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Falsche Mumien: Mein Freund Tutenchamun

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2017 160 Seiten

Zusammenfassung

Die Abenteuer des zehnjährigen Herkos am Hof von Pharao Tutenchamun.

"Staub wirbelte hoch. Pferde wieherten laut auf, und Herkos sah den Streitwagen auf sich zu rasen. Die Pferde schienen vollkommen außer Kontrolle geraten zu sein.
Der zehnjährige Junge stand da und für einen kurzen Moment war er wie erstarrt. Ein Schrei schrillte ihm entgegen. In der dichten Staubwolke, die den dahin rasenden Streitwagen umgab, war so gut wie nichts vom Wagenlenker zu sehen, außer einem Schatten.
Der Wagen hob sich dunkel gegen die im Osten aufgehende Sonne ab und raste Richtung Westen.
Der Westen – das war für die Bewohner Ägyptens ein anderes Wort für Totenreich. Denn im Westen ging die Sonne unter. Sie starb ebenso wie der Mensch, verschwand am Abend hinter dem Horizont und weilte dann in der Nacht im Totenreich, ehe sie am Morgen im Osten wieder aufging.
Die Westlichen nannte man deshalb auch die Toten – und obwohl der zehnjährige Herkos kein Ägypter war und auch nicht an die Götter dieses Landes glaubte, wurde ihm nun, beim Anblick des Streitwagens doch ganz anders.
Mit der aufgehenden Morgensonne im Rücken sah es nämlich fast so aus, als würde Osiris, der Herr des Totenreichs selbst, auf ihn zufahren."

Alfred Bekker schreibt Fantasy, Science Fiction, Krimis, historische Romane sowie Kinder- und Jugendbücher. Seine Bücher um DAS REICH DER ELBEN, die DRACHENERDE-SAGA,die GORIAN-Trilogie und seine Romane um die HALBLINGE VON ATHRANOR machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er war Mitautor von Spannungsserien wie Jerry Cotton, Kommissar X und Ren Dhark. Außerdem schrieb er Kriminalromane, in denen oft skurrile Typen im Mittelpunkt stehen - zuletzt den Titel DER TEUFEL VON MÜNSTER, wo er einen Helden seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einer sehr realen Serie von Verbrechen macht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Alfred Bekker

Mein Freund Tutenchamun 1

Falsche Mumien

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EIN CASSIOPEIAPRESS E-Book

© by Author

© der Digitalausgabe 2013 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

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STAUB WIRBELTE HOCH. Pferde wieherten laut auf, und Herkos sah den Streitwagen auf sich zu rasen. Die Pferde schienen vollkommen außer Kontrolle geraten zu sein.

Der zehnjährige Junge stand da und für einen kurzen Moment war er wie erstarrt. Ein Schrei schrillte ihm entgegen. In der dichten Staubwolke, die den dahin rasenden Streitwagen umgab, war so gut wie nichts vom Wagenlenker zu sehen, außer einem Schatten.

Der Wagen hob sich dunkel gegen die im Osten aufgehende Sonne ab und raste Richtung Westen.

Der Westen – das war für die Bewohner Ägyptens ein anderes Wort für Totenreich. Denn im Westen ging die Sonne unter. Sie starb ebenso wie der Mensch, verschwand am Abend hinter dem Horizont und weilte dann in der Nacht im Totenreich, ehe sie am Morgen im Osten wieder aufging.

Die Westlichen nannte man deshalb auch die Toten – und obwohl der zehnjährige Herkos kein Ägypter war und auch nicht an die Götter dieses Landes glaubte, wurde ihm nun, beim Anblick des Streitwagens doch ganz anders.

Mit der aufgehenden Morgensonne im Rücken sah es nämlich fast so aus, als würde Osiris, der Herr des Totenreichs selbst, auf ihn zufahren.

Herkos war schon lange genug in Ägypten, um all die Geschichten über Osiris gehört zu haben. Aber bisher hatte er immer an den Göttern seiner eigenen, fernen Heimat festgehalten und in den Legenden der Ägypter nur spannende Erzählungen gesehen. Osiris war ermordet worden und später wieder auferstanden - und nur durch diesen Mord war das Totenreich überhaupt entstanden, dessen Herr er seitdem war.

Konnte es vielleicht sein, dass der Totengott gekommen war, ihn zu holen?

Wenn er ein grünes Gesicht und einen Krummstab hat, dann ist er es!, dachte Herkos. Dann gibt es diesen Gott der Unterwelt wirklich, der über die Toten zu Gericht sitzt!

Und tatsächlich. Der Umriss eines Krummstabs war als Schattenriss vor der Sonne für einen Moment deutlich zu erkennen.

So viele Gedanken schwirrten dem jungen Herkos in diesem einzigen Moment durch den Kopf.

Früh am Morgen war er losgegangen, immer am Flussufer des Nil entlang, noch bevor die Fellachen genannten Bauern auf ihre Felder gingen oder die Nilschiffe den Fluss auf und ab fuhren. Und vor allem bevor Herkos seinen Verpflichtungen am Palast nachkommen musste.

Schon drei Jahre lebte der Junge am Hof des Pharao als Geisel. Er wurde in ägyptischer Sprache und Schrift ausgebildet und hatte ein ebenso gutes Leben wie die Prinzen und Prinzessinnen.

Das war auch richtig so, denn er war ja auch ein Prinz – der Sohn eines Königs, der über die ferne Insel Kreta herrschte und mit dem Pharao verbündet war.

Solange sich beide Reiche gut verstanden, würde es auch Herkos am ägyptischen Hof gut gehen. Aber falls es seinem Vater vielleicht einfallen sollte, die Feinde des Pharao zu unterstützen, wäre es ihm natürlich schlecht ergangen.

Deswegen wuchs Herkos nicht zu Hause auf Kreta, sondern hier, in diesem fremden Land auf.

Wieder drang ein schriller Schrei an Herkos Ohren.

Im letzten Moment sprang Herkos zur Seite. Er landete hart auf dem trockenen, steinigen Boden. Der Wagen raste dicht an ihm vorbei.

Herkos rappelte sich sofort wieder auf und war einen Augenblick später wieder auf den Beinen. Das aschblonde Haar war allerdings ziemlich zerzaust und die edle weiße Tunika ganz verdreckt.

Der Wagen raste unterdessen weiter, geradewegs auf den Sumpf am Flussufer zu, wo die Papyrusstauden wuchsen und manchmal noch Nilkrokodile auf Beute lauerten. 

Der Wagen rumpelte und jetzt sah Herkos auch zumindest von hinten denjenigen, der dieses rasend schnelle Gefährt lenkte.

Osiris war es jedenfalls nicht, denn seine Haut war nicht grün wie die eines Leichnams.

Es war auch kein Krieger des Pharao. Keiner der vielen tausend Soldaten, die in seinem Dienst standen, worunter die Wagenlenker und Bogenschützen normalerweise diejenigen waren, die am höchsten bezahlt wurden und die meisten Vorrechte genossen.

Auf diesem Wagen stand nur ein Junge, der von seiner Gestalt her nicht älter als Herkos selbst sein konnte.

Er hielt die Zügel mit seinen Händen, und mit der Linken zusätzlich noch einen Krummstab. Der Junge balancierte auf dem Wagen, der wie ein bockiges Pferd in die Höhe sprang, wenn er über eine Unebenheit oder durch Schlaglöcher fuhr. Trotz allem schien der Junge sehr geschickt und sicher. Genau so, wie Herkos es bei den besten Wagenlenkern gesehen hatte, wenn sie vor dem Pharao über die breiten Prachtstraßen der Hauptstadt fuhren, nachdem sie von einem siegreichen Feldzug zurückkehrten. Der Junge auf dem Wagen – wer immer er auch sein mochte – musste schon sehr viel Übung in dieser Kunst haben. Andernfalls wäre er wahrscheinlich schon längs in den Staub geschleudert worden.

Nun hatte der Wagen das feuchte, schlammige Ufer erreicht und wurde langsamer. Die Räder blieben wenig später im Morast stecken. Die Pferde wieherten und schnaubten, aber so sehr sie auch zogen, sie konnten den Wagen nicht mehr weiter ziehen.

Der Junge auf dem Wagen versuchte beruhigend auf die Tiere einzureden, aber die schienen ihn gar nicht weiter zu beachten. Irgendetwas war in sie gefahren, das sie vollkommen wild werden ließ.

Herkos stockte der Atem, als er den Jungen auf dem Wagen erkannte.

Das war niemand anderes als der kindliche Pharao Tutenchamun, der seit einem Jahr auf dem Thron der beiden Länder saß, wie die Ägypter selbst ihr Reich nannten.

Genau wie Osiris als König der Unterwelt trug auch der Pharao einen Krummstab als Zeichen seiner Herrschaft.

Osiris wäre allerdings mit seiner göttlichen Zauberkraft sicher einfach über den Fluss gefahren und nicht im Schlamm stecken geblieben!, ging es Herkos durch den Kopf. Für den Pharao hingegen galten, zumindest was dies betraf, dieselben Regeln wie für jeden gewöhnlichen Wagenlenker und sogar einen Fellachen, der seinen Ochsenkarren vorantrieb.

Herkos kannte Tutenchamun vom Sehen her, aber sie hatten noch nie miteinander gesprochen. Er konnte sich noch gut an die Krönungszeremonien erinnern. Nie zuvor hatte er ein größeres Fest erlebt. Und in seiner Heimat wäre das, was er hier erlebt hatte, wohl so gut wie unvorstellbar gewesen.

Herkos näherte sich dem Wagen. Er sank bis zu den Knöcheln in den Schlamm ein. Die Ledersandalen waren damit ruiniert, und Herkos machte sich schon darauf gefasst, dass man ihn deswegen später ausschimpfte. Aber das war ihm jetzt gleichgültig, schließlich war der Pharao selbst in Schwierigkeiten. Und Herkos sah es als seine Pflicht an, ihm zu Hilfe zu eilen.

Schließlich kannte er sich mit Pferden aus wie kaum ein Zweiter. Er stapfte bis zu dem Zweiergespann. Die Tiere zogen heftig an ihren Geschirren. Aber die Wagenräder bewegten so gut wie gar nicht mehr. Eine halbe Umdrehung, mehr ging es nicht mehr voran.

Herkos näherte sich den Pferden von der Seite. Dann bekam er eines von ihnen am Geschirr zu fassen und berührte es an den Nüstern. Es beruhigte sich und das wirkte auch auf das zweite Tier. Herkos schaffte es innerhalb kurzer Zeit, beide Tiere wieder zu handzahmen, folgsamen Tieren zu machen. Eines von ihnen war ein Apfelschimmel. Der schnaubte noch ein paar mal, so als wollte er gegen Herkos' Beruhigungsmethoden protestieren. Aber es dauerte gar nicht lange und beide Tiere waren vollkommen friedlich.

Der kindliche Pharao hatte aufmerksam zugesehen.

„Bravo! Amun hat dir die Macht gegeben, mit Pferden zu sprechen!“

Herkos ließ das Geschirr des Apfelschimmels los. Er verneigte sich, denn schließlich stand er vor niemand geringerem als dem Pharao, dem Herrscher der beiden Länder Ober- und Unterägypten. Mit erst neun Jahren war der auf den Thron gekommen. Herkos hatte ihn schon oft im Palast gesehen. Zum Beispiel dann, wenn die Audienz abgehalten wurde, während er die hohen Wesire des Reiches empfing. Oder wenn er an den heiligen Zeremonien teilnahm. Der Pharao war für die Menschen seines Landes nicht nur ein König, der Recht sprach und die Armee befehligte und in dessen Namen Steuern eingetrieben wurden. Er bedeutete viel mehr für sie. Er sorgte dafür, dass die Sonne aus dem Totenreich jeden Tag wieder aufstieg und dass in jedem Jahr die Nilflut kam, die fruchtbaren Schlamm aus den Ländern im Süden nach Ägypten spülte. Und ohne diesen Schlamm hätte es keine Ernte gegeben und sehr bald hätte die Wüste bis zu den Ufern des Nil gereicht. Hunger und Not hatte es in den wenigen Jahren, in denen die Flut nicht gekommen war, in beiden Ländern des Pharao gegeben und obgleich die letzte Katastrophe dieser Art schon zu lange her war, als dass irgendjemand, der heute lebte, dies noch selbst hätte erdulden müssen, erzählte man noch heute davon.

„Ich bitte um Verzeihung, mein Pharao, aber mir schien, dass du in großen Schwierigkeiten wärst!“, sagte Herkos. Er beherrschte die Sprache der Ägypter inzwischen genauso perfekt, als wäre er hier geboren worden und hätte sein Lebtag nichts anderes gesprochen.

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, sagte Tutenchamun. „Ich war wirklich in großer Not. Mit den Pferden war irgend etwas. Vielleicht ist ein Dämon in sie gefahren. Aber um ehrlich zu sein glaube ich eher, dass es die Bienen waren, die plötzlich auftauchten und den Pferden so zusetzten.“

„Bienen?“, wunderte sich Herkos.

Der Pharao stieg vom Wagen herunter. Dass auch er bis zu den Knöcheln in den Schlamm einsank, schien ihm gar nichts weiter auszumachen.

Aber das liegt vielleicht auch daran, dass ihn niemand wegen der verdorbenen Ledersandalen ausschimpfen wird – mich aber schon!, ging es Herkos durch den Kopf. 

„Wie heißt du?“, fragte der Pharao.

Herkos neigte den Kopf.

„Mein Name ist Herkos.“

„Ich sehe jeden Tag hunderte von Menschen und wahrscheinlich hat mir zumindest jeder Einwohner der Hauptstadt schon mal gegenübergestanden – so kommt mir auch dein Gesicht irgendwie bekannt vor.“

„Ich wohne seit drei Jahren im Palast“, sagte Herkos.

„Dann bist du länger dort als ich!“, stellte Tutenchamun überrascht fest. „Ich kam ja erst hier her, nachdem mein Vorgänger Semenchkare so plötzlich starb... Und ich weiß bis heute nicht, ob es die Götter wirklich gut mit mir gemeint haben, als sie dadurch dafür sorgten, dass ich auf den Thron kam.“

„Du bist der Sohn des berühmten Pharao Echnaton, von dem man sogar bei uns auf Kreta erzählte“, sagte Herkos etwas überrascht. „Wieso kannst du es bedauern, auf dem Thron zu sein?“

„Oh, bedauern ist das falsche Wort“, erwiderte Tutenchamun. „Du hast Recht, ich bin der Sohn von Echnaton – aber es müsste wohl vollständig heißen: Der letzte Sohn von Echnaton. Wie mein Halbbruder Semenchkare starb, ist nie wirklich aufgeklärt worden. Vielleicht war es die Rache des Gottes Amun für das, was mein Vater getan hat...“ Tutenchamun zuckte mit den Schultern. „Immerhin hat er alle Götter abschaffen und durch einen einzigen Gott ersetzen wollen. Das hat man ihm vielleicht übel genommen und ich fürchte, das gilt auch für seine Nachfahren...“ Er zuckte mit den Schultern. „Es geschieht, was die Götter bestimmen. Was wir tun oder lassen ist sowieso nicht wichtig, denn jeder von uns wird viel länger im Totenreich bei den Westlichen sein, als bei den Lebenden. Darum kommt es eher darauf an, wie wir nach dem Tod weiterleben, als dass wir uns große Sorgen über das Hier und Jetzt machen sollten.“

Herkos verneigte sich etwas.

Normalerweise hätte Herkos seinem Gegenüber gerne widersprochen, denn er war ganz anderer Ansicht. Alles nur auf die Götter zu schieben, fand er nicht richtig. Es kam seiner Meinung nach durchaus darauf an, was man selbst tat. Und was nach dem Tod war, konnte niemand wissen, denn kein Mensch war bisher aus dem Totenreich zurückgekehrt.

Aber manchmal ertappte sich Herkos inzwischen dabei, an dem zu zweifeln, was er in seiner Heimat gelernt hatte. Schließlich beschäftigten sich die Ägypter Zeit ihres Lebens sehr intensiv damit, was sie nach dem Tod erwartete. Konnten all diese Menschen sich so sehr irren? Sollten all diese großen Bauwerke, die Pyramiden, die Grabstätten, die riesenhaften Totentempel am Ende umsonst gebaut worden sein? Das war schwer vorstellbar, fand Herkos inzwischen. Und so stand es in der Frage, ob die Ägypter vielleicht Recht damit hatten, sich so intensiv auf das Jenseits vorzubereiten, für den jungen Kreter inzwischen unentschieden.

„Du bist einer von den Geiseln!“, stieß Tutenchamun dann hervor. „Deswegen kenne ich dein Gesicht.“

„Ja, das ist wahr“, nickte Herkos.

Tutenchamun lachte. „Und was machst du hier in aller Frühe?“

„Ich wollte ungestört am Fluss entlanggehen. Es gibt hier so viel zu entdecken um diese Zeit. All die Vögel und Tiere... Später am Tag trifft man sie nicht mehr und außerdem muss ich dann am Unterricht teilnehmen, um eure Sprache noch perfekter zu beherrschen.“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich dich von dieser lästigen Pflicht gerne befreien“, meinte der Pharao schmunzelnd. „Aber leider habe ich in vielen Bereichen noch keine Befugnisse, weil ich zwar Pharao bin, aber trotzdem als Kind gelte und über viele Dinge mein Großwesir entscheidet.“

„Das wusste ich nicht.“

„Ich sorge dafür, dass die Nilflut kommt und die Sonne von  den Westlichen zurückkehrt – das traut man mir zu. Aber nicht, die Staatsgeschäfte zu führen!“, bekannte Tutenchamun.

Die beiden Jungen wechselten einen etwas längeren Blick. 

Seltsam, dachte Herkos, eigentlich scheint er ein ganz normaler Junge zu sein. Bisher hatte der kretische Prinz den Pharao eigentlich immer nur als jemanden kennen gelernt, der wie ein gottgleiches Wesen verehrt wurde und vor dem sich alle verneigten. Jemand, der in den Tempelzeremonien eine wichtige Rolle spielte und von dem unvorstellbar viel abhing. Jetzt schien ihn gar nichts von Herkos zu unterscheiden – außer vielleicht die Farbe der Haare. Denn die Haare Tutenchamuns waren viel dunkler als die von Herkos.

„Eigenartig“, sagte der junge Pharao. „Wir haben wohl beide denselben Grund, um so früh am morgen hier her zu kommen.“

„Es wundert mich, dass du dich das traust“, meinte Herkos.

„Weshalb?“

„Na, du bist der Pharao – nicht irgendein Junge. Hast du keine Angst, dass irgendwo Feinde auf dich lauern?“

„Welche Feinde? Das Volk liebt mich, denn es weiß, dass ich die Ernte ermögliche! Feinde habe ich eher im Palast und so kann es draußen für mich kaum gefährlicher sein, als dort.“ Er seufzte. „Es ist interessant sich mit dir zu unterhalten. Wir sollten das öfter tun.“

„Nichts dagegen“, meinte Herkos.

„Vielleicht können wir uns ja auch im Palast sehen.“

„Sicher...“

„Immerhin kann ich mir bei dir sicher sein, dass du nicht nur deshalb meine Nähe suchst, weil du gerne ein Amt verliehen bekommen möchtest oder dir irgendwelche anderen Vorteile versprichst, wie so viele andere.“

In diesem Punkt hatte der Pharao natürlich recht. Herkos blieb letztlich ein Fremder, der eines Tages nach Kreta zurückkehren würde. Eine Karriere am Hof des Pharao war für ihn ohnehin nicht vorgesehen. 

Herkos Aufmerksamkeit war etwas abgelenkt. Er strich über das Fell des Apfelschimmels, der besonders schwer zu beruhigen gewesen war. Da klebte etwas. In dem kurzen Fell des Pferdes.

Herkos nahm die Hand zur Nase und roch daran. Dann wandte er sich an Tutenchamun.

„Hast du nicht gesagt, dass Bienen die Pferde vielleicht so verrückt gemacht haben könnten?“

Tutenchamun runzelte die Stirn mit den aufgemalten Augenbrauen. Den herrschaftlichen Krummstab hatte er sich ausnahmsweise hinter den Gürtel gesteckt, um die Hände frei zu haben, obwohl das eigentlich nicht einmal ein Pharao machte.

Schließlich nickte der kindliche Herrscher. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Bienen waren.“

„Das wäre kein Wunder!“, lautete Herkos' Ansicht.

„Gehört nicht nur Pferde beruhigen, sondern auch noch Hellseherei zu deinen Talenten“, wollte Tutenchamun mit noch stärker gerunzelter Stirn wissen.

„Nein – aber es ist Honig auf dem Pferderücken. Es ist doch klar, dass die Bienen das Pferd verfolgt und völlig verrückt gemacht haben.“

Honig auf dem Pferderücken? Das war wirklich eigenartig und der junge Pharao trat sofort neben Herkos und überprüfte das mit eigenen Händen. Auch er roch an dem, was an seinen Fingern hängen geblieben war. Tatsächlich, da konnten keinerlei Zweifel bestehen.

Seine Stirn hatte sich nun umwölkt.

„Schnell!“, forderte er dann. „Hilf mir, den Wagen wieder flott zu machen, damit wir zurückkehren können!“

„Aber du solltest darüber nachdenken, wer dir vielleicht Übles will, mein Pharao“, gab Herkos zu bedenken.

Tutenchamun nickte. „Ein übler Streich, der mir da gespielt wurde!“

„Nein, das war mehr als ein Streich. Da wollte jemand, dass  die Pferde durchgehen und du vielleicht mit dem Wagen verunglückst!“

Der Pharao wog den Kopf hin und her.

Davon, so schien es Herkos, wollte der junge Herrscher nichts wissen, obgleich es für diese Entdeckung eigentlich kaum eine andere Erklärung gab.

„Ich glaube, du übertreibst“, sagte er. „Und jetzt hilf mir, den Wagen aus dem Dreck zu ziehen. Ich muss nämlich dringend zurück in den Palast. Und ich fürchte, du auch!“

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AUCH WENN HERKOS EINE Geisel am Hof des Pharao war, so war er keineswegs eingesperrt und hatte große Freiheiten, sofern er an den Fest-Zeremonien am Hof teilnahm und seinen Unterricht nicht vernachlässigte. Darauf legten die Ägypter nämlich wert. Jede Geisel sollte so gut wie möglich die Sprache des Landes erlernen, denn irgendwann kehrten Jungen wie Herkos ja in ihre Heimat zurück. Und dort bekleideten sie dann zumeist wichtige Posten. Entweder waren sie selbst die Nachfolger des Herrschers oder aber sie befehligten Einheiten der Armee. Und dann war es gut für den Pharao, wenn die Betreffenden die ägyptische Sprache beherrschten. Sobald es nämlich irgendwelche Probleme gab, hatte man es leichter, dies in Verhandlungen zu klären, weil man sich dann einfach besser verstand.

Die beide Jungen versuchten alles, um den Wagen wieder aus dem Dreck zu ziehen. Tutenchamun berichtete Herkos, dass er den Wagen absichtlich in den Sumpf gelenkt hätte, als er merkte, dass die Pferde einfach durchgingen und nicht mehr auf ihn hörten.

Die Räder des Streitwagens hatten sich schon tief in den Morast hinein gedreht. Zu tief, als dass man einfach nur den Pferden hätte gut zureden können.

Herkos ließ die Pferde vorsichtig ziehen, aber es schien so, als wäre der Wagen zu schwer und vor allem zu tief in den Morast eingesunken für sie.

Dann schoben sie beide von hinten, aber es stellte sich sehr schnell heraus, dass sie nichts ausrichten konnten, wenn die Pferde nicht richtig mithalfen. Für einen Zehnjährigen war Herkos zwar kräftig - aber nicht im Vergleich zum Gewicht des Wagens. Und Tutenchamun gab sich zwar alle Mühe und überraschenderweise stellte er sich sogar ziemlich geschickt an, aber sie bekamen die Wagenräder einfach nicht aus dem Schlamm heraus. Immer dann, wenn sie ein paar Handbreit vorwärts gekommen waren, sanken sie wieder ein.

Und die Pferde waren daraufhin erzogen, dass sie jemand vom Wagen aus mit den Zügeln lenkte. Auf Zuruf gehorchten sie nicht – nicht einmal dem Pharao.

Die Menschen hier können nur froh sein, dass ihm die Nilflut offenbar besser gehorcht als diese Gäule hier!, dachte Herkos. Aber er hütete sich natürlich davor, das auch laut auszusprechen und ermahnte sich selbst, immer daran zu denken, dass dies nicht irgendein Junge war, den er auf der Straße traf oder der mit ihm zusammen im Palast lebte. Dies war der Herrscher Ägyptens, und Herkos hatte keine Lust, sich und eventuell sogar seinem Heimatland dadurch Ärger einzuhandeln, dass er den amtierenden Pharao respektlos behandelte.

„Hast du eine Idee, wie wir den Wagen aus dem Dreck bekommen?“, fragte Tutenchamun.

Insgeheim hatte Herkos gehofft, dass der Pharao vielleicht vorschlug, dazu eine halbe Kompanie kräftiger Soldaten kommen zu lassen, die mit dem Problem im Handumdrehen fertig geworden wären. Aber aus irgendeinem Grund wolle er das nicht.

Tutenchamun schien die Gedanken von Herkos zu erraten, denn noch ehe der Junge aus Kreta dem König von Ägypten hatte antworten können, sagte der Pharao: „Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht, Herkos! Die Götter haben es dir auf die Stirn geschrieben! Du denkst, dass jemand wie ich nur mit den Fingern zu schnippen braucht und es kommen gleich zwanzig Bedienstete, die nur darauf warten, dass ich ihnen eine Aufgabe gebe!“

„Nun, du bist ja immerhin unbestritten der Pharao. Da liegt so ein Gedanke doch nahe, oder? Außerdem habe ich oft genug gesehen, wie viele Diener dich im Palast umschwirren...“

„Sicher. Ich könnte jetzt zum Beispiel dich losschicken, dass du zum Palast läufst – und bitte im Dauerlauf und nicht zu lahm – um dort Bescheid zu sagen, damit man mich aus meiner misslichen Lage herausholt. Wahrscheinlich würde man außer der gerade schon erwähnten Kompanie Soldaten auch noch einen Wagen schicken, damit ich nicht zu Fuß laufen müsste...“

Herkos seufzte.

So etwas in der Art hatte er schon befürchtet.

„Wenn du das für eine gute Idee hältst!“, meinte er und malte sich schon aus, wie ihn der Quartiermeister schimpfen würde, der für die Beaufsichtigung und Versorgung der edlen Geiseln zuständig war. Herkos war nämlich keineswegs der einzige seiner Art.

Der Mann, der dafür zuständig war und dabei über viele untergeordnete Diener gebot, hieß Ramenhotep und er war für seine schlechte Laune berüchtigt, wie Herkos schon einige Male zu spüren bekommen hatte.

„Wenn ich das für eine gute Idee halten würde, hätte ich es schon längst gesagt“, meinte Tutenchamun. „Aber was wird dann geschehen? Mein Großwesir Eje und General Haremhab, der mein Heer befehligt, sind sowieso schon der Ansicht, dass ich in dauernder Gefahr bin und man mir am besten ständig einen Wächter zur Seite stellt! Selbst in Momenten, die auch ein Pharao lieber allein erledigt!“

„Das stelle ich mir anstrengend vor“, gab Herkos zu.

Auch er wurde zwar am Hof stark umsorgt und man achtete sehr darauf, dass ihm nichts geschah. Denn wenn einer Geisel am Hof des Pharao etwas zustieß, dann zog das sicherlich eine Verstimmung mit dem betreffende Königreich nach sich, aus dem die Geisel stammte. Aber ganz so übertrieben wie beim Pharao war das natürlich in Herkos Fall nicht. Er hatte immer die Möglichkeit, den Palast zu verlassen und auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Dass er flüchten könnte, befürchtete niemand. Warum auch? Erstens hätte er dann die Ehre seines Vaters, des Königs von Kreta beschädigt und zweitens – wohin hätte er schon fliehen können? Jenseits des schmalen besiedelten Streifens zu beiden Seiten des Nils war da nichts als Wüste. Ein Meer aus Sand, das die Ägypter auch das Rote Land nannten, während die Nilufer wegen des fruchtbaren Schlamms als das Schwarze Land bezeichnet wurden. Aber sich zu weit vom Schwarzen Land zu entfernen bedeutete ohnehin den sicheren Tod. Denn dort lauerte Seth, der Gott des Bösen und der Wüste, der Osiris einst umgebracht hatte.

„Wenn ich jetzt dich aussende, um Hilfe zu holen, wird man mich noch stärker bewachen und ich werde gar keine Gelegenheit mehr bekommen, einfach mit dem Streitwagen am Nil entlang zu fahren. Nicht einmal in diesen frühen Morgenstunden, wenn man dort fast völlig allein ist und die du ja auch für deinen Ausflug genutzt hast! Aus diesem Grund möchte ich, dass wir das unbedingt allein hinbekommen. Wir beide! Ich verspreche dir, dass ich dem Quartiermeister der königlichen Geiseln sagen werde, dass du nichts dafür konntest, dass deine Sandalen im Schlamm verdorben wurden und worüber er sonst noch so alles meckern dürfte.“

„Du kennst ihn?“

„Naja, der Palast hat gute Ohren und seine nicht gerade liebliche Stimme hallt nur so zwischen den Wänden, dass man denken könnte, der schakalköpfige Gott Anubis würde aus dem Totenreich heraus zu uns herauf jaulen.“

So respektlose Worte gegenüber den alten Göttern waren wohl nur einem Pharao gestattet, der schließlich selbst als Gott angesehen wurde und damit nur über seinesgleichen spottete. Und in Tutenchamuns Fall lag noch eine Besonderheit vor. Denn er war ja nicht im Glauben an die alten Götter erzogen worden. Im Gegenteil! Sein Vater hatte sie schließlich abschaffen und ihre Verehrung verbieten wollen.

Herkos sagte vorsichtig lachend: „Ja, genau so hört sich Ramenhotep an!“

„Na, dann streng mal deinen kretischen Hellhaarschädel an, damit wir eine Lösung finden!“

„Ich glaube, ohne die Pferde schaffen wir es nicht. Schieb du von hinten und ich...“

Tutenchamun stemmte die Arme in die Hüften. „Und du schaust zu, als wäre ich dein Diener und du der Pharao?“, fragte er – leicht empört.

Sich mit einer gewöhnlichen Geisel zu unterhalten war ja eine Sache – aber war der Pharao nicht der Bringer der Nilflut? Nahm er nicht die Rolle des Horus ein, dem Sohn des Osiris? Nein, es war völlig undenkbar, dass sich irdische Erscheinung von Gott Horus von irgendwem herumkommandieren ließ! Das kam überhaupt nicht in Frage!

„So war das nicht gemeint“, versuchte Herkos einzulenken, der wohl merkte, dass er mit seinen Worten etwas zu weit gegangen war.

„Das will ich meinen!“, maulte Tutenchamun.

„Wenn die Pferde auf dich hören würden, könnten wir es gerne umgekehrt versuchen“, meinte Herkos. „Und untätig wie ein hoher Herr, der seine Dienerschaft beaufsichtigt werde ich ganz gewiss nicht sein.“

Der Pharao kratzte sich am Kinn und nickte dann.

Das leuchtete ihm ein.

Also schob er von hinten am Karren während Herkos versuchte, die Pferde dazu zu bewegen, ihre überlegene Kraft doch endlich einzusetzen, damit der Wagen dadurch auch wieder ein Stück in die richtige Richtung bewegt wurde.

Das schien zunächst auch zu gelingen. Aber schon nach wenigen Handbreit, die sie vorankamen, gruben sich die Räder nur noch tiefer in den Schlamm hinein. Der Wagen war zu schwer, der Untergrund zu weich, man konnte es drehen und wenden wie man wollte, auf diese Weise konnten sie wohl keinen Erfolg haben.

Sie machten noch einen Versuch, aber schon nach wenigen Augenblicken brach Herkos die Sache ab.

„Das hat keinen Sinn!“, rief er. Die Pferde wurden auch schon wieder unruhig. Denen gefiel es nämlich auch überhaupt nicht, mit ihren Hufen im Schlamm zu stehen und darin langsam aber sicher immer tiefer einzusinken.

„Irgendetwas müssen wir doch tun!“

„Natürlich!“

„Soll der Pharao vielleicht zu den Fellachen hier in Gegend gehen, damit sie mit ihren Ochsen, seinen Streitwagen aus dem  Dreck ziehen? Was wäre das für eine Schande! Die ganze Hauptstadt würde davon sprechen und in zwei oder drei Wochen hätten die Papyrus-Boote diese sensationelle Geschichte Nilauf- und abwärts getragen! Und wenn ich dann das nächste Mal die Feiern zum Einsetzen der Nilflut leite, wird man insgeheim über mich lachen!“

„Aber so klappt es einfach nicht!“

„Was macht ihr denn in deiner Heimat in so einem Fall?“

„Ich habe dort nie einen Sumpf gesehen“, sagte Herkos. Er sah sich um. In seinem Kopf arbeitete es geradezu fieberhaft. Die  Sonne war schon bedenklich hochgestiegen und im Westen begann bereits die Luft vor Hitze zu flimmern. Es würde nicht mehr lange dauern, dann war es unerträglich heiß. Dann fiel sein Blick auf die Payrusstauden am Ufer. Und gleichzeitig sah Herkos eines der großen Flöße den Fluss hinabfahren. Der Nil war eine ideale Verkehrsstraße. Flussabwärts konnte man sich mit der Strömung treiben lassen. Und wenn man flussaufwärts fahren wollte, konnte man segeln, denn fast immer blies der Wind in günstiger Richtung. So ließen sich Güter und Personen sehr leicht auch in weit entfernte Teile des Reiches transportieren.

Auf dem Floß, das Herkos gerade beobachtete, lagen ausgestreckte, tote Krokodile. In den dichter bewohnten Gebieten an den Nilufern waren sie schon richtig selten geworden und sicherlich hatten die Männer auf dem Schiff einen ziemlich weiten Weg zurücklegen müssen, um diese Krokodile zu bekommen.

„Mumienhändler!“, entfuhr es Tutenchamun, dem das Floß auch aufgefallen war. „Und wahrscheinlich Betrüger! Möge der Krokodilgott Sobek sie für ihren Frevel strafen!“

„Wahrscheinlich werden diese Männer behaupten, dass sie die Krokodile flussaufwärts gekauft haben und dass sie da bereits tot gewesen sind“, meinte Herkos.

Tutenchamun nickte. „Und in Wirklichkeit haben sie selbst sie gejagt, obwohl das eine Sünde gegen den Krokodilgott ist! Aber der Preis für Krokodilmumien ist wohl einfach zu hoch, als dass die Angst vor Sobeks Rache diese Männer stoppen könnte.“

Damit hatte der Pharao wohl recht. Aus diesen Krokodilen würde man so schnell wie möglich Mumien machen - so wie es auch mit den Kadavern von anderen, als heilig angesehenen Tieren geschah. Katzen zum Beispiel. Diese Tiermumien galten als Glücksbringer und erzielten hohe Preise. Allerdings gingen die Kunden eigentlich davon aus, dass die mumifizierten Tiere eines natürlichen Todes gestorben waren. Schließlich wollten sich die Menschen ja das Wohlwollen des Krokodilgottes Sobek oder der Katzengöttin Bastet und noch anderer Tiergottheiten sichern – und nicht deren Zorn!

Darum wurden zusammen mit den Mumien auch kleine Schriftstücke auf Papyrus geliefert, auf denen versichert wurde, dass alles mit rechten Dingen zugegangen war.

Allerdings war es ein offenes Geheimnis, dass in vielen dieser Papyri schlicht und ergreifend gelogen wurde. Es hatte Herkos schon manchmal gewundert, dass nicht mehr Menschen misstrauisch wurden. Schließlich waren sehr viele Mumien von Krokodilen, Katzen oder Ibissen auf dem Markt – und es hätte sich schon eine Krokodilseuche ereignen müssen, dass so viele dieser Reptilien von alleine starben.

So wurden sie heimlich gejagt und dadurch immer seltener, was nur dazu führte, dass der Preis immer mehr stieg.

Auf dem Floß fiel ihm ein Mann auf, dem ein Arm fehlte. Er schien der Kapitän zu sein. Jedenfalls trug der Wind einige seiner Anweisungen bis zu Herkos und Tutenchamun hin. Er schien  nicht damit einverstanden zu sein, wie seine Bediensteten die Krokodile gelagert hatten. Kadaver verdarben schnell. Und wenn man nicht aufpasste, dann hatte man nur noch ein stinkendes, madenzerfressendes Stück Fleisch, aber nichts mehr, woraus man noch eine Mumie hätte machen können.

Deswegen war diese Schiffsbesatzung wohl auch des Nachts unterwegs gewesen, denn dann war es bedeutend kühler als an den brütend heißen Tagen, wenn die Sonne nur so vom Himmel herabbrannte.

Während Herkos das Floß beobachtete kam ihm eine Idee.

„Wenn Papyrus stark genug ist, um daraus Flöße und Boote zu machen, dann müsste er auch deinen Wagen tragen können!“, glaubte er.

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Schwimmt dieses Floss da vorn und trägt es all die Männer, die sich von dem Einarmigen anschreien lassen müssen mitsamt ihren Krokodilen und was die sonst noch so an Bord haben mögen oder nicht?“

Tutenchamun blickte zur Sonne, deren Stand ihm noch einmal verdeutlichte, wie schnell die Zeit voranschritt. „Also Hauptsache, es klappt. Wie das zustande kommt, ist mir inzwischen völlig gleichgültig - und selbst wenn es ein Gebet zur Sonnenscheibe Aton sein sollte, was inzwischen ja verboten wurde.“

Der Glaube an Aton, den Sonnengott, der als einzige göttliche Macht existieren sollte, war von Tutenchamuns Vater eingeführt worden. Aber inzwischen waren die Abbildungen der Sonnenscheibe in allen Tempeln wieder entfernt worden und die neue Sonnenstadt, die er mitten in der Wüste als neue Hauptstadt gegründet hatte, war nur noch eine Ruine, von der behauptet wurde, dass böse Geister dort ihr Unwesen trieben.

„Hilf mir, wenn du willst, dass es schneller geht“, rief Herkos. Er war inzwischen zu den Papyrusstauden gelaufen. Er versuchte, ein paar davon aus dem Boden zu reißen, aber das war gar nicht so einfach. Er ritzte sich dabei erstmal die Arme.

Dann fluchte er leise in seiner Heimatsprache vor sich hin. Auch wenn er ansonsten in mancher Hinsicht schon fast ein halber Ägypter geworden war – was das Fluchen anging, blieb er lieber bei seiner eigenen Sprache. Das hatte außerdem den Vorteil, dass ihn niemand verstand, was sicher auch in diesem Fall besser war.

„Warte“, rief Tutenchamun. „Ich helfe dir mit meinem Schwert!“ Der Pharao trug nämlich ein kleines Zierschwert an seinem Gürtel. Wirklich zum Kämpfen war es nicht unbedingt geeignet. Dazu war es viel zu kurz. Und die Edelsteine, mit denen der Griff besetzt war, sahen zwar gut aus, drückten aber in die Hand, wenn man es hielt. Richtig zufassen war kaum möglich.

Aber im Moment war es das beste Werkzeug, was sich auf die Schnelle auftreiben ließ.

Der Pharao erreichte Herkos und gab ihm das Schwert. „Ich habe zwar keine Ahnung, was du vorhast, aber ich will hoffen, dass du weißt, was du tust!“

„Das weiß ich nicht“, erwiderte Herkos. „Aber manchmal muss man eben einfach etwas ausprobieren.“

„Ja, ja, wenn man aus irgendeinem fernen, unbedeutenden Land kommt und hier nur eine von viele Geiseln am Hof ist, kann man sich so eine Einstellung sicher leisten. Bei mir ist das leider anders!“

„So?“

„Es ist alles vorherbestimmt, seit ich Pharao geworden bin. Selbst wie ich beerdigt werde ist schon geplant. Eine Grabstelle ist dafür schon im Bau und auch die Zeremonien und jedes Wort, das dabei gesprochen wird steht fest. Es steht so fest wie der Zeitpunkt der Nilflut oder der Aufgang der Sonne an jedem Morgen.“

„Und ich dachte immer, der Pharao ist der mächtigste Herrscher der bekannten Welt und er könnte alles tun oder anordnen, was ihm gerade so in den Sinn kommt!“

Tutenchamun lächelte mild. „Wie heißt diese Insel noch von der du stammst?“

„Kreta.“

„Vielleicht glaubt man so etwas auf Kreta. Vielleicht ist der König von Kreta tatsächlich jemand, der alle Entscheidungen selber trifft, weil niemand sich dafür interessiert, was er tut und seine Insel zu unbedeutend ist. Aber in meinem Fall ist das leider anders!“

Na, sollte ich ihn jetzt wirklich bedauern?, fragte sich Herkos. Irgendwie erschien ihm der Herrscher Ägyptens doch etwas arg wehleidig zu sein. Dafür, dass man Pharao war, konnte man doch wohl das eine oder andere Opfer erwarten, fand er.

Herkos hackte mit dem Zierschwert des Pharao etwas Papyrus und reichte es Tutenchamun. „Hier, am besten legst du das schon mal vor die Räder. Wenn es genug ist, werde sie bei unserem nächsten Versuch nicht mehr so einfach einsinken und wir kommen hier weg.“

Tutenchamun bedachte Herkos mit einem Blick, der Überraschung ausdrückte. Es kam wohl nicht oft vor, dass jemand dem Herrn Ägyptens Anweisungen gab. Herkos hatte das einfach so vor sich hin gesagt, ohne darüber nachzudenken. Erst jetzt, da er darüber nachdachte, kam es ihm seltsam vor.

Tutenchamun schien Herkos Gedanken zu erraten.

„Das ist schon in Ordnung. Ansonsten entscheiden Eje und die anderen Hofbeamten für mich – und jetzt bestimmst du, wo es lang geht. Ich bin das gewöhnt.“

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SIE LEGTEN DEN BODEN vor den Rädern mit reichlich Papyrus aus. Dann versuchten sie noch einmal, den Streitwagen aus dem Dreck zu ziehen. Herkos zog die Pferde an ihren Geschirren und redete ihnen gut zu, während der Pharao höchstpersönlich von hinten schob. Die Pferde legten sich ordentlich ins Zeug, die Räder kamen endlich aus dem Schlamm heraus und rollten über das Papyrus. So sanken sie nicht einfach wieder ein. Der Wagen machte einen Ruck, gewann an Geschwindigkeit und einen Augenblick später war er aus dem Sumpf heraus wieder auf einigermaßen festem Grund. Die Pferde wollten eigentlich weiter, und Herkos hatte Mühe sie wieder zu stoppen.

Tutenchamun wischte sich den Dreck von den königlichen Schienbeinen. Dann sah er sich zufrieden das Ergebnis an. Der Wagen stand auf sicherem Grund und hatte, so wie es auf den ersten Blick aussah, auch keinen Beschädigung davongetragen, sodass man einfach damit zurück zum Palast fahren konnte.

Tutenchamun stieg auf und griff nach den Zügeln.

Dann wandte er sich an Herkos.

„Danke für deine Hilfe!“, rief er. Dann ließ er die Pferde voran preschen und Herkos musste sogar noch aus dem Weg springen, um nicht doch noch von dem Streitwagen über den Haufen gefahren zu werden.

Dankbarkeit sieht eigentlich anders aus!, dachte der Junge aus Kreta. Aber in dieser Hinsicht konnte man von jemandem wie Tutenchamun wohl nicht allzu viel erwarten.

Er war schließlich in dem Bewusstsein erzogen worden etwas Besonderes zu sein. Von königlichem Geblüt. Und auch wenn er ursprünglich nicht für die Thronfolge vorgesehen gewesen war, so hatte er doch inzwischen seine Rolle als gottgleicher König voll und ganz angenommen.

Doch der Pharao hatte sein Gespann kaum zwanzig Wagenlängen weit dahin preschen lassen, da zog er die Zügel an und brachte das Gefährt im nächsten Moment zum Stehen. Er machte das sehr gekonnt. Offenbar hatte er wirklich schon seit frühester Jugend auf so einem Wagen gestanden. Für einige Momente hüllte ihn eine Staubwolke ein, die sich aber rasch senkte.

Tutenchamun drehte sich zu Herkos herum und winkte ihm.

Das Zeichen, das der junge Pharao Herkos machte, war eindeutig. Er wollte, dass der Junge aus Kreta zu ihm auf den Wagen kam.

„Na komm schon, worauf wartest du, Herkos? Hast du keine Beine, mit denen du schneller laufen kannst. Du wirst schließlich wohl auch dringend im Palast erwartet!“

Herkos ärgerte sich im ersten Moment etwas. Wie einen Dienstboten hat er mich behandelt!, ging es ihm durch den Kopf. Und dabei war Herkos doch selbst ein Königssohn, auch wenn sein Vater viele Söhne hatte und er in der Thronfolge wohl nie zum Zuge kommen würde. Trotzdem – es ärgerte den Jungen, sich so etwas bieten lassen zu müssen. Aber immerhin hatte Tutenchamun noch einmal angehalten. Und vielleicht hatte er sein Verhalten gar nicht böse gemeint, sondern einfach das getan, was seiner Erziehung entsprach. Und wozu sollte ein gottgleiches Wesen wie ein Pharao Rücksicht auf irgendwen nehmen oder Dankbarkeit für eine Hilfeleistung zeigen? Nein, er denkt wahrscheinlich, dass ich im dankbar sein muss, weil er sich von mir helfen ließ und ich vielleicht im Totenreich dafür eine Belohnung bekomme!, dachte Herkos.

Er setzte zu einem kleinen Spurt an und hatte wenig später den Streitwagen erreicht. Tutenchamun reichte ihm die Hand. „Na, worauf wartest du?“

Herkos zögerte einen Moment, dann ergriff er die Hand und ließ sich hinauf auf den Wagen ziehen. Schon im nächsten Moment musste er sich festhalten, denn Tutenchamun hatte die Pferde bereits vorwärts getrieben. Sie preschten los, so als könnten sie es ebenfalls nicht erwarten, zum Palast zurückzukehren.

Sie jagten die Straße entlang, die am Nilufer entlangführte. Sie war wie geschaffen für die schnellen Streitwagen, die den wichtigsten Teil des Heeres darstellten.

Herkos fühlte sich auf dem schnellen Gefährt nicht sonderlich wohl. Er hielt sich krampfhaft fest und hoffte bei jedem Stein und jedem Schlagloch, über das der junge Pharao den Wagen hinweg schnellen ließ, dass es keinen Achsen- oder Radbruch gab.

Herkos war richtig schlecht und je länger er sich auf dem Wagen befand, desto mehr wünschte er sich, ihn nie bestiegen zu haben.

„Nenn mich Tut“, sagte der Pharao. „Ich möchte, dass wir uns in Zukunft wieder treffen. Es hat mir nämlich Spaß gemacht, mich mit dir zu unterhalten!“

„Gerne“, sagte Herkos.

„Weißt du, es gibt nicht viele Menschen, mit denen ich mich ganz normal unterhalten kann, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Doch – ich denke, ich weiß sehr gut, was du meinst.“

„Du nimmst kaum Rücksicht darauf, dass ich der Pharao bin und redest einfach drauflos, wie dir dein barbarischer Schnabel gewachsen ist“, stellte Tutenchamun fest.

„Es tut mir leid, falls ich irgendetwas Unangemessenes gesagt haben sollte!“

Tutenchamun lachte schallend, während er die Pferde zu noch etwas größerer Eile antrieb. 

„Genau das finde ich ja so gut! Niemand redet mit mir wie man mit einem normalen Menschen redet. Und für die Ägypter bin ich das gewiss auch nicht. Aber du bist ein Fremder. Ich möchte, dass wir uns öfter treffen.“

„Ich habe nichts dagegen“, sagte Herkos.

„Wenn du willst, werde ich dir eines Tages zeigen, wie man einen Wagen lenkt oder wie man Nilpferde jagt!“

„Das klingt interessant“, gab Herkos zu.

„Ich gehe gerne auf die Jagd.“

„Ist das nicht zu gefährlich für einen Pharao?“

„Nein. Wie sollte das gefährlich sein? Ich bin die irdische Erscheinung des Gottes Horus. Wer sollte mir ernsthaft gefährlich werden?“

„Vorhin sind dir ein paar Bienen fast zum Verhängnis geworden, die deine Pferde gepiesackt haben!“, gab Herkos zu bedenken.

Tutenchamun wirkte daraufhin etwas in sich gekehrt und nachdenklich. „Wir sprechen ein anderes Mal darüber“, schlug er vor.

„Ich würde aber trotzdem mal darüber nachdenken, wer dir in deiner Umgebung vielleicht nicht wohlgesonnen ist und dir schaden will! Und deinem Vorgänger Semenchkare hat es auch nichts genützt, dass er die Verkörperung von Horus war...“

Herkos erinnerte sich noch gut an den Tag, als der Vorgänger des jetzigen Pharaos gestorben war. Die Hauptstadt hatte da noch weit in der Wüste gelegen und den Namen Achet-Aton getragen. Eine Stadt zu Ehren der Sonnenscheibe Aton, dem einzigen neuen Gott, der alle anderen ablösen sollte. Semenchkare – ein Halbbruder von Tutenchamun - hatte nur insgesamt drei Jahre regiert und bis heute machten Gerüchte die Runde, wonach er keines natürlichen Todes gestorben, sondern ermordet worden war. Es gab so viele Gifte, die selbst die in aller Welt berühmten Ärzte der Ägypter nicht nachweisen konnten, sodass es durchaus möglich war, dass diese Gerüchte recht hatten.

Aber im Augenblick schien Tutenchamun einfach nichts mehr von der unangenehmen Wahrheit hören zu wollen. Jedenfalls gab er Herkos keine Antwort, bis sie den Palast erreicht hatten. Die Wachen öffneten das Tor. Der Pharao brauchte nicht einmal die Zügel anzuziehen, um die Geschwindigkeit, mit der die Pferde den Wagen zogen, etwas zu drosseln.

Oft genug hatte Herkos bisher schon erlebt, wie der Pharao mit seinem Gespann in den Palast einfuhr – und nie hätte er auch nur zu träumen gewagt, mal an der Seite des kindlichen Herrschers zu stehen und mitzufahren. So richtig hatte sich Herkos auch nach dieser Fahrt noch nicht daran gewöhnt, mit so hoher Geschwindigkeit dahinzurasen. Als der Wagen endlich vor dem großen Säulenportal zu stehen kam, fühlte er, dass seine Hände, mit denen er sich festgehalten hatte, völlig verkrampft waren. Seine Arme taten ihm bis in die Schultern hinein weh und er atmete tief durch. Tutenchamun sah ihn schmunzelnd an. „Die Götter sind mit mir – dann werden sie auch mit dir sein, wenn du in meiner Nähe bist, Herkos!“, sagte der junge Herrscher.

Herkos atmete tief durch. „Ich hoffe, du hast in diesem Punkt wirklich recht“, murmelte er. Ganz gleich, welche Götter nun auf seiner Seite sein mochten – im Moment war der Junge erstmal froh, vom Wagen heruntersteigen zu können und wieder festen Grund unter den Füßen zu haben. Er schwankte leicht, als er abgestiegen war. Ihm war leicht schwindelig.

Tutenchamun stieg ebenfalls vom Wagen und schien zu bemerken, was mit Herkos los war.

„Das ist mir auch nach meiner ersten Wagenfahrt so gegangen“, sagte er. „Aber daran gewöhnt man sich!“

„Das will ich hoffen, sonst war das nämlich das letzte Mal, dass ich auf so ein Ding gestiegen bin!“

„Dann befehle ich dir einfach, es trotzdem zu tun, dann brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen, weil du ohnehin nichts entscheidest!“

„Du bist es wirklich nicht gewohnt, Freunde zu haben“, meinte Herkos.

„Wieso?“

„Weil man so etwas mit Freunden nicht tut.“

„Du sagst manchmal ziemlich seltsame Sachen, Herkos. Aber das ist immer noch interessanter, als den Musikanten am Hof zuzuhören, die immer dieselben Lieder von immer denselben Heldentaten meiner Vorfahren besingen.“

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EIN PFERDEKNECHT SORGTE dafür, dass der Wagen und die Zugtiere weggebracht wurden. Weitere Hofdiener begrüßten den Pharao. Einem gab er das Zierschwert, mit dem Herkos Papyrus geschlagen hatte, einem anderen warf er die verdorbenen Sandalen hin, die er wohl nie wieder tragen würde. Barfuß ging er weiter über den Stein. Ein Mädchen – es wirkte etwas älter als Tutenchamun – kam die Treppe des Portals herab. Die Gesichtszüge waren denen des Pharaos sehr ähnlich.

Herkos wusste natürlich wer sie war, auch wenn er zuvor noch nie mit ihr gesprochen hatte.

Anchesenamun lautete ihr Name und sie war die Halbschwester des Pharao. „Es haben sich schon viele Sorgen um dich gemacht, weil du heute Morgen verschwunden warst.“

„Haben mich denn die Wachen nicht gesehen?“

„Doch, aber du hattest ihnen offenbar verboten, darüber zu sprechen!“

„Nun bin ich ja wieder da und es ist nichts geschehen, worüber man sich Sorgen machen müsste, Anchesenamun.“ Der Pharao drehte sich um und deutete auf Herkos. „Das ist Herkos. Er ist eine der königlichen Geiseln hier am Hof. Vielleicht bist du ihm schon mal begegnet.“

„Nicht, dass ich wüsste, Starker Stier, vollkommen in allen Dingen!“

'Starker Stier, vollkommen in allen Dingen' war ein anderer Name des Pharao, den er als Verkörperung des falkenköpfigen Gottes Horus trug. Jeder Herrscher Ägyptens trug insgesamt fünf Bezeichnungen, darunter auch Horus- und einen Goldhorus-Namen. Aber Anchesenamun sprach diesen Namen auf eine Weise aus, die etwas spöttisch klang. Fast so, als würde sie sich damit etwas über ihren jüngeren Bruder lustig machen. Wie ein starker Stier wirkte der eher zart gebaute Tutenchamun ja nun wirklich nicht – und 'vollkommen in allen Dingen' klang auch ziemlich anspruchsvoll. Aber selbst Herkos hatte schon bei den verschiedenen Feierlichkeiten und Zeremonien am Hof mitbekommen, dass sich Tutenchamun offenbar gerade von engeren Mitgliedern seiner Familie oder seinen Ratgebern besonders gerne mit dem Horus-Namen ansprechen ließ.

Vielleicht wünscht er sich, dass es so wäre!, ging es Herkos durch den Kopf. Ein starker Stier – und heute hätten ihn fast ein paar Bienen in Gefahr gebracht!

Anchesenamun musterte Herkos von oben bis unten. Sie runzelte die Stirn. Dann zuckte sie die Schultern. „Kann sein, dass er mir schon über den Weg gelaufen ist, aber sollte sich unsereins allzu sehr um die Unköniglichen kümmern?“

„Er ist ab jetzt mein bester königlicher Freund“, sagte Tutenchamun. „Und man soll ihn zu mir vorlassen, wann immer er es verlangt. Wie auch er die Pflicht hat, mich aufzusuchen, wann immer ich es verlange!“

„Aber, 'Starker Stier', meinst du, du kennst diesen Jungen wirklich gut genug? Schau ihn dir an? Die Götter müssen ihn für irgend etwas gestraft haben, weil sie ihm zu wenig dunkle Farbe für seine Haare gaben!“ Sie hob etwas das Kinn und sprach nun Herkos direkt an: „Oder färbt man das in deiner Heimat so?“

Herkos wusste im ersten Augenblick gar nicht, was er darauf erwidern sollte. Und davon abgesehen war es im Umgang mit Mitgliedern des Königshauses immer besser, sich zweimal zu überlegen, was man sagte, wenn man nicht plötzlich in Ungnade fallen wollte.

Das hatte er schon erlebt.

Und wenn sich in der kurzen Zeit, die er am Hof Ägyptens war, auch so viel geändert habe mochte – dies war gleich geblieben. Und es spielte dabei weder eine Rolle, dass die Hauptstadt nicht mehr einsam in der Wüste lag oder dass jetzt wieder Amun als Hauptgott galt und nicht mehr die Sonnenscheibe Aton.

„Stell ihm nicht so komplizierte Fragen“, sage Tutenchamun. „In seiner Heimat achtet man nicht so auf solche Dinge. Wie hieß die Insel nochmal, von der du kommst, Herkos?“

„Kreta“, gab Herkos freundlich Auskunft.

Tutenchamun wandte sich wieder an seine Halbschwester. „Na siehst du, sage ich ja! Ein Land, das keiner kennt, von dem man hier selten etwas hört und in dem man sein Haar wahrscheinlich nicht mal richtig kämmt!“

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EIN SCHON ETWAS ÄLTERER Mann trat jetzt die Stufen herab. Das war Eje, der Großwesir des Pharao, von dem bekannt war, dass er die eigentlichen Regierungsgeschäfte zum Großteil leitete, solange der Pharao selbst noch minderjährig war. Von vielen Dingen verstand der Junge einfach noch nicht genug, um selbst die Herrschaft ausüben zu können.

Eje war schon lange am Hof – zuerst in der Sonnenstadt mitten in der Wüste und jetzt in der neuen Hauptstadt.

Sein Haar war bereits dünn und grau, sein Gesicht von Falten übersät. Aber die Augen waren wach und aufmerksam.

Eje wirkte nervös.

„Man wartet bereits auf den Pharao!“, erklärte er. „Kommt jetzt, mein Gebieter. Eure Anwesenheit ist dringend erforderlich.“

„Es tut mir leid, aber meine Wagenfahrt hat etwas länger gedauert“, erklärte Tutenchamun mit einer Leichtigkeit für die Eje überhaupt kein Verständnis zu haben schien.

Der Wesir begleitete den jungen Pharao in den Palast. Noch bevor er das Säulenportal erreicht hatte, war ein Diener zur Stelle, der ihm ein frisches Paar Sandalen brachte, in die Tutenchamun hineinschlüpfte.

Kurz bevor beide hinter den Säulen verschwanden, blieb Tutenchamun noch einmal stehen und blickte sich zu Herkos um.

Im nächsten Augenblick war er dann zusammen mit seinem Großwesir im Palast verschwunden.

Anchesenamun hingegen war bei Herkos geblieben.

Der Junge fühlte ihren Blick in einer unangenehmen Weise auf sich gerichtet. Sie schien ihm einfach nicht zu trauen. Und auf gewisse Weise verstand Herkos sie sogar.

„Wie hast dies geschafft, dir so schnell das Vertrauen des Pharao zu erschleichen?“, fragte sie. Ihre Stimme war in diesem Moment so leise wie das Wispern einer Schlange und ihre Augen waren sehr schmal geworden. „Sprich schon!“

„Warum fragst du deinen Bruder nicht? Er wird dir gewiss Auskunft geben“, erwiderte Herkos ruhig.

„Mein Bruder hat zwar einen Horus-Namen erhalten, der Stärke symbolisiert, aber in Wirklichkeit ist er schwach und vertrauensselig. Und wenn sich herausstellen sollte, dass du ein Spion der Amun-Priesterschaft bist und ihn nur aushorchen sollst, dann werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass es dir schlecht ergeht.“

Damit drehte sie sich um und ging.

Herkos wollte noch etwas erwidern, aber da sah er schon Ramenhotep, den Quartiermeister für all die ausländischen Prinzen und Prinzessinnen am Hof über den Platz kommen.

Und das mit einem Kopf, der ganz sicher nicht durch die Einstrahlung der Sonne so hochrot geworden war.

Schlecht, so befürchtete Herkos, würde es ihm nun wohl auch, ohne dass Anchesenamun ihre düstere Drohung wahr machte, bald ergehen!

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RAMENHOTEP MACHTE EIN riesiges, lautstarkes Theater um die verdorbene Sandalen und darum, dass Herkos den Palast verlassen hatte, ohne jemandem Bescheid zu sagen.

Herkos wiederum beschloss, all das Geschimpfe am besten einfach über sich ergehen zu lassen. Dass es irgendwelche ernsthaften Konsequenzen für ihn hatte, was geschehen war, glaubte er nicht. Schließlich wusste auch Ramenhotep, dass er eigentlich nichts unternehmen konnte. Immerhin waren die königlichen Geiseln allesamt selbst von edler Geburt. Zumindest in ihren Heimatländern galten sie als edel.

Aber das bedeutete auch, dass man Herkos nicht bestrafen würde, solange man daran interessiert war, mit dem Hof seines Vaters in guten Beziehungen zu stehen.

Schließlich war der Zorn des Quartiermeisters einigermaßen verraucht und Herkos sah die Möglichkeit, endlich auch etwas zur Sache sagen zu können.

„Edler Ramenhotep, die Sandale sind zu Schaden gekommen, weil ich dem Pharao aus einer missliche Lage geholfen habe. Hätte ich seinen Streitwagen vielleicht einfach im Schlamm des Nilufers belassen sollen? Ihr dient doch auch dem Herrn Ägyptens – genau dasselbe kann ich von mir jetzt sagen!“

„Du erzählst mir irgendeine Geschichte, um meinen Zorn zu dämpfen“, vermutete der Quartiermeister.

„Nein, es ist die Wahrheit und Ihr könnt gerne den Pharao persönlich dazu befragen, falls er Euch deswegen empfängt!“

„Wie auch immer. Heute hast du aufgrund dieses Vorfalls eine Stunde Unterricht versäumt, der für dich vorgesehen war. Den wirst du nachholen müssen. Was wird sonst dein Vater sagen, wenn du eines Tages nach Kreta zurückkehrst und noch nicht einmal flüssig unsere Hieroglyphen zu schreiben vermagst!“

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BIS ZUM FRÜHEN ABEND sah Herkos den Pharao nicht mehr. Dann aber fand ein großes Festmahl zu Ehren des jungen Herrschers statt. Bevor gegessen wurde, musste zunächst ein Priester des Amun eine kleine Zeremonie durchführen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Göttern wurde Amun nur selten als Mischwesen aus Tier und Mensch dargestellt und wenn, dann trug er zumeist einen Widderkopf. Viel häufiger aber war er nur einfach eine Herrschergestalt mit einem Zepter. Er galt inzwischen als Oberster unter den Göttern und vor allem hatte er eine sehr mächtige Priesterschaft, auf die der Pharao unbedingt Rücksicht nehmen musste, wenn er an der Macht bleiben wollte.

Selbstverständlich waren die obersten Amun-Priester zu diesem Fest auch geladen.

Für die ausländischen Geiseln galt dies eigentlich nicht. Zumindest, diejenigen, die noch nicht volljährig waren, waren eigentlich nicht eingeladen. Aber Ramenhotep bekam von einem der Palastdiener die Mitteilung, dass der Pharao unbedingt wert darauf legte, dass Herkos an dieser Feierlichkeit teilnahm.

Der Quartiermeister hatte das mit Zähneknirschen zur Kenntnis genommen.

Und so befand sich Herkos unter den geladenen Gästen und nahm an der Feier teil. Die Diener wollten auch ihm Wein einschenken, was sie normalerweise aufgrund seines Alters nie getan hätten, aber der Junge aus Kreta lehnte ab. Er wollte einen klaren Kopf behalten und sich nicht gerade bei diesem Anlass völlig danebenbenehmen, nur weil er unter dem Einfluss des Weines alle Hemmungen verlor und vielleicht irgendein unbedachtes Zeug daherredete.

Dass es anderen mitunter so erging, davon hatte Herkos durchaus schon gehört. Und so manche Karriere am Hof war danach rasch zu Ende gewesen.

Im Rahmen des Festes wurden auch verdiente Beamte und Würdenträger des Reiches vom Pharao mit mehr oder minder kleinen Gaben bedacht, die der Anerkennung dienen sollten. Einige Offiziere bekamen Abzeichen für besondere Tapferkeit verliehen, ein verdienter Mumifizierer, dessen Dienste von den Familien der höheren Beamten am Hof in Anspruch genommen wurde, sobald es einen Todesfall unter ihnen gab, bekam eine goldene Statue des schakalköpfigen Anubis überreicht. Das war kein Zufall, denn der Gott Anubis geleitete ja die Seelen der Verstorbenen ins Totenreich im Westen, wo sie dann allerlei Prüfungen unterzogen wurden und wo man auch über sie zu Gericht saß. Danach wurde entschieden, wer von ihnen es verdient hatte, in das zweite Totenreich einzugehen. Im Gegensatz zum ersten war es nicht dämmrig, sondern lichtdurchflutet und lag weit im Osten unter der Erde, wo die Sonne aufging. Es war ein Ort der Glückseligkeit.

„Du hast die Kunst der Mumifizierung mit besonderer Sorgfalt  verrichtet und auch dafür gesorgt, dass sie von vielen Schülern erlernt wurde, sodass sie erhalten bleibt“, sagte Tutenchamun zu dem Mann, der sich vor ihm auf die Knie warf. Der Mumifizierer war so gerührt, dass seine Hand zitterte, als er die Anubis-Statue annahm.

Aber eins stand fest – es würde sich schon bald herumgesprochen haben, dass der Pharao selbst sein Handwerk auf diese Weise gelobt hatte und so würde es ihm ganz bestimmt in den nächsten Jahren nicht an Kunden mangeln, die von ihm nach ihrem Tode mumifiziert werden wollten, damit ihre Seelen danach zu den Westlichen eingehen konnten.

Viele weitere Menschen wurden an diesem Tag für ihre besonderen Verdienste vom Pharao ausgezeichnet und belobigt.

Darunter auch der Befehlshaber der Palastwache. Sein Name war Kamosis. Er erhielt eine Katzenmumie, die ihm Glück bringen sollte. „Deine Dienste sind mir wertvoll“, sagte der Pharao. „Und ich weiß deine Treue sehr zu schätzen.“

Das waren die Worte, die er zu den Meisten der Geehrten sagte. Er saß auf es seinem Thron und neben ihm standen sein Großwesir Eje und Genral Haremhab, ein großer, breitschultriger Mann, der sich vom einfachen Soldaten bis zum Befehlshaber der Armee des Pharao hochgedient hatte. Diese beiden Männer trafen die meisten Regierungsentscheidungen für den minderjährigen Pharao – das war am Hof allgemein bekannt und auch in diesem Moment war es deutlich sichtbar. Denn bevor Tutenchamun sich jeweils dem nächsten zuwandte, der vor ihn trat, beugte sich Eje zu ihm und flüsterte ihm ein paar Worte zu.

Der Letzte in der Reihe derer, die an diesem Tag vom König ausgezeichnet wurden, war der zweite Hofschreiber Thotnekep. Er war ein Mann von etwa fünfzig Jahren und man sagte, dass kaum jemand die Zeichen der ägyptischen Schrift so schnell und dabei doch so formvollendet auf das Papyrus bringen konnte. Thotnekep bekam eine Ibis-Mumie. Dieser Vogel – gut an dem gebogenen Schnabel zu erkennen – galt als heilig und wer einen Ibis tötete, über den wurde selbst die Todesstrafe verhängt.

Eje reichte Tutenchamun den mumifizierten, in Leinentüchern eingeschlagenen Vogel.

„Auf das der Gott Thot dir weiterhin eine glückliche Hand beim Schreiben verleiht“, sagte der Pharao, nachdem ihm sein Großwesir diese Worte zuvor wohl ins Ohr geflüstert hatte. Denn ob der junge Pharao sich überhaupt dafür interessierte, wer bei Hof die Verträge und Dokumente anfertigte, die in großer Zahl geschrieben werden musste, war dem Großwesir vermutlich völlig gleichgültig.

Wie passend!, dachte Herkos, während er die Szene beobachtete. Selbst in den drei Jahren, die der Junge aus Kreta schon in Ägypten lebte, hatte er ganz gewiss noch nicht alle Götter kennen gelernt, die in diesem Land verehrt wurden. Aber der Gott Thot war zweifellos einer der Bekannteren und Wichtigeren unter ihnen. Er war der Schutzgott der Schreiber und der Magie und auf Wandbildern wurde er sehr häufig mit dem krummschnabeligen Kopf eines Ibis dargestellt.

Das war auch der Hauptgrund dafür, weshalb dieser Vogel als heilig angesehen wurde. Und weil das Auftauchen von Ibissen die Nilschwemme angekündigt hatte, galt der Vogel auch als allgemeines Glückssymbol.

Thotnekep verneigte sich sehr tief und nahm die Ibis-Mumie an sich.

„Ibisse sind knapp geworden“, hörte Herkos jemanden in seiner Umgebung sagen. „Man findet sie zwar immer noch häufiger als Krokodile und Paviane, aber sie werden immer seltener.“

„Dafür müsste das Totenreich voll von ihnen sein!“, meinte ein anderer und lachte dabei. „Schließlich sind Ibis-Mumien die beliebtesten Glücksbringer – und du glaubst doch nicht im ernst, dass all diese Vögel eines natürlichen Todes gestorben sind.“

„Die Wahrheit ist: Viele von ihnen sind nicht einmal Ibisse, sondern irgendwelche anderen Vögel. Lässt sich doch alles auch fälschen – und man wird auch nicht gleich zum Tode verurteilt, wenn man eine Mumie fälscht.“

„Aber wenn man einen Ibis tötet schon!“

„Genau!“

„Dann kann man ja jedem, der so eine Ibis-Mumie bekommt nur dringend raten, sie genau zu prüfen!“

„Du musst was von dem Mumiengeschäft verstehen, sonst siehst du den Unterschied nicht. Und selbst dann sehen die Fälschungen manchmal so überzeugend aus. Bei dem krummen Schnabel von Thot! Selbst diesen Schnabel kriegt man notfalls hin, wenn man einen Storchenschnabel durch Zusatz gewisser Substanzen weich macht und zurecht biegt.“

„Ach, was sollen wir uns Gedanken machen über Dinge, die offenbar nicht mal die Götter bemerken!“

Herkos konnte leider nicht sehen, wer sich da unterhielt, denn es standen zu viele Menschen um ihn herum, die überwiegend größer als er waren.

„Ich glaube nicht, dass dein Herz nach dieser Bemerkung noch leichter sein wird als eine Feder, wenn es einst in der Unterwelt gewogen wird“, erwiderte nun wieder der andere. „Da wird dich wohl die Totenfresserin holen, wie alle anderen, die die Prüfungen nicht bestehen!“

Herkos drängte sich etwas nach vorn, ohne dass er dabei allzu unangenehm auffiel. Er sah einen etwas dicklichen, kahlköpfigen Mann zusammen mit einem dünneren dastehen und sich leise weiter unterhalten. Der Dünnere war vermutlich ein reicher Händler. Ein Anubis-Amulett hing ihm um den Hals – aber obwohl der schakalköpfige Anubis der Schutzherr der Mumifizierer war, war der Mann für einen Einbalsamierer zu gut gekleidet. 

Vielleicht ein Mumienhändler, ging es Herkos durch den Kopf. 

Jedenfalls trug er zwar wertvollen Schmuck und ein kostbares Gewand, aber keine Hoheitszeichen eines Priesters. Der dicke Kahlkopf hingegen trug das Amulett der Amun-Priester und an den Stimmen erkannte Herkos, dass es sich um die Männer handelte, die er gerade gehört hatte.

„Du solltest nicht so unbedacht reden, Chumosis!“, wandte sich der Amun-Priester an seinen Gesprächspartner. „Der Palast hat gute Ohren und da sollte man sich hüten, was man sagt!“

„Oh, da brauchst du dir als Amun-Priester doch keine Sorgen zu machen“, meinte Chumosis. „Wie ich höre, sollen eure Tempel jetzt sogar alle Besitztümer zurückbekommen, die euch Echnaton weggenommen hat! Der junge Pharao scheint euch Amun-Priestern gewogen zu sein!“

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738915518
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
falsche mumien mein freund tutenchamun

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Falsche Mumien: Mein Freund Tutenchamun