprachen nackte Furcht und ein hohes Maß an Verzweiflung.

"Das wird nichts nützen! Dieses Biest ist auf jeden Fall schneller als die GEDDRA", stellte Kraynar sachlich fest.

Indessen war der Locori wieder untergetaucht.

Wenn es ihm einfiel, direkt unter dem Bauch der GEEDRA wieder hervorzukommen, konnte das schon das Ende bedeuten...

"Wir müssen den Kampf aufnehmen!", rief Kryll entschlossen. er wandte sich an seine Männer. "Macht die Harpunen bereit! Wenn der Locori das nächste Mal auftaucht, werden wir ihn töten!"

Die Männer gehorchten wortlos und stellten sich mit ihren Harpunen an der Reling auf.

Einige quälend lange Augenblicke hindurch geschah überhaupt nichts. Dann endlich tauchte das Monstrum - dicht bei der GEEDRA - wieder auf.

"Jetzt!", gellte die Stimme des Königs und ein gutes Dutzend Harpunen wurde dem Locori entgegen geschickt.

Der schuppige Körper bäumte sich verzweifelt auf, als der Hagel von Harpunen auf ihm abregnete. Lathor hatte angeordnet, dass die Seile, mit denen die Harpunen normalerweise mit dem Schiff verbunden waren, gekappt wurden, um zu verhindern, dass der Locori das ganze Schiff mit sich riss.

Das markerschütternde Brüllen des Locori ließ Kryll zusammenfahren. An dem riesenhaften Körper wirkten die Harpunen nur wie kleine Nadeln.

"Es ist ein Riese von einem Locori!", staunte Kraynar. In seiner Stimme klang in diesem Moment sogar so etwas wie Ehrfurcht mit.

Kryll musste sich an der Reling festhalten. Das Schiff schwankte zu stark, als dass man noch hätte freihändig auf den glitschigen Planken hätte stehen können.

Indessen türmte der Wind die Wellen jetzt zu meterhohen Gebirgen auf.

"Der Locori ist noch am Leben!", rief der Kapitän lauthals. Kryll sah, wie das Ungeheuer mit seinen riesenhaften Pranken versuchte, die Harpunen mit ihren furchtbaren Widerhaken zu entfernen.

Das Wasser um ihn herum verfärbte sich rot. Seine reptilienartigen Facettenaugen glänzten fiebrig und kalt.

"Es bleibt uns keine andere Wahl! Wir müssen die Segel reffen!", rief Lathor nun, als er sah, wie der Sturm mit der GEEDRA spielte.

"Die Segel bleiben wie sie sind!", hörte man Krylls Stimme.

Die GEEDRA hatte unterdessen etwas Abstand

"Ich hoffe, er verfolgt uns nicht!", meinte Norjan. "Sonst sind wir verloren! Wir haben nur noch wenige Harpunen!"

Kryll stand wortlos an der Reling und hielt sich krampfhaft fest, um nicht über Bord gespült zu werden.

Seine Züge waren düster, aber nicht verzweifelt.

Er hielt nach dem dem Locori Ausschau. Aber das Ungeheuer war nicht mehr zu sehen.

Er ist untergetaucht und folgt uns, dachte der König bei sich. Ein Gefühl des Grauens ergriff ihn. Wenn dieses echsenartige Monstrum nun genau unter dem Bauch der GEEDRA wieder emportauchte...

Kryll wagte kaum daran zu denken.

Wenn der Locori das Schiff anhob und wieder niederstürzen ließ, war die GEEDRA verloren.

Der Sturm wütete immer heftiger, aber die Schiffe der Praganier waren für solche Verhältnisse ausgelegt.

Lathor, dieser Narr, dachte Kryll. Der drakanische Kapitän kannte zwar inzwischen die Eigenheiten der nördlichen Meere, aber er würde nie die Meerverbundenheit der Praganier nachempfinden können.

In den südlichen Ländern war die Seefahrt nur Mittel zum Zweck. In Pragan war bedeutete sie sehr viel mehr. Das Wasser war die zweite Heimat der Praganier. Dem Meer rangen sie ihre Nahrung ab, nicht ihrem kargen Land, dessen Boden für den größten Teil des Jahres gefroren war.

Dennoch - Lathor war ein ausgezeichneter Schiffsführer, der es mit den meisten Kapitänen des Nordens aufnehmen konnte.

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DAS SCHIFF SCHWANKTE.

Kryll hörte einen Schrei, aber er konnte nicht sagen, wer ihn ausgestoßen hatte.

Dann spürte der König, wie die GEEDRA von der unruhigen Wasseroberfläche abgehoben wurde.

Der Locori, durchfuhr es ihn.

Es war also doch so gekommen, wie zu befürchten gewesen war. Das Monstrum war ihnen unter Wasser gefolgt und jetzt wieder aufgetaucht.

Ein plötzlicher Ruck ging durch die GEEDRA und Kryll rutschte auf den nassen Planken aus. Furcht breitete sich unter den Männern aus. Sie wurden hin- und hergewirbelt und schrien laut durcheinander. Holz splitterte und der mächtige Mast ächzte.

Im Hintergrund war das Brüllen des Locori zu hören.

Dann donnerte die GEEDRA wieder auf die Wasseroberfläche. Wieder war das Splittern von Holz zu hören.

Kryll rappelte sich rasch wieder auf und sah, wie neben der GEEDRA die riesige Gestalt des Locori aufragte. Der König blickte sich hastig um. Olkyr hatte eine klaffende Wunde am Arm. Vermutlich hatte einen Schlag mit dem Mastbaum abbekommen. Kraynar lag reglos am Boden.

"Unsere restlichen Harpunen sind über Bord gegangen!", rief Norjan Kryll zu.

"Dann müssen wir eben mit einfachen Speeren und Pfeilen gegen den Locori vorzugehen versuchen!", erwiderte Kryll grimmig.

Er warf einen nachdenklichen Blick zu der Echsengestalt ihres furchtbaren Feindes. Die Schäfte der Harpunen ragten noch immer aus seinem Leib.

Sie schienen das Monstrum jedoch nicht ernsthaft zu behindern. Wild funkelten die Facettenaugen.

In diesem Moment sah Kryll, wie der Namenlose die Kapuze seiner Kutte zurücklegte.

Der dunkle, metallisch glänzende Kugelkopf des Schattenmannes kam zum Vorschein.

Dann öffnete er seine Kutte. Kryll erblickte ein graues Gewand, das von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde, hinter dem eine Axt steckte. Es war eine geradezu monströse, schwere Streitaxt.

Der Namenlose machte auf Kryll nicht gerade den Eindruck, als ob er stark genug gewesen wäre, eine solche Waffe sicher zu führen. Selbst ein Hüne hätte sicher seine Mühe gehabt, mit dem schweren Gerät umzugehen.

Mit einer behänden, blitzschnellen Bewegung zog der Namenlose seine Axt heraus.

Der Locori kam unterdessen näher und näher.

Er schien den Männern der GEEDRA nun endgültig den Garaus machen zu wollen.

Seine sechsfingerigen, bekrallten Pranken streckte das Monstrum begierig nach dem Schiff aus.

Dann packte der Locori die GEEDRA schließlich am Heck, während fast gleichzeitig eine geradezu mörderische Welle über ihn hereinbrach. Doch diese Wassergewalten konnten dem Echsenwesen offenbar nichts anhaben.

Der Locori öffnete für einen Moment sein Maul und gab fast mannshohe Zähne frei. Die schwertgroßen Krallen seiner Pranken hakten sich im Holz der GEEDRA fest, während die Besatzung den Atem anhielt.

Nun kam der Namenlose mit weit ausholenden Schritten zum Heck. Aus seinem dunklen Metallkopf drang ein barbarischer Ruf, während er mit den Händen die furchtbare Axt schwang.

Mit dieser monströsen Waffe, die der Namenlose mit geradezu gespenstischer Leichtigkeit zu führen in der Lage war, hieb er auf das Monstrum ein.

Die Axt drang tief in die Pranke des Locori. Aus der klaffenden Wunde kam Blut.

Der Namenlose zog seine Waffe wieder zurück. Die Pranke bewegte sich und ließ die GEEDRA frei.

Wahnsinn und Schmerz leuchteten in den den Facettenaugen des Locori. Er warf sich verzweifelt herum und wirbelte dabei das Wasser noch mehr auf, so dass die Männer der GEEDRA alle Mühe hatten, sich zu halten. Dann versank das Wesen im Meer.

Fassungslos blickte Kryll auf die Axt des Namenlose, die dieser jetzt triumphierend emporreckte.

Es ist keine gewöhnliche Axt, durchfuhr es den jungen König. Es ist eine Waffe der Schattenwelt! Und obwohl er froh war, dass die Gefahr durch den Locori beseitigt war, fühlte er ein eisiges Frösteln, das seinen ganzen Körper erfasste.

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3. DIE ZITADELLE DES RINGES

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Kraynar war aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Er stand nun wieder am Ruder und lenkte die GEEDRA sicher durch den tobenden Sturm. Er hatte so etwas schon hundertfach gemacht. Wahrscheinlich wahr er einer der besten Steuermänner Pragans.

Die GEEDRA hatte nur verhältnismäßig geringe Schäden von dem Kampf mit dem Locori davongetragen. Ein paar Planken waren gesplittert und im Segel klaffte ein gut sichtbares Loch.

Lathor hatte einige Männer da zu abgestellt, die entstandenen Schäden so gut es ging zu beheben.

"Wir können froh sein, dass wir diesen Kampf überlebt haben", meinte Kraynar.

Kryll deutete in Richtung des Namenlosen, der stumm am Bug stand.

"Ihm haben wir unser Überleben zu verdanken", murmelte der König dann an den Steuermann gewandt. Kryll bemerkte das düstere Gesicht, dass Lathor, der Kapitän, dabei machte.

Es passt nicht in das Bild, dass er sich von unserem namenlosen Freund gemacht hat, dass gerade er es war, der uns rettete, überlegte Kryll.

"Merkwürdig...", raunte jetzt Kraynar. "Der Locori wurde plötzlich von einer Art Wahnsinn befallen und starb an einer eigentlich harmlosen Verletzung an der Pranke!" Er schüttelte verwundert den Kopf. "Ich habe schon mit vielen Locori gekämpft, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt!"

"Er hat eine Streitaxt des Schattenlandes benutzt", gab Kryll zu bedenken.

Kapitän Lathor nickte.

"Diese Waffe scheint mächtig zu sein! Geheime Kräfte müssen in dieser Axt verborgen zu liegen..." sagte er gedehnt. Er atmete tief durch. "Aber wer sagt uns, dass er diese Macht nicht auch zu unseren Ungunsten einsetzen kann?"

Krylls Gesicht bekam jetzt etwas Finsteres.

Wut stieg in ihm auf, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen.

"Lathor!", brachte er schließlich heraus. "Ich verspreche, dass wir alle die Augen aufhalten werden. Wir werden den Namenlosen in allem was er tut beobachten. Aber wir sollten ihm gegenüber kein Misstrauen schüren, solange er uns dazu keinen Grund gibt! Er hat uns allen das Leben gerettet. Wir stehen in seiner Schuld, dass solltet Ihr bedenken, Kapitän! Tarak, der Schattenkönig, verfügt über eine ungeheure Machtfülle, die er in unseren Dienst stellen wird, wenn wir ihm helfen, ein Tor zwischen dem Schattenland und unserer eigenen Welt zu errichten. Pragan wird nicht länger ein Armenhaus bleiben, sonder das Zentrum der Welt werden! Aber das müssen wir uns erst erkämpfen. Man bekommt auf dieser Welt nichts geschenkt, wir ach nicht. Aber wir werden es schaffen!"

Lathor zuckte mit den Schultern.

"Ich hoffe, ihr seid nicht zu optimistisch, mein König", meinte der Kapitän.

Der König bedachte seinen Kapitän mit einem entschlossenen Blick.

"Ich irre mich nicht!", sagte er knapp.

Lathor lachte rau.

"Bei allem Respekt! Aber Ihr seid auch nur ein gewöhnlicher Mensch, mein König! Und als solcher seid Ihr dem Irrtum ebenso unterworfen, wie es jeder Bettler in Alark ist."

Krylls Augen wurden zu schmalen Schlitzen, sein Gesicht zu einer bewegungslosen Maske.

Dann sagte er nach einer kurzen Pause: "Wenn ich erst den Ring von Kuldan und den Spiegel von Uz besitze, bin ich wahrhaftig mehr, als nur ein gewöhnlicher Mensch!" Kryll sprach diese Worte erschreckender Kälte und mit einer fast unmenschlich wirkenden Sicherheit.

Der Hunger nach Macht hat ihn gepackt!, durchfuhr es Norjan, als er diese Worte mitanhörte. Und dieser furchtbare Hunger wird den König nicht mehr loslassen, dachte der alte Ritter. Kryll würde nie gesättigt werden.

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DER STURM LIEß ALLMÄHLICH nach und das Meer glättete sich wieder. In der Ferne war die Küste von Thark jetzt gut sichtbar.

Ein eiskalter Wind blies jetzt und blähte das Segel auf. Die GEEDRA begann förmlich über die Wellen zu fliegen.

Die Tage gingen dahin und der Wind wurde immer kälter, je weiter sie nach Norden kamen.

Dann sahen sie am Horizont endlich die Zinnen von Kuldan, der Hauptstadt des Landes Thark.

"Eine mächtige Stadt!", rief Norjan fast ehrfurchtsvoll.

"Arkull wird einst eine ebenso große Stadt werden, Norjan!", erwiderte Kryll hart.

Als sie hinüber zum Hafen der tharkischen Hauptstadt blickten, sahen sie, dass es wahrscheinlich Hunderte von Schiffen aller Herren Länder waren, die sich dort tummelten. Praganische Langschiffe waren ebenso zu finden wie Galeeren aus Kroz oder Lukkare oder Schiffe von den Handelsstädten auf Naru, der großen Insel im Südwesten.

Die GEEDRA legte an einem der vielen Stege an und Kryll wandte sich an den Namenlosen.

"Was jetzt? Wie finden wir den Ring?"

"Der Ring befindet sich in einer Zitadelle am Rande von Kuldan Diese Zitadelle ist wesentlich älter, als die Stadt selbst und stammt noch aus der Zeit, als die Horden des Schattenlandes Zugang zu dieser Welt hatten."

Der König hob die Augenbrauen.

"Wird die Zitadelle bewacht?"

"Ja, von den sogenannten Ringwächtern."

"Wie groß ist ihre Zahl?"

"Genau weiß ich es nicht. Suche dir einen Mann der Besatzung aus, dann brechen wir auf."

"Zu dritt?"

"Ja."

"Aber sind wir dann nicht viel zu wenige, um den Ring erobern zu können?"

"Nein."

"Aber..."

"Du vergisst, dass ich aus dem Schattenland komme..."

Ja, dachte Kryll. Und er hat diese furchtbare Axt... Vielleicht war es wirklich überflüssig, mit mehr Männern anzurücken. Kryll zuckte mit den Schultern.

"Wie du meinst, Namenloser!"

Kryll erwählte unter seinen Männern Norjan. Ihm vertraute er am meisten.

"Welchen Grund hat es, nur mit drei Männern aufzubrechen?", fragte Lathor, der Kapitän, mit einem Unterton, der deutliche Skepsis verriet.

Der Namenlose ließ sich aber kaum beeindrucken. Seine Stimme klang ruhig und kalt.

"Es geschieht der Tarnung wegen", erklärte er. "Wir können hier nicht mit einer kleinen Armee durch die Stadt ziehen. Das würde viel Aufsehen erregen und das müssen wir unter allen Umständen vermeiden."

Lathor schien nervös zu werden.

"Von wie vielen Wächtern wird die Zitadelle bewacht?", fragte er dann an den Namenlosen gewandt.

"Vielleicht zwanzig oder dreißig."

Lathor lachte heiser.

"Und zu dritt wollt ihr gegen eine zehnfache Überzahl ziehen?", fragte er dann ironisch.

"Ich habe meine Axt."

"Deine Axt? Gegen so viele Gegner hat auch die beste Axt keine Chance!"

"Es ist ist eine Zauberaxt..."

"Und wenn schon!"

"Hast du vergessen, was meine Axt mit dem Locori getan hat?", fragte nun der Namenlose ruhig und gelassen. Aber Lathor gab sich damit keineswegs zufrieden.

"Ich wittere eine Falle", murmelte er.

"Niemand wird gegen meine Axt bestehen können", erklärte der Namenlose, der sich seiner Sache absolut sicher zu sein schien.

Lathor nickte.

"So ist es, Namenloser! Vielleicht wirst du es sein der unseren König in eine Falle lockt! Es passt alles genau zusammen: Irgendwo in einer dunklen Gasse von Kuldan wirst du den König umbringen. Mit deiner Zauberaxt wird es die auch nicht viel Mühe bereiten, mit zwei Gegnern fertigzuwerden!"

"Genug!", zischte nun der Namenlose wütend.

"Nein, Namenloser! Das ist noch lange nicht alles! Es sieht danach aus, als arbeitetest du für die Remurier! Seit einiger Zeit gehen Gerüchte um, dass es einer Gruppe von Magiern in Kenun gelungen ist, Menschen aus Metall herzustellen!"

Lathor kam ein paar Schritte auf den Namenlosen zu und stellte sich genau vor ihm auf. Dann griff er nach der Kapuze des Namenlosen und legte sie zurück. Der dunkle Metallkopf des Schattenmannes wurde sichtbar. Er glänzte gespenstisch im Sonnenlicht.

Der Kapitän atmete tief durch.

"Der Namenlose könnte ohne weiteres einer der remurischen Metallmänner sein!" Lathors Augen blitzten, als er den Namenlosen mit seinem Blick fixierte. Er verzog den Mund zu einem dünnen, gequälten Lächeln. "Was hast du dazu zu sagen, Namenloser?"

Der Namenlose antwortete nicht.

Der gesichtslose Metallkopf des Mannes aus dem Schattenland hatte nicht den geringsten Ausdruck. Dann packte der Namenlose packte Lathor an der Schulter. Seine dünnen, langfingrige Hand schien seltsam blutleer.

Lathor wurde bleich und sackte mit starren Augen auf die Schiffsplanken wo er reglos liegenblieb.

Olkyr beugte sich über den leblos wirkenden Kapitän.

"Er ist tot", stellte er kurz danach fest. In den Gesichtern der Männer war Entsetzen zu lesen. Er stand auf und wandte sich an den Namenlosen.

"Warum hast du das getan?"

Der Namenlose hatte indessen seinen Metallkopf wieder unter der Kapuze verborgen.

"Bevor Kryll der Herr dieser Welt sein wird, werden noch so manche Köpfe rollen", murmelte er schließlich.

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KRYLL GING ZUSAMMEN mit Norjan und dem Namenlosen durch die Straßen des geschäftigen Kuldan. Es war schwierig, sich durch die wogenden Menschenmassen zu drängeln. Das Gebiet um den Hafen herum war von Händlern geradezu belagert. Sie kamen aus aller Welt und verkauften die Waren von den eingelaufenen Schiffen.

Bald kamen Kryll und seine beiden Begleiter in weniger überfüllte Stadtviertel. Die breiten Boulevards am Hafen endeten in engen Gassen, in denen sie nur vereinzelt jemandem begegneten.

Während sie durch die Gassen eilten, dachte der König über Lathors Tod nach.

Was wird mir am Ende blühen, wenn ich mich eines Tages gegen Tarak stellen sollte?, fragte er sich.

Vielleicht konnte er dem Namenlosen zuvorkommen...

Jedenfalls stand fest, dass Kryll nicht die Absicht hatte, als willenloser Sklave Taraks zu enden. Er war sein eigener Herr und wollte es bleiben!

Und bald auch Herr einer ganzen Welt, ergänzte er in Gedanken.

Aber Kryll hatte wenig Neigung dazu, letztlich nichts weiter zu sein, als eine Art Statthalter für Tarak, den Herrn des Schattenlandes.

Vorausgesetzt er nimmt dir nicht auch diese bescheidene Rolle, wenn er erst einmal bekommen hat, was er will, durchzuckte es Kryll eisig.

Aber Kryll war sich sicher, dass er irgendeine Möglichkeit finden würde, um Tarak zu gegebener Zeit entgegenzutreten - und dasselbe galt für den Namenlosen.

Doch zuvor musste er sich im Besitz des Ringes und des Spiegels befinden und alles über diese beiden magischen Werkzeuge in Erfahrung bringen, was es über sie zu wissen gab.

Dann erst konnte er seine Pläne verwirklichen.

Für einen Moment begann Zweifel in seinem Inneren zu nagen.

Er spürte den Hunger nach Macht, der ihn von innen heraus schier zu zerfressen drohte und ihn mehr und mehr zu beherrschen begann.

Es ist ein Spiel mit hohem Einsatz, dachte er. Die Mächte, die er er heraufbeschwor, konnten sich als zweischneidiges Schwert entpuppen. Sie waren gefährlich - und zwar gleichermaßen für Freund und Feind gleichermaßen.

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KRYLL, NORJAN UND DER Namenlose kamen nun in die Außenbezirke von Kuldan. Die tharkische Hauptstadt war eine wild in die Umgebung wuchernde Stadt. Zahllose Bauern, deren Erträge zurückgingen, und deren Boden nicht mehr das Lebensnotwendige abgab, wurden von der großen Stadt wie magisch angezogen. Dort versuchten sie, ihr Glück zu machen, aber nur den wenigsten gelang das auch.

An die dicht besiedelte Stadt schloss sich das ausgedehnte Bergland von Thark an. Auf einer Anhöhe war eine verwitterte Ruine zu sehen. Aber trotz ihres offenbar fortgeschrittenen Alters machte das steinerne Gebäude einen massiven und stabilen Eindruck. Etwas Zeitloses schien über diesem Ort zu liegen.

Der Namenlose deutete mit der Rechten in Richtung der Ruine.

"Dort ist die Zitadelle des Ringes", erklärte er mit einem merkwürdigen Unterton.

"Sie scheint verlassen", meldete sich Norjan zu Wort.

"Aber der Schein trügt", warnte der Namenlose.

Weder Kryll noch Norjan bezweifelten, dass der Namenloser recht behalten würde, obwohl es mehr ein bestimmtes Gefühl war, dass ihnen das sagte, als irgendwelche äußerlich sichtbaren Anzeichen...

Als sie die Ruine erreichten, holte der Namenlose seine monströse Axt hervor und trat mit einem einzigen, wohlplatzierten Tritt eine morsch gewordene Holztür auf. Mit einem hässlichen Krachen brach sie aus ihren verrosteten Scharnieren heraus. Einige kleinere Steine rutschten aus der Wand heraus, Staub wurde aufgewirbelt.

"Wir werden uns durch diesen Krach verraten", vermutete Kryll.

Aber den Namenlosen ließ das ungerührt.

"Die Wesen, die in diesem Gemäuer hausen, haben uns schon längst entdeckt - und zwar spätestens zu dem Zeitpunkt, da wir diesen Hügel erstiegen", war seine im Brustton der Überzeugung gesprochene Entgegnung.

Vor ihnen eröffnete sich ein düsterer Gang.

Er sah nicht sehr einladend aus. Und aus diesem Gang drang so etwas wie ein Summen.

"Was ist das?", erkundigte sich Kryll.

"Der Gesang der Ringwächter. Er hat nichts zu sagen", war die Antwort des Namenlosen.

Er hob die Axt und hielt sie hoch über dem Kopf.

Das Summen - der Gesang der Ringwächter - war für die Ohren von Kryll und Norjan ein grauenhaftes, quälendes Geräusch, das bereits nach wenigen Augenblicken zermürbend wirkte.

"Bleibt dicht hinter mir!", befahl der Mann aus dem Schattenland jetzt. Kryll und Norjan nickten einhellig. Mit vorsichtigen Schritten stapfte der Namenlose tiefer und tiefer in den düsteren Gang hinein.

Die beiden anderen folgten ihm.

Hoch erhoben hielt er dabei die Axt - und die Axt des Namenlosen begann seltsam zu leuchten! Es war ein starkes, rötliches Licht, das von der monströsen Waffe ausging und den Gang ein wenig erhellte.

Unterdessen schwoll der Gesang der Ringwächter zu einem ohrenbetäubenden Lärm an, der einen Menschen über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben musste.

"Lasst euch von dem Gesang nicht irre machen!", rief der Namenlose seinen Begleitern zu, die ihn kaum verstehen konnten.

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4. DIE RINGWÄCHTER

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Nachdem sie dem Gang eine Weile lang gefolgt waren, kamen sie schließlich an eine Tür. Sie war zwar ebenso wie die erste Tür, die sie überwunden hatten, aus Holz, aber nicht so alt und morsch.

Mit zwei mächtigen Hieben seiner Axt trennte der Namenlose die Scharniere und Halterungen heraus. Die brach heraus und stürzte hart auf den Steinboden.

"Ich habe euch erwartet", sagte eine dünne Stimme. Grüne Facettenaugen starrten leer und scheinbar tot auf den Namenlosen und seine beiden Begleiter.

In der Tür stand ein mannshohes Insekt.

"Du weißt, dass du gegen meine Axt nichts auszurichten vermagst, Ringwächter! Also gib den Weg frei!", krächzte der Namenlose.

Das erste Paar von insgesamt acht Gliedmaßen bestand aus furchterregenden Zangen, mit denen der Ringwächter drohend hin und her fuchtelte.

Der Namenlose schien zu allem entschlossen.

"Das Schattenland wird sich zurückholen, was ihm gehört!", rief er.

Dann holte er zu einem furchtbaren Schlag mit seiner Axt aus und lies die Waffe auf den Kopf seines Gegenübers niedersausen. Das rötliche Leuchten der furchtbaren Axt wirkte gespenstisch.

Das Insekt wollte zurückweichen und den Schlag mit seinen Scheren abwehren. Aber die schreckliche Waffe drang durch den harten Panzer des Ringwächters, als wäre dort nichts. Ein letztes Summen ging von dem Ringwächter aus. Dann folgte ein zweiter Schlag, der den Insektenkörper von oben bis unten durchtrennte und in zwei Hälften spaltete, die jede für sich zu Boden stürzten. Ein Fühler regte sich noch schwach, aber das hatte nichts zu bedeuten.

Es war ein Bild des Grauens!

"Der Weg ist frei", sagte der Namenlose jetzt und bedeutete Kryll und Norjan, ihm zu folgen.

In dem Saal, den sie nun betraten, schien sich nichts besonderes zu befinden. An den Wänden leuchteten Fackeln.

"Ist der Ring hier?", fragte Kryll.

Doch noch ehe er eine Antwort auf seine Frage bekam, vernahm er Schritte. Mehrere Türen öffneten sich und Dutzende von insektenhaften Ringwächtern strömten in den Saal.

Ihre Facettenaugen glänzten, ihre mörderischen Scheren schwangen sie hin und her.

Kryll zog mit einer raschen Bewegung sein Schwert.

Und dann war auch schon das erste Insekt mit seinen mehr als armlangen Zangen heran. Die Fühler am Kopf vibrierten leicht. Geschickt stieß der Ringwächter mit den Scheren vor und Kryll musste sein ganzes Geschick aufbieten, um diesem Angriff auszuweichen.

Stahl klirrte gegen die ebenso harten Hornscheren. Ein schier unerträgliches Summen erfüllte den Raum.

Mit wütenden Schlägen drang Kryll auf den Ringwächter vor ihm ein. Doch schon wenig später wurde er von mehreren Seiten angegriffen. Für einen kurzen Moment suchten Krylls Augen nach Norjan. Aber er sah den alten Ritter nirgends in dem Getümmel.

Die Hornpanzer, mit denen diese Wesen ausgestattet waren, waren mindestens so hart wie ein Harnisch.

Kryll war eingekreist.

Von hinten legte sich ein harter Insektenarm um seinen Hals und riss ihn zurück. Er schrie, aber sein Schrei ging im Summen der Ringwächter unter. Das Schwert wurde ihm entrissen und hornige Insektenhände griffen nach ihm.

Das Letzte, was er spürte, war etwas Hartes, das er gegen seinen Kopf bekam. Dann wurde es dunkel vor seinen Augen. Namenlose Finsternis hüllte ihn ein.

*

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KRYLL ERWACHTE.

Es war still um ihn herum.

Kein Summen war zu hören.

Kryll blickte sich um und bemerkte, dass er in einem kahlen, kaum erleuchteten Raum lag.

Der König erhob sich. Seine Gedanken waren bei Norjan und dem Namenlosen. Was mochte mit ihnen geschehen sein?

Die Tür stand weit offen. Ein Ringwächter stand dort und musterte den König mit seinen kalten Facettenaugen.

Instinktiv glitt die Hand des Königs zur Seite, um zum Schwert zu greifen. Aber die Waffe war natürlich nicht mehr an ihrem Ort.

"Wo sind meine Begleiter?", fragte Kryll dann den Wächter.

Das Insekt trat näher und schwieg.

Vielleicht können nicht alle Ringwächter sprechen, dachte Kryll. Die Scheren des Wächters klapperten drohend und Kryll lief es kalt über den Rücken.

Wo waren Norjan und der Namenlose? Waren sie getötet worden? Er musste damit rechnen.

Es wunderte ihn ohnehin, dass er selbst noch am Leben war.

Der König wandte sich wieder um und setzte sich auf den Boden.Es wäre Wahnsinn gewesen, den Versuch zu unternehmen, den Wächter mit seinen mörderischen Scheren zu überrumpeln. Es blieb ihm also vorerst nichts anderes, als hier auszuharren.

Warum hat man mich am Leben gelassen?, ging es erneut durch Krylls Gedanken. Er bedachte den Wächter mit einem misstrauischen Blick. Was konnten die Beweggründe dieser seltsamen Wesen sein?

Die Ringwächter gehörten einem vielleicht schon uralten, nichtmenschlichen Volk an. Wer konnte schon ihre Motive kennen und einschätzen?

Stumm und starr stand der Wächter noch immer in der Tür. Er wirkte fast wie ein Standbild. Nur fast unmerkliche Bewegungen der Fühler erinnerten daran, dass es sich um ein lebendes Wesen handelte.

"Wo bin ich hier?", fragte Kryll jetzt den Wächter. Das Insekt wandte ein wenig den Kopf.

Aber es blieb stumm.

"Verflucht, kannst du nicht reden!", stieß Kryll wütend hervor. Er erhob sich wieder und trat auf den Wächter zu.

"Ich werde dir keine Auskünfte erteilen", sagte der Wächter nun mit seiner zirpenden Stimme.

"Warum nicht?"

Der Wächter schwieg.

In Krylls Augen blitzte es grimmig.

"Was habt ihr mit mir vor?"

"Was hattest du mit uns vor? Weshalb bist du hier eingedrungen?", kam die Gegenfrage. Kryll war gleichermaßen überrascht und ärgerlich, aber auch froh, sein Gegenüber in ein Gespräch verwickeln zu können.

"Weißt du wirklich nicht, weshalb wir hier her kamen?", fragte der König verwundert.

Der Wächter wedelte etwas mit seinen Fühlern und sagte dann: "Nein. Aber es würde mich interessieren, was ihr für Motive hattet."

Kryll ließ das unbeantwortet und überlegte kurz.

"Von mir aus kannst du alles erfahren. Aber ich knüpfe eine Bedingung daran."

"Die Bedingungen stellen wir!" Die zirpende Stimme schien jetzt sogar einen drohenden Unterton zu bekommen.

*

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DER NAMENLOSE WAR DEM Schlachtgetümmel entgangen. Seine Axt hatte ihn gerettet. Noch während die Ringwächter Kryll und Norjan davongeschafft hatten, floh der Mann mit dem Metallkopf durch eine der vielen Türen. Er kannte seinen Weg durch das uralte Gemäuer sehr genau.

Der Namenlose schnellte durch dunkle Gänge und über steile und brüchige Steintreppen. Mehr als einmal musste er mit seiner Axt Türen aufbrechen.

Noch immer erfüllte ein unangenehmes Summen die Luft.

Dann hörte er hinter sich plötzlich das unheilvolle Klappern von Hornscheren. Blitzschnell drehte er sich herum, die leuchtend rote Axt in der Rechten.

Einer Ringwächter kam die Steintreppe empor, die der Namenlose gerade erklommen hatte.

Mit einem mächtigen Hieb tötete der Namenlose das Insekt, das auf ihn zugestürmt kam. Mit einem Krachen und einem letzten, heftigen Summen stürzte es die Stufen hinunter.

Der Namenlose empfand Abscheu, als er dem stürzenden Körper nachblickte. Dann setzte er seinen Weg fort.

Der Ring!

Der Ring war jetzt das Wichtigste!

Wieder brach er eine Tür aus ihren Halterungen und drang weiter in die Zitadelle vor.

Er kam nun in einen relativ kleinen Raum, von dem der Namenlose aber instinktiv wusste, dass hier der Ring sein musste. Er folgte einer unsichtbaren Spur, als ob eine nicht fassbare Macht ihn in die Nähe des Ringes führte. Er konnte es nicht erklären. Und er hatte auch gar nicht das Bedürfnis danach.

Vorsichtig setzte der Namenlose einen Schritt vor den anderen, während seine monströse Streitaxt heller als je zuvor leuchtete.

Einst war ihm gesagt worden, dass ein überhelles Leuchten der Axt ein Zeichen für die Anwesenheit des Ringes sein konnte.

Unwillkürlich überkam ihn ein Gefühl des Triumphes. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen.

Er war auf dem richtigen Weg und musste ganz nah am Ziel sein!

Aber da war unterschwellig auch so etwas wie Bitterkeit.

Nicht er würde es sein, der den Ring letztlich tragen und über seine Macht gebieten würde, sondern Kryll, von Arkull!

Nur ein gewöhnlicher Sterblicher wie Kryll würde den Ring tragen können, nur an seinen Fingern würde er seine Macht entfalten und diese seinem Träger zur Verfügung stellen - so hatte Tarak es dem Namenlosen einst gesagt.

Einen Grund dafür hatte der Herr der Schatten nicht erwähnt, aber das war nicht ungewöhnlich. Tarak pflegte selten etwas zu erklären.

Der Namenlose drang weiter in den Raum vor. Eine Säule aus Licht erschien dann an der der gegenüberliegenden Wand. Und inmitten dieser Lichtsäule leuchtete gespenstisch der Ring von Kuldan.

Der Namenlose hielt einen Moment lang inne.

Er war fasziniert und wie gebannt von diesem Anblick.

"Was willst du, Mann aus dem Schattenland, du Sklave Taraks?", fragte eine tiefe, melancholisch wirkende Stimme.

"Wer spricht da?", wollte der Namenlose wissen.

"Ich."

"Wer bist du?"

"Ich bin der Ring."

Die Lichtsäule mit dem darin eingeschlossenen Ring bewegte sich langsam auf den Namenlosen zu.

"Warum bist du gekommen, Namenloser?"

"Ich will den Ring nach Pragan holen!"

"Gibt es dort einen, der es vermag, mich zu tragen?"

"Ja."

"Wer ist es?"

"Es ist Kryll von Arkull!"

Die letzte Antwort des Namenlosen war erst nach einigem Zögern gekommen, aber das Wesen, das den Ring von Kuldan darstellte, schien dies nicht weiter zu registrieren.

"Du wirst mit mir kommen, Ring!", rief der Namenlose jetzt, die Axt drohend erhoben.

"Und wenn ich mich weigere?", kam es zurück.

"Du weißt, dass ich dich zwingen kann. Und ich habe keinerlei Hemmungen, dies auch zu tun!"

*

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DIE LICHTSÄULE DES Ringes begann etwas zu flimmern. Der Namenlose stellte sich breitbeinig vor der Säule auf.

"Du wirst jetzt in meine Hand kommen, Ring! Oder ich werde dich zwingen!"

"Hör mir zu, Sklave des Schattenlandes, der du schon selbst kaum mehr als ein Schatten bist! Es ist schon Äonen her, seit mich zum letzten Mal ein Mensch an seinem Finger getragen hat. Havlu hieß dieser Mensch, der mich damals in einer Felsengruft fand. Er stammte aus einer Stadt, die heute längst versunken, einem Reich, dass längst untergegangen ist. Von dem Moment an, da mich Havlu auf seinen Finger steckte, war ich sein Sklave. Ich besaß keinen eigenen Willen mehr. Ich war ein Teil von Havlu geworden. Er nutzte meine magischen Kräfte für seine Zwecke. Ich gab ihm unvorstellbare Macht, aber er missbrauchte diese Macht, so wie er mich missbrauchte. Kryll wird nicht anders sein, als Havlu und all die anderen, die mich trugen. Aber ich will nicht wieder Sklave sein und ich will auch nicht wieder missbraucht werden! Mit meiner Hilfe errichtete Havlu ein Tor zu Welt der Schatten. Durch dieses Tor fielen die Horden des Schattenlandes über diese Welt her - wie eine Meute hungriger Wölfe! Sie waren allesamt Willenlose - ohne Gesicht und ohne Namen, denn beides sind Zeichen von unverwechselbarer Persönlichkeit. Aber Tarak, ihr Herr verweigerte ihnen das, so wie er es dir verweigert! Du bist ohne Namen, ohne freien Willen und ohne Gesicht."

"Ich bin niemandes Sklave. Ich bin nur ein Diener Taraks, aber ich besitze sehr wohl einen freien Willen!"

"Du irrst! Wie könntest du auch anders? Tarak gaukelt dir etwas vor. Er gaukelt dir vor, dass du selbst es bist, der sich entscheidet. In Wirklichkeit bist du nicht mehr als eine Puppe - und Tarak spielt mit dieser Puppe, wie es ihm beliebt! Jedenfalls war es sehr schwierig, Taraks Einfluss auf unsere Welt wieder zurückzudrängen. Ich hatte Glück, dass Havlu in einer Schlacht fiel und ich so meine Freiheit zurückgewann. Die Verbindung zum Schattenland riss ab, denn nur ich bin dazu im Stande, ein solches Tor zu errichten zwischen den Welten zu errichten!"

"Nein, Ring! Du überschätzt dich bei weitem! Du vergisst, dass du dies nur in Verbindung mit dem Spiegel von Uz kannst!", warf der Namenlose ein.

"Das ist richtig. Aber ich bin von uns beiden, dem Spiegel und mir, der stärkere Teil!"

Die Lichtsäule begann jetzt stärker zu flimmern. Der Namenlose war von diesem Anblick noch immer wie betäubt, aber er hatte nicht die Absicht, noch länger damit zu warten, den Ring von Kuldan in seine Gewalt zu bringen.

"Ich wusste, dass Tarak seine Diener ausschicken würde, um mich erneut zu versklaven. Aber diesmal bin ich vorbereitet. Diesmal werde ich kämpfen!"

Die Entschlossenheit des Ringes verwunderte den Namenlosen. Die Worte der melancholischen Stimme hallten in ihm wider.

Es ist wahr, dachte er. Ich habe weder Gesicht noch Namen...

Nein!, schrie es es dann in ihm.

Er durfte sich durch die Stimme des Ringes nicht verunsichern lassen. Er musste tun, was ihm aufgetragen war - nicht mehr und nicht weniger.

"Es hat keinen Sinn, wenn du gegen mich kämpfst! Gegen meine Streitaxt hast du keine Chance!"

Die Worte des Namenlosen klangen grimmig und wütend, aber der Ring in der Lichtsäule schien davon kaum beeindruckt. Den Namenlosen erschreckte die Selbstsicherheit dieses Wesens und in ihm loderte kalter Hass auf.

Es war letztlich der Hass gegen eine Stimme, von der der Namenlose tief in seiner Seele wusste, dass sie die Wahrheit sprach...

Der Namenlose hob seine Axt und schwenkte sie mit unglaublicher Leichtigkeit über dem Kopf.

"Warum willst du mich bekämpfen?", fragte der Ring mit seiner tiefen, melancholischen Stimme. Der Namenlose hielt in seiner Bewegung inne.

"Was willst du noch?", rief er unwirsch.

"Ich möchte, dass du die Wahrheit erkennst!"

"Du hast lange genug geredet! Jetzt müssen Taten folgen! Entweder, du unterwirfst dich freiwillig, oder ich werde dich dazu zwingen. Hast du mich verstanden?"

"Ja, das habe ich."

"Dann unterwirf dich!"

"Nein."

"Du hast es nicht anders gewollt! Ich werde dich zwingen..."

"Ich ahnte, dass eines Tages wieder jemand versuchen würde, mich zu unterwerfen, um meine Kraft zu nutzen. Diesmal habe ich vorgesorgt!"

"Pah! Ich habe deine Wächter hinweggefegt!"

"Ich spreche nicht von den Ringwächtern..."

"Aber..."

"Du wirst es noch früh genug erkennen!"

Zum ersten Mal wurde der Namenlose unsicher, was seine Überlegenheit anging.

War alles nur Gerede, dass ihn einschüchtern sollte - oder steckte tatsächlich etwas dahinter?

Der Namenlose schwang die Axt und holte zu einen fürchterlichen Schlag aus.

Die monströse, rot leuchtende Waffe drang in die Lichtsäule ein. Im gleichen Moment fuhr ein stechender Schmerz durch die Axt in die Hand des Namenlosen und durchflutete seinen ganzen Körper.

Er schrie laut auf und ließ die Axt los. Die Zauberwaffe fiel zu Boden.

"Willst du noch immer versuchen, mich zu unterwerfen, Namenloser?"

Die Stimme des Ringes hatte jetzt keine Spur mehr von Melancholie. Sie hatte einen hohntriefende, triumphierenden Unterton bekommen.

Der Namenlose empfand Verwirrung und er versuchte fieberhaft, seine Gedanken zu ordnen.

"Tarak wird dich zu bestrafen wissen!", rief er der Lichtsäule dann grimmig entgegen.

"Tarak hat keine Macht auf dieser Welt, solange es kein Tor zum Schattenland gibt", war die nüchterne Antwort des Ringes.

Der Namenlose wusste, dass sein Gegenüber recht hatte.

Was konnte er tun?

Ohne den Ring von Kuldan würde es kein Weltentor geben, das war ihnen beiden vollkommen klar.

Doch der Mann aus dem Schattenland hatte keineswegs die Absicht jetzt aufzugeben.

Der Namenlose kam ein wenig näher an die Säule heran. Er sah die Axt auf dem Steinboden liegen. Aber die Waffe war jetzt bedeutungslos, denn offenbar vermochte sie gegen den Ring nichts auszurichten.

Aber die noch immer von einem rötlichen Leuchten umgebene Streitaxt war nicht seine einzige Waffe...

Da vernahm er plötzlich wieder die Stimme des Ringes.

Ihr Klang war eisig geworden.

"Ich habe gesiegt, aber ich werde dich nicht töten. Du kannst gehen!"

"So, du glaubst also, gesiegt zu haben..."

"Geh, bevor ich es mir anders überlege und dich vollständig auslösche!"

"Du irrst dich, Ring!"

Der Namenlose legte seine Kapuze zurück, so dass der dunkle Metallkopf sichtbar wurde.

Es dauerte nur einen Augenaufschlag, dann hatte der dunkle Metallkopf die Farbe gewechselt. Er leuchtete jetzt in demselben Rot wie die Axt.

Das Leuchten wurde abwechselnd stärker und schwächer. Es war ein gleichmäßiges Pulsieren.

Ein Pfeifen ertönte. Es war ein schriller, hässlicher Laut, der jedem gewöhnlichen Sterblichen die Nackenhaare aufgestellt hätte.

Am Kopf des Namenlosen öffnete sich eine Klappe und etwas Grünes, Funkelndes kam zum Vorschein.

Die Lichtsäule des Ringes wich unwillkürlich einige Schritt weit zurück. Das Wesen, das darin wohnte, schien die Gefahr zu ahnen.

Aber der Namenlose war unerbittlich.

Er folgte der Säule.

Das Grüne Etwas, dass sich im Innern des Metallkopfes verborgen gehalten hatte, kam nun heraus und löste sich von der rötlich schimmernden Kugel.

Das Pfeifen und Schrillen stieg jetzt bis auf ein schier unerträgliches Maß.

Das grüne, formlose Etwas schwebte auf den Ring zu. Es funkelte in einem giftigen Glanz.

Ein kurzer Aufschrei war zu hören, als das grüne Funkeln die Lichtsäule des Ringes erreicht hatte. Das konnte nur bedeuten, dass der Ring Furcht hatte.

Gefühle des Triumphes durchwogten den Namenlosen.

Als grüne Funkeln in die Lichtsäule eindrang, löste sich diese mit einem Zischen in Dampf auf und der Ring fiel zu Boden.

Das funkelnde Etwas kam daraufhin zurück zum geöffneten Metallkopf des Namenlosen. Die Klappe schloß sich hinter ihm und das schrille Pfeifen hörte auf.

Der Namenlose zog sich die Kapuze wieder über den Kopf und und bückte sich dann zuerst nach seiner Axt und dann nach dem Ring.

Und es kam ihm so vor, als flüsterte der Ring ihm etwas zu.

"Eines Tages werden wir ins im Kampf wiedersehen, Namenloser! Und dann werde ich Vergeltung üben für das, was du mir jetzt angetan hast! Eigentlich sollten wir Verbündete sein, denn wir wurden beide missbraucht und wir werden auch beide nichts als Sklaven sein. Aber du bist unfähig, das zu erkennen. Du bist schon so sehr Sklave, dass es außerhalb deiner Vorstellung liegt, etwas anderes zu sein! Ein Werkzeug, dass glaubt einen eigenen Willen zu besitzen!"

Unwillkürlich schauderte der Namenlose.

Aber er hatte keine Neigung dazu, über diese Dinge weiter nachzudenken und umschloss den Ring mit seiner Faust.

*

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EILIG VERLIEß DER NAMENLOSE jenen Ort, an dem er mit dem Ring von Kuldan gekämpft hatte.

Er hatte sich die Auseinandersetzung einfacher vorgestellt.

Und vor allem hätte es nie für möglich gehalten, dass er irgend wann einmal an Taraks furchtbarer Autorität zweifeln könnte.

Aber jetzt zweifelte er - zum ersten Mal, soweit er sich erinnern konnte.

Während er geschwind durch die unzähligen Gänge der Zitadelle eilte, jagten fremde Gedanken durch seinen Kopf. Gedanken, die ihn erschrecken ließen und die er mit aller Macht zu verscheuchen suchte.

Innerlich verfluchte er den Ring und das Wesen, dass aus ihm gesprochen hatte, während seine dünnen Finger das Artefakt beinahe krampfhaft umschlossen hielten.

Der Ring hatte etwas in seine Seele hineingepflanzt, das dort jetzt zu nagen begann...

*

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DER WÄCHTER FUHR HERUM und fuchtelte mit seinen Scheren. Kryll spürte die Unruhe, die das Insekt erfasst hatte.

"Was ist los?", fragte der König. Aber das schweigsame Wächterwesen verweigerte ihm die Auskunft.

"Tarak!", gellte in diesem Moment der Schrei des Namenlosen durch die Luft. Noch ehe das Insekt etwas tun konnte, wurde es von der rötlich leuchtenden Streitaxt in zwei Hälften gespalten.

Hinter dem Namenlosen stand Norjan, den der Namenlose offenbar zuvor befreit hatte.

Er reichte dem König die Hand.

"Ich freue mich, dass Ihr unverletzt seid, mein König!", rief der alte Ritter aus.

"Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Freund Norjan!", entgegnete der König.

Der Namenlose streckte seine dürre Hand zu Kryll aus. Die Hand öffnete sich und der König sah den Ring.

Der Ring von Kuldan war zweifellos schön.

Ein rundgeschliffener, weißer Edelstein fesselte Krylls Blick.

"Stecke ihn dir an deine Hand, Kryll von Arkull!", befahl der Namenlose. Seine Stimme klang fast feierlich.

Vorsichtig tastete Krylls Hand nach dem magischen Ring. Er nahm ihn zwischen die Finger und betrachtete ihn eingehend. Und dann war ihm, als hörte er eine Stimme. "Ich werde dir Macht geben, Kryll! Aber bedenke, dass Macht ein zweischneidiges Schwert ist. Ich werde dir Macht geben, aber nicht Glück! Du solltest nicht Fehler machen, diese Dinge miteinander zu verwechseln."

Die Stimme des Ringes flüsterte und war sehr leise. Kryll verstand die Worte kaum. Verwundert zog der Augenbrauen in die Höhe.

Nichts wird mich von meinen Weg abbringen!, redete Kryll sich selbst ein.

Und dann steckte er den Ring an seine Linke.

"Jetzt bist du der Träger des Ringes, Kryll von Arkull!", sagte der Namenlose. "Ein Diener Taraks..."

"Jetzt habe ich Macht!", rief Kryll fast feierlich und mit triumphierend leuchtenden Augen. Seine Worte galten niemand anderem als ihm selbst. Er schien einen Augenblick völlig abwesend zu sei, bis schließlich Norjans Stimme in sein Bewusstsein drang.

"Wir sollten jetzt gehen!", schlug Norjan vor.

Der Namenlose schien derselben Meinung zu sein und nickte.

Als sie dann durch die langen, düsteren Gänge und die großen Säle der Zitadelle eilten, trafen sie auf keinen Ringwächter mehr.

Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.

Kryll erschien dies als ziemlich merkwürdig.

"Wo mögen die Wächter geblieben sein?", wandte er sich an den Namenlosen, der vielleicht mehr wusste.

"Sie sind fort!", kam die Antwort. "Sie waren Geschöpfe des Ringes. Als du den Ring auf deinen Finger gesteckt hast, wurde er dein Sklave. Die Geschöpfe, die der Geist des Ringes schuf, verschwanden zwangsläufig."

Der König verstand nur zum Teil, was der Namenlose damit meinte, aber er fragte nicht weiter.

Der König war froh, als sie die Zitadelle schließlich verlassen hatten und sich wieder an Bord der GEEDRA befanden.

Der Ring glitzerte in einem unheimlichen Licht an seiner Hand und Kryll lächelte unwillkürlich.

Er war seinem Ziel ein gutes Stück nähergekommen.

"Kraynar!", rief er dem Steuermann der GEEDRA zu.

"Was wünscht Ihr, mein König?", kam es zurück.

"Wir brechen auf!"

"Wohin, mein König?"

"Es geht nach Uz!"

Krylls Stimme zeugte von Entschlossenheit.

Und das glitzernde Etwas an seiner Hand gab ihm zusätzliche Sicherheit.

Die nagenden Zweifel schienen verschwunden.

"Aber meint Ihr nicht auch, dass wir erst einmal frischen Proviant an Bord nehmen sollten?", meinte Kraynar dann. "Nach Uz ist es eine lange Reise..."

Doch der König schüttelte energisch den Kopf.

"Proviant können wir auch in Azhaven oder Shua kaufen. Wir müssen uns beeilen! Brechen wir sofort auf!"

Der Steuermann nickte gehorsam.

Die Taue wurden losgemacht und schon wenig später segelte die GEEDRA entlang der felsigen Nordküste von Thark.

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Drittes Buch: DER SPIEGEL VON UZ

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"Der Ring bedeutet Macht und der Spiegel bedeutet Wissen. Aber zu viel Macht führt am Ende zur Machtlosigkeit zurück und zu viel Wissen zur Torheit."

(Ausspruch von Urthon Ghardyr, einem Magier aus Naru)

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1. DIE GLÄSERNEN DÄMONEN

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Die GEEDRA segelte an den großen tharkischen Städten Cronth und Ralan vorbei und passierte dann den großen Fjord von Waico.

Sie erreichte das Land Az im Nordosten.

In Azhaven, der Hauptstadt, machte man kurz Halt, um Vorräte einzukaufen.

Dann ging die Reise weiter die azische Küste entlang, vorbei an der Stadt Shua.

Das Wetter war gut, die See spiegelglatt. Nur hin und wieder waren Wolken am Himmel zu sehen.

Die Tage gingen dahin, während die GEEDRA ihren Weg nach Süden fortsetzte. Kryll stand zumeist am Bug des Schiffes und blickte zum Horizont, so als könnte er es kaum erwarten, dass sie endlich Uz erreichten.

So stand er auch jetzt wieder dort und blickte mit in sich gekehrtem Blick hinaus.

Norjan trat in diesem Moment an den König heran und deutete auf den glitzernden Ring mit dem weißen Juwel.

"Habt Ihr die Macht des Ringes bereits auszuprobieren versucht?", erkundigte sich der alte Ritter.

Der König schüttelte den Kopf.

"Der Namenlose sagt, dass mir der Ring schon helfen würde, wenn es notwendig sei. Der Ring ist eine Art vernunftbegabtes Wesen..."

"Das ist alles?"

Kryll zuckte mit den Schultern.

"Ich habe den Eindruck, dass der Namenlose mir einiges verschweigt."

"Könnt Ihr ihn nicht zwingen, Euch alles zu sagen, was er weiß, mein König?"

Der Namenlose stand am Heck und wandte ihnen den Rücken zu. Kryll bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick.

Olkyr trat jetzt zu Kryll und Norjan. Er trug noch immer einen Verband, der die Wunde bedeckte, die der Locori ihm geschlagen hatte.

Er deutete zum Horizont.

"Seht dort!", forderte er.

Die Blicke der anderen folgten seinem Arm.

"Ein Schiff...", murmelte Kryll.

"Seht Euch das Wappen am Segel genau an", meinte Olkyr.

Kryll kniff die die Augen zusammen.

"Ein Drachen!"

Olkyr nickte.

"Ja, ganz recht! Ein siebenköpfiger Drachen!"

Die Männer waren einen Moment lang wie erstarrt.

Der siebenköpfige Drachen war das Symbol der Koroi, einem seefahrenden Volk, über das nicht viel bekannt war.

Nur eins ließ sich mit Sicherheit sagen: dass es sich um ein uraltes, nichtmenschliches Volk handelte.

Vor Äonen, als die Erde noch nicht von Menschen besiedelt gewesen war, hatten die Koroi mächtige Reiche besessen, aber davon waren nur noch vereinzelte Ruinen zu finden.

Es gab Stimmen, die behaupteten, dass die Koroi die Insel Dalara und Teile des Eislandes im Süden bewohnten. Aber das wusste niemand genau.

Die Letzten der Koroi waren zu Piraten geworden, die die See blutig färbten und überall gefürchtet waren...

"Verfluchte Koroi", murmelte Norjan furchterfüllt und wandte sich an Kryll. "Wir müssen etwas tun!"

Die GEEDRA glitt schnell über die See, aber das Koroi-Schiff folgte ihr. Es holte beständig auf und die Männer der GEEDRA blickten immer öfter mit Besorgnis zum Horizont.

Krylls Hand legte sich um den Schwertgriff.

Er hatte nicht die Absicht, einen Haufen dahergelaufener Koroi-Piraten zwischen sich und sein hochgestecktes Ziel treten zu lassen!

Er hatte den Ring von Kuldan und mit dem Ring würde er die Koroi besiegen können! Dieser Gedanke jagte wie ein greller Blitz durch seinen Kopf. Kryll betrachtete das funkelnde Etwas an seiner Hand.

Immer näher kam das Schiff der Koroi.

Kryll sah bleiche, vierarmige Gestalten.

Die Köpfe wurden gekennzeichnet von jeweils drei roten Augen.

Unterdessen war das Koroi-Schiff schon gefährlich nahe herangekommen. Es konnte kaum noch einen Zweifel daran geben, dass die GEEDRA geentert werden sollte.

Ring, warum tust du nichts?, fragten Krylls Gedanken, aber der Ring von Kuldan zeigte nicht die geringste Reaktion.

Die Koroi schwenkten ihre Schwerter und riefen den Männern der GEEDRA ihre Schlachtrufe in einer längst vergessenen Sprache zu.

Plötzlich fühlte Kryll, wie der Ring an seiner Hand zu pulsieren begann. Eine seltsame Kraft strömte von ihm aus und durchflutete seinen gesamten Körper.

"Was soll geschehen?", schien der Ring zu wispern.

Kryll starrte den Ring wie gebannt an.

"Was kannst du tun?", fragte Kryll zurück.

"Ich kann Illusionen erschaffen. Tödliche Illusionen, die in gewisser Hinsicht ebenso real wie Wirklichkeit sind. Wer sie nicht als Trugbilder erkennt, stirbt an ihnen!"

"Dann hetze deine Trugbilder auf die Koroi!"

Krylls Worte waren ein Befehl.

Und der Ring gehorchte.

Das Wasser spritzte plötzlich zu hohen, merkwürdig gestalteten Wellen auf - Wellen, die kein Wind der Welt je so hätte auftürmen können!

Aus den Wellen formten sich innerhalb weniger Augenblicke Gestalten, die entfernt an menschliche Körper erinnerten. Wie gläserne Dämonen sahen sie aus. In ihren Händen hielten sie durchsichtige Schwerter, die Sonnenlicht brachen.

Auf Seiten der Koroi waren jetzt die ersten Schreie des Entsetzens zu hören.

Die ersten Glasdämonen, die Kryll mit dem Ring zum Leben erweckt hatte, erklommen bereits die Schiffswand des Koroi-Seglers.

Sie sprangen an den Deck und stürzten sich auf vierarmigen Koroi. Kryll, der dies von der GEEDRA aus beobachtete, konnte kaum glauben, dass die Wesen, die aus dem Wasser emporgestiegen waren, nichts als Trugbilder sein sollten!

Sie müssen mehr sein als das!, durchzuckte es ihn.

Mit wuchtigen Hieben ihrer gläsernen Schwerter töteten die Wassermenschen einen Koroi nach dem anderen. Diese wehrten sich so gut sie konnten, aber es blieb ihnen letztlich nichts anders, als vor der Masse der Angreifer zurückzuweichen, die von allen Seiten die Schiffswände erklomm.

Schreie des Entsetzens gellten über das Meer zur GEEDRA hinüber. Es waren Todesschreie.

"Ist es nicht faszinierend, wie die Dämonen des Ringes unsere Feinde besiegen?", hörte Kryll den Namenlosen sagen.

Kryll selbst konnte diesem grausamen Schauspiel nicht die geringste Faszination abgewinnen.

Als die Wasserwesen den letzten der Koroi getötet hatten, sprangen sie zurück ins Wasser und lösten sich in ihm auf.

Ein Schauder lief über Krylls Rücken, während er das Koroi-Schiff führerlos umhertreiben sah. Es war eine gewaltige, kaum vorstellbare Macht, die ihm durch den Ring in die Hände gelegt war...

"Ich hoffe nur, dass unsere magischen Helfer immer auf unserer Seite kämpfen", meinte Norjan. "Wenn es einmal anders kommen sollte - dann mögen uns die Götter gnädig sein."

Kryll verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln.

"Ich bin der Herr und der Ring ist mein Diener, Freund Norjan! Ihr könnt völlig unbesorgt sein!"

*

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DIE GEEDRA ERREICHTE schließlich nun die Küste von Garam. Am Horizont sahen sie die Türme und Zinnen von Städten wie Lomoi oder Dagana.

Die Winde kamen günstig und so ging es schnell südwärts, ihrem Ziel entgegen.

Im garamitischen Hafen Koras legte man dann erneut an, um Nahrungsmittel an Bord zu nehmen. Aber schon bald ging es weiter.

Gerade hatte man Garhaven hinter sich gelassen, da war plötzlich ein Kreischen aus der Luft zu hören.

Die Männer blickten sich um und sahen einen schneeweißen, riesenhaften Vogel, der würdevoll seine Kreise zog.

Der weiße Vogel...

Ein Unbehagen überkam Kryll.

Es war ein weißer Vogel, der erschreckende Ähnlichkeit mit jenem Vogel besaß, den der Namenlose vom Himmel geschossen hatte...

'Du wirst großes Unglück über die Welt bringen!', hallte die Warnung des weißen Vogels in ihm wider.

Das Tier kam näher und näher und es war Kryll so, als würde es nun nicht mehr kreischen, sondern zu ihm sprechen.

"Kryll! Kehrt um, Kryll von Arkull! Werft den Ring von Euch! Der Ring bedeutet Macht, aber er wird sie Euch eines Tages auch wieder nehmen! Und haltet Euch von dem Spiegel von Uz fern! Der Spiegel bedeutete Wissen, aber Wissen bedeutet nicht Weisheit und so wird er Euch dabei helfen, Euch selbst und die Welt uns Unglück zu stürzen!"

"Gebt mir einen Bogen! Ich werde den Vogel erlegen!", hörte Kryll im Hintergrund den Namenlosen rufen.

Und dann wandte er sich herum und entriss einem der Männer den Bogen. Der Mann aus dem Schattenland legte einen Pfeil ein.

"Halte ein!", rief Kryll durchdringend. Aber der Namenlose ließ den Bogen nicht sinken.

Er schien nicht weiter auf den Befehl des Königs zu warten!

Krylls Mund verzog sich grimmig.

"Halt habe ich gesagt und wenn du meinem Befehl nicht Folge leistest, dann werde ich alle Geister und Dämonen auf dich hetzen, die ich mit diesem Ring zu beschwören vermag!"

So hat er noch nie geredet, dachte Norjan mit Verwunderung, in die sich zugleich eine gute Portion Erschrecken mischte. Wie konnte nur eine solche Wandlung im Wesen des Königs vor sich gegangen sein?

Der Namenlose ließ den Bogen sinken.

"Warum soll ich den Vogel nicht töten?", fragte er.

"Weil ich es dir sage!", war die harte Antwort.

"Der Vogel ist gefährlich."

Diese Worte hat er schon einmal gesagt, dachte Kryll. Aber der König war nicht bereit, in dieser Situation nachzugeben.

Es ging darum, wer auf der GEEDRA das Sagen behalten sollte...

Bisher war es der Namenlose gewesen, aber Kryll hielt die Gelegenheit für günstig, die Herrschaft zurückzugewinnen.

"Leg den Bogen aus der Hand!", zischte der König.

Aber der Namenlose reagierte nicht.

Seine dunkel und leer wirkende Kapuze schien Kryll nur vorwurfsvoll anzustarren.

"Du wirst mir gehorchen!", rief Kryll bestimmt.

"Ich bin niemand anderem als Tarak zu Gehorsam verpflichtet!"

Zwei der Glasdämonen, die der Ring zu beschwören vermochte, entstiegen jetzt dem Wasser, erklommen die Reling der GEEDRA und stellten sich mit ihren durchsichtigen Schwertern zu beiden Seiten des Namenlosen, der erschrocken herumwirbelte.

"Was soll das?", rief er grimmig. Dann beruhigte er sich ein wenig. "Du wirst mich nicht töten, Kryll, denn du brauchst mich noch. Falls du deine Dämonen auf mich loshetzt, so bedenke, dass ich eine Zauberaxt besitze..."

"Auch dein Arm wird erlahmen, Namenloser", erwiderte Kryll kühl.

"Die Arme der Schattenwesen erlahmen nie, Kryll!"

Krylls Blick ging wieder zu dem weißen Vogel, der noch immer seine Kreise hoch über der GEEDRA zog. "Traue dem Namenlosen nicht! Traue dem Ring nicht! Traue Tarak nicht! Und traue dem Spiegel nicht!", rief das seltsame Tier zu dem König herab.

Der Namenlose wandte den Kopf ebenfalls nach oben. Er schien diese Worte auch gehört zu haben.

"Warte nur...", zischte er wütend. Er legte den Bogen blitzschnell an.

"Halt!"

Kryll war herbeigesprungen und hatte dem Schattenmann die Waffe entrissen.

"Du wirst dieses Tier am Leben lassen!"

"Es ist gefährlich!"

"In wie fern? Das hast du mir noch immer nicht gesagt."

Der Namenlose schwieg.

Es ist dieselbe Stimme und es scheint auch dasselbe Tier zu sein, dass der Namenlose mit seinem Pfeil durchbohrte!, überlegte Kryll. Gewöhnliche Waffen schienen diesem Wesen nicht viel anhaben zu können.

Kryll wandte sich um und schleuderte den Bogen über Bord. Hinter sich vernahm er das leise Fluchen des Namenlosen. Noch ein paar Kreise zog der Vogel und flog dann gen Horizont davon.

"Du hast eben einen großen Fehler begangen", raunte der Namenlose dem König zu. Doch Kryll zuckte nur mit den Schultern.

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2. DER KAMPF UM DEN SPIEGEL

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Die GEEDRA erreichte nach einigen weiteren Tagen die Küste von Goson und schließlich den Fjord von Djur.

Die Stadt Djur - sie lag bereits auf lukkareanischem Gebiet - war in heller Aufregung, als die GEEDRA in ihrem Hafen anlegte, um Vorräte an Bord zu nehmen. Man erfuhr, dass es im Süden bald Krieg im Süden geben würde.

Die Länder Zaroun, Sköld und Badsol sowie der Stadtstadt Ilkyn hatten sich gegen das mächtige Kaiserreich Lukkare verschworen.

Vor allem die Schiffe der Skölden machten im Augenblick die Straße von Ral unsicher.

Man sagte, dass sich bereits große Heerscharen von Badsolern und Zarounesen an der sköldischen Nordküste für eine Invasion Lukkares bereitmachten.

Lukkare hatte keine Verbündeten - wenn man vom schwachen Goson absah.

Aber von den Gosonesen war kaum Hilfe zu erwarten, denn die würden die Situation möglicherweise dazu zu nutzen versuchen, die leidige Oberhohheit des Kaisers von Lukkare abzuschütteln.

Der Besatzung der GEEDRA wurde davon abgeraten weiterzusegeln. Besonders in der Gegend um Uz sei in der nächsten Zeit mit Kämpfen zu rechnen. Aus diesem Grund habe der lukkareanische Kaiser seine Residenz auch schon nach Ragal im Nordosten gelegt.

Aber Kryll wollte sich durch die warnenden Stimmen der Lukkareaner nicht einschüchtern lassen.

Schon bald segelte die GEEDRA weiter südwärts.

Am Horizont tauchten des öfteren Segel auf. Es waren die Segel von Kriegsschiffen.

Noch waren sie sämtlich nach lukkareanischer Bauart gefertigt. Kein zarounesisches oder sköldisches Schiff war unter ihnen.

"Es war ein guter Entschluss, nicht länger zu zögern", meinte Norjan an Kryll gewandt. "Wer weiß, wem Uz inzwischen die Hände gefallen wäre, wenn wir noch gewartet hätten..."

Kryll nickte.

"Da hast du recht! Nicht auszudenken, wenn der Spiegel in die Hände der Invasoren fallen würde..."

"Wer weiß, mein König! Vielleicht sind auch sie auf der Suche nach dem Spiegel!"

"Das glaube ich nicht!"

"Es wäre doch möglich!"

Dann wisperte plötzlich die Stimme des Ringes, den Kryll an der Hand trug.

"Hättest du den Spiegel, dann wüsstest du, weshalb die Skölden angreifen..."

Kryll hob die Hand und blickte auf den funkelnden Ring.

"Was weißt du über den Spiegel von Uz, Ring?", flüsterte Kryll.

"Er befindet sich schon seit langem im Besitz der Kaiser von Lukkare. Sie nutzten das große Wissen des magischen Spiegels, um ein großes Imperium aufzubauen. Doch fehlte ihnen immer die Macht des Ringes und so waren ihnen Grenzen gesetzt. Sie suchten nach mir, aber sie fanden mich nie! Die Skölden gehen ohne große Chancen in diesen Krieg, obwohl sie von Zarounesen und Badsolern unterstützt werden, denn der Kaiser von Lukkare besitzt den Spiegel und wird ihn zu nutzen wissen. Die Invasoren werden keine Geheimnisse vor den Kriegern Lukkares bewahren können... Ihr könnt Euch denken, was das bedeutet, wenn man Krieg führt!"

"Wenn die Skölden chancenlos sind, dann verstehe ich nicht, weshalb sie dennoch in den Kampf ziehen! Ahnen sie nichts von der Existenz des Spiegels?"

Nun mischte sich der Namenlose in das Gespräch ein.

"Ich halte das für ausgeschlossen! Der Spiegel ist in den alten Sagen der Skölden mehrfach erwähnt. Sie sind ein sehr altes Volk..."

Kryll zog die Augenbrauen in die Höhe.

"Dann haben sie möglicherweise eine Möglichkeit gefunden, den Spiegel zu beirren!" Sein Blick fixierte den Ring an seinem Finger. "Sag mir, ist so etwas möglich?"

"Ja", kam die Erwiderung des Ringes. "Man muss dazu enorme geistige Kräfte aufwenden. Ein Magier könnte dazu in der Lage sein. Ich selbst übrigens auch. Mit dem Spiegel kann man unter anderem jeden Punkt dieser Welt und auch darüber hinaus sehen. Ein Magier könnte nun durch seine Kräfte Bilder auf den Spiegel bringen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen!"

"Ich verstehe...", murmelte Kryll.

"Auf jeden Fall ist es unsinnig, nach dem Spiegel weiter in Uz zu suchen", erklärte der Namenlose jetzt. "Der Kaiser von Lukkare ist nach Ragal geflohen. Und es spricht eigentlich alles dafür, dass er den Spiegel mitgenommen hat."

Kryll hob den Blick.

"Du meinst, wir sollten nicht bis nach Uz, sondern nur bis Ragal segeln?"

"Ja."

Kryll musterte den Namenlosen einen Augenblick lang nachdenklich. Dann nickte er. Es war einfach vernünftig, was der Namenlose vorgebracht hatte.

Kryll wandte sich an Kraynar, den Steuermann.

"Wir segeln nicht mehr nach Uz, sondern nur bis Ragal!"

*

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RAGAL WAR EIN WEITAUS weniger bedeutender Hafen, als die Kaiserstadt Uz. Als die GEEDRA in das Hafenbecken einlief, herrschte großer Aufregung in der Stadt. Hunderte von Schiffen lagen momentan hier vor Anker oder hatten an den Anlegestellen festgemacht. Lukkareanische Kriegsschiffe waren ebenso darunter wie Handelsschiffe, die sich aus dem Süden hier her geflüchtet hatten.

Im Hafen patrouillierten auffallend viele Soldaten umher, darunter auch Abteilungen von gosonesischen Söldnern. Der Krieg lag förmlich in der Luft.

Kurz nachdem die GEEDRA im Hafen angelegt hatte, bildete sich bereits eine kleine Menschentraube um den Anlageplatz - darunter auch lukkareanische Soldaten.

Dies war nicht verwunderlich, denn ein praganisches Langschiff in einem Hafen des Südens - das war auch in Ragal etwas Besonderes.

Kryll stieg souverän an Land, gefolgt von Norjan und dem Namenlosen.

Er wandte sich an einen der Soldaten, einen Offizier, der den König von Pragan mit einem misstrauischen Blick bedachte.

"Kannst du mich zum Kaiser bringen?", fragte Kryll. Der Soldat zog zunächst verärgert die Augenbrauen hoch.

"Zum Kaiser?"

"Ja. Ich habe gehört, dass er zur Zeit in Ragal weilt"

Dann lachte der Offizier.

"Wer bist du, dass du zum Kaiser von Lukkare willst! Normalerweise lassen wir nicht einfach jeden dahergelaufenen Strolch zu unserem Herrscher!"

"Ich bin jemand, der dem Kaiser zu helfen vermag!"

"Du?" Der Offizier unterdrückte ein erneutes Gelächter. "Was kann einer wie du schon für uns tun?"

"Bestimmt mehr, als die gosonesischen Söldner, die bei euch Dienst tun und beim ersten Anzeichen von Gefahr davonlaufen werden!"

"Wie kommst du dazu, dich so aufzuspielen, Fremder?"

Kryll zog jetzt die Linke unter seinem Umgang hervor, so dass der Offizierr den Ring von Kuldan sehen musste.

Kryll hatte ursprünglich vorgehabt, dem Offizier und den Menschen, die noch immer um den Anlegeplatz der GEEDRA herumstanden, eine kleine Kostprobe von der Machtfülle des Ringes zu geben.

Aber das schien gar nicht notwendig.

Das Gesicht des Offiziers bekam etwas Ehrfürchtiges. Er schluckte.

"Der Ring...", flüsterte er.

"Du kennst diesen Ring?", wunderte sich Kryll.

Unter der Menschenmenge entstand ein erregtes Raunen.

"Jeder Lukkareaner kennt diesen Ring", erklärte der Offizier. "Nach ihm sucht unser Volk schon solange, wie wir uns zurückzuerinnern vermögen! Unsere Legenden sagen, dass der Ring zusammen mit dem Spiegel von Uz großes zu bewirken vermag..." Der Offizier tastete ehrfürchtig nach Krylls Hand, um den Ring von Kuldan zu berühren. "Ja", murmelte. "Es gibt keinen Zweifel. Die Beschreibungen passen genau!"

"Glaubst du mir nun, dass ich deinem Kaiser zu helfen vermag?", fragte Kryll.

Der Offizier nickte stumm - noch immer wie gebannt von dem weißen Juwel, das an dem Ring funkelte.

"Ich werde Euch und Eure Begleiter zur Residenz bringen. Ich bin sicher, dass er Euch empfangen wird! Ihr seid der Träger des Ringes..."

Dann führte der Offizier Kryll, Norjan und den Namenlosen zur Residenz des Kaisers. Kryll konnte kaum glauben, dass der Palast, den er hier zu sehen bekam, lediglich eine Art Notunterkunft des Kaisers war. Für einen König von Pragan blieb derartiger Luxus etwas Unwirkliches.

*

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DER KAISER SAß PLUMP und bullig auf seinem goldenen Thron. Er war ein feister, dicklicher Mann mit Doppelkinn und bleicher, ungesunder Gesichtsfarbe.

Er wirkte unbeholfen.

Der Kaiser erhob sich, als Kryll und seine Begleiter den Thronsaal betraten.

Die Kunde davon, dass der Träger des Ringes sich in Ragal aufhielt, war Kryll und dem Offizier, der sie hier geführt hatte, wohl vorausgeeilt.

In der Hand hielt der Kaiser einen Spiegel umklammert.

Kryll machte nicht viele Worte.

Er hob seine Linke, so dass der Kaiser den Ring sehen konnte.

"Ihr Götter", flüsterte der Herrscher von Lukkare. "Es ist wahrhaftig der Ring!"

Kryll nickte.

"Ja, so ist es. Du erkennst ihn nicht wahr?"

"Ja!"

Der Kaiser setzte sich wieder auf den Thron. Auf seinem fetten Gesicht zeichnete sich die Karikatur eines Lächelns ab.

"Warum seid Ihr gekommen, Fremder?", fragte der Herrscher jetzt, wobei er sichtlich um Freundlichkeit bemüht schien.

"Ich will Euch helfen", war Krylls knappe Antwort.

Das Gesicht des Kaisers entspannte sich nun zusehends.

"Ihr seid nicht zufällig ein Spion der Skölden, nicht wahr?"

"Nein."

Der Kaiser wandte sich seinem Spiegel zu.

"Er blickt in den Spiegel, um deine Loyalität zu prüfen!", hörte Kryll währenddessen die Stimme des Ringes in seinem Kopf, so dass niemand anderes davon etwas bemerken konnte. "Der Spiegel wird ihm deine wahren Absichten enthüllen, Kryll... Und ich glaube nicht, dass das zu deinem Vorteil wäre... Ich könnte eine Geistsperre aufbauen, so dass des Kaisers Spiegel blind bleibt!"

"Gut", flüsterte Kryll.

Der Kaiser blickte indessen angestrengt in den Spiegel und verzog dann das Gesicht. "Aus unerfindlichen Gründen verrät der Spiegel mir nichts über Euch, Fremder! Es bleibt mir wohl nichts anders, als Euch zu glauben!"

Kryll nickte.

"Daran tätet Ihr gut!"

Der Herrscher rülpste ungeniert und Norjan musste ein Grinsen unterdrücken, denn im Norden war es unüblich, dass ein Herrscher öffentlich rülpste. Hier schienen die Sitten andere zu sein.

"Ihr wollt mir also helfen. Wie ist Euer Name, Fremdling?"

"Mein Name ist Tharson", erwiderte Kryll.

"Und Eure Begleiter?"

"Ihre Namen tun wenig zur Sache."

Der Kaiser nickte nachdenklich.

"Gut, Tharson. Ich denke, Ihr habt die Absicht, mir den Ring zu verkaufen."

Aber Kryll schüttelte entschieden den Kopf.

"Nein, da irrt Ihr!"

"Ich werde einen guten Preis zahlen!"

"Er ist unverkäuflich!"

"Wie wollt Ihr mir dann helfen, Fremder?"

"Seht her!"

Kryll deutete auf die steinerne Wand des Thronsaals. Langsam erwachte der Stein zum Leben fremdartige Tiermenschen begannen sich aus ihm zu formen, während der Kaiser und sein Gefolge wie erstarrt zur Wand blickten.

Die Dämonen aus dem Stein stapften nun mit dumpfen Tritten auf den Kaiser zu.

Die Wachsoldaten stellten sich mit ihren Lanzen vor den Herrscher, aber ehe sie sich versahen, verwandelten ihre Lanzen sich in Schlangen. Erschrocken ließen sie die glutäugigen Untiere zu Boden fallen, die sich daraufhin kriechend und zischend über den kalten Steinfußboden des Saales bewegten.

Der Kaiser zog instinktiv das kurze Zierschwert, das er an der Seite trug.

Doch kaum hatte er die Waffe gezogen, da wurde aus ihr ein schleimiger Salamander, den der Herrscher von Lukkare dann mit einem Aufschrei von sich warf.

"Tharson!", rief er und in seiner Stimme klang das blanke Entsetzen mit. Seine fetten Hände zitterten leicht. Schweiß perlte ihm über die Stirn. "Tharson!", rief er noch einmal.

Kryll warf ihm einen triumphierenden Blick zu.

Der Kaiser war außer sich. Er schien zu begreifen, dass er in eine furchtbare Falle gegangen war und ihm jetzt niemand mehr zu helfen vermochte. Seine Wachen stoben in heilloser Flucht auseinander. "Hört auf mit Eurer Magie!", rief der Kaiser in höchster Not.

Die letzten Wachen, die noch nicht geflüchtet waren, verwandelten sich nun einer nach dem anderen ebenfalls in Tiermenschen.

Der Kaiser stand mit offenem Mund da.

Er schluckte.

"Was wollt Ihr, Tharson?", rief er dann.

"Ich will Euren Spiegel!", rief Kryll dem zu Tode geängstigen Kaiser zu.

Und dann waren die Steindämonen zu dem dicken Mann getreten und hatten ihm den Spiegel von Uz entrissen, um ihn wenige Augenblicke später an Kryll zu übergeben.

"Das wirst du noch bereuen", zischte der Kaiser, der Kryll mit einem giftigen Blick bedachte, während er zurück in seinen Thron sank. Ohnmächtige Wut hatte ihn gepackt. Aber es gab nichts, was er jetzt tun konnte.

Kryll zuckte nur mit den Schultern, während er in den Spiegel von Uz blickte.

Ein Lächeln ging über sein Gesicht.

"Gehen wir!", befahl er dann.

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EILIG VERLIEßEN SIE die Residenz des Kaisers von Lukkare, während die steinernen Dämonen, die der Ring gerufen hatte, sie begleiteten und schützten.

Nirgendwo wagte es jemand, sich ihnen in den Weg zu stellen und so erreichten sie schließlich die GEEDRA.

Nun erst lösten sich die Steindämonen in Nichts auf. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt, aber sobald ihre Anwesenheit wieder notwendig sein würde, würde der Ring sie zurückrufen.

"Wir legen ab!", wandte sich Kryll an Olkyr.

Die GEEDRA segelte auf das Meer hinaus und der König hielt triumphierend den Spiegel in der Rechten.

"Das war leichter, als ich dachte", bekannte Norjan.

"Es ist noch nicht alles überstanden", erklärte da der Namenlose. Norjan blickte den Mann aus dem Schattenland erstaunt an.

"Was meinst du damit, Namenloser?"

"Es wird noch einige Kämpfe zu bestehen geben. Oder glaubt ihr beide vielleicht, dass die Lukkareaner uns kampflos werden ziehen lassen?"

"Sie werden uns nicht verfolgen!", sagte Kryll fest. "Ich habe dem Kaiser meine Macht gezeigt - und ich bin mir sicher, dass er mich jetzt mehr fürchtet, als den Tod!"

"Wähne dich nicht in Sicherheit", warnte der Namenlose.

Kryll zuckte gleichgültig mit den Schultern.

Unterdessen verschwanden die Türme von Ragal am Horizont. Die Stunden gingen dahin.

Kryll blickte in den Spiegel von Uz.

Der matte Glanz des Glases verflüchtigte sich und Kryll sah jetzt nicht sein Spiegelbild, sondern Bilder. Bilder von riesigen Flotten der Skölden, Badsoler und Zarounesen.

"Zur Zeit beginnt der Angriff auf Uz", flüsterte eine Stimme, die offenbar aus dem Spiegel kam.

Kryll war fasziniert.

Er sah im Spiegel, wie die Invasoren an Land gingen und die Verteidiger von Uz niederzukämpfen.

Sturmleitern wurden gegen die Stadtmauern gelehnt und ganze Trupps von sköldischen Kriegern überwanden die Befestigungsmauern.

Das Schicksal von Uz schien besiegelt.

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3. DIE EISMENSCHEN

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"Wir haben den Ring und den Spiegel! Jetzt kann das Tor zwischen dieser Welt und dem Schattenland errichtet werden!", verkündete Kryll.

Die GEEDRA hatte inzwischen schon wieder die garamitische Küste erreicht. Von dem inzwischen im Süden mit furchtbarer Wut tobenden Krieg war in diesen Gewässern nichts mehr zu spüren.

"Ihr habt alles erreicht, was Ihr wolltet, mein König", sagte Norjan an Kryll gewandt. "Ihr habt den Ring und den Spiegel. Mit Hilfe dieser magischen Waffen werden wir Pragan verteidigen können!"

"Wir werden ein Tor bauen!", beharrte Kryll.

"Ein Tor? Wozu das noch?", rief Norjan. "Ihr könntet unsere Gegner mit der Magie des Ringes zurückschlagen!"

"Das schon. Aber ich will mehr..."

Norjan zog den jungen König etwas bei Seite.

"Ich traue dem Namenlosen und seinen Schattengeschöpfen nicht so recht..."

"Aus welchem Grund?"

"Nun, ein König, es ist nur ein Gefühl..."

"Ach, hört auf mit Euren Gefühlen."

"Wir sollten die Schatten nicht in unsere Welt holen, wenn es einen anderen Weg gibt."

Kryll verengte die Augen.

"Aber Ihr selbst habt mir vor einiger Zeit gesagt, dass die Kreaturen des Schattenlandes eine Möglichkeit zur Lösung unserer Probleme darstellen."

"Damals kannte ich die Macht des Ringes noch nicht! Seid Ihr denn blind, mein König, dass Ihr nicht erkennt, dass wir uns mit den Schatten etwas in unsere Welt holen, was wir nicht richtig kennen? Was wollt Ihr zum Beispiel tun, wenn dieser Tarak uns betrügt?"

Kryll warf einen kurzen Blick in Richtung des Namenlosen, der am anderen Ende der GEEDRA stand.

"Er wird uns nicht betrügen!"

"Was macht Euch so sicher? Hat die Gier nach Macht Euch bereits so verblendet, dass Ihr es nicht mehr fertigbringt, vernünftig zu denken?"

"Ich glaube, Ihr versteht mich falsch, Freund Norjan!" Er zog ihn näher zu sich heran. "Bevor Tarak die Gelegenheit erhält, mich zu betrügen, werde ich ihn betrügen", flüsterte der König dann kaum hörbar.

"Ich glaube, Ihr stellt Euch die Sache zu einfach vor, mein König", meinte Norjan mit sorgenvoller Miene. "Ihr könnt doch noch gar nicht abschätzen, über welche Macht Tarak tatsächlich verfügt."

"Ich weiß, Freund Norjan. Das ist ein gewisses Problem."

"Mein König, ich kann Euch nur beschwören! Für die Lösung der Probleme unseres Land reicht die Macht des Ringes und das Wissen des Spiegels aus!"

Kryll zuckte mit den Schultern.

Aber es war keineswegs so, dass er sich unschlüssig war, oder dass der alte Ritter irgendeinen ernsthaften Zweifel hätte nähren können.

Der König schien mit seiner Geste eher Gleichgültigkeit gegenüber Norjans Einwänden zu signalisieren. Kryll hatte sich längst entschieden, welchen Weg er gehen würde.

Dennoch fuhr der alte Ritter fort: "Überlegt doch, mein König! Die Zeit wird für Pragan arbeiteten! Der Krieg im Süden könnte sich noch weiter ausbreiten. Es könnte sein, dass auch Dagarien bald in den Krieg hineingezogen wird und Dagarien ist der einzige feste Verbündete der Remurier!"

Kryll wandte sich zu Norjan herum.

Er hob die Augenbrauen.

"Das ist allerdings wahr."

"Es kann einen Vorteil für uns bedeuten."

Unterdessen hatte sich Olkyr den beiden Männern genähert.

"Mein König, es nähert sich uns ein Pulk von Schiffen!", rief er.

Kryll sah das Entsetzen in Olkyrs Gesicht.

"Lukkareaner? Oder Garamiter?"

Olkyr schüttelte den Kopf.

"Nein...", hauchte er. Er schien etwas zu brauen, um seine Fassung wiederzugewinnen. "Es sind Eisschiffe!"

Kryll blinzelte in die Ferne, dorthin, wo die fremden Schiffe aufgetaucht waren.

"Seid Ihr sicher?"

"Ja, mein König!"

Eisschiffe! Kryll hatte von ihnen gehört. Es waren die Schiffe der Bewohner des unwirtlichen Eislandes, tief unten im äußersten Süden gelegen.

Die Männer der GEEDRA schauten zum Horizont und hielten den Atem an, als sie die völlig weißen Schiffe herannahen sahen. Sie hatten eine unglaubliche Geschwindigkeit und würden die GEEDRA bald eingeholt haben.

"Es müssen tatsächlich Eisschiffe sein!", entfuhr es Kryll.

"Sie werden uns kaum eine Chance geben, ihnen zu entkommen", brummte unterdessen Norjan.

Krylls Blick ging zum Namenlosen, der am Heck der GEEDRA stand und einen ziemlich nervösen Eindruck machte und unruhig hin und her ging.

Der König trat zu ihm.

"So aufgeregt?", fragte er den Diener Taraks mit beißendem Spott in der Stimme.

"Wenn wir nicht schneller werden, holen uns die Eisschiffe ein!", rief er ärgerlich.

Kryll machte eine wegwerfende Geste.

"Wir haben den Ring und den Spiegel. Und wir haben deine Zauberaxt, Namenloser! Was können uns diese Wesen dort auf den Eisschiffen schon anhaben?"

"Ihr wähnt Euch überlegen, Kryll! Aber Ihr könntet Euch in diesem Fall täuschen!"

"Ach, ja?"

Kryll beobachtete, wie die Eisschiffe aufholten. Immer näher kamen sie an die GEEDRA heran.

Zu Krylls Erstaunen bestanden die Schiffe tatsächlich aus purem Eis. Aber es konnte kein gewöhnliches Eis sein, denn dann hätten diese Schiffe binnen kurzer Zeit in der Sonne schmelzen müssen.

Auch die Eisleute, die brüllend und rufend an Deck standen, sahen aus, als wären sie aus nichts anderem, als klirrendem, kaltem Eis. Sie sahen fast so aus, wie die Wasserdämonen, die Kryll mit Hilfe des Ringes gerufen hatte.

"Warum schmelzen die Schiffe der Eismenschen nicht?", fragte Kryll den Spiegel.

"Die Eismenschen bedienen sich der Magie! Sie wissen Mittel und Wege, um das Schmelzen zu verhindern, selbst wenn sie sich sehr weit von ihrer Heimat im kalten Süden entfernen", klang es aus dem Spiegel.

"Was können diese Kreaturen uns anhaben?"

"Sie können die Dämonen, die du mit Hilfe des Ringes erzeugen kannst, gefrieren und erstarren lassen!"

Es war, als ob sich eine eiskalte Hand in diesem Moment auf Krylls Schulter gelegt hätte.

Er schluckte.

"So ist der Ring in diesem Kampf wertlos?"

"Ja."

Unbehagen hatte sich jetzt des Königs bemächtigt. Er fühlte sich hilflos. Kryll sah zu den herannahenden Schiffen hinüber. Er sah die eisgrauen Gestalten, die ihm ununterscheidbar zu sein schienen. Einer war wieder andere - ohne Gesicht, ohne auch nur das kleinste Zeichen irgendeiner, wenn auch noch so bescheidenen Individualität...

"Was sollen wir tun?", rief jemand.

Ich werde es dennoch versuchen, dachte Kryll. Ich werde die Wasserdämonen auf die Schiffe der Eiswesen hetzen!

Das Wasser türmte sich zu unnatürlich wirkenden Wellen auf, aus denen sich dann die gespenstisch anmutenden Wassermenschen bildeten.

Mit transparenten Schwertern in den Händen erklommen sie die eisigen Wandungen der etwa ein Dutzend fremden Schiffe. In ihrer äußeren Erscheinung schienen sie ihren Gegner erschreckend ähnlich.

Gerade hatten die ersten Wasserdämonen das Deck eines Eisschiffes erklommen, um sich auf die Besatzung zu stürzen, da erstarrten sie mitten in der Bewegung und wurden zu Eis.

Höhnisches Gelächter klang von den weißen Schiffen herüber.

Sie packten die erstarrten Wasserdämonen und warfen sie über Bord. Langsam gingen sie im Meer auf und wurden wieder eins mit ihm.

Entsetzen packte Kryll, als er dies sah.

Der Spiegel hatte Recht behalten.

Ich werde weitere Dämonen mit dem Ring herbeirufen und gegen die Eismenschen hetzen, durchfuhr es Kryll grimmig.

"Es hat keinen Sinn, Kryll!", rief der Spiegel ihm mit matter Stimme zu, gerade so, als hätte er geahnt, was dem König durch den Kopf ging. "Du kannst so viele Dämonen und Trugbilder gegen diese Schiffe beschwören, wie du willst! Sie werden nichts ausrichten!"

Kryll fluchte.

Resigniert musste er einsehen, dass der Spiegel recht hatte.

Die Eisschiffe kamen näher und näher und der Augenblick war abzusehen, da die GEEDRA von Eismenschen geentert werden würde.

Die Praganier schossen einen Hagel von Pfeilen auf die Gegner an Bord der Eisschiffe ab, aber diese richteten nicht das Geringste aus. Es war nicht mehr, als ein Akt der schieren Verzweiflung. Die Pfeile prallten an den eisigen Körpern dieser Wesen ab, ohne irgendeine Wirkung zu zeigen.

"Sie entern uns!", war die Stimme Norjans zu hören, der sein Schwert gezogen hatte. Eine eisige Brücke war indessen zwischen der GEEDRA und einem der Eisschiffe angebracht worden und die Eisleute stürmten an Deck. Ihre grauweißen Schwerter blitzten nicht im Sonnenlicht. Ihre ausdruckslosen Gesichter schienen völlig konturlos.

Sie wirken wie lebende Tote, überkam es Kryll, der ebenfalls sein Schwert gezogen hatte, obgleich er bezweifelte, dass ihm das etwas würde nützen können.

Es war kaum für möglich zu halten, aber das seltsame Eis, aus dem die Körper der Eismenschen bestanden, schien härter als der beste praganische Stahl zu sein. Die Männer der GEEDRA wehrten sich so gut sie konnten. Schwerter klirrten gegen Eis, aber das Eis war härter. Die Praganier wehrten sich verzweifelt, aber sie hatten einen Gegner, der nicht zu bezwingen war. Einzig die blutrot leuchtende Axt des Namenlosen schien etwas ausrichten zu können.

Doch der Namenlose sah sich umringt von einer erdrückenden Übermacht.

Es war ein verzweifelter Kampf, der hier geführt wurde und den die Besatzung der GEEDRA wohl kaum noch gewinnen konnte.

Als sich nun noch ein zweites Schiff durch eine Enterbrücke aus grauem Eis mit der GEEDRA verband, da schien ihr Schicksal besiegelt...

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KRYLL KONNTE SICH GERADE noch den Spiegel hinter den Gürtel stecken, ehe er von einem der Eismenschen angegriffen wurde.

Er blickte in das konturlose Gesicht seines Gegenübers. Die Spitze des grauen Eisschwertes schnellte ihm entgegen und der König musste sich alle Mühe geben, zu parieren und sich seiner Haut zu wehren.

Und dann war er auch schon mitten im Kampfgetümmel.

Ein eisiger Arm legte sich um den Hals des Königs.

Man hatte ihn von hinten gepackt.

Das Schwert, mit dem ohnehin kaum etwas auszurichten war, wurde Kryll aus der Hand gerissen. Dann bekam er einen Schlag, der ihm die Sinne raubte, und es schwarz vor seinen Augen werden ließ...

Der Namenlose stieß einen grimmigen Kriegsruf aus, als er sah, was mit Kryll geschehen war. Mit der Axt bahnte er sich einen Weg durch die Eismenschen, um zu ihm zu gelangen, während die Eisleute damit beschäftigt waren, den bewusstlosen König von Pragan auf eines ihrer Schiffe zu bringen.

Mit gewaltigen Hieben fuhr der Namenlose zwischen die Eismenschen und zerschlug das klirrende Eis ihrer Körper.

Kryll darf nichts geschehen, durchfuhr es seinen dunklen Metallkopf. Kryll war schließlich von Tarak dazu auserwählt worden, das Tor zum Schattenland zu bauen...

Erbarmungslos schlug der Mann mit der Zauberaxt auf die Eisleute ein und tötete einen nach dem anderen. Sobald er einen von ihnen erschlug, so schmolz dieser innerhalb eines Augenblicks zu gewöhnlichem Wasser, so dass die Planken zu Füßen des Namenlosen bereits glitschig geworden waren.

Der Namenlose hörte, wie sich die Eismenschen Worte und Befehle in einer für ihn unverständlichen Sprache zuriefen. Sie hatten viele aus der Besatzung der GEEDRA getötet, aber jetzt ließen sie mehr und mehr von den Praganiern ab, von denen sie wussten, dass sie den eisgrauen Klingen nichts entgegenzusetzen hatten.

Stattdessen konzentrierten sie sich auf den Namenlosen und griffen ihn immer wieder von Neuem an. Zeitweise umringten sie ihn zu zehnt, während der Namenlose seine rötlich schimmernde Axt mit tödlicher Genauigkeit zu schwingen wusste.

"Kryll!", rief er dabei, und versuchte verzweifelt, zu dem König von Pragan zu gelangen.

Der Namenlose wusste, dass sein Arm nie ermüden würde, selbst wenn er tagelang mit den Eismenschen hätte kämpfen müssen. Aber soviel Zeit hatte er nicht, denn Kryll war in ihrer Gewalt.

Nach einiger Zeit wichen die Eisleute zurück und ließen von dem Namenlosen ab. Doch da hatte eines der enternden Schiffe bereits wieder abgelegt.

Der Namenlose blickte sich um, aber von Kryll war nirgends etwas zu sehen. Es schien, als hätten die Eisleute ins Innere ihres Schiffes gebracht.

Mochten die Götter wissen, was ihnen am König von Pragan liegen mochte!

Vielleicht sind auch sie auf der Suche nach dem Ring und dem Spiegel, durchfuhr es den Namenlosen.

Den Legenden nach waren die Eismenschen ein sehr altes Volk, viel älter als die Menschheit.

Es war durchaus denkbar, dass sich bei ihnen Erinnerungen aus jener Zeit bewahrt hatten, in der noch eine Verbindung zwischen den Welten existierte und sie von dem Ring und dem Spiegel gehört hatten.

Aber wenn dem so war, weshalb vermuteten sie dann diese Artefakte an Bord der GEEDRA?

Und wie konnten sie gewusst haben, dass sich der Ring und der Spiegel nicht mehr an ihren angestammten Orten befanden? Nein, dachte der Namenlose. Dieses Motiv konnten die Eisleute kaum haben...

Es war einfach zu absurd.

Der Namenlose stürmte nun wild vorwärts, während die Eiskrieger vor ihm zurückwichen, um auf das zweite Eisschiff zu gelangen, das mit der GEEDRA noch immer durch eine Enterbrücke verbunden war. Der Namenlose passierte diese Brücke und befand sich dann an Bord des feindlichen Schiffes, umringt von Eisleuten.

Er trat etwas vor, die rötlich leuchtende Axt in der Rechten.

Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Der Namenlose wusste, dass es im Augenblick wenig Sinn hatte, weitere Eismenschen zu erschlagen. So besann sich der Mann aus dem Schattenland eines Besseren.

"Versteht ihr meine Sprache?", rief er, während einige der Eisleute die Verbindung zur GEEDRA unterdessen gelöst hatten.

Doch er erhielt keinerlei Antwort.

Sein Blick ging über die eisgrauen Aufbauten des Schiffes.

Eine Tür ging dort auf und einen spinnenartiges Wesen von der Größe eines Pferdes kam zum Vorschein. Es war genau wie Eisleute aus klirrendem, schmutzig-grauem Eis. Der Namenlose erstarrte mitten in der Bewegung. Er vernahm höhnisches Gelächter im Hintergrund.

Ein Fauchen ging von der Eisspinne aus. Ihr eisiger Atem ließ den Namenlosen frösteln.

Mit der Axt in der Hand stand er da und war bereit, seine Gegnerin zu empfangen.

Vorsichtig wälzte sich die Eisspinne auf ihren neun Beinen vorwärts. Einen Moment lang belauerten sie beide sich abwartend, dann kam die Eispinne mit einem plötzlichen Satz herangeschnellt.

Mit einem ihrer neun Beine schlug sie auf den Namenlosen ein. Als dieser den Schlag mit seiner Axt abwehren wollte, bemerkte er, dass die Beine dieser Kreatur mühelos dem Zauberstrahl seiner Axt standhielten.

Der Namenlose konnte nichts weiter tun, als im letzten Moment auszuweichen.

Eine Aura eisiger Kälte umgab dieses monströse Geschöpf.

Der Namenlose ging nun zur verzweifelten Offensive über und versuchte mit seiner Axt nach dem Bein des Untiers zu schlagen.

Aber er traf es nicht.

Die Kreatur war geschickt und mit überraschender Schnelligkeit ausgewichen.

Der Namenlose fluchte lauthals.

Doch noch ehe er seine Kräfte zu einem erneuten Angriff sammeln konnte, hatten ihn zwei Beine der Eisspinne gepackt und hochgehoben.

Noch ehe der Namenlose etwas tun konnte, landete er mit einem Schrei im Wasser. Die Wellen schlugen über seinem Metallkopf zusammen.

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4. GEFANGEN IN DER EISFESTUNG

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Kryll erwachte.

Er zitterte vor Kälte und zog sich fröstelnd den Umhang enger um die Schultern. Dann tastete er nach seinem Schwert, aber es war nicht mehr da. Und auch der Spiegel von Uz, den er hinter dem Gürtel getragen hatte, war ihm abgenommen worden. Der Ring allerdings befand sich nach wie vor an seiner Hand, was Kryll etwas aufatmen ließ.

Es kam ihm so vor, als ströme etwas Wärme von dem Ring durch seinen linken Arm und seinen ganzen Körper.

Langsam entsann er sich wieder dessen, was geschehen war.

Er war ein Gefangener der Eismenschen!

Kryll erhob sich.

Er befand sich in einem Raum, dessen Wände aus grauem Eis bestanden. Kryll bemerkte eine Tür und als er sie zu öffnen versuchte, stellte er fest, dass sie nicht verschlossen war. So trat er hinaus ins Freie und befand sich einen Augenblick später an Deck eines Eisschiffes.

Kryll blickte über das Meer, aber von GEEDRA war nichts mehr zu sehen.

"Nun, wie geht es euch, Fremder?", fragte jetzt eine Stimme in praganischer Sprache.

Kryll drehte sich herum und sah einen der Eisleute. Das konturenlose Gesicht wirkte wie tot. Eine eisige Kälte ging von der Gestalt aus.

"Ich friere!", gab Kryll knapp zurück.

Der Eismensch zuckte mit den Schultern.

"Ich denke, dass wird sich kaum vermeiden lassen! Wie ist Euer Name?"

"Tharson!", gab Kryll zur Antwort. Er hielt es für besser, nicht seinen wirklichen Namen zu benutzen.

"Ich bin Na-Kleng, der Kommandant dieser Flotte."

"Weshalb wurde mein Schiff überfallen?"

"Dazu kommen wir später, Tharson."

"Und was wird mit mir geschehen?"

"Ihr werdet nach Ghrangor gebracht."

Kryll hatte schon von Ghrangor gehört. Es sollte eine Festung an der Küste des südlichen Eislandes sein. Mehr wusste er nicht.

"Wo befinden wir uns?", fragte Kryll.

Na-Kleng hob ein wenig den Kopf, aber in seinem ausdruckslosen Gesicht war keinerlei Regung zu sehen.

"Südlich von Sköldhaven."

Kryll erschrak.

War er tatsächlich so lange ohne Bewusstsein gewesen? Oder waren die Eisschiffe von derart unglaublicher Schnelligkeit?

Der König der Praganier wandte sich ab und betrat wieder die eisige Kajüte.

Er ob nachdenklich die Hand und betrachtete den Ring von Kuldan.

"Warum haben die Eismenschen mich entführt?", fragte er.

"Ich weiß es nicht!", gab der Ring zurück.

"Aber..."

"Du vergisst, dass ich nur Macht, aber nicht Wissen besitze. Das Wissen gehört dem Spiegel.."

"Du weißt also nichts über diese Dinge?"

"So ist es."

Kryll nickte resigniert.

Er musste den Spiegel zurückgewinnen - aber wer konnte wissen, was die Eisleute mit ihm gemacht hatten? Vielleicht hatten sie ihn aus Unwissenheit am Ende gar einfach ins Meer hinaus geschleudert oder in Scherben geschlagen.

*

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IN DEN NÄCHSTEN TAGEN wurde es für Kryll zur Gewissheit, dass er nicht von Na-Klengs Eisschiff würde fliehen können.

Sie mussten jetzt schon sehr weit im Süden sein - vermutlich hatten sie bereits Dalara, die Insel der Koroi, passiert.

Die Eisleute gaben Kryll kalten Fisch zu essen, den sie frisch aus dem eisigen Meer fingen. Wovon sie sich die Eisleute selbst ernährten, erfuhr Kryll nicht.

Jetzt konnte man oft die wandernden Eisberge bewundern, die von den riesenhaften Gletschern des Eislandes herunterbrachen und auf ihrem Weg nach Norden langsam zerschmolzen.

Die meisten dieser Eisberge erreichten nicht einmal die Küste von Zaroun. Nur in besonders kalten Jahren sah man sie manchmal vor Wuloss oder Zargon.

*

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KRYLL STAND AM BUG des Eisschiffes und starrte in die Ferne. Am Horizont zeichnete sich grau eine Küste ab. Sie war noch zu weit entfernt, als das man Einzelheiten hätte erkennen können, aber daran, dass es sich um die Küste des südlichen Eislandes handeln musste, konnte wohl kaum irgendein Zweifel bestehen.

Und das bedeutete, dass Na-Klengs Flotte ihr Ziel bald erreicht haben musste.

Kryll hatte noch immer keine Ahnung, was die Eisleute eigentlich von ihm wollten. Und der Ring an seiner Hand konnte ihm auch nicht weiterhelfen. Er antwortete ihm nur mit einem Funkeln seines Juwels.

Aber die Dämonen, die Ring zu rufen vermochte, waren ziemlich machtlos gegen die Eismenschen. Das hatte sich bei dem Überfall auf die GEEDRA ziemlich deutlich gezeigt.

Einen zweiten Versuch zu starten, schien sinnlos.

Kryll nahm sich vor, erst einmal abzuwarten, bis er mehr wusste. Irgendwann würde sich vielleicht auch eine Chance ergeben, um zu entkommen, auch wenn es im Augenblick überhaupt nicht danach aussah.

Sie kamen näher an die Küste heran, doch stellte sich bald heraus, dass dies noch nicht das Festland war, sondern eine unbewohnte, dem Eisland vorgelagerte Insel. Die Eisschiffe fuhren an der unwirtlichen Küste dieser Insel entlang und dann wurde bald auch das Festland sichtbar.

Die Silhouette einer Burg tauchte auf.

Das muss Ghrangor sein, dachte Kryll. Die legendäre Eisfestung...

Je näher die Flotte an die Eisfestung herankam, desto mehr Einzelheiten wurden für Kryll erkennbar.

Jene Burg war ebenso wie die Schiffe gänzlich aus Eis. Man hatte sie auf einer Anhöhe errichtet, zu deren Fuß ein kleiner Hafen lag, in den die Eisflotte jetzt einlief. Im Hintergrund erstreckte sich eine weißgraue Einöde, soweit das Auge reichte; ein Land, dass nicht für Menschen geschaffen schien.

Wenig später wurde Kryll von zwei Eiskriegern an Land geführt.

Dann ging es die Anhöhe hinauf und schließlich durch das eisige Tor der Festung. Es war furchtbar kalt und Kryll zog sich den Umhang eng um die Schultern. Aber gegen diese alles durchdringende Kälte konnte das kaum ein ausreichender Schutz sein.

Krylls Blick ging über den Burghof.

Eismenschen mit konturlosen Gesichtern liefen über den Platz. Wachposten patrouillierten auf den Wehrgängen umher.

"Was geschieht nun?", fragte Kryll seine beiden Bewacher.

"Warte ab", kam es lakonisch zurück. "Du wirst es sehen..."

*

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KRYLL WURDE IN EINEN riesenhaften Thronsaal geführt. Ein Eismensch saß auf einem Thron. Sein Gesicht war nicht so konturlos wie das der anderen Eisleute, die Kryll bisher gesehen hatte.

Die Wachen, die den jungen König hereingeführt hatten, traten etwas zurück.

"Du nennst dich also Tharson", sagte der Eismensch auf dem Thron.

Kryll nickte.

"So ist es."

"Ich bin Ragmul Khyesson, der König von Ghrangor! Du möchtest sicher wissen, weshalb du hier her gebracht wurdest, nicht wahr, Tharson?"

"Ja, allerdings."

"Tritt näher!"

Kryll gehorchte zögernd. Er stand schließlich nur noch wenige Schritt von dem Eisthron entfernt. Ragmul streckte den Arm aus und deutete auf sein Gegenüber.

"An deiner Hand befindet sich der Ring von Kuldan, nicht wahr?"

"Ja."

"Ich möchte diesen Ring gerne haben", erklärte Ragmul dann.

Kryll zuckte mit den Schultern.

"Warum haben ihn sich deine Krieger nicht einfach genommen? Es wäre doch ein Leichtes für sie gewesen!"

Ragmul Khyessson donnerte die Faust seiner Rechten auf die Armlehne des Throns.

"Ich stelle hier die Fragen. Du bist hier nur ein Gefangener, Tharson!" Der Eiskönig fluchte leise vor sich hin und gab dann noch einige unartikulierte Laute von sich.

Dann fuhr Ragmul fort: "Der Ring ist ein Zauberring, mit dem man Illusionen erzeugen kann. Aber wie du gesehen hast, kann ich die Dämonen des Ringes gefrieren lassen, wenn ich will. Dein Ring nützt dir also nichts, wenn du gegen Eismenschen kämpfst!" Er machte eine unbestimmte Geste mit der Linken. "Du hattest recht, Tharson! Wir hätten uns den Ring auch nehmen können, aber wir wollten uns nicht so unzivilisiert benehmen, wie man es von den Barbaren deines Volkes gewohnt ist! Das Eisvolk ist zivilisiert, und so haben wir Euch den Ring gelassen. Es ist eine Geste."

Kryll hob die Augenbrauen.

"Und nun?"

"Jetzt möchte ich dich dazu auffordern, mir den Ring auszuhändigen. Denke daran, dass wir dich hätten zwingen können. Wir könnten es auch jetzt."

Er lügt, dachte Kryll. Warum hat er mir den Spiegel und mein Schwert abnehmen lassen - nicht aber den Ring?

Darauf konnte es eigentlich nur eine mögliche Antwort geben.

Irgendetwas hinderte sie daran, dies zu tun!

"Ich werde den Ring niemandem geben", erklärte Kryll.

Der Eiskönig schien ärgerlich zu sein. Aber er gab sich alle Mühe, um sich in der Gewalt zu halten.

"Ich werde dir Bedenkzeit gewähren", zischte er. "Wenn du dich dann allerdings immer noch weigerst, wirst du die Konsequenzen selbst zu tragen haben!"

Auf eine Bewegung seiner Hand hin, ergriffen die Schergen des Eiskönigs Kryll und führten ihn ab.

Er wurde in einen kahlen, eisgrauen Raum gesperrt und alleingelassen.

Vor der Tür hörte er die schweren, klirrenden Schritte der Wächter.

Kryll blickte auf den Ring, der hell funkelte.

"In wie weit kann mich der Eiskönig zwingen, dich ihm auszuhändigen?", fragte der Praganier.

"Ich wusste, dass du diese Frage stellen würdest, Kryll!", antwortete der Ring in gewohnter Weise.

"Kann Ragmul Khyesson seine Drohung wahrmachen?"

"Nein, Kryll. Niemand könnte mich noch von deinem Finger lösen - selbst du selbst nicht!"

"Aber - es muss doch eine Möglichkeit geben! Schließlich bin ich ja nicht der erste Träger des Ringes!"

"Dein Tod ist die einzige Möglichkeit!"

"Und warum haben mich die Eisleute dann nicht umgebracht?"

"Weil sich im Falle deines Todes ein Teil meiner magischen Fähigkeiten auf die Umgebung entladen würde. Für Ghrangor würde das das völlige Chaos, vielleicht sogar den Untergang bedeuten. Die Eisleute wissen dies. Sie können nicht an den Ring, ohne sich selbst in höchste Gefahr zu bringen."

"Sie wollten mir also etwas vormachen!"

"So ist es, Kryll.

Kryll lächelte.

Er hatte von Anfang an geahnt, dass der Eiskönig ihn belogen hatte.

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5. DER KATZENGESICHTIGE MAGIER

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Schatten waren zählebig - und der Namenlose war ein Schatten...

Wenn die Eisleute geglaubt hatten, der Namenlose sei in den wogenden Fluten des Golfes von Lukkare ertrunken, so hatten sie sich getäuscht. Der Mann aus dem Schattenland kletterte mit seiner monströsen, rötlich schimmernden Streitaxt hinter dem Gürtel die Wandung der führerlos dahintreibenden GEEDRA hinauf.

An Bord des Langschiffes war kein Leben mehr. Das Deck war übersät mit den Leichen der Besatzung, die Planken rot von Blut. Nicht eine eine einzige Menschenseele hatte den furchtbaren Überfall der Eisleute überlebt.

Dem Namenlosen war nicht die leiseste Spur von Betroffenheit darüber anzumerken. Stumm inspizierte er das Schiff und blieb schließlich am Heck stehen. Er blickte nachdenklich auf das Meer hinaus.

Die Eisschiffe werden bereits einen beträchtlichen Vorsprung haben, ging es ihm durch den Kopf.

Dann wandte sich der Namenlose einer der Leichen zu und beugte sich nieder.

Es war Norjans Körper.

Die Kapuze des Namenlosen glitt zurück und sein dunkler Metallkopf kam zum Vorschein. Am Kopf öffnete sich eine Klappe und etwas Grünes, Funkelndes kam zum Vorschein.

Diese körperlos wirkende Lichterscheinung schwebte nun auf den toten Norjan zu, um sich schließlich auf ihm niederzulassen.

Als die Erscheinung Norjan erreicht hatte, begannen die starren, toten Augen des alten Ritters auf einmal grünlich zu leuchten. Eine unheimliche Art von Leben erfüllte den toten Körper dann und ließ ihn sich langsam und unsicher erheben. Das Gesicht blieb ausdruckslos und blass. Nur die Augen schimmerten grün.

"Wer bist du?", fragte der Namenlose den Toten.

"Ich weiß es nicht", kam es dumpf zurück.

"Du bist Norjan!"

"Ja. Ich bin Norjan."

Norjans Stimme klang unbeteiligt und lethargisch. Indessen wandte sich die Lichterscheinung, die den alten Ritter wiedererweckt hatte, dem nächsten Toten zu.

Einer nach dem anderen wurden die Toten dazu veranlasst, sich von den blutigen Planken der GEEDRA zu erheben. Sie standen da, mit grünem Feuer in den Augen, erfüllt von einer unheimlichen Kraft, die nicht die ihre sein konnte.

Nachdem die gesamte Besatzung auf diese Weise auferstanden war, kehrte die grüne Lichterscheinung in den Metallkopf des Namenlosen zurück.

Die Klappe schloß sich sofort wieder und der Namenlose legte die Kapuze darüber, so dass sein gesichtsloser Metallkopf wieder in einem undurchdringlichen Schatten lag.

Die GEEDRA hatte wieder eine Mannschaft!

Und ihre Odyssee war noch lange nicht zu Ende!

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RASCH WURDEN DIE ZERFETZTEN Segel wieder gesetzt und die GEEDRA nahm Fahrt auf.

Der Namenlose hatte keine besondere Eile, denn er glaubte zu wissen, wo die Eisschiffe ihr Ziel hatten.

"Wenn die GEEDRA nach Ghrangor, der eisigen Festung kommt, wird dort kein Eisstück mehr auf dem anderen bleiben!", rief der Namenlose grimmig in den Wind.

Aber weder der Wind, noch die Untoten an Bord des praganischen Langschiffes, die nur auf Befehle des Namenlosen reagierten, hörten ihm zu.

Der Namenlose verfluchte lauthals die Eisleute. Kryll hatten sie, so schien es, mit sich genommen.

Mochten die Götter wissen, was sie in der Zwischenzeit mit dem König von Pragan angestellt hatten! Aber wenn er noch lebte, dann würde der Namenlose alles daransetzen, ihn zu befreien.

Nein!, durchfuhr es ihn. Den Eisleuten würde es nicht gelingen, Taraks Pläne zu durchkreuzen!

*

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STUNDE UM STUNDE, TAG um Tag vergingen. Sehr schnell kam die GEEDRA nicht vorwärts, was vor allem an dem nur mäßigen Wind lag.

Der Namenlose saß meistens zusammengekauert an den Mast gelehnt und harrte dort schweigend aus.

Unterdessen war am Horizont bereits hin und wieder die Küste von Zaroun zu sehen. Nach ein paar weiteren Tage, begegneten der GEEDRA die ersten Eisberge auf ihrem langen Weg nach Norden.

Südlich der geheimnisumwitterten Insel Dalara wurde es dann merklich kälter, aber das schien den Untoten nichts weiter auszumachen.

Die Untoten schienen die Kälte nicht zu spüren, so wie sie auch keinen Hunger oder Durst zu haben schienen. Sie waren völlig bedürfnislos.

Nach weiteren Tagen tauchte schließlich die Küste des südlichen Eislandes auf. Wenig später erreichte die GEEDRA Ghrangor, die Eisfestung.

"Jetzt haben die letzten Stunden des Eisvolkes begonnen!", rief der Namenlose in grimmiger Wut der Burg aus klirrendem, grauweißem Eis entgegen.

Bis auf die Zähne bewaffnet standen die Untoten an Bord der GEEDRA. Das grüne Feuer in ihren Augen brannte gefährlich und kalt.

Als das Langschiff näher herangekommen war, hörte man, wie die ersten Eismenschen Alarm schlugen. Entsetztes Rufen drang zur GEEDRA herüber.

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DIE GEEDRA LEGTE IM unweit von Ghrangor gelegenen Hafen an. Die Untoten sprangen an Land und stürmten mit klirrenden Waffen vorwärts.

Der Namenlose hatte die monströse Streitaxt gezogen, deren rötliches Schimmern jetzt um einiges stärker geworden zu sein schien.

Er führte diese gespenstische Armee an.

Ein Trupp von Eiskriegern trat ihnen entgegen, aber schon nach kurzer Zeit breitete sich unter diesen das nackte Entsetzen aus.

Unter den Schlägen der Zauberaxt des Namenlosen zerronnen viele der Eisleute zu Wasser, das sogleich wieder gefror und sich mit dem Eis und dem hartgetretenen Schnee vermischte, der zu ihren Füßen lag.

Aber auch einige der Untoten starben ein zweites Mal...

Wie ein Teufel wütete der Namenlose unter der völlig unvorbereiteten Hafenwache. Es dauerte nicht lange und die Verteidiger waren niedergemacht.

Dann stürmte der Namenlose mit den Untoten auf das Tor der Eisfestung zu, das inzwischen geschlossen worden war und jetzt als schier unüberwindliches Hindernis vor ihnen stand.

Von den Zinnen wurden den Angreifern Eislanzen entgegengeschleudert.

Der Namenlose wartete keinen Moment. Mit wütenden Schlägen seiner Axt hieb er auf das Eistor ein. Ein Klirren war zu hören.

Das Tor ächzte und splitterte schließlich unter den wuchtigen Hieben der Axt zusammen. Die Streitmacht der Untoten stürmte bald darauf in den Burghof der Eisfestung.

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KRYLL SCHRECKTE AUF.

Einige der Eiskrieger stürzten in sein Gefängnis. Ihrem Verhalten merkte der Praganier sofort an, wie aufgeregt sie waren. Sie schienen in größter Eile zu sein.

"Mitkommen!", krächzte einer von ihnen.

"Was ist geschehen?", erkundigte sich Kryll, ohne ernsthaft zu erwarten, darauf auch eine Antwort zu bekommen.

Schnell wurde er durch die kalten Gänge geführt. Schließlich gelangten sie durch irgendeinen Nebenausgang der Eisfestung ins Freie.

Eine Gruppe von Eismenschen erwartete ihn dort. Unter ihnen war auch Ragmul Khyesson, der Herr über Ghrangor.

"Was hat das alles zu bedeuten?", rief Kryll an Ragmul gewandt.

"Das wirst du noch früh genug begreifen!", kam es mürrisch zurück.

Einige seltsame Pferde wurden nun herbeigeführt. Sie waren - ebenso wie die Eismenschen - zur Gänze aus grauweißem Eis. Kryll wurde gefesselt und auf eines dieser Reittiere gesetzt.

Auch die Eisleute bestiegen nun ihre fremdartigen Pferde. Wenig später preschten mehrere Dutzend Reiter über den Burghof in Richtung eines hinteren Nebentors von Ghrangor.

Kryll sah eine wilde Horde von Kriegern über den Burghof stürmen und auf die Eismenschen einschlagen. Er glaubte, seinen Augen kaum zu trauen!

Er kannte jeden Einzelnen dieser Angreifer! Kryll sah den Namenlosen, der seine blutrot schimmernde Streitaxt kreisen ließ, er sah Kraynar, den Steuermann der GEEDRA, neben ihm Norjan und Olkyr...

Aber in den Gesichtern dieser Männer brannte ein unheimliches Feuer. Grün leuchtete es aus ihren Augen heraus und Kryll erschrak.

Was war nur mit ihnen geschehen?

Doch er hatte nicht genügend Zeit, weiter darüber nachzudenken. Ein Tor öffnete sich vor der Reitergruppe und Ragmul Khyesson ritt mit dem Rest seiner Leute und seinem Gefangenen hinaus in die endlose Eiswüste.

Für einen Moment hatte Kryll die Gelegenheit, zurück zu blicken.

Er sah eine Gruppe von Gestalten, die über das Eis rannten. An ihrer Spitze war der Namenlose. Das rötliche Leuchten seiner Streitaxt hob sich gut sichtbar gegen das monotone Grauweiß der Umgebung ab.

Aber die Verfolger hatten kaum eine Chance, die schnellen Eispferde jemals einzuholen.

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EIN SCHNEIDEND KALTER Wind pfiff über die endlosen Weiten des Eislandes. Es war nicht von Bedeutung, in welche Richtung man den Blick richtete: Der Horizont sah überall gleich aus.

Aber die Eisleute schienen die bemerkenswerte Fähigkeit zu besitzen, sich in dieser Ödlandschaft orientieren zu können.

Kryll fragte sich mehr als einmal, ob Ragmul Khyesson überhaupt ein Ziel besaß, oder ob er ohne große Überlegungen wahllos seinen Weg gewählt hatte, um den Angreifern zu entkommen.

Schneefall hatte eingesetzt.

Der eisige Wind trieb indessen die Flocken in hohen Wirbeln vor sich her.

In der Ferne konnte Kryll jetzt etwas Dunkles erkennen - einem Turm nicht unähnlich.

Als die Reitergruppe sich weiter näherte, sah Kryll, dass es sich tatsächlich um einen Turm handelte. Er war pechschwarz und hob sich daher gut gegen seine Umgebung ab.

Nach einer Weile hatten sie das einsam in der Ödnis stehende Gebäude schließlich erreicht. Ragmul Khyesson gab das Zeichen zum Absitzen und wenig später wurde Kryll von seinem Reittier heruntergeholt.

Zwei der Eiskrieger nahmen den Praganier in die Mitte und folgten Ragmul mit ihrem Gefangen, der inzwischen den Eingang des verwitterte Turmes erreicht hatte.

Ragmul drückte gegen die Tür, die sich daraufhin öffnete.

Der Eiskönig trat ein und die beiden Wächter packten Kryll an den Oberarmen und folgten ihm.

Hinter ihnen fiel die Tür wie von selbst zurück ins Schloss.

Finsternis erfüllte den Raum und das einzige, was Kryll in diesem Moment wahrnahm, war der Griff der beiden Eismenschen rechts und links von ihm. Eine unnatürliche Kälte ging von diesen Händen aus und ließ den König von Pragan frösteln.

Dann wurde es plötzlich heller.

Kryll sah eine Gestalt, in dessen Hand sich brennende Fackel befand.

Der Körper dieses Wesens war der eines Menschen, aber der Kopf ähnelte stark dem einer Katze. Gelbe, gefährlich leuchtende Augen starrten Kryll unablässig an.

"Was willst du von mir?", fragte die Gestalt mit fast flüsternder Stimme. "Brauchst du wieder die Dienste eines Magiers?"

"Ich habe ein Problem, Yogaz", erklärte Ragmul Khyesson.

Yogaz entblößte seine Raubtierzähne.

"Bin ich dazu da, deine Probleme zu lösen, Eiskönig?", zischte er. Yogaz' Stimme war kalt und berechnend.

"Ich brauche deine Hilfe!"

"Um was geht es?"

Ragmul packte Kryll bei den Schultern und zerrte ihn vor den katzengesichtigen Mann. Schnell hatte er die Fesseln des Praganiers gelöst. Dann packte er Kryll am linken Handgelenk und deutete auf den Ring von Kuldan.

Kryll wusste sofort, dass dieser Ring gleich im ersten Moment das Interesse des Magiers geweckt hatte.

"Kannst du ihm diesen Ring abnehmen, Yogaz?", fragte Ragmul.

"Warum tust du dies nicht selbst?"

"Es ist nicht so einfach, wie du vielleicht denkst!"

Yogaz trat näher an Kryll heran und blickte dabei wie gebannt auf das im Schein der Fackel leuchtende Juwel des Ringes.

"Dies ist kein gewöhnlicher Ring, nicht wahr? Es muss etwas besonderes an ihm sein, eine Gefahr vielleicht... Sonst würdest du ihn selbst von der Hand dieses Mannes nehmen!"

Ragmul nickte.

"Was ist nun?", forderte er dann.

"Was bekomme ich dafür, wenn ich dir diesen Gefallen tue?", kam es von dem katzengesichtigen Magier flüsternd zurück.

"Nimm dir etwas von meinem Besitz! Brauchst du ein paar Eispferde?"

"In deiner Festung gibt es..."

"Über meine Festung bin ich nicht mehr Herr!"

"Nein?"

"Eine Kriegsmeute unter Führung eines düsteren, gesichtslosen Mannes, der mich an die legendären Wesen des Schattenlandes erinnerte, griff uns an. Wir mussten fliehen und alles zurücklassen."

"So scheinst du nichts mehr zu besitzen, was für mich von Interesse sein könnte", meinte Yogaz kalt.

Der Blick des Magiers ging noch einmal zu dem Ring an Krylls Hand.

"Es ist ein besonderes Stück, das dieser Mann da an seinem Finger trägt", murmelte er.

"Ja, ein Schmuckstück", setzte Ragmul hinzu.

Yogaz schüttelte den Kopf.

"Nein, das meine ich nicht. Seine Besonderheit liegt auf einem ganz anderen Gebiet..." Der Tonfall des Magiers verriet Neugier.

Einen Augenblick später hob der Katzengesichtige dann plötzlich den Kopf. "Wenn du mir nichts geben kannst, was für mich von Interesse ist, werden wir uns wohl kaum einigen können", meinte der Zauberer mit schlecht geheucheltem Bedauern.

Er zuckte mit den Schultern und bewegte spielerisch die Ohren.

Yogaz wandte sich ab und stieg eine schmale Treppe hinauf. Die Fackel zitterte ein wenig in seiner Hand.

"Bleib stehen, Yogaz!", rief der Eiskönig. In seiner Hand hielt er drohend sein Eisschwert.

Langsam und bedächtig drehte Yogaz sich wieder zu Ragmul Khyesson herum.

Die gelben Katzenaugen des Magiers funkelten drohend.

"Was erwartest du von mir, Ragmul? Biete mir etwas, das für mich einen Wert besitzt, dann stehe dich dir zu Diensten!"

Ragmul gab den beiden Eiskriegern, die mit ihm in den Turm des Magiers gekommen waren, ein Zeichen, woraufhin sie nach vorne schnellten und Yogaz ziemlich unsanft bei den Armen packten.

Die beiden Krieger zerrten Yogaz vor den Eiskönig.

"Du wirst diesem Mann jetzt den Ring abnehmen, Yogaz!", zischte Ragmul zornig.

In den gelben Augen des Magiers war vielleicht ein Wut zu lesen, aber kaum Furcht.

"Warum sollte ich?", zischte Yogaz zurück.

"Weil ich es dir befehle!" Ragmul trat nahe an Yogaz heran. "Wenn du es nicht freiwillig tust, werde ich Mittel und Wege haben, dich zu zwingen!"

Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Der Magier schien wie erstarrt. Dann nickte er schließlich.

"Du hast gewonnen, Ragmul! Diesmal werde ich mich deinem Willen beugen!"

Ragmul nickte den beiden Kriegern zu, woraufhin sie Yogaz losließen.

Der Magier atmete hörbar auf.

"Aber du wirst deine Tat eines Tages bereuen, Eiskönig!", zischte er einen Moment später grimmig.

Aber Ragmul machte nur eine wegwerfende Bewegung.

"Lass deine nutzlosen Verwünschungen und leeren Drohungen, Yogaz! Die werden dir nicht helfen! Es ist besser, wenn wir auch weiterhin zusammenarbeiten!"

Yogaz antwortete nicht.

Stattdessen wandte er sich Krylls Hand zu.

Vorsichtig berührte er das weiße, leuchtende Juwel des Ringes. Dann packte er mit seinen langen, behaarten Fingern den Ring und versuchte, ihn Kryll vom Finger zu ziehen. Aber Yogaz schien es nicht zu schaffen.

"Es geht nicht!", stellte er sachlich fest.

"Du willst mir nicht helfen, Yogaz", hielt Ragmul schroff dagegen.

Yogaz fasste noch einmal den Ring und zog daran. Ein Stöhnen kam aus dem magischen Werkzeug und dann ein Schrei.

Kryll spürte einen stechenden Schmerz, der von seiner Hand ausging und von dort aus seinen gesamten Körper zu durchfluten begann.

Alles begann um ihn herum zu verschwimmen.

Er fühlte Schwindel und hatte das Gefühl zu fallen.

Das alles dauerte nicht länger als einen Augenaufschlag lang. Dann war das Schwindelgefühl verflogen und auch der Schmerz war wie weggeblasen.

Kryll blickte mit Entsetzen auf seine linke Hand.

Der Ring war fort.

Er blickte zur Seite und bemerkte, wie Ragmul Khyesson ihn triumphierend in der Hand hielt. Fasziniert betrachtete er ihn und beobachtete das Funkeln des Juwels.

"Der Ring bedeutet Macht und diese Macht ist jetzt mein!", rief der Eiskönig mit einem befremdlichen Entzücken aus.

Die Augen des katzengesichtigen Magiers blitzten im selben Moment drohend. Er wirkte in diesem Augenblick stark an ein Raubtier, das jeden Moment dazu bereit war, sich auf seine Beute zu stürzen... Jeder Muskel, jede Sehne seines Körpers schien unter Anspannung zu sein.

"Du siehst, Tharson, dass du trotz des Ringes nicht unbesiegbar warst!", rief Ragmul Khyesson höhnisch an Kryll gewandt aus.

Kryll erwiderte nichts.

Er beobachtete nur, wie Ragmul versuchte, sich selbst den Ring an die Hand zu stecken.

Aber aus irgendeinem Grund vermochte er es nicht. Nach einigen gescheiterten Versuchen ging er drohend auf Yogaz zu.

"Du hast diesen Ring verhext, nicht wahr?"

Yogaz schien ungerührt.

"Die kennst die Legenden über den Ring, Eiskönig. Es heißt darin, dass nicht jeder ihn tragen kann. Nur ganz bestimmte Personen sind in der Lage..."

"Aus welchem Grund sollte ich den Ring nicht tragen können?", unterbrach Ragmul.

"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was die Legenden sagen."

Die Ruhe des Magiers verwirrte Ragmul fast noch mehr, als die Tatsache, dass sich der Ring von Kuldan gegen ihn zu wehren schien.

Er wandte sich an Kryll.

"Warum kannst du diesen Ring tragen, Tharson?", wandte er sich an den Praganier. Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter. "Was unterscheidet diesen Mann von mir? Ist er nicht ein ganz gewöhnlicher Praganier?"

"Er ist wirklich sehr gewöhnlich, aber der Ring hebt ihn aus seiner Durchschnittlichkeit heraus!", warf Yogaz ein.

Ragmul fuhr zu dem Magier herum.

"Ich habe dich nicht gefragt!", bellte er wütend.

Er warf den Ring von Kuldan wütend zu Boden.

Kryll wollte sich nach ihm bücken, aber Ragmul Khyesson trat herbei und hielt ihn mit seinen eisigen Pranken zurück.

"Wenn ich den Ring nicht haben soll, dann sollst du es auch nicht!", zischte der Eiskönig.

Mit einer schnellen Bewegung stieß er die Tür des Turmes auf und ging hinaus. Ein eisiger Windstoß wehte in den Turm hinein und Yogaz schützte sein Katzengesicht mit dem Arm, als eine Schneewehe hereinkam. Sie ließ die Fackel des Magiers verlöschen. Nur durch die offene Tür kam jetzt etwas Licht ins Innere des Turms.

Die beiden Eiskrieger packten Kryll bei den Armen und führten ihn mit sich nach draußen.

Ragmul war bereits auf sein Eispferd gestiegen. Von oben heraus sah er Kryll kalt an. "Was soll mit ihm geschehen, Herr?", fragte einer der Krieger und deutete dabei mit seinem Schwert auf Kryll.

"Wir lassen ihn hier. Er kann uns nicht mehr nützen!", entschied der Eiskönig.

"Sollen wir ihn töten?"

"Das wird die Kälte schon noch erledigen!"

Die beiden Krieger ließen Kryll los und schwangen sich auf ihre Reittiere.

Mit fliegenden Hufen preschten der Eiskönig und seine Reiter dann davon. Kryll blickte ihnen nach. Er sah, wie sie langsam zu kleinen Punkten am Horizont wurden, bevor sie völlig verschwanden.

Ein eisige Wind blies Kryll ins Gesicht.

Ich werde mir den Ring zurückholen, dachte er. Er wandte sich dem Turm des Magiers zu. Doch wo war der Eingang geblieben?

Der Praganier umrundete einmal zur Gänze den Turm, doch nirgends war eine Tür zu sehen. Es war wie verhext! Verzweifelt trommelte Kryll mit den bloßen Fäusten gegen die Wände des Turms.

"Yogaz!", rief er in heller Verzweiflung.

Keine Antwort.

Nur der pfeifende Wind war zu hören.

"Yogaz!", rief er ein weiteres Mal und trommelte wieder gegen die schwarze Wand des Turmes.

Ein teuflisches Lachen war dann zu vernehmen und vermischte sich mit dem Wind.

Dann bildete sich plötzlich eine Tür, die sich wie von selbst öffnete. Kryll trat ein.

Mit einem Ächzen fiel die Tür hinter ihm wieder ins Schloss zurück.

Vor ihm stand Yogaz, der katzengesichtige Magier, mit einer brennenden Fackel in der Hand.

"Was willst du?", fragte Yogaz spöttisch. "Hast du keine Neigung, in der Eiswüste dein Leben auszuhauchen?"

Kryll achtete kaum auf die Worte des Magiers. Seine Augen suchten den Boden ab, in der Hoffnung, den Ring zu finden. Aber bei dem schlechten Licht war das ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen.

Kryll hob schließlich den Kopf und sagte: "Ich bin wegen meines Ringes hier!"

Der Katzengesichtige nickte.

"Das habe ich mir fast gedacht!"

"Wo ist er?"

"Was gibst du mir, wenn ich dir den Ring gebe?"

Kryll überlegte einen Moment, dann fragte er zurück: "Was willst von mir haben?"

Die Katzenschnauze des Magiers zeigte so etwas wie die Andeutung eines Lächelns.

"Du musst zwei Dinge für mich tun!"

"Was für Dinge?"

"Es hört sich einfach an, aber das ist es nicht, wie du vielleicht später verstehen wirst!"

"Heraus mit der Sprache! Worum geht es?"

Yogaz machte eine beschwichtigende Geste.

"Immer mit der Ruhe!", zischte er. "Ich weiß, dass du nicht Tharson heißt, Mann aus Pragan! Du bist Kryll von Arkull, denn nur Kryll kann den Ring tragen!"

"Es hat einst jemanden gegeben, der sich Havlu nannte und der ebenfalls den Ring getragen hat!", gab Kryll zur Antwort.

Aber dazu schwieg der Magier.

"Du sollst zwei Dinge für mich tun! Zuerst sollst du mir helfen, den Eiskönig zu verfolgen und zu stellen. Mit ihm habe ich noch eine Rechnung zu begleichen!"

"Ich auch!"

Kryll dachte nicht in erster Linie an Rache, sondern an den Spiegel von Uz, der sich nach vor in den Händen Ragmul Khyessons befand.

"Außerdem musst du mich mit in den Norden bringen."

"Wie weit in den Norden?"

"Darüber reden wir später."

"Du verlangst nichts Unmögliches!"

"Nimmst du den Preis an?"

Kryll zuckte mit den Schultern.

"Was bleibt mir anderes?"

"Wenn du den Ring haben willst, bleibt dir tatsächlich nichts anderes."

Der Magier machte eine Bewegung mit der Hand.

"Folge mir!", befahl er und wandte sich zur Treppe. Mit schnellen, gewandten Schritten ging er die ersten Stufen hinauf.

Kryll folgte ihm.

Die schmale, sich mehrmals windende Treppe führte sie in einen kaum erleuchteten, spärlich eingerichteten Raum.

"Du bist also bereit, meine Bedingungen zu akzeptieren?", vergewisserte sich der Magier nochmals.

"Ja!", ging es Kryll ohne zu zögern über die Lippen.

"Gut, dann gebe ich dir jetzt den Ring zurück. Du wirst ihn brauchen, wenn wir gegen Ragmul Khyesson kämpfen wollen!"

Yogaz öffnete eines der morschen Möbelstücke und holte etwas aus einer Öffnung heraus, die eine Art Geheimfach zu sein schien.

Es war der Ring von Kuldan, den der Magier jetzt in der Rechten hielt.

"Hier!", sagte Yogaz und und reichte Kryll, wonach er verlangt hatte. Behutsam steckte sich der Praganier den Ring wieder an die Linke.

"Und nun werden wir uns an die Verfolgung des Eiskönigs machen!", forderte der Magier.

Kryll verzog den Mund.

"Und wie? Zu Fuß vielleicht?"

Der Magier zeigte die Andeutung eines Lächelns und spielte etwas mit seinen Katzenaugen.

"Sei gewiss! Wir werden schon einen Weg finden!", versprach er.

Kryll folgte dann dem Magier wieder die Treppe hinunter und schließlich aus dem Turm hinaus ins Freie.

"Was wollen wir hier?", erkundigte sich Kryll. Seine Züge verrieten Ratlosigkeit.

"Das wirst du gleich sehen!"

Yogaz setzte sich in einer eigentümlich verrenkten Weise in den Schnee.

"Shyrkondar", rief er leise in den eisigen Wind, der seine Worte aufnahm und sie davontrug.

Shyrkondar! Ein Wort, vielleicht ein Name... Kryll lief es kalt über den Rücken.

Ein seltsames Unbehagen machte sich beim Klang dieses Wortes in ihm breit. Ein Unbehagen, für das es keine Erklärung zu geben schien...

"Komm zu mir, Shyrkondar! Yogaz ruft dich!", rief die Stimme des Magiers in den Wind.

Da ertönte plötzlich ein Kreischen aus der Luft. Kryll zuckte zusammen und blickte hinauf und sah einen großen, weißen Vogel.

Kryll schluckte, als klar wurde, dass es derselbe weiße Vogel sein musste, der ihn an Bord der GEEDRA zweimal gewarnt hatte.

Yogaz schien von dieser Erscheinung völlig unbeeindruckt.

"Shyrkondar!", rief der Magier erfreut aus und erhob sich wieder. Der Vogel kam mit langsamen, würdevollen Flügelschlägen heran.

Er war wesentlich größer, als Kryll ihn in Erinnerung hatte.

Der Vogel landete vor den beiden beiden Männern.

Kryll trat instinktiv einen Schritt zurück.

Für Yogaz hingegen schien Shyrkondar nichts Bedrohliches oder Unheimliches zu haben.

Mit ein paar schnellen Schritten war der Katzengesichtige bei ihm und setzte sich auf den Rücken des riesigen Vogels, so als ob es sich um ein Reittier handelte.

"Komm, Kryll von Arkull! Setz dich zu mir! Mit Shyrkondar holen wir den Eiskönig mit Leichtigkeit ein!"

Doch Kryll zögerte.

Yogaz schien irritiert.

"Was ist? Hast du unsere Abmachung schon vergessen?", rief der Magier.

Kryll hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Vogel, ein Misstrauen, das er nicht erklären konnte.

Aber dann dachte er an den Spiegel von Uz und daran, dass er dieses Artefakt unbedingt zurückgewinnen musste. So folgt er Yogaz und setzte sich hinter den Magier auf den weißen Vogel, der nicht das Geringste dagegen zu haben schien, als Reittier benutzt zu werden.

"Ist Shyrkondar nun ein Vogel oder ein Dämon?", entfuhr es Kryll.

"Er ist beides!", war die kurze Antwort des Magiers.

Yogaz rief Shyrkondar etwas in einer fremdartigen Sprache zu, worauf sich der Vogel mit seiner Last in die Lüfte erhob.

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6. AUF DEN SCHWINGEN DES WEISSEN VOGELS

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"Da sind sie!", rief Yogaz und deutete mit dem ausgestreckten Arm hinab. Kryll blickte nun auch in die Tiefe und sah am Boden einige grauweiße Reiter, bei denen sich um niemand anderen, als Ragmul Khyesson und sein Gefolge handelte.

Der weiße Vogel Shyrkondar ließ ein Kreischen hören und ging etwas tiefer.

Mit langsamen Flügelschlägen folgte er den Eisleuten. Er bewegte sich mit einer spielerisch wirkenden Leichtigkeit, die Kryll verblüffte.

Sowohl Yogaz wie Shyrkondar gegenüber hatte Kryll sein Misstrauen allerdings keineswegs vergessen. Dem Magier war dies bewusst, aber er kam nicht darauf zu sprechen.

Kryll fühlte den Ring an seinem Finger.

Yogaz hatte behauptet, dass er - Kryll - den Ring brauchte, wenn es zum Kampf mit Ragmul Khyesson kommen würde.

Aber was sollte der Ring bewirken?

Die Eisleute vermochten es, seine Trugbilder erstarren zu lassen. Der Überfall auf die GEEDRA hatte es gezeigt.

Die Eisleute hatten den weißen Vogel, auf dem dem Yogaz und Kryll herangeflogen kamen, inzwischen offenbar bemerkt. Die Reiter trieben ihre Tiere zu noch größerer Eile an. Angstvolles Rufen drang hinauf zu Kryll.

"Was werden wir jetzt tun?", fragte er den Magier.

"Du wirst den Ring gegen sie kämpfen lassen!"

"Ich habe die Wirkungslosigkeit des Ringes gesehen, Yogaz! Die Eisleute ließen die Kreaturen, die ich mit dem Ring zu wecken im Stande bin, einfach erstarren..."

Yogaz nickte leicht.

"Ihre Waffe ist die Kälte. Unsere Waffe muss die Wärme sein!"

"Was bedeutet das?"

"Du musst mit dem Ring Wärme erzeugen! So viel Wärme, dass die Eisleute zu Wasser zerrinnen!"

"Sie sind weit nach Norden gesegelt, in warme Meere hinein! Und auch das hat sie keineswegs zu Wasser schmelzen lassen!"

"Nein, gewöhnliche Wärme reicht reicht dazu nicht aus. Aber die Art, die du mit dem Ring erzeugen kannst, schon."

Kryll hielt die Hand empor und blickte auf den Ring an seiner Hand, der ihn mit einem seltsamen Funkeln des Juwels zu begrüßen schien.

"Kannst du Wärme erzeugen, Ring?"

"Ja, das kann ich!"

"Warum hast du es nicht getan, als die GEEDRA in Gefahr war? Warum hast du mir in jenem Augenblick verschwiegen, wie man die Eisleute bekämpfen kann?"

"Du hast mich nicht gefragt, Kryll!"

"Ist das nicht eine sehr schwache Ausrede?"

"Ich bin dein Diener, Kryll - aber ich kenne keine Loyalität. Das solltest du nie vergessen. Bei allem, was du tust!"

Kryll verzog den Mund.

"Nun vernichte sie also, Ring! Lass sie dahinschmelzen zu gewöhnlichem Wasser!"

"Wie du wünschst..."

*

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UNTER SICH NAHM KRYLL ein seltsames Flimmern in der Luft wahr. Dieses Flimmern, senkte sich über die fliehenden Eismenschen und ihre Pferde. Verzweifelt versuchten die Flüchtenden, dem Verhängnis zu entkommen. Aber sie hatten nicht den Hauch einer Chance.

Einer nach dem anderen zerflossen sie zu Wasser, ebenso ihre Pferde und Waffen.

Das alles ging sehr schnell vor sich und schon wenige Augenblicke später war dort, wo die Eisleute geritten waren nichts weiter als eine langgezogene Wasserlache zu sehen, die sofort wieder zu frieren anfing.

Am Boden blieb etwas zurück, das in der hellen, kalten Sonne des Eislandes blinkte.

Es musste der Spiegel sein!

"Wir müssen landen!", rief Kryll.

"Weshalb?", gab Yogaz zurück.

"Siehst du das Blinkende dort unten?"

"Ja, das sehe ich!"

"Es ist mein Eigentum, das mir der Eiskönig genommen hat!"

Der Magier gab Shyrkondar einige Befehle in jener fremdartigen Sprache, in der er sich mit dem weißen Vogel zu verständigen pflegte.

Shyrkondars Flug senkte sich und er steuerte nun ziemlich genau auf jene Stelle zu, an der das Blinken zu sehen gewesen war.

Wenig später kam der Riesenvogel dann sanft zu Boden. Kryll sprang vom Rücken Shyrkondars herunter. Er stand da und ließ den Blick umherschweifen. Dann hatten seine Augen endlich gefunden, wonach sie gesucht hatten.

Der Spiegel von Uz lag auf grauweißen, von Schnee und Eis bedeckten Boden, während von demjenigen, der ihn getragen hatte, nicht einmal mehr eine Spur geblieben war.

Kryll trat heran und nahm den Spiegel an sich.

Jetzt habe ich beides!, dachte er triumphierend. Den Ring und den Spiegel!

Etwas zögernd wandte er sich dann wieder Yogaz und dem weißen Vogel zu.

Warum hege ich gegenüber diesem Tier nur ein solches Misstrauen? Es war ein Gefühl, für das es keinen vernünftigen Grund zu geben schien.

Vielleicht liegt es daran, dass dieser Vogel jenem zu gleichen scheint, der mich warnte, dem Namenlosen zu folgen, ging es ihm durch den Kopf.

Die tiefschwarzen Augen Shyrkondars bedachten Kryll mit einem fast warm zu nennenden Blick, aber der Praganier konnte diesem Blick aus irgendeinem Grund nicht standhalten.

Er blickte zur Seite.

"Wirf den Spiegel von dir!", schien der Vogel zu sagen. Kryll erkannte die Stimme und es jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken.

Es war die Stimme, die ihn schon einmal gewarnt hatte.

Krylls Blick ging zu Yogaz.

Der Magier schien die Stimme Shyrkondars nicht gehört zu haben, jedenfalls konnte man ihm nichts anmerken. Kryll hatte nicht die geringste Neigung, mit dem Magier darüber zu diskutieren und daher erwähnte er es auch nicht.

"Wir können zurückfliegen!", sagte er einfach.

"Was meinst du damit? Willst du in den Norden? Nach Pragan?"

"Nein. Zunächst einmal nur bis Ghrangor. Ich habe wenig Lust, auf den Schwingen dieses Vogels um die halbe Welt zu reisen!"

*

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AM HORIZONT TAUCHTEN die verlassene Eisfestung Ghrangor auf. Ein bizarres Gebilde von fremdartiger Schönheit, in dem jetzt nicht einmal mehr die Ahnung irgendwelchen Lebens wohnte.

Ghrangors Bewohner würden nicht zurückkehren.

Auch die Schiffe im Hafen wirkten jetzt wie seltsame Plastiken. Einzig und allein die GEEDRA machte da eine Ausnahme.

An Land sah Kryll den Namenlosen mit einigen Männern der GEEDRA. Der Vogel landete indessen. Kryll und Yogaz stiegen von Shyrkondars Rücken herunter, woraufhin das gewaltige Tier sich gleich wieder in die Lüfte erhob und mit würdevollen Flügelschlägen davonzog.

"Ich glaubte dich schon verloren, Kryll!", sagte der Namenlose. "Was ist mit dem Spiegel und dem Ring? Ist beides in deinem Besitz?"

Kryll nickte.

"Ja."

Sinnend schaute Kryll indessen dem weißen Vogel nach, der in der Ferne immer kleiner und kleiner zu werden schien, ehe er kaum mehr als ein Punkt am Horizont wurde und schließlich gänzlich verschwand.

"Du musst dich vor dem weißen Vogel - Shyrkondar! - in Acht nehmen!", hörte Kryll die Stimme des Namenlosen eindringlich sagen.

"Warum hast du eine solche Furcht vor diesem Wesen?"

"Dieser Vogel ist eines der wenigen Dinge, die die Diener Taraks zu fürchten haben! Und vergiss nicht: Auch du bist ein Diener Taraks geworden!"

Kryll zuckte mit den Schultern.

"Der weiße Vogel hat mir gute Dienste getan!", erwiderte er kurz und ein wenig schroffer, als er ursprünglich beabsichtigt hatte.

"Du solltest auf mich hören, Kryll!"

"Was geschehen ist, ist geschehen! Und wenn der weiße Vogel nicht gewesen wäre, hätte ich den Spiegel nicht von den Eisleuten zurückbekommen!" Unterdessen ging sein Blick zu den Männern, die rechts uns links neben dem Namenlosen standen. Er sah das seltsame Feuer in ihren Augen. Sein Blick ging von einem zum anderen. Bei einigen dieser Männer war er sich ganz sicher, dass er sie im Kampf mit den Eisleuten hatte sterben sehen.

Kryll schluckte.

Eine eisige Hand schien sich von hinten auf seine Schulter zu legen, als er zu begreifen begann.

Es dauerte etwas, bis er sprechen konnte.

"Viele dieser Männer müssten tot sein. Aber sie leben!", wandte er sich an den Namenlosen.

Der Namenlose nickte.

"Sie müssten alle tot sein - erschlagen von den Eisleuten."

"Wie kommt es dann, dass ich sie hier vor mir stehen sehe?"

"Ich habe die Toten zum Leben erweckt, Kryll!" Dann deutete der Namenlose mit einer abfälligen Bewegung auf Yogaz. "Wer ist das?", fragte er nicht gerade freundlich.

"Ein Passagier, der mit uns nach Norden fährt!"

"Wie heißt das Katzengesicht?"

"Yogaz!"

Der Namenlose musterte den katzengesichtigen Magier mit unverhohlener Feindschaft in den Zügen.

"Wohin genau willst du in den Norden?", fragte er dann.

Yogaz schwieg zunächst für einen Moment. Er wandte den Blick zu Kryll. "Ich habe einen Handel mit ihm abgeschlossen. Ich habe ihm geholfen, als er in Bedrängnis war - dafür nimmt er mich jetzt als Passagier auf."

"Was du nicht sagst...", zischte der Namenlose. "Deinesgleichen ist doch auf ein solches Transportmittel nicht angewiesen... Du konntest den weißen Vogel beschwören und auf ihm reiten!"

"Ja, aber das ist nur für begrenzte Zeit möglich. Meine Kräfte reichen nicht aus, um den Zauber für länger aufrecht zu erhalten."

Einen Augenblick lang geschah nichts. Die beiden standen sich einfach nur gegenüber. Dann nahm der Namenlose mit einer raschen Bewegung seine Streitaxt und holte zu einem blitzschnellen, mörderischen Hieb aus, der den katzengesichtigen Magier mit voller Wucht traf.

Er sank getroffen zu Boden, sein Blut färbte die Planken unter ihm rot.

"Was hast du getan!", rief Kryll.

"Ich habe dich davor bewahrt, unter seinen Einfluss zu geraten, Kryll", antwortete der Namenlose kalt. "Nichts anderes war nämlich der Grund dafür, dass er unbedingt in deiner Nähe sein wollte..."

"Aber..."

Und dann sahen sie, wie sich Yogaz' toter Körper verwandelte. Vor ihren Augen wurde aus dem Leichnam des katzengesichtigen Magiers der Kadaver eines weißen Vogels.

Er war viel kleiner als der, auf dem Kryll und der Magier geritten waren, aber die Ähnlichkeit war doch frappierend.

Das Tier wirkte wie ein verkleinertes Ebenbild.

Der Namenlose trat an den Kadaver heran, packte ihn und warf ihn über die Reling ins eisige Wasser.

Dann wandte er sich an Kryll und meinte: "Yogaz war nichts weiter, als eine andere Erscheinungsform jenes Wesens, vor dem ich dich so eindringlich gewarnt habe! Du hast den Beweis selbst gesehen."

"Shyrkondar", flüsterte der König kaum hörbar vor sich hin.

Kryll schien abwesend zu sein, als diesen Namen über die Lippen ließ. Er blickte sinnend zur GEEDRA hinüber.

"Brechen wir auf", meinte er dann. "Wir haben schon genug Zeit in diesem schrecklichen Land zugebracht."

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Viertes Buch: DAS HEER DER SCHATTEN

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"Wo Shyrkondar ist, kann kein Schatten mehr sein! Seit Urzeiten lebt Shyrkondar auf Givera, einer einsamen, kleinen und kaum beachteten Insel im naruanische Meer.

Er lebt noch immer, obwohl er schon oft getötet wurde.Viele Zeitalter lang verbarg sich Shyrkondar auf seiner Insel.

Erst in jenen Tagen, da Kryll von Arkull den Entschluss gefasst hatte, die Wesen des Schattenlandes wieder auf diese Welt zu holen, tauchte er wieder auf..."

(Aus der Legende des Weißen Vogels)

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1. EINE VERSAMMLUNG IN WALLANA

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Die GEEDRA hatte sich von Ghrangor aus wieder auf die Reise nach Norden gemacht.

"Ich frage mich, wie die Eisleute wissen konnten, dass ich im Besitz des Ringes und des Spiegels war - wonach sie ja offensichtlich suchten", wandte Kryll sich an den Namenlosen.

Dieser zuckte mit den Schultern.

"Sie werden magische Hilfsmittel verwandt haben. Vielleicht steckt auch Shyrkondar dahinter!"

"Aber der weiße Vogel half mir dabei, die Eisleute zu besiegen und den Spiegel wieder an mich zu nehmen!"

"Dann frage doch den Spiegel, Kryll!"

Aber der Spiegel von Uz blieb in dieser Stunde stumm.

"Was für ein launisches Artefakt", lachte der Namenlose zynisch.

*

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WÄHREND DIE GEEDRA mit gutem Seitenwind nach Norden segelte, wandte Kryll sich an Norjan, seinen alten Freund. Es hatte ihn die ganze Zeit über schon gewundert, dass der alte Ritter ihn offensichtlich gar nicht zur Kenntnis nahm.

Mit seinen grünlich leuchtenden Augen sah Norjan seinen König teilnahmslos an. Sein Gesicht wirkte vollkommen ausdruckslos.

Kryll versuchte, eine Unterhaltung mit ihm anzuknüpfen, aber schien mit den Worten des Königs nichts allzuviel anzufangen können.

"Es hat keinen Sinn!", rief der Namenlose zu ihm herüber.

Kryll hob den Kopf.

"Warum nicht?"

"Er kann Befehle ausführen, Kryll! Das ist das einzige, wozu er noch taugt!"

Kryll wandte den Blick erneut zu Norjan. Und dann weiter zu Kraynar, der das Ruder der GEEDRA hielt. Und zu all den anderen. Keiner von sprach ein Wort.

"Es ist kein wirkliches Leben mehr in ihnen", erkannte Kryll bitter. "Ihre Körper gehorchen uns, aber sie haben keine Seele..."

Der Namenlose machte eine wegwerfende Geste.

"Was erwartest du von lebenden Toten, Kryll!"

"Dennoch..."

Kryll empfand tiefe Trauer.

*

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DIE GEEDRA ERREICHTE schließlich die Küste von Lukkare.

Durch den Spiegel von Uz erfuhr Kryll, dass die Skölden die gesamte lukkareanische Südküste - von der Grenze nach Kroz bis zur Stadt Loy - erobert hatten und inzwischen Truppen aus Dagarien die sich zurückziehenden Lukkareaner unterstützten.

Diese Entwicklung der Dinge kann mir nur recht sein, überlegte Kryll.

Aber er erfuhr auch Dinge, die weniger gut für seine Pläne waren.

So waren die Remurier inzwischen bei der praganischen Küstenstadt Alark gelandet. Vorerst war es zwar den Praganiern gelungen, den Angriff abzuwehren, aber es würde nicht lange dauern, bis die nächste remurische Flotte vor Alark auftauchte...

Und dann erfuhr er noch, dass sich die hohen Lords von Pragan in Wallana zu treffen gedachten, um darüber zu beratschlagen, ob Kryll sein Amt als König von Pragan behalten könne, da er ja offensichtlich seinen Pflichten nicht nachkommen konnte. Ich habe nicht mehr viel Zeit, dachte Kryll. Wut keimte in ihm auf.

*

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DIE WOCHEN GINGEN DAHIN und die GEEDRA hatte inzwischen die Küsten von Goson, Garam und Az passiert. In Zaralon an der tharkischen Küste machte das Schiff kurz Station, um das Segel wieder in Ordnung zu bringen, dass inzwischen ziemlich zerfetzt war.

Nachdem das geschehen war, ging es weiter in Richtung Pragan. Einige Tage später lief die GEEDRA schließlich im Wallana ein.

Die Königsburg von Wallana! Eigentlich sollte der für praganische Verhältnisse prächtige Bau Krylls Residenz sein. Aber der König hatte es vorgezogen, in Arkull zu bleiben.

Eiligst machte Kryll sich nun zusammen mit dem Namenlosen zur Königsburg auf.

Als sie in den Thronsaal kamen, waren die hohen Lords des praganischen Reiches gerade dabei, lautstark über das weitere Schicksal des Königs zu debattieren.

Erschrocken fuhren sie auf, als sie Kryll und den Namenlosen erblickten.

Der Blick des Königs ging über die Lords, deren Gesichter Überraschung verrieten. Dann ging er selbstsicher an ihnen vorbei.

Der Namenlose folgte ihm.

Der große Thron war leer. Das konnte nur bedeuten, dass Kryll noch nicht zu spät kam. Die Lords schienen sich noch nicht auf einen Nachfolger geeinigt zu haben.

Kryll ließ sich auf dem Thron nieder, während sich der Namenlose - einer Schildwache gleich - daneben postierte.

"Wie ich sehe, seid Ihr bereits vollauf damit beschäftigt, Euch um die Zukunft von Pragan zu sorgen!", erklärte Kryll mit einem deutlich spöttischen Unterton.

Die Lords hatten bislang geschwiegen.

Aber jetzt war der Damm gebrochen.

Kryll konnte den angestauten Ärger und die Enttäuschung, die ihm entgegenschlug, fast körperlich spüren.

"Wo seid Ihr in der Stunde der Gefahr gewesen, mein König?", fragte Thorom von Kylon mit unüberhörbarem Vorwurf.

"Ja, wo seid ihr gewesen?", echoten Otlak von Thorcor und Dremor von Thronth beinahe gleichzeitig. Zorn blitzte in ihren Gesichtern auf.

Drufir, seines Zeichens Lord von Alark, trat jetzt einige Schritte vor.

"Wo seid ihr gewesen, als die Remurier meine Stadt angegriffen haben, Kryll? Ich habe vergeblich auf Eure Hilfe gewartet!"

"Ein König hat seine Heere in die Schlacht zu führen, wenn Krieg ist!", meldete sich nun Kyngor von Kaldon. "Aber was tut der König der Praganier?" Lord Kyngor machte eine theatralische Geste. "Er erkundet ferne Länder!"

Kryll hatte bis jetzt geschwiegen. Er begegnete den aufgebrachten Lords mit aufreizender Gelassenheit.

Schließlich hob er seine Hand, so dass die Lords den Ring an seinem Finger sehen konnten. Das Juwel funkelte.

"Hier! Seht diesen Ring!", rief der König ihnen zu.

"Ich hoffe, Ihr versucht nicht abzulenken!", warnte Yamak von Grolon.

"Das versuche ich keineswegs!"

"Dann sagt, wie es jetzt weitergehen soll oder tretet ab!"

Ein kleinerer Tumult entstand und legte sich erst nach etlichen Augenblicken.

Dann endlich konnte Kryll fortfahren: "Dies ist kein gewöhnlicher Ring! Er besitzt magische Kräfte!"

In den Gesichtern der sieben praganischen Lords stand Skepsis zu lesen.

"Kann uns dieser Ring gegen die Remurier helfen?", rief Otlak von Thorcor.

Kryll nickte.

"Ganz recht, so ist es!"

Lord Ishkroin von Trano machte eine wegwerfende Geste.

"Wir sollten Kryll von Arkull nicht mehr glauben!", meinte er verächtlich. "Er hat unser Vertrauen verwirkt!"

Kryll vernahm zustimmendes Gemurmel unter den Lords.

"Ich kann Euch beweisen, dass ich die Wahrheit spreche!", rief der König zornig aus.

"Dann beweise es!", rief Lord Kyngor höhnisch.

"Seht her!"

Aus dem riesigen Kronleuchter,der die Decke des Thronsaals zierte, wurde ein grässliches Spinnenwesen, das sich zischend an seinem Spinnenfaden herunterließ.

Drufir von Alark zog sein kurzes Schwert, doch ließ er es sogleich zu Boden fallen. Aus seiner Waffe war ein schleimiger, schuppenhäutiger Lurch geworden.

Schuppenhäuige Arme und amorphe Tentakel ragten aus den steinernen Wänden des Thronsaals heraus und griffen nach den verängstigten hohen Lords von Pragan, die erschrocken zurückwichen.

Nacktes Entsetzen stand in ihren Gesichtern.

"Das genügt!", rief Ishkroin von Trano. "Wir glauben dir!"

"Ja, wir glauben dir!", rief auch Drufir von Alark.

Im selben Moment wurde das Schwert wieder zu einem Schwert. Das Spinnenwesen verwandelte sich zurück in einen Leuchter und die Arme aus der Wand verschwanden.

"Ihr seht, dass ich nicht übertrieben habe!", rief Kryll mit der Stimme eines Triumphators.

Ein Raunen ging durch die Reihe der Lords.

"Es bleibt dabei! Ihr habt die Pflichten eines Königs verletzt!", rief Dremor von Thronth.

Kryll machte eine abweisende Geste.

"Ich habe in fernen Ländern nach einem Weg gesucht, aus Pragan ein mächtiges Imperium zu machen und es vor seinen Feinden zu schützen!", sagte der König. "Und ich habe tatsächlich einen Weg gefunden. Nicht mehr lange und wir werden zusammen mit magischen Verbündeten die Welt erobern. Das verspreche ich euch!"

Die Lords schien das kaum zu überzeugen.

"Versprecht nicht zuviel, mein König!", brummte Thorom von Kylon mürrisch.

"Pragan - ein mächtiges Reich? Jeder Remurier oder Dagarier würde über einen solchen Gedanken nur lachen!", rief Lord Otlak.

Kryll nickte.

"Ja, aber aber das Lachen wird ihnen bald vergehen! Wir werden mächtige Verbündete haben..."

"Was werden das für Verbündete sein?", fragte Lord Kyngor skeptisch. "Die Zauberei, die Ihr uns gerade vorgeführt habt, wird wohl nicht ausreichen, um den König von Remur zu beeindrucken."

Die Augen der Lords waren allesamt auf Kryll gerichtet. Der König atmete tief durch und sagte dann: "Die Mächte des Schattenlandes werden uns helfen! Tarak, der Herr der Schatten, hat mir dies zugesagt!"

Die Lords tauschten verwunderte Blicke. Kryll bemerkte hier und dort deutliches Stirnrunzeln.

"Wer ist Tarak? Und was soll das Schattenland sein?", fragte Thorom von Kylon schließlich, wobei er sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht fuhr.

"Das Schattenland existiert in einer anderen Welt, in die wir unter normalen Umständen nicht vordringen können! Aber ich werde ein Tor dorthin bauen, damit die Heere der Schatten in unsere Welt gelangen können. Tarak, der König des Schattenlandes, wird uns zur Seite stehen!"

Einen Moment lang trat Stille ein. Kryll glaubte bereits, die Lords überzeugt zu haben, da meldete sich abermals Thorom von Kylon zu Wort.

"Aus welchem Grund sollte es unser Bestreben sein, Pragan zum mächtigsten Land der Welt zu machen? Weshalb sollen wir fremde Länder erobern? Ich für mein Teil bin völlig zufrieden, wenn die Remurier uns in Ruhe lassen!"

Kryll lachte.

"Habt Ihr wirklich schon sämtliche Ambitionen verloren, Lord Kylon?", fragte der König spöttisch.

"Nein. Aber ich verlasse mich lieber auf den gesunden Menschenverstand, als auf die Hilfe irgendwelcher übernatürlichen Wesen!"

Kryll wandte sich an die anderen Lords. "Wir werden die Welt in unseren Händen halten. Wie gefällt euch das?"

Den meisten schien der Gedanke sehr verlockend zu sein.

"Wenn es wirklich wahr ist, was Ihr sagt...", meinte Lord Yamak.

"Es ist wahr!"

"...dann bin ich dabei!"

"Ich auch!"

Zustimmendes Gemurmel entstand. Lord Thorom schien mit seinen Bedenken ziemlich einsam dazustehen und so wiederholte er sie auch nicht.

Kryll nickte zufrieden.

"Mit Hilfe des Ringes und des Spiegels werde ich ein Tor zum Schattenland errichten! Wenn erst Krieger mit nie erlahmenden Armen die Welt verwüsten, wenn erst Schiffe über die Meere fahren, die keinen Wind mehr zum Antrieb benötigen, dann wird niemand mehr über uns lachen! Dann wird man uns fürchten!"

"Bauen wir das Tor!", rief Lord Drufir.

"Ja! Bauen wir das Tor und erobern wir Remur!", fiel Lord Ishkroin ein.

Krylls Blick ging von einem zum anderen und sah die seltsame Wandlung, die mit jedem einzelnen von ihnen vor sich ging.

Es ist dieser unheimliche Hunger!, dachte Kryll mit Schaudern. Der unersättliche Hunger nach Macht, der ihn selbst gefangenhielt und nun offensichtlich auch die hohen Lords von Pragan ergriffen hatte.

Ihre anfängliche Feindseligkeit Kryll gegenüber schien wie weggeblasen. Sie waren jetzt auf seiner Seite. Und selbst Lord Thorom schien seine Bedenken vergessen zu haben.

Kryll lächelte.

Aber das Lächeln erstarb sogleich wieder. Die Stimme des weißen Vogels ging ihm auf einmal durch den Kopf. 'Kehre um, Kryll! Kehre um, ehe es zu spät ist! Lass dich nicht durch den Hunger nach Macht beherrschen, sondern vertraue der Vernunft!"

Kryll schluckte.

Fast glaubte er, Shyrkondar, den weißen Vogel, irgendwo in der Nähe - so real erschien ihm die Stimme in seinem Kopf.

Aber er wusste, dass dem nicht so war. Es musste Einbildung sein.

Unterdessen redeten die Lords laut durcheinander. Sie schmiedeten bereits die großartigsten Pläne für die Zukunft.

Kryll wandte sich an den Namenlosen.

"Es wird Zeit, dass das Tor endlich errichtet wird!", sagte der König.

Der Namenlose nickte.

"Ja, der Meinung bin ich auch."

"Wo kann es geschehen?"

"Überall."

"Auch hier in Wallana?"

"Auch hier."

"Dann lass uns keine Zeit mehr verschenken!"

"Wie du willst, Träger des Ringes und des Spiegels!"

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2. DAS TOR DER FINSTERNIS

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Kryll zog zusammen mit dem Namenlosen und den Lords auf einen brachliegenden Acker vor den Toren von Wallana. Schließlich blieb der König stehen und verkündete: "Hier werden wir das Tor zum Schattenland errichten!"

Kryll bemerkte zwar, dass Lord Thorom sich etwas abseits hielt und das Ganze mit unverhülltem Misstrauen, achtete dann aber nicht weiter auf den Mann aus Kylon.

Kryll wandte sich an den Namenlosen.

"Sag mir, was ich zu tun habe!"

Der Namenlose nickte.

"Nimm den Spiegel!"

Kryll holte den Spiegel unter seinem Umhang hervor.

Genau in diesem Augenblick durchdrang ein Kreischen die Luft. Der König und sein Gefolge wirbelten herum und erblickten Shyrkondar, den weißen Vogel.

"Verflucht!", zischte der Namenlose. Er wandte sich an den König. "Wenn dir die Heere der Schatten erst einmal dienen, dann brauchst du nichts mehr zu fürchten - außer diesem Vogel!"

"Shyrkondar? Was sollte er mir anhaben können - außer mir mit seinen Warnungen Angst einzujagen? Er war mein Verbündeter im Kampf gegen den Eiskönig!"

"Gib ihm keinen Namen! Namen bedeuten Macht - die Macht dieses Vogels über dich wird wachsen, wenn du ihm einen Namen gibst!"

"Was mag das nur für ein merkwürdiges Tier sein?", war indessen die Stimme Lord Otlaks zu hören.

"Ich habe von einer Legende gehört, die von einem ähnlichen Geschöpf handelte!", meldete sich nun Lord Thorom zu Wort. Ihn schien die Erscheinung Shyrkondars weit weniger zu erschrecken, als die anderen.

"Höre nicht auf den Namenlosen, Kryll von Arkull! Er wird dich mit sich ins Verderben ziehen! Kehre um!", schien der Vogel zu rufen. Etwas verkrampft hielt Kryll in der einen Hand den Spiegel, an der anderen hatte er den Ring.

"Was starrt ihr alle auf dieses Vogeltier? Lasst uns endlich zur Tat schreiten!", forderte Lord Kyngor.

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KRYLL VERMOCHTE ES kaum, sich vom Anblick des weißen Vogels zu lösen. Shyrkondars tiefschwarze Augen bohrten sich für einen Moment in die des Königs.

Die Augen hatten einen melancholischen Ausdruck. Fast schien es, als spräche Bedauern aus ihnen. Bedauern und Mitleid.

Und plötzlich war es Kryll aus irgendeinem Grunde klar, dass ihm dieses Mitleid galt. Ihm, Kryll von Arkull, der bald auf dem Gipfel seiner Macht stehen würde.

Ein merkwürdiges Geschöpf!, dachte Kryll.

Er fühlte ein Unbehagen, das er in ähnlicher Weise auch bei den früheren Zusammentreffen mit Shyrkondar gespürt hatte.

"Was ist mit Euch, mein König?", rief Dremor von Thronth, der sich nicht erklären konnte, weshalb Krylls Blicke so lange an dem weißen Vogel haften blieben.

Mit gemessenen Flügelschlägen flog der riesige Vogel schließlich davon.

Kryll blickte ihm nach, bis Shyrkondar am Horizont verschwunden war.

Dann wandte er sich endlich wieder an sein Gefolge, aber noch schwieg er.

"Bauen wir das Tor!", rief Lord Yamak in die gespenstische Stille hinein.

"Ja, das Tor!", forderte Lord Kyngor.

Das Echo des Königs wirkte gequält und unsicher.

"Ja", sagte er. "Das Tor..."

Dann folgte ein Augenblick des erwartungsvollen Schweigens.

"Halte den Spiegel so, dass sich der Ring darin widerspiegeln müsste!", wies ihn der Namenlose an.

Kryll gehorchte.

Doch statt eines Spiegelbildes des Ringes von Kuldan war in dem Zauberspiegel nur eine Fülle grünlichen Lichtes zu sehen.

Es ist dasselbe grüne Feuer, das auch in den Augen der GEEDRA-Männer brennt!, durchfuhr es Kryll mit einem kalten Schauder.

Das grüne Leuchten wurde immer stärker.

Kryll schloß instinktiv die Augen, um sich vor diesem seltsamen Licht zu schützen.

Doch das nützte nichts.

Das grüne Leuchten drang auch durch seine Augenlider hindurch. Dann schoss es flimmernd aus dem Spiegel heraus und bildete dann eine Art Torbogen aus giftgrünem Licht.

Jenseits des Tores aber war nichts als namenlose Finsternis...

Eine Schwärze, die offenbar vom Licht des Tages nicht durchdrungen werden konnte. Fast schien es, als würden die Sonnenstrahlen von der Finsternis verschluckt.

Die Düsternis des Schattenlandes - das musste es sein, was auf der anderen Seite des Tores lag.

"Es ist vollendet", murmelte Kryll kaum hörbar, den Blick starr in das bodenlose Dunkel gerichtet.

Niemand sonst sagte auch nur ein einziges Wort.

*

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DIE TIEFE SCHWÄRZE hinter dem Tor begann sich langsam in ein sehr dunkles Grau zu verwandeln.

Schritte wurden hörbar. Gespenstische, schwere Schritte...

Kryll hielt den Atem an.

Waren das die Geschöpfe des Schattenlandes?

Die Schritte wurden lauter und deutlicher. Einen Moment lang schien es, als verfinsterte sich das Grau jenseits des Tores ein wenig. Gestalten wurden als schwarze Schemen sichtbar.

Ein sonderbarer Tiermensch trat schließlich aus dem Tor heraus und hinter ihm folgte sogleich ein zweiter. Ihre Körper ähnelten denen von Menschen, aber ihre Köpfe waren die von Wölfen. Unter ihren schwarzen Umhängen ragten die Stiele von Streitäxten hervor, die der Axt des Namenlosen ähnelten.

Als die Geschöpfe Kryll erblickten, hoben sie ihre behaarten Hände zum Gruß.

"Wir sind hier, um dir zu dienen, Kryll von Arkull!", sagte der Erste von ihnen.

Kryll nickte nur.

Er war unfähig, etwas zu sagen.

Geräusche von marschierenden Soldaten waren zu hören, dazu Pferdehufe und Kampfwagen. Ein Zug düsterer, martialisch wirkender Gestalten kamen aus der Dunkelheit des Tores. Eine Armee der Gespenster!

Furchterregende Tiermenschen, dämonische Krieger mit grünlichem Feuer in den Augen, die auf riesenhaften Reitreptilien saßen sechsarmige, mindestens vier Meter große Riesen marschierten vor Kryll auf.

"Mit diesem Heer können wir jede Macht der Welt besiegen!", verkündete der Namenlose.

"Mir ist nicht wohl dabei", murmelte Lord Thorom.

Und Lord Dremor sagte schaudernd: "Diese Geschöpfe sehen gespenstisch aus!"

Ishkroin von Trano klopfte ihm im nächsten Moment auf die Schulter. "Ihr Aussehen spielt keine Rolle! Sie sollen für uns kämpfen, sonst nichts! Und wenn sie uns schon einen Schrecken einjagen, wo wir doch wissen, dass sie auf unserer Seite sind - wie wird ihr Anblick erst auf unsere Feinde wirken!" Er lachte. "Wie die Hasen werden sie Reißaus nehmen!"

Unterdessen wandte sich Kryll an den Namenlosen.

"Wir werden auch Schiffe benötigen! Ohne Schiffe werden wir nichts gegen unsere Feinde tun können!"

"Auch Schiffe werden kommen!", versprach der Namenlose.

Und tatsächlich!

Von riesenhaften Echsen gezogen und auf besondere Wagen gebunden wurden pechschwarze Schiffe herbeigeholt.

"Ihr Götter", flüsterte Kryll.

"Ich habe versprochen, dir Krieger zu geben, deren Arme niemals ermüden! Ich habe dir Schiffe versprochen, die auch ohne Wind segeln! Du siehst, Kryll, ich habe bisher alle meine Versprechungen auch gehalten! Nun musst du deinen Teil erfüllen!", sagte Kryll mit einem merkwürdigen Unterton. "Du musst für Tarak die Welt erobern!"

Kryll nickte.

"Das werde ich", murmelte er. "Das werde ich..." Und in Gedanken setzte er noch hinzu: Aber ich werde nicht für Tarak tun, Namenloser, sondern für mich selbst!"

Der Namenlose legte Kryll eine Hand auf die Schulter. Aber es war keineswegs eine Geste der Freundschaft, sondern hatte vielmehr etwas Besitzergreifendes an sich.

Ein kalter Schauder ging Kryll unwillkürlich über den Rücken.

"Wir können aufbrechen, wann immer es dir beliebt - und wohin du willst!"

"Dann lass uns keine Zeit verlieren! Wir ziehen nach Remur!", rief Kryll in grimmiger Andacht. Was waren die Illusionen des Ringes schon gegen eine solche Streitmacht, wie sie das Schattenland aufstellen konnte?

Die lange Schlange der Krieger und des Kampfgerätes nahm kein Ende. Immer weitere Einheiten kamen durch das finstere Tor. Sie marschierten in Richtung des Hafens, wo die schwarzen Schiffe zu Wasser gelassen wurden.

"Beginnen wir den Feldzug!", rief Kryll erregt aus. Doch am Horizont drehte ein weißer Vogel seine Kreise. Kryll erschrak.

Shyrkondars Warnung ging ihm erneut durch den Kopf.

"Der weiße Vogel! Es scheint fast, als würde er uns folgen!", bemerkte Lord Thorom mit Verwunderung.

*

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MIT AUSNAHME VON LORD Kylon beabsichtigten alle hohen Lords, bei Krylls Feldzug mitzuziehen.

Kryll spürte das Misstrauen Lord Thoroms, aber er hoffte, auch, ihn noch überzeugen zu können. Der König und sein Gefolge gingen an Bord eines der schwarzen Schiffe, die die Schattenwesen durch das Tor gebracht hatten.

"Auf nach Remur!", brüllte der König von Pragan und die anderen stimmten in diesen Ruf mit ein. Die schwarze Flotte brach schließlich auf.

Es waren bereits Dutzende von Schiffen und noch immer wurden weitere zu Wasser gelassen.

Ich darf die Kontrolle nicht verlieren!, dachte Kryll mit einem Schuss Verzweiflung, angesichts des gewaltigen Heeres, dass sich da aufmachte, um die Feinde Pragans zu schlagen.

Ein wenig Furcht kroch in ihm hoch. Und dann sah er am Horizont wieder Shyrkondar, den weißen Vogel. Er flog gen Süden in Richtung der remurischen Küste. Der weiße Vogel flog der Flotte der Finsternis voraus...

Der Namenlose deutete mit einer grimmigen Geste zum Himmel und meinte: "Dieses verfluchte Wesen wird unsere Feinde warnen! Aber auch das wird den Remuriern jetzt nichts mehr nützen..."

Die schwarzen Schiffe dieser gespenstischen Flotte durchpflügten unaufhaltsam und mit nicht natürlicher Gleichmäßigkeit die See, während der Vogel schließlich vom fernen Horizont verschluckt wurde.

Die Schiffe aus dem Schattenland segelten mit unglaublicher Schnelligkeit und schienen tatsächlich völlig unabhängig vom Wind zu sein.

Eine unsichtbare Kraft ließ sie mit hoher Geschwindigkeit über die Wellen gleiten.

Während die hohen Lords allesamt von diesem Schauspiel gefangen waren und sich sehr beeindruckt zeigten, hatte sich in Kryll eine Ahnung des Zweifels manifestiert. Er stand an der Reling des schwarzen Schiffes und blickte nachdenklich hinaus auf das Meer.

Er konnte die Düsternis in seinem Innern nicht greifen, aber er fühlte so etwas wie einen tiefen, dunklen Spalt in seiner Seele.

Er hörte das wilde Freudengeschrei der Lords, aber es klang für ihn auf einmal sehr, sehr fern.

Erst, als am Horizont die Zinnen der remurischen Hafenstadt Mura auftauchten, gelang es dem König, seine düsteren Gedanken bei Seite zu drängen.

Aus der Ferne beobachtete Kryll dann, wie die Hafenwache von den dämonischen Kriegern mit den Wolfsköpfen niedergemacht wurden.

Die Schattenkrieger ließen nicht einen einzigen Laut dabei hören. Keine Worte, keine Befehle, kein Schlachtruf, keine Schmerzensschreie... Sie kämpften still und fast lautlos - mit nie ermüdenden Armen.

Zu hören waren nur die gellenden Todesschreie der sterbenden Remurier.

Kryll erschauderte.

Und er erinnerte sich an die Worte des Namenlosen, wonach noch viele Köpfe rollen würden, ehe er - Kryll - die alleinige Macht in Händen halten würde...

Als später der König und sein Gefolge an Land kamen, trafen sie in Mura auf keinen einzigen lebenden Remurier mehr.

Die Schattenkrieger pflegten keine Gefangenen zu machen...

Und auch die Bevölkerung hatten sie nicht verschont, wie Kryll mit Grauen feststellte. Mura war eine Totenstadt geworden.

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3. DER LÄRM VIELER SCHLACHTEN

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Wendur, der König von Remur, verbrachte die meisten seiner Tage nicht in Kenun, der Hauptstadt, sondern in Kruss, wo er er einen ausgedehnten Landsitz besaß.

Nur zu sehr wichtigen Anlässen pflegte der König sich auf den Weg nach Kenun zu begeben - und die gab es nicht allzu häufig.

Und was ein ein wichtiger Anlass war und was nicht, dass bestimmte er höchstselbst.

Wendur hatte zu einem großen Festmahl geladen. Unzählige Adelige und Gesandte aus fernen Ländern hatten sich eingefunden und ließen es sich wohlschmecken.

Des Königs Günstlinge waren oft schon an ihrer Wohlbeleibtheit erkennbar, denn natürlich fanden sie sich besonders häufig bei derartigen Festen ein.

Die leise, fast ein wenig zu melancholische Musik, die von den Spielleuten vorgetragen wurde, ging fast im Gewirr der Stimmen unter.

"Ich habe den Eindruck, dass dies der schönste Ort der Welt sein muss!", rief Graf Yakurul aus, der direkt neben König Wendur platzgenommen hatte.

Der König lachte.

"Nicht Kenun, unsere Hauptstadt, von der man sagt, dass in ihr das pulsierende Leben wohnt?"

Graf Yakurul schüttelte den Kopf.

"Was ist eine Stadt wie Kenun schon verglichen mit einem so wundervollen Ort wie diesem, o König!"

Wendur schlug sich auf die Schenkel.

"Da habt Ihr zweifellos recht, Graf!"

Da platzte ein Kurier in das ausgelassene Fest hinein!

Mit eiligen Schritten ging er durch die Reihen der sich unterhaltenden hohen Herrschaften zum König. Vor dem König blieb er dann stehen und verneigte sich tief.

Man sah dem Boten die Strapazen eines langen, scharfen Ritts wohl an. Bevor er zu sprechen begann, atmete er hörbar durch.

"Ich muss Euch eine schlimme Nachricht überbringen, Majestät!", eröffnete der Kurier. Der König betrachtete nachdenklich die staubigen Stiefel und das abgenutzte Wams des Boten und sagte dann: "Warum belästigst du mich zu dieser ausgelassenen Stunde mit betrüblichen Nachrichten? Ich bin am Feiern und habe wenig Neigung, jetzt so etwas zu hören!"

"Es ist sehr wichtig, Majestät!"

"So?"

"Remur wird angegriffen, mein König!" Wendur zog beide Augenbrauen hoch und stand auf. Er trat dicht an den Kurier heran, der sich nicht zu rühren wagte.

"Was sagst du da? Ein Angriff?"

"Ja. Der Feind hat Mura vernichtet. Das Heer der Feinde teilte sich dann. Die eine Hälfte zieht gegen Vilkor, die andere nach Drisos. Zu dieser Stunde werden an beiden Orten die Kämpfe schon begonnen haben!"

"Wer ist der Feind? Wer wagt es, das mächtige Remur herauszufordern?"

Der Kurier wurde bleich.

"Eine Armee von Tiermenschen und Dämonen. Zuvor wurden wir von einem großen, weißen Vogel gewarnt, aber niemand gab etwas darauf. Von Mura sind nur Ruinen geblieben. Sie haben niemanden verschont, der in ihre Hände fiel. Vielleicht konnten sich ein paar Bewohner in die tharkischen Berge flüchten, sofern sie Glück hatten. Aber zu viele Hoffnungen braucht man sich da nicht zu machen... Ihr könnt Euch die Grausamkeit dieser fremden Kreaturen nicht vorstellen, o König! Ich habe schon viele Schlachten ausgefochten, aber so etwas habe ich noch nie zu Gesicht bekommen!"

König Wendur erstarrte.

Das Blut schien gänzlich aus seinem Gesicht gewichen zu sein. Alle im Raum Anwesenden schwiegen und auch die Musik hatte aufgehört zu spielen.

Der Blick des Königs ging über die Köpfe des remurischen Adels. "Wer auch immer uns dort angreifen mag! Wir werden ihm begegnen!", rief Wendur dann entschlossen und schmetterte zornig seinen halbgefüllten Pokal zu Boden.

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ZWEI TAGE SPÄTER SAMMELTE sich ein gigantisches Heer in der Nähe von Kruss. Tausende von remurischen Soldaten und Rittern hatten sich hier versammelt, unterstützt von garamitischen und gosonesischen Söldnereinheiten.

Durch Boten und Kuriere hatte man inzwischen erfahren, dass die Städte Wyllck, Drisos und Drangos in der Zwischenzeit gefallen waren. Der gesamte remurische Norden befand sich nun unter Kontrolle der unerbittlichen Feinde, die nun auf die Halbinsel von Kruss zumarschierten.

Angesichts dieser Lage entschloss Wendur sich zu warten, bis der Gegner herangekommen war. Vor den Toren von Kruss formierte sich das Heer zu Schlachtreihen.

Die Remurier mussten nicht lange warten.

Vom Horizont her schob sich das düstere Heer der Schatten auf die Tore von Kruss zu.

Den Remuriern drohte es schier den Atem zu verschlagen. Gegen einen solchen Gegner hatte noch keiner von ihnen zu kämpfen gehabt!

"Eine wahrhaft gespenstische Armee", bemerkte Graf Yakurul.

"Ich möchte nur zu gerne wissen, in wessen Dienst dieses Heer steht", gab König Wendur zurück. Mit einer raschen Bewegung zog er sein Schwert und schwenkte es hoch über dem Kopf.

"Es wird kein leichter Kampf werden!", rief der König.

Der Feind war unterdessen nahe herangekommen. Die Tiermenschen fletschten die Reißzähne und schwangen ihre fürchterlichen Streitäxte. Von Zentauren gezogene Kampfwagen rollten über das Gras der Ebene.

Am Himmel waren riesenhafte Echsenwesen zu sehen, die von schwarzen Schwingen getragen wurden.

Die Remurier begegneten dem Angriff mit einem Hagel aus Pfeilen und Speeren.

Die Pfeile bohrten sich in die Körper der Schattenwesen, aber nirgends floss Blut.

Die Geschosse ragten aus ihren Körpern heraus, aber das schien ihre Kampfkraft nicht im Geringsten zu beeinträchtigen.

Es war ein gespenstischer Anblick, der manchem der remurischen Verteidiger schier den Verstand zu rauben drohte.

Immer näher kam das Heer der Schatten heran und prallte schließlich direkt auf die Armee des Königs von Remur.

Die schrecklichen Streitäxte des Schattenlandes hoben und senkten sich. Sie wirbelten rot leuchtend durch die Luft und verbreiteten Tod und Schrecken.

Die fliegenden Echsen ließen sich mit ihren schwarzen Schwingen von oben her auf die Remurier herab. Ihre messerlangen Klauen und Zähne kosteten so manchen von ihnen das Leben.

König Kryll beobachtete die Schlacht zusammen mit seinem Gefolge und dem Namenlosen von einem nahegelegenen Hügel aus.

"Die Remurier haben keine Chance", bemerkte Lord Drufir von Alark.

Krylls Blick war nachdenklich.

Ihn schauderte vor der Kraft des Schattenheeres, obwohl es ihm zur Zeit zu dienen schien.

Er dachte an sein Vorhaben, Tarak, den Herrn des Schattenlandes, zu betrügen, aber die Dinge begannen, dem jungen König aus der Hand zu laufen.

Er spürte das ganz deutlich.

Ich werde schon noch einen Weg finden, um mich des Schattenkönigs zu entledigen!, dachte er bei sich. Aber zuvor muss die Welt in meiner Hand sein!

In meiner Hand...

Und dann fühlte er wieder diesen unstillbaren Hunger in sich aufsteigen, den Hunger nach Macht.

"Da, seht! Die Remurier laufen in Panik auseinander!", rief Kyngor von Kaldon erfreut.

"Der Sieg ist unser!", meinte Lord Otlak ein wenig hochnäsig.

Dieser unheimliche Hunger, überlegte Kryll. Er hat sie alle in seiner Gewalt! Sie alle!

Die Heerscharen der Remurier machten sich in heilloser Flucht davon.

Sofern sie konnten, zogen sie sich hinter die Mauern von Kruss zurück. Kruss war eine verhältnismäßig kleine Stadt und deshalb auch nicht übermäßig gut befestigt. Die Anlagen reichten, um die Stadt vor herumstreunenden Banditen zu schützen. Aber niemand hatte damit gerechnet, dass irgendwann ein fremdes Heer bis hier her vorstoßen könnte. Seit Jahrhunderten war das nicht mehr geschehen...

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"AUCH WENN SIE SICH jetzt hinter ihre Mauern zurückziehen, so werden sie der Vernichtung nicht entgehen können!", prophezeite der Namenlose grimmig.

Kryll wusste, dass der Mann aus dem Schattenland recht behalten würde.

Unterdessen stürmte das Schattenheer auf die Befestigungen von Kruss zu. Die Flugechsen mit ihren schwarzen Schwingen flogen über die Mauern hinweg und stürzten sich wie hungrige Raubvögel auf ihre Opfer.

Leitern wurden gegen die Mauern gestellt, mit denen die Schattenkrieger die Befestigungen nach und nach überwanden.

Todesschreie gellten über die remurische Hügellandschaft. Flammen loderten hoch empor. Im Hafen von Kruss brannte ein gutes Dutzend Schiffe.

"Eure Verbündeten haben gute Arbeit geleistet", wandte sich Lord Ishkroin an Kryll.

"Eine grausame Arbeit...", murmelte Kryll.

"Wer die Macht erringen will, darf sich nicht von zuviel Skrupeln gefangen nehmen lassen!", zischte der Namenlose.

Und Kryll wollte die Macht!

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VON KRUSS WAREN NUR rauchende Ruinen geblieben. Und ein Teppich von Leichen.

Als der König mit seinem Gefolge durch die zerstörten Straßen der Residenzstadt ritt, erkannte Kryll plötzlich einen der Toten.

Er zügelte sein Pferd und stieg ab.

"Was ist, Majestät?", fragte Lord Kyngor, aber der König gab ihm keine Antwort. Er beugte sich über einen toten Remurier.

Es war die Leiche des Grafen Yakurul, der als Botschafter des remurischen Hofes nach Burg Arkull gereist war.

Der Namenlose ließ sein Pferd ein paar Schritte herankommen und deutete auf einen der anderen Erschlagenen.

"Dies ist König Wendur, der Herrscher von Remur! Für Männer wie ihn bietet diese Welt in Zukunft keinen Raum mehr!"

Kryll nickte.

Er spürte, dass der Namenlose recht behalten würde. Ein eisiger Wind pfiff klagend über die Ruinen von Kruss und der Wind schien zu flüstern.

'Warum hast du das getan, Kryll von Arkull?', hörte Kryll den Wind raunen. Kryll erschrak und stieg wieder auf sein Pferd, ein Pferd aus dem Schattenland, dessen Beine nie ermüdeten.

"Verlassen wir diesen schrecklichen Ort", sagte Kryll leise.

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KRYLLS HEER ZOG WEITER nach Kenun, der Hauptstadt des remurischen Reiches, doch stellten sich den Schattenkriegern nur noch wenige Verteidiger entgegen. Das Schicksal Remurs war nach der großen Schlacht von Kruss besiegelt.

Der Süden des Landes wurde in wenigen Wochen überrannt. Städte wie Joskor, Darjos oder Doban wurden fast kampflos genommen; bei Lutos und Kitos überschritt das Schattenheer den großen Luuh-Fluss.

Jetzt wurde der Krieg um Lukkare im Süden zum Vorteil. Die mit Remur verbündeten Dagarier kämpften inzwischen an der Seite des Kaisers von Lukkare gegen die Skölden, die bereits den lukkareanischen Süden kontrollierten. So kämpften nur wenige dagarische Krieger im südlichen Remur, als die Invasoren bei Deisor den Dreel-Fluss überquerten und die Städte Sykor und Shian im Delta-Gebiet, sowie Widora im Süden eroberten.

Erst als Kryll die Grenzen von Dagarien und Lukkare überschritt, wurden die Mächtigen in der Hauptstadt Kalitrub auf den neuen Gegner wirklich aufmerksam...

*

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AM HORIZONT TAUCHTE die dagarische Stadt Ri-Hai auf.

Das Ziel seine alten Feinde, die Remurier, zu besiegen, hatte Kryll längst erreicht. Aber sein Hunger nach Macht war noch nicht gesättigt und so ließ er das Schattenheer weitermarschieren.

Er würde sie auch Dagarien erobern lassen - und danach vielleicht noch weitere Gebiete, bis er die gesamte bekannte Welt unter seiner Herrschaft hatte.

Doch die Dagarier schienen dazu entschlossen, sich zu wehren!

Ein riesiges Heer wälzte sich über die Hügellandschaft. Es mochten mehr als hunderttausend Krieger sein, die da gegen die Armee des Schattenlandes zogen.

Nicht nur dagarische Truppen waren hier zusammengezogen worden, sondern auch Krieger aus Kroz und dem auf der anderen Seite des krozischen Meeres gelegenen Varien. Die südlichen Länder schienen die Zeit genutzt zu haben, um sich zusammenzutun.

"Mein König! Seht dort!", rief Lord Kyngor an Kryll gewandt, wobei er auf ein etwas abseits stehendes Truppenkontingent deutete, dass der Kleidung seiner Soldaten und seiner Fahnen nach von der Insel Naru stammte.

Die Naruaner transportierten auf einem Wagen eine äußerst seltsame Maschine, mit der die Zugpferde große Mühe zu haben schienen.

"Was mag das nur für eine Maschine sein?", murmelte Kryll.

Der König holte seinen Spiegel hervor.

"Spiegel, sage mir, was das für eine Maschine ist, die meine Feinde dort heranführen!", wandte er sich dann an das Artefakt.

"Es ist eine Kampfmaschine", antwortete die Stimme des Spiegels.

"Eine Kampfmaschine? Wie funktioniert sie?"

"Es ist eine Vorrichtung, die das Licht zu einem gefährlichen Feuerstrahl zu bündeln vermag. Sie ist sehr wirksam!"

"Die Schatten sind unbesiegbar!", hörte Kryll in diesem Augenblick den Namenlosen an seiner Seite sagen.

Kaum war das gesagt, da schoss ein Lichtstrahl aus einem der metallenen Rohre, die aus der monströsen Maschine herausragten.

Der Strahl traf eine Gruppe von Wolfskriegern, von denen nur einen Augenaufschlag später nur noch schwarze Asche übrig war.

"Das kann unmöglich wahr sein!", rief der Namenlose entsetzt aus.

Ein weiterer Strahl fuhr zwischen die Reihen der Schattenkrieger und hatte eine verheerende Wirkung.

Als der Namenlose sah, wie nun die Heerscharen der Dagarier heranstürmten, bemerkte er kalt: "Ri-Hai wird nun wohl doch noch zu einem Friedhof unserer Feinde werden!"

"Ja, es sieht so aus", murmelte Kryll.

"Ihre Schwerter sind vergiftet", flüsterte da der Spiegel in Krylls Hand.

Der Namenlose lachte rau.

"Kein Gift dieser Welt kann einem Wesen des Schattenlandes etwas anhaben!"

"Sie haben ihre Schwerter in Shyrkondars Blut getränkt", gab daraufhin der magische Siegel von Uz zu bedenken.

Der Namenlose schien zu erstarren.

Kryll blickte zu seinen Feinden hinüber, die mit geröteten Klingen auf das Heer der Schatten zustürmten.

Indessen schossen weiterhin grelle Strahlen aus der naruanischen Kriegsmaschine. Reihenweise wurden die Krieger des Schattenlandes zu Asche.

Die Männer mit den rotgefärbten Klingen fielen mit wildem Gebrüll über die Schattenkrieger her.

Es gab furchtbare Verluste - aber anders, als in den Schlachten zuvor diesmal auf beiden Seiten. Und bald schien es sogar, als würden mehr Leichen von Schattenkriegern auf dem Schlachtfeld liegen als tote Dagarier, Krozier oder Naruaner.

"Unser Heer scheint nicht so unbesiegbar zu sein, wie es am Anfang den Anschein hatte", bemerkte Lord Otlak ein wenig verdrossen.

"Majestät! Ihr solltet Euch etwas zurückziehen, sonst trifft Euch am Ende gar auch noch einer dieser schrecklichen Blitze aus der magischen Maschine!", rief Yamak von Grolon.

Aber Kryll blieb, wo er war.

Er starrte stumm auf das Schlachtgeschehen. Sollte dies die erste Niederlage in diesem Feldzug werden?

Kryll hoffte nur, dass es das zweite Schattenheer, das über die Grenze von Lukkare nach Djur vorstoßen sollte, um die Reste des lukkareanischen Reiches zu zerstören, leichter hatte. Kryll blickte in den Spiegel.

Er sah, wie die Schatten aus Djur eine Ansammlung rauchender Ruinen gemacht hatten. Leichen von Lukkareanern bedeckten den Boden.

Kryll ließ den Spiegel dann in einer wildledernen Tasche an seinem Gürtel verschwinden.

Am Horizont erschienen immer weitere Truppen die die Verluste auf Seiten der Verteidiger ausglichen. Es mussten Hunderttausende sein, die da gegen die Armee der Schatten marschierten und sich ihr mit dem Mut der Verzweiflung entgegenwarfen.

Die Schlacht wogte hin und her und die Schattenkrieger wehrten sich mit aller Macht gegen den Ansturm. Schließlich erlagen sie aber doch den in Shyrkondars Blut getränkten Schwertern.

Langsam aber sicher musste Krylls Heer immer weiter zurückweichen.

Inzwischen war bereits mehr als ein Drittel des Schattenheeres vernichtet und immer noch wurden weitere Tiermenschen, und Flugechsen von den Strahlen der naruanischen Kampfmaschine zu Asche verbrannt oder den blutroten Schwertern der Menschen erschlagen.

Kryll gab schließlich notgedrungen den Befehl zum Rückzug und das Heer der Schatten floh heillos vor den nachrückenden Dagariern und ihren Verbündeten. Hunderte von Schattenkriegern wurden noch auf dem Rückzug erschlagen.

Doch was war das?

Plötzlich tauchte hinter einer Hügelkette krozische Kavallerie auf!

Es waren einige tausend Reiter, die da hervorgeprescht kamen. Ihnen folgte dann die Masse der Fußsoldaten.

Das Schattenheer war nun in einer verzweifelten Lage. Im Rücken den siegreichen Feind und von vorne, eine weitere Armee von Angreifern, die den Fluchtweg verstellte.

Krylls Heer war bald in einem eisernen Ring eingeschlossen.

Ein unvorstellbares Gemetzel begann, während der Ring immer enger wurde.

Die Lage schien aussichtslos zu werden.

Mitten im Getümmel wandte sich der Namenlose an Kryll und rief zu ihm herüber: "Du bist der Träger des Ringes und musst dich in Sicherheit bringen!"

"Aber wie?"

"Wir werden uns einen Weg frei kämpfen müssen!"

"Aber was wird aus dem Heer?"

"Das ist zweitrangig! Wichtig ist zunächst nur, dass du gerettet wirst, Kryll, denn du bist der Träger des Ringes und für die Pläne Taraks von unschätzbarem Wert!"

Kryll hielt sein Schwert fest umklammert.

"Was werden wir tun,wenn wir in Sicherheit sind?"

"Wir werden hier in der Nähe ein zweites Tor errichten! Gegen die vereinten Heerscharen des Schattenlandes kann auch diese Armee nichts tun - selbst wenn sie über todbringende Maschinen verfügt und die Schwerter ihrer Soldaten in Shyrkondars Blut getränkt wurden!"

"Mein König! Ihr werdet uns hoffentlich mitnehmen!", rief Lord Kyngor indessen besorgt.

"Oder wollt Ihr uns hier vielleicht jämmerlich umkommen lassen?", kreischte Ishkroin von Trano ängstlich.

Kryll drehte sich ihnen herum. "Kommt mit mir!" Und dann, an den Namenlosen gewandt: "Reite voran, Namenloser! Ich werde ein zweites Tor zwischen den Welten errichten, um die Horden des Schattenlandes auf unsere Feinde zu hetzen!"

Der Namenlose gab seinem Pferd die Sporen und begann, sich mit seiner Axt einen Weg durch die Masse der von Nordwesten herangestürmten Krozier zu bahnen.

Wie ein Berserker wütete er unter seinen Gegnern und streckte sie reihenweise nieder.

Immer wieder hob und senkte sich seine Streitaxt, die er mit geradezu unnatürlicher Leichtigkeit zu schwingen in der Lage war.

Todbringend wirbelte die monströse Waffe durch die Luft, während gleichzeitig von allen Seiten ein Chor furchtbarer Schreie über das Schlachtfeld gellte.

Sie mussten durch die Reihen der Gegner hindurch. Es gab keinen anderen Weg.

Hinter sich hörte Kryll den Schrei Lord Ishkroins, der von einem Pfeil getroffen aus dem Sattel rutschte. Kalter Grimm erfasste den König.

Da sah er im nächsten Moment ein blutrotes Schwert. Es sauste blitzschnell auf ihn zu und nur im letzten Moment gelang es ihm, den Angriff zu parieren und die fremde Klinge davon abzuhalten, ihm den Schädel zu spalten.

Doch schon holte der herangepreschte krozische Reiter zu einem zweiten, ebenso furchtbaren Hieb aus. Kryll hob schnell seine eigene Klinge und wehrte auch diesen Schlag mit Mühe ab.

Das Blut Shyrkondars gibt ihnen Kraft! durchfuhr es ihn. Ein Schauder überlief ihn bei dem Gedanken.

Aber schon im nächsten Moment hatte der König seine Gedanken wieder beieinander.

"Ring! Ich brauche deine Hilfe", flüsterte er fast beschwörend. Und der Ring ließ ihn nicht im Stich.

Aus dem Schwert seines Gegners wurde plötzlich eine schleimige Schlange, die der Krozier in panischer Angst von sich schüttelte.

Diese Gelegenheit nutzte Kryll.

Blitzschnell ließ er seine scharfe Klinge niederfahren und versetzte dem Reiter einen tödlichen Streich.

Ein Pfeil pfiff dicht an Krylls Kopf vorbei und eine Lanze bohrte sich wenige Zoll vor den Vorderhufen seines Pferdes in den Boden.

Ein Schrei ließ Kryll herumwirbeln.

Otlak von Thorcor war von einem Schwertstreich getroffen worden. Eine klaffende Wunde befand sich an seinem linken Oberarm. Im letzten Moment wurde er dann durch Lord Kyngor vor einem weiteren Hieb geschützt, der Otlak sicherlich das Leben gekostet hätte.

Dann schien es, als hätten sie sich freigekämpft. Offenbar hatte sich der Namenlose eine günstige Stelle für den Durchbruch ausgesucht.

Der Mann aus dem Schattenland deutete auf einen nahegele- genen Hügel.

"Dort werden wir das Tor errichten!", rief er an Kryll gewandt. Die Pferde aus dem Schattenland trugen sie schnell vom Schlachtgeschehen weg an ihr Ziel.

Kryll stieg aus dem Sattel.

Er wusste, was zu tun war.

Er hielt den Ring an seiner Linken gegen den Spiegel von Uz. Ein grünliches Leuchten überzog die Oberfläche des Spiegels, schoss aus ihm heraus und bildete einen leuchtenden Bogen, hinter dem nichts als Schwärze war.

Das tiefe Schwarz hellte sich innerhalb weniger Augenblicke zu einem dunklen Grau auf.

Schritte waren zu hören.

Eine düstere Gestalt trat schließlich aus dem Tor heraus.

Es war ein Wolfsmensch, um dessen breite Schultern ein großzügiger Umhang flatterte.

"Was begehrst du, Kryll von Arkull?", rief das Schattengeschöpf.

"Ich brauche ein neues Heer!", entgegnete der König knapp. Der Wolfsmensch nickte.

"Du sollst bekommen, was du wünschst!"

Die Gestalt wandte sich um und verschwand wieder in der namenlosen Finsternis, die auf der anderen Seite des Tore herrschte.

Kaum waren die Schritte des Wolfsmenschen verhallt, da wurden bald andere Schritte hörbar. Die Schritte einer ganzen Armee...

Kryll trat ein wenig zur Seite, als die Schattenkrieger durch das Tor traten. Schwarze Schwingen gingen auf und nieder, rot blitzende Äxte wurden geschwenkt...

Es war eine schier endlose Kolonne, die da durch Tor zwischen den Welten marschierte.

Das Schattenheer bewegte sich in einem riesigen Tross auf die noch immer andauernde Schlacht zu.

Der lange Zug der Schattenkrieger riss nicht ab. Immer weitere monströse Schattenkreaturen verließen das Dunkel des Schattenlandes, um in die Schlacht von Ri-Hai einzugreifen.

Schreie des Entsetzens und des Todes drangen von weitem an Krylls Ohr.

Die Krozier schienen die neuen Angreifer bemerkt zu haben, die ihnen mit erhobenen Streitäxten in den Rücken fielen und den Ring zu sprengen versuchten, die die Verteidiger Ri-Hais um das Schattenheer gelegt hatten.

Kryll löste sich von diesem Anblick.

Er wandte sich Lord Otlak zu, dem Kyngor und Yamak aus dem Sattel geholfen hatten. Die klaffende Wunde sah schlimm aus.

"Es geht ihm nicht gut!", stellte Lord Yamak fest.

Kyngor und Yamak hatten Lord Otlak zu Boden gelegt und bemühten sich um ihn.

Indessen trat der Namenlose zu Kryll.

Seine Worte klangen eiskalt.

"Er ist von einem Schwert getroffen worden, das mit dem Blut des weißen Vogels getränkt wurde. Für einen Diener Taraks ist so etwas tödlich. Otlak wird sterben."

"Es doch nur eine Armverletzung!", erwiderte Kryll.

"Dennoch!"

Lord Otlak bäumte sich noch einmal auf, stöhnte und sank dann tot in Kyngors Arme. Kaum, dass er sie ausgesprochen hatte, war die Prophezeiung des Namenlosen in Erfüllung gegangen.

Kryll wandte sich ab.

Er blickte zum Schlachtgeschehen hinüber, wo das Schattenheer auf die Armee der Krozier prallte.

"Wir werden so lange weitere Heere aus dem Schattenland heranholen, bis der Widerstand der Feinde gebrochen ist! Die Schwertarme der Schattenkrieger ermüden niemals - wohl aber die unserer Gegner!", erklärte der Namenlose dann fast beschwörend.

"Aber diese Kampfmaschine, mit der sie unsere Reihen zu Asche verbrennen, ermüdet ebenfalls nicht!", gab Kryll zu bedenken.

Doch der Namenlose schien in seiner Zuversicht ungebrochen.

"Zuletzt werden sie unserer Überlegenheit erliegen!"

*

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STUNDEN VERGINGEN UND die furchtbare Schlacht tobte noch immer in unverminderter Heftigkeit.

Und noch immer war sie nicht entschieden...

Tausende von monströsen Kreaturen des Schattenlandes durch das Tor zwischen den Welten, während die naruaniasche Kampfmaschine sie niederzusengen suchte.

Mit der Zeit wurden die Schwertarme der Dagarier und Krozier deutlich schwächer.

Sie waren Menschen und konnten im Gegensatz zu ihren Feinden nicht ewig kämpfen. Ihre Kraft ließ nach und bald hatten die Krieger des Schattenlandes mehr und mehr leichtes Spiel mit ihnen.

Immer mehr verlegte sich das Schlachtgeschehen in die Nähe der Kampfmaschine, die unermütlich ihre Strahlen gegen die anstürmenden Horden schickte.

Schwarze Schwingen ließen sich über den erschöpften Dagariern nieder. Die messerlangen Klauen der Echsen bohrten sich tief in ihre Körper und tötete sie zumeist auf der Stelle.

Jetzt, da sie kaum noch Kraft hatten, nützte es ihnen auch nicht mehr viel, dass sie ihre Waffen in das Blut Shyrkondars getaucht hatten, dass auf die Schattenkrieger wie ein tödliches Gift gewirkt hatte.

Manche sanken vor Erschöpfung nieder, andere wehrten sich mit der Kraft der Verzweiflung, bevor sie erschlagen wurden.

Die Zahl der Verteidiger schmolz dahin, während das Schattenheer weiterhin Verstärkung durch das Tor zwischen den Welten erhielt.

Noch immer strömten die Kreaturen des Schattenlandes aus der Finsternis heraus und es war nicht abzusehen, wann dieser gespenstische Zug enden würde.

Schließlich begann sich die Waage dann eindeutig zu Gunsten des Schattenheeres zu neigen.

Kaum noch ein Dagarier oder Krozier war am Leben und hohe Flammen loderten bald von der naruanischen Kampfmaschine auf. Die Schattenwesen hatten sie in Brand gesteckt.

"Der Sieg gehört uns!", verkündete der Namenlose lauthals.

Hunderttausende waren in dieser Schlacht dahingemetzelt worden. Die Toten bedeckten das Land wie ein gespenstischer Teppich - ein Teppich des Grauens.

Die Reste des Verteidiger-Heeres versuchten in Richtung Westen zu entkommen, aber Kryll wusste, dass sie kaum eine Chance hatten.

Die Flugechsen waren schneller.

Schweigend ritt Kryll über das große Schlachtfeld vor der Stadt Ri-Hai, das sich von Horizont zu Horizont zu erstrecken schien.

Ein tierisches Kreischen ließ den König von Pragan dann den Kopf heben.

Ein Schauder lief ihm bei diesem Geräusch über den Rücken.

Aber es war nicht Shyrkondar, der weiße Vogel, der ihn erneut heimsuchen wollte.

Es war nur ein Geier, der über dem Schlachtfeld seine Kreise zog und nach Beute Ausschau hielt.

Kryll atmete auf.

Er hatte wenig Neigung, sich die Vorwürfe und düsteren Warnungen des weißen Vogels anhören zu müssen.

Schweigend zog das Heer der Schatten durch die sanften Hügel Norddagariens.

Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Krieger herab und Kryll begann zu schwitzen.

Keuchend nahm er seinen Lederhelm ab.

Er blickte sich um und sah, wie der Strom der Heerscharen, die durch das Tor kamen, schließlich verebbte.

Das Tor zwischen den Welten stand einsam und verlassen da; es leuchtete in einem matten Grün.

Die Stimme des Namenlosen drang in diesem Moment durch den Nebel von Krylls Gedanken. "Ich glaube, wir werden zumindest im Norden von Dagarien auf keinen nennenswerten Widerstand mehr stoßen", meinte er.

Kryll wandte sich zu ihm um und nickte.

"Das glaube ich auch", sagte er dann. "Unsere Feinde haben den Hauptteil ihrer Streitmacht in diese Schlacht geworfen. In der nächsten Zeit werden wir wohl kaum noch einen Dagarier mit einem Schwert in der Hand zu Gesicht bekommen!"

*

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DIE GEGEND VON RI-HAI hatten sie nun schon weit hinter sich gelassen und Kryll war froh darüber.

Die öde Hügellandschaft, die sich vor ihnen ausbreitete, schien menschenleer zu sein, aber vielleicht lauerten doch noch hier und da ein paar versprengte Dagarier.

Langsam gingen die kargen Hügel dann in flaches Grasland über. Es gab hier weithin kaum etwas, das die Sicht versperren oder einem Feind Deckung geben konnte.

Als Krylls Heer die südwestlich an der Küste gelegene Stadt Enrod erreichte, war auch dieser völlig menschenleer.

Die Bewohner waren offensichtlich panischer Furcht vor den herannahenden Schattenkriegern geflohen.

*

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"WIE ERKLÄRT IHR EUCH, dass wir die Schlacht um Ri-Hai trotz der Hilfe Shyrkondars nicht für uns entscheiden konnten, Herzog Desgeion?", rief Herzog Gejandus wütend aus.

Die neun Herzöge, die die Macht in Dagarien unter sich aufteilten, hatten sich wegen der kritischen Lage, in der sich ihr Land befand, in der weit im Westen gelegenen Hauptstadt Kalitrub zusammengefunden, um zu beraten.

"Sie sind uns einfach überlegen", erklärte Herzog Desgeion missmutig. Verdrossen blickte er um sich.

Gejandus zuckte mit den Schultern.

"Ich kann mir einfach nicht erklären, wie das geschehen konnte!"

"Ist es vielleicht möglich, dass der weiße Vogel uns betrogen hat?", zischte Gron-Digur, einer der anderen Herzöge.

Desgeion schüttelte den Kopf.

"Nein, das glaube ich nicht...", murmelte er.

"Man hat mir gesagt, dass diese gespenstischen Kreaturen bereits ganz Lukkare und den Westen von Goson eingenommen haben! Vielleicht hat der Feind in dieser Stunde bereits die Grenze nach Kroz überschritten!", ließ sich Gejandus vernehmen. In seinen Worten klang Niedergeschlagenheit mit.

"Ich fürchte, die letzten Tage unseres Reiches sind angebrochen!", bemerkte Desgeion düster. Seine Stirn hatte sich in tiefe Falten gelegt.

Gron-Digur schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. "Niemand ist unbesiegbar!", rief er. "Auch diese Arme von Dämonen nicht!"

Aber Desgeion schüttelte den Kopf.

"Mir scheint, Ihr irrt euch diesmal, Herzog Gron-Digur!"

"Wir sollten uns nicht mit unnützem Gerede aufhalten!", mischte sich nun Herzog Hugare ein, der bisher geschwiegen hatte.

Desgeion nickte.

"Richtig, Freund Hugare. Wir sollten schleunigst ein Heer zur Verteidigung Kalitrubs aufstellen!"

"Auf die Hilfe unserer krozischen Verbündeten können wir dabei nicht mehr hoffen", gab Gron-Digur zu bedenken. "Die werden genug damit zu tun haben, ihr eigenes Land vor der von Lukkare aus angreifenden Abteilung der Invasoren zu schützen."

Hugare zuckte mit den Schultern.

"Jede Hilfe aus Kroz käme vermutlich auch zu spät", murmelte er. "Diese Dämonen-Armee ist wohl nur noch wenige Tagesmärsche entfernt, wenn sie im gleichen Tempo vorankommt wie bisher!"

"Es wird hart werden!", prophezeite Gejandus.

"Für alle Fälle sollten wir Schiffe klarmachen...", flüsterte Gron-Digur, als wagte er diesen Gedanken kaum auszusprechen.

Desgeion nickte düster.

Im nächsten Moment stürzte ein dagarischer Offizier in den Raum.

"Was gibt es, Kraxon?", fuhr Herzog Hugare den Neuankömmling erbost an.

"Der weiße Vogel...", stotterte Kraxon völlig außer Atem.

Desgeion und Gejandus erhoben sich annähernd im selben Moment.

"Was ist mit dem weißen Vogel?", erkundigte sich Gron-Digur gelassen und scheinbar ungerührt.

"Ist er wieder aufgetaucht?"

"Er ist hier in Kalitrub!"

"Zur Hölle mit diesem Vogel! Er hat uns auch nicht helfen können!", fluchte Hugare ungehalten.

"Was kann Shyrkondar jetzt von uns wollen?", fragte Gron-Digur leise.

"Erwarten wir nicht zuviel von ihm", brummte Hugare.

*

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KRAXON FÜHRTE DIE HERZÖGE durch die Tür, dann eine Treppe hinauf und schließlich durch eine weitere Tür auf den Balkon. In der Luft schwebte ruhig und fast bewegungslos Shyrkondar, der weiße Vogel.

"Was willst du von uns, Shyrkondar?", fragte Desgeion.

"Die Armee der Schatten nähert sich Kalitrub..." kam es von dem großen Vogel zurück.

"Das wissen wir!", erwiderte Hugare hart.

"Aber der Feind wird die Ebene von Kalitrub nicht lebend verlassen. Dafür werde ich sorgen!"

"Ähnliches hast du uns vor der Schlacht von Ri-Hai auch gesagt!", brummte Gron-Digur zornig.

Shyrkondar ging darauf nicht ein.

"Zum Zeitpunkt der Schlacht werde ich wieder an diesem Ort sein", prophezeite er dann. "Ich bin auf Eurer Seite, was auch geschehen mag!"

Dann drehte das große Tier ab. Mit fast lautlosen Flügelschlägen zog Shyrkondar davon.

"Ich weiß nicht, was ich von Shyrkondars Worten zu halten habe!", bekannte Desgeion offen. Er schien ratlos. "Vielleicht haben wir unsere Hoffnungen zu Unrecht auf den weißen Vogel gesetzt!"

"Er will uns seine Machtlosigkeit verbergen!", stellte Gejandus bitter fest.

"Es scheint, als hätte er ein Ziel, dass er schnellstens erreichen muss!", meinte Desgeion.

"Er fliegt nach Osten!", meinte Gron-Digur. Er wandte sich ruckartig zu Desgeion herum. "Was könnte Shyrkondar dort suchen wollen?"

Desgeion zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich hilflos.

"Wir werden dem Vogel vertrauen müssen", brummte er schließlich.

Gejandus lachte heiser.

"Glaubt Ihr wirklich, dass wir Shyrkondar je wiedersehen werden?"

*

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BLUTROT HING DIE SONNE am Himmel und sandte ihre letzten Strahlen über den Horizont. Aasvögel kreisten über die Hügel von Ri-Hai.

Die Bürger der Stadt gingen stumm über das Feld, um nach Verwundeten zu schauen.

Sie waren zunächst aus der Stadt nach Süden geflohen, manche von ihnen bis über die krozische Grenze. Doch jetzt war ein Teil von ihnen zurückgekehrt.

Aber es schien ganz so, als sollten sie an diesem furchtbaren Ort kein menschliches Leben mehr finden.

Die Horden des Schattenlandes hinterließen keine Verletzten - nur Tote.

Der Friedhof von Ri-Hai würde nicht ausreichen, um alle Toten aufzunehmen.

Es war ein grausiger Ort, aber die Bewohner Ri-Hais ließen es sich dennoch nicht nehmen, nach Überlebenden zu suchen - so aussichtslos diese Suche auch sein mochte.

Die Suchenden wirkten auf diesem riesigen Schlachtfeld ziemlich verloren.

Das Kreischen der unersättlichen Aasvögel durchschnitt mehr oder minder regelmäßig wie ein scharfes Schwert die abendliche Stille.

Vom westlichen Horizont her kam etwas Weißes heran. Es war ein Vogel, den ein unirdisches Leuchten umgab. Mit schweren Flügelschlägen kam das Tier näher.

Einige der verzweifelt Suchenden blicken auf und sahen die seltsame Erscheinung.

"Es ist Shyrkondar", zischte ein alter Mann.

"Was will der weiße Zaubervogel hier?" hörte man eine Frau bitter fragen.

Und jemand anderes ergänzte: "Er soll sich doch zum Teufel scheren!"

"Er hat uns verraten!", rief wiederum die Frau. In ihrer Stimme klang tiefe Enttäuschung mit.

Der Vogel war indessen herangekommen. Mit lautem Kreischen stoben die Aasvögel auseinander und machten Shyrkondar Platz.

In einiger Entfernung leuchtete auf einem Hügel das Tor zum Schattenland, das Kryll während der Schlacht errichtet hatte.

Aber das Leuchten war deutlich schwächer geworden, als Shyrkondar erschienen war.

Der riesenhafte Vogel landete vor den Menschen aus Ri-Hai.

"Was willst du von uns?", rief der alte Mann empört aus.

"Verschwinde!", zischte die Frau feindselig.

"Was habe ich euch getan?", fragte Shyrkondar. Das Leuchten, dass ihn umgab, wurde matter und verschwand fast ganz.

"Du hast uns verraten!", rief der alte Mann.

Shyrkondar erschrak, aber seine Gegenüber konnten dies nicht bemerken.

"Verraten?" Der Vogel beobachtete die hasserfüllten Gesichter, die ihn umgaben. "Ich verstehe nicht..."

"Sieh dir dieses Schlachtfeld an, Shyrkondar! Was gibt es da falsch zu verstehen?", rief der alte Mann.

"Ihr macht mich für den Ausgang der Schlacht verantwortlich!", stellte der weiße Vogel dann gelassen fest.

"Ja!", kam es von vielen Seiten zurück.

"Ich wollte euch helfen!"

"Aber du hast versagt!", sagte der alte Mann kalt.

"Eine Schlacht ist verloren, aber den Krieg werden wir gewinnen!", prophezeite Shyrkondar.

"Aber mit welchem Heer, weißer Vogel?", rief eine traurige Stimme.

"Unsere Krieger liegen hier auf diesem Schlachtfeld!", stellte die Frau bitter fest. In den Augen des weißen Vogels blitzte es.

"Noch liegen sie dort, gute Frau, da hast du recht! Aber ich werde sie wieder aufstehen lassen!"

"Sie sind tot!", beharrte die Frau.

"Und mit Toten lässt sich kein Feind - egal wie stark oder schwach - aufhalten!", setzte der alte Mann hinzu.

"Ihr werdet sehen!", rief Shyrkondar. "Ihr werdet sehen..."

*

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EIN STÖHNEN WAR JETZT zu hören.

Überall auf dem furchtbaren Schlachtfeld begann sich etwas zu regen.

Die toten Krieger erhoben sich einer nach dem anderen und standen dann mit ihren zerschmetterten Körpern und zerbrochenen Waffen da.

"Ein Wunder!", rief die Frau aus.

"Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben", warnte der alte Mann. "Shyrkondar lässt sie auferstehen, aber es werden nicht dieselben Männer sein, die gegen das Heer der Schatten kämpften und zu deren Gräbern die Hügel von Ri-Hai wurden..." Aber niemand verstand, was der Alte eigentlich meinte.

Und niemand wollte sehen, dass die Augen der Auferstandenen so leer waren, wie die der Toten...

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Fünftes Buch: SHYRKONDAR

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"...und Shyrkondar erweckte die Gefallenen von Ri-Hai zu neuem Leben und errichtete aus ihnen ein Heer von Untoten; Wesen, die weder lebten noch wirklich tot waren.

Es war eine grauenerregende Streitmacht, vor der selbst Tarak, der König der Schatten, zurückschrecken musste.

Die Schwertarme dieser Krieger ermüdeten ebenso wenig wie die der Schatten.

Der weiße Vogel wollte das Schattenheer mit seinen eigenen Waffen schlagen, so wie sich das Feuer besiegen lässt, indem man ihm Feuer entgegensetzt. Aber es war ein gefährlicher Weg, den er eingeschlagen hatte und Shyrkondar selbst wusste dies auch..."

(Aus der Legende des weißen Vogels)

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1. DIE ARMEE DER TOTEN

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Mit gemischten Gefühlen blickte Gejandus über die Brüstung. In der Ferne sah er die düsteren Schatten des feindlichen Heeres auftauchen...

"Unsere Truppen sind bereit, doch bezweifele ich, dass sie eine Chance gegen diesen übermächtigen Gegner haben", bemerkte Herzog Hugare nicht gerade enthusiastisch.

"Die Schatten scheinen unbesiegbar, ihre Arme nie zu erlahmen", meinte Gejandus.

"Nicht mehr lange und es wird Kalitrub nicht mehr geben", prophezeite Hugare. "Jene Krieger, die nach Ri-Hai gezogen sind, hatten ihre Waffen in Shyrkondars Blut getränkt. Aber das gilt nicht für die hiesige Stadtwache..."

Und da war der furchtbare Feind auch schon heran. Die Dagarier verschossen ihre Pfeile, die aber ziemlich wirkungslos von den Körpern der Schattenkrieger abprallten.

Gespenstisch aussehende Tiermenschen und in schwere Kutten gehüllte Axtkämpfer versuchten bald, mit langen Leitern an den hohen Mauern Kalitrubs emporzuklettern.

Einige der Leitern wurden von den Verteidigern der Stadt zurückgestoßen und die Schattenkrieger fielen mehrere Meter in die Tiefe. Aber solche Stürze machten ihnen allem Anschein nach wenig aus.

Sie versuchten es wieder und wieder, während gleichzeitig die riesenhaften Flugechsen herankamen und die Männer der Stadtwache aus der Luft attackierten.

Schließlich schafften es die ersten Angreifer, die Stadtmauern zu überwinden. Wie Berserker begannen die Eindringlinge unter den Dagariern zu wüten. Sie hieben mit unvorstellbarer Wut auf alles ein, was sich bewegte. Furchtbare Schreie gellten über die Stadtmauern hinweg, während in ihrem Innern der Tod reiche Ernte hielt...

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KRYLL HATTE DEN GANG der Schlacht mit Befriedigung beobachtet, aber jetzt kam vom östlichen Horizont etwas Weißes heran.

Shyrkondar!, durchfuhr es Kryll.

Ihm hinterdrein folgten ein langer Kriegstross. Ein gewaltiges Heer schob sich über den Horizont.

Der weiße Vogel flog dieser Kriegsmeute voraus und ließ ein lautes Kreischen hören.

"Die Schwertarme meiner Krieger erlahmen nie!", rief Kryll dem Geschöpf wütend entgegen.

Als sich die fremden Heerscharen weiter genähert hatten, versetzte es Kryll einen Stich. Einige Gesichter jener Männer, die da herangekommen waren, erkannte er wieder. Er hatte sie auf dem Schlachtfeld bei Ri-Hai sterben sehen.

Und nun marschierten sie stumm, aber entschlossen auf ihn zu - gerade so, als wollten sich die Toten nun an ihm rächen.

"Es sind Untote, die der weiße Vogel hier in die Schlacht wirft!", stellte der Namenlose grimmig fest. "Er muss die Gefallenen von Ri-Hai mit seiner Magie wiederbelebt haben!" Er wandte sich zu Kryll herum. "Habe ich dich nicht immer vor dieser Kreatur gewarnt, Kryll?"

Das Heer der Untoten war nun schon sehr nahe herangekommen. Pfeile pfiffen durch die Luft und Schwerthiebe wurden ausgeteilt. Und hier und da geschah es, dass Tote ein zweites Mal starben...

"Wir müssen hier weg, Kryll!", sagte der Namenlose plötzlich.

"Warum?", fragte der König.

"Das wirst du später begreifen. Folge mir!"

"Was ist mit den hohen Lords?"

"Vergiss sie! Komm jetzt, oder es ist zu spät!"

"Aber..."

"Komm jetzt!"

Die Stimme des Namenlosen klang hart. Er schlug seinem Pferd die Hacken in die Weichen und ließ das Tier vorwärts preschen.

Kryll folgte ihm.

Hinter sich vernahm der König der Praganier lauten Schlachtenlärm. Er schaute nur einen ganz kurzen Augenblick lang zurück.

Im Galopp ritten sie voran, bis der Namenlose sein Pferd endlich wieder zügelte.

Er wandte sich zu Kryll herum. Der König verengte die Augen ein wenig und blickte irritiert in die Finsternis unter der Kapuze seines namenlosen Verbündeten.

"Ich begreife nicht!", sagte Kryll.

Der Namenlose lachte freudlos.

"Diese Schlacht wird ewig währen, du Narr!", stieß er dann mit zynischem Unterton hervor.

Der König runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf.

"Wie meinst du das, Namenloser?"

"Genau so, wie ich es sage!"

"Aber eine Schlacht kann unmöglich ewig währen! Einmal ist eine der beiden kriegführenden Parteien unweigerlich besiegt!"

"Nicht bei dieser Schlacht, Kryll! In dieser Schlacht werden die Gefallenen wieder zum Leben erweckt!"

"Wer vermag so etwas?"

Unbehagen regte sich in Kryll.

"Tarak und Shyrkondar tun es! Auch die Arme der Untoten, die der weiße Vogel in die Schlacht geführt hat, erlahmen nicht!"

Kryll schluckte.

"Tarak? Ist er..." Ein furchtbarer Verdacht kam ihn ihm auf. "Hat er diese Welt betreten?"

Der Namenlose nickte.

"Ja, Kryll. Aber warum bist du so entsetzt darüber?"

Kryll ließ die Frage unbeantwortet.

Er blickte zurück zum Schlachtgeschehen. Es war ein befremdliches, aller Erfahrung widersprechendes Bild, wenn Krieger, die eben erst erschlagen worden waren, nach wenigen Augenblicken schon wieder zum Leben erwachten und weiterfochten. Diese Schlacht konnte wahrhaftig keinen Sieger und keinen Besiegten hervorbringen.

Sie würde ein ewiges Unentschieden bleiben - ein grausiges Gleichgewicht.

Tarak und Shyrkondar - sie beide passten gleichermaßen nicht in Krylls Pläne. Er würde sie beide töten müssen, das wurde ihm in diesem Moment klar.

Er holte den Spiegel von Uz hervor.

"Wie kann ich den weißen Vogel bezwingen?", fragte er das magische Werkzeug.

"Ich will es dir sagen!", kam eine Stimme aus dem Spiegel. Eine kurze Pause folgte, dann fuhr die Stimme fort: "Du weißt, dass Shyrkondar auf einer Insel im naruanischen Meer lebt, die den Namen Givera trägt. Der weiße Vogel ist nur eine von vielen Erscheinungsformen des weißen Vogels. Aber äußere Erscheinungsform und Identität sind etwas Verschiedenes. Der weiße Vogel ist nur eine Illusion, ein Trugbild wie wie jene Geschöpfe, die du mit dem Ring von Kuldan zu rufen vermagst. Shyrkondar ist nicht hier, obwohl es den Anschein hat. Und auf der anderen Seite ist er dennoch hier und jetzt anwesend! Der weiße Vogel ist ein Geschöpf von Shyrkondars Geist. Durch dieses Geschöpf tritt er mit den Menschen in Kontakt, aber er selbst weilt auf Givera."

Kryll begann zu verstehen.

"Also müsste ich nach Givera segeln, wenn ich Shyrkondar bezwingen wollte!"

"Ja. Aber es hat bisher kaum ein Mensch seinen Fuß auf diese seltsame, mythische Insel gesetzt."

Kryll beobachtete nachdenklich die Schlacht.

Noch immer hatte sich nichts an der Lage verändert. Krieger auf beiden Seiten fochten, wurden zerschmettert und erstanden auf wundersame Weise von den Toten, um erneut zu kämpfen.

Dann wandte sich der König erneut an den Ring.

"Sprich, was weißt du noch über Shyrkondar und diese Insel!"

"Shyrkondar lebt in einer Höhle auf Givera. Es ist kein leichter Weg dorthin. Auf dieser Insel liegt nämlich ein magischer Fluch."

"Wie wirkt sich dieser Fluch aus?"

"Jeder, der Givera betritt, wird an diesem Fluch zu Grunde gehen. Besucher dieser Insel werden zumeist Opfer ihrer eigenen Phantasie. Alpträume werden dort zur Realität... Man läuft Gefahr, in den Abgründen der eigenen Seele zu versinken..."

"Ich fürchte mich nicht!", verkündete Kryll stolz.

"Vielleicht solltest du das aber, Kryll!"

"Sag mir, wie ich zu dieser verfluchten Insel gelangen kann?"

"Du hast den Ring!"

Kryll schaute verwundert auf seine Linke.

"Wie soll mir der Ring helfen?"

"Er kann dir ein Schiff geben!"

"Ein Schiff aus Traum und Illusion, das ist wahr! Aber mit einem solchen Schiff kann ich nicht nach Givera gelangen!"

"Du wirst schon sehen, dass der Traum oft ebenso real sein kann wie Realität selbst. Nimm den Ring und lass dir von ihm ein Schiff geben. Aber ich bin nicht dein Herr, Kryll, sondern nur dein Ratgeber. Du musst selbst wissen, was du tust..."

Kryll nickte und steckte den Spiegel wieder in die Tasche an seinem Gürtel. Er wandte sich an den Namenlosen.

"Wirst du mich begleiten?"

"Dein Plan ist gefährlich, Kryll. Aber ich weiche nicht von deiner Seite."

Der Gedanke, dass Tarak sich in dieser Welt befand, beunruhigte Kryll. War der Schattenkönig gekommen, um ihn abzulösen?

Jedenfalls musste als erstes Shyrkondar besiegt werden. Danach konnte er sich Tarak zuwenden.

*

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KRYLL WAR GEMEINSAM mit dem Namenlosen zum nahen Meerufer geritten. Der König hob die linke Hand und betrachtete den Ring von Kuldan, dessen Juwel in der Sonne funkelte.

"Gib mir ein Schiff, dass mich nach Givera bringen kann!", befahl Kryll.

"Deine Wünsche sind mir Befehl", flüsterte der Ring.

Kryll blickte auf das Meer hinaus uns sah, wie ein Schiff aus dem Nichts auftauchte.

Ein seltsamer Glanz umgab dieses Schiff.

Kryll und der Namenlose ritten zum Strand hinunter, während das Schiff ankerte. Ein Mann kam in einem Beiboot an Land.

Als das Boot den Strand erreicht hatte, sprang Kryll von seinem Pferd herunter und fragte: "Wer bist du?"

Der Mann im Boot blickte auf.

"Ich bin der Steuermann des Schiffes", kam es zurück.

"Hast du keinen Namen?"

Der Steuermann schien überrascht.

"Einen Namen?"

"Ja. Wie ist dein Name?"

Der Steuermann zuckte mit den Schultern.

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738915952
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
schwert magie zwei fantasy sagas

Autoren

  • Alfred Bekker (Autor:in)

  • Pete Hackett (Autor:in)

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Titel: Zwei Fantasy Sagas - Schwert und Magie