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Vier Alfred Bekker Krimis: Dunkle Morde

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2017 600 Seiten

Zusammenfassung

Dunkle Morde: Vier Krimis
von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 650 Taschenbuchseiten.

Vier Krimis in einem Buch

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

Dieses Buch enthält folgende drei Krimis:

Alfred Bekker: Der Killer von Hamburg

Alfred Bekker: Tote Bullen

Alfred Bekker: Der Legionär

Alfred Bekker: Grausame Rache

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


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Der Killer von Hamburg: Kriminalroman

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Thriller von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 132 Taschenbuchseiten.

Ein furchtbarer Fund in einem unbewohnten Haus in Hamburg ruft Kommissar Uwe Jörgensen und sein Team auf den Plan. Morde geschehen und ein tot geglaubter Profi-Killer tritt ins Rampenlicht. Kommissar Jörgensen kommt einer weitreichenden Verschwörung innerhalb des organisierten Verbrechens auf die Spur.

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.

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Copyright

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

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Ich heiße Uwe Jörgensen, bin Kriminalhauptkommissar  und gehöre als solcher zur KriPoEGBu.

Ja, eine solche Abkürzung klingt nach einem übel schmeckenden Medikament oder nach einer Ausführungsbestimmung im Steuerrecht. Irgendetwas, was kompliziert, teuer und unangenehm ist. Aber ich kann Ihnen versichern, auf die KriPoEGBu trifft das nicht zu.

Die Abkürzung steht für „Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes“, und wir sind dem Bundeskriminalamt formal angegliedert, aber unsere Büros befinden sich im Polizeipräsidium Hamburg. Formaljuristisch sind wir ein Teil unserer hanseatischen Kripo, denn Polizei ist Länder-Sache, und wir hätten sonst nur sehr eingeschränkte Befugnisse hier vor Ort. Klingt wie ein Wirrwarr? Ist ein Wirrwarr. Aber nur in der Theorie. In der Praxis klappt das alles ganz gut. Bürokratie ist immer das, was Beamte daraus machen. Und Beamte sind Menschen. Auch, wenn viele das nicht glauben wollen, aber es ist so. Menschen wie mein Kollege Roy Müller und ich. Unsere Abteilung greift dann ein, wenn andere nicht mehr weiter wissen. Oder wenn eine Koordinierung zwischen den Polizeibehörden verschiedener Länder nötig ist. Ich will da nicht in die Einzelheiten gehen. Es sind die größeren Fälle, in denen unser Einsatz vonnöten ist.

In der Praxis sage ich meistens nur: „Jörgensen, Kripo.“

Das reicht.

Absolut.

Und wenn ich sehr geschwätzig bin, was nicht so oft vorkommt, dann sage ich: „Jörgensen, Kripo Hamburg.“

Wenn ich den Leuten mit unserer offiziellen Bezeichnung komme, sagen die nur: „Ich hab' schon eine Versicherung, besten Dank. Und ich kaufe auch nichts.“

Wie gesagt, es sind die größeren Fälle, mit denen wir uns befassen.

Die Wichtigen.

Oder die Schwierigen. Manchmal auch einfach nur das, was liegen geblieben ist und wofür sich niemand anderes zuständig fühlt. Es ist immer dasselbe, aber das kennt man ja aus anderen Bereichen. Oder etwa nicht?

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Ich saß am Hafen und sah den großen Containerschiffen zu, wie sie einfuhren, wie sie be- und entladen wurden und sich mit einer so majestätischen Langsamkeit auf ihr Terminal zubewegten oder sich von ihm entfernten, dass es mich immer an die Art und Weise erinnerte, in der sich große Tiere bewegen. Elefanten zum Beispiel. Ich saß am Kai und angelte.

Irgendwas zappelte an meiner Angel. Das kam nicht oft vor. Das Angelrevier, das ich mir ausgesucht hatte, war auch nicht gerade ergiebig. Das war auch okay.

Genau in diesem Moment klingelte mein Handy.

Ich hatte aus irgendeinem Grund vergessen, es abzuschalten.

Wenn man abschalten will, musste man das Handy abschalten.

Wirklich.

Alter Grundsatz.

Nie befolgt.

Naja. Sowas sollte ja öfter vorkommen.

Wahrscheinlich stand mein Pflichtgefühl dagegen.

Ich langte also in die Tasche meiner Jacke und holte das Smartphone hervor.

KOLLEGE RUFT AN, stand dort in großen Buchstaben.

„So'n Schiet“, sagte ich. „Wer stört?“

„Weißt du doch“, sagte die Stimme an meinem Ohr. Sie gehörte unverkennbar meinem Kollegen Roy Müller. Unverkennbar, weil er einen sehr breiten, norddeutschen Akzent spricht. Und weil ich ihn seit Urzeiten kenne. Wir sind fast wie ein Ehepaar. Wahrscheinlich haben wir beide miteinander mehr Zeit verbracht als jeder von uns beiden mit jeder Frau, mit der er je verheiratet gewesen war. So war das eben. Das nannte man wohl den Primat des Beruflichen oder so ähnlich.

„Ich habe heute frei“, sagte ich.

„Pech für dich, dass irgendein irrer Mörder sich nicht an deine Bürozeiten halten will, Uwe.“

„Jo“, sagte ich. „Da sagst du was. Und ich fürchte, das wird man denen auch nicht mehr beibringen.“

„Häh?“

„Den irren Killern. Dass Sie sich an die Bürozeiten halten sollen.“

„Komm so schnell wie möglich in die Zentrale. Der Chef will, dass wir alle dabei sind.“

„Klingt bedrohlich.“

„Ist bedrohlich, Uwe.“

„Bin am Angeln.“

„Tja, besser, du lässt den Fisch jetzt wieder schwimmen, falls du überhaupt einen an der Angel hast!“

„Na, hör mal!“

„Ich kenn dich doch, Uwe.“

„Ach, wirklich?“

„Du bist für eine Menge Sachen talentiert. Angeln gehört nicht dazu, würde ich mal sagen.“

„Vielleicht kennst du mich doch nicht so gut, wie du glaubst, Roy.“

„Doch, doch...“

„Naja...“

„Hauptsache, du tauchst bald da auf, wo der Chef dich gleich haben will.“

„Jo“, sagte ich. Nicht „Ja“, sondern „Jo“. Mit sehr kurzem 'o' übrigens. Und dieses „Jo“ machte eigentlich klar, dass das Gespräch beendet und die Sache geklärt war. Ein „Jo“ wie ein Punkt. Und manchmal auch wie ein Ausrufungszeichen. Wenn da einer war, der gar nicht hören konnte. Oder wollte. Oder ein lauter Wind pfiff, das kam ja schließlich auch vor.

*

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An der Angel zappelte nichts mehr. Vielleicht war das auch nur Einbildung gewesen. Manchmal ist der Wunsch Vater des Gedankens.

Ich packte mein Zeug zusammen.

„Sagen Sie mal, darf man da eigentlich überhaupt angeln?“, sprach mich ein Rentner in beigefarbener Abenteuerweste von der Seite an. Ich hatte ihn nicht bemerkt.

Ich nahm meinen Dienstausweis heraus und zeigte ihm den. „Ist 'ne verdeckte Ermittlung. Bitte erregen Sie kein unnötiges Aufsehen.“

„Na, wenn dat so ist“, sagte der Rentner.

„Ist so.“

„Steckt man ja nicht drin.“

„Nee.“

„Aber eigentlich ist das Angeln hier nicht erlaubt, glaube ich.“

„Schönen Tag noch.“

Manchmal bricht alles auf einmal über einen herein.

„Ja, ich sag ja nur“, sagte der Rentner, und ich war eigentlich schon ein Stück weiter. Aber für den Kerl ist das noch nicht erledigt. Bei manchen ist das so. Da wird irgendwann mit zunehmendem Alter das Rechthaber-Gen umgelegt. Dann fangen diese Leute an, Falschparker aufzuschreiben. Oder sie werden sogenannte Wutbürger, die gegen alles und jedes sind und gegen jedes Straßenschild eine Volksbefragung zu organisieren versuchen. Und manchmal prozessieren sie auch gegen Kindergeschrei oder Jugendliche auf Bolzplätzen. Und die ganz üble Sorte vergiftet Hunde und Katzen, die überall herumkacken. Ehrlich gesagt, für letztere habe ich sogar Verständnis. Aber sollte man besser nicht sagen. Jedenfalls nicht als Polizist.

„Ja, ich sag ja nur“, sagte der Rentner nochmal und diesmal lauter, sodass ich es auf den zwanzig Metern, die ich inzwischen schon zurückgelegt habe, auch auf jeden Fall mitbekommen muss. „Wenn man schon bei der Polizei ist, sollte man sich wenigstens selbst an die Gesetze halten, finde ich! Ich habe schließlich mein Leben lang Steuern gezahlt!“

Ich konnte es mir nicht verkneifen.

Ich drehte mich um und rief: „Dummes Gequatsche ist seit dem Ersten strafbar! Haben Sie das noch nicht gewusst? Da steht lebenslänglich drauf!“

*

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Also, vielleicht sollte ich an dieser Stelle ein paar Dinge richtig stellen, sonst bekommen Sie einen falschen Eindruck von mir.

Vielleicht denken Sie: 'Typisch Beamter, will nur seine Ruhe.'

Oder Sie denken: 'Und so eine Schnarchnase soll das Gesetz gegen Kriminelle verteidigen? Na, dann gute Nacht, Hamburg!'

Ich bin in Wahrheit nicht so schnarchnasig, wie Sie jetzt vielleicht denken.

In Wahrheit bin ich ein dynamischer Vulkan.

Naja, so dynamisch und explosiv, wie Menschen aus dem Norden, die sprachlich über den spitzen Stein stolpern eben sein können. Alles ist ja relativ, wie Einstein schon herausgefunden hat. Ein temperamentvoller Italiener werde ich in diesem Leben nicht mehr. Noch nichtmal ein quasseliger Rheinländer.  Aber ich brenne 24 Stunden am Tag für meinen Job, den Schwachen zu helfen, den Opfern von Gewalttaten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und dafür zu sorgen, dass das organisierte Verbrechen nicht Überhand nimmt. Manchmal schlafe ich nur vier Stunden. Gangster haben nämlich die unangenehme Eigenschaft, sich nicht an die Dienstpläne unserer Abteilung zu halten. Wir müssen aktiv sein, wenn die Halunken es auch sind. Das ist nunmal so. Ich ernähre mich von ungesunden Hot Dogs, weil ich oft keine Zeit für anderes habe. Und wenn ich deswegen eine Plautze kriege, sollte man das wie eine Kriegsverletzung ansehen, die ich man sich eben im Kampf gegen das Verbrechen holen kann.

Aber wenn ich dann mal einen Tag frei habe, dann will ich nur Ruhe.

Dann sitze ich zum Beispiel am Wasser und halte die Angel hinaus.

Wo wir schon bei der Wahrheit sind: Ich mag gar keinen Fisch. Ich habe auch nicht den Verdacht, dass da, wo ich sitze sonderlich viele davon herumschwimmen. Ich persönlich als Fisch würde mir jedenfalls ein anderes Gewässer suchen.

Aber kann man in unserer Leistungsgesellschaft einfach nur rumsitzen? Man ist sofort verdächtig. Wieso sitzt der da so? Was glotzt der? Oder wenn man die Augen geschlossen hat, um sich wie Buddha ganz in sich selbst zu versenken, dann denkt jeder: Ist der besoffen?

Dem Rentner, der mich so doof angemacht hatte, hätte ich auch sagen können: „Ich angle gar nicht. Ich bade nur einen Wurm.“ Ist mir aber zu spät eingefallen. Das ist manchmal so. Die besten Sachen fallen einem zu spät ein. Und davon abgesehen, weiß man ja nie, an wen man so gerät. Aktivisten für das Menschenrecht von Würmern, dreckig zu bleiben, soll es ja auch geben...

Mein freier Tag war mir heilig.

Die wenigen Augenblicke inneren Friedens wollte ich genießen.

Leider kannten die dunklen Elemente der Stadt keinen Respekt vor heiligen Dingen.

Also musste ich los.

Ermitteln.

„Mein Gott, Roy, das nächste Mal suche ich mir einen Angelplatz im Funkloch“, murmelte ich vor mich hin, während ich schon im Wagen saß und mich durch den Verkehr quälte.

Aber sowas finde mal in einer Großstadt wie Hamburg!

Ein Funkloch meine ich.

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An einer anderen Stelle in der Stadt, zu einer anderen Zeit...

Immer schon hatte es geheißen, das Haus sei böse.

Übel.

Unheimlich. Ein Ort, den man besser mied.

Ein Geisterhaus.

Aber genau das zog manche aus bestimmten Gründen hier her.

Kinder zum Beispiel.

Oder Penner.

Und Ratten.

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Los, kommt schon! Oder traut ihr euch nicht?“

Marvin-Julian Pellemeier hatte ein Brett aus dem vernagelten Fenster des heruntergekommenen Hauses heraus gebrochen. Der neunjährige Junge mit den rotblonden, etwas wirren Haaren, stand auf der Fensterbank und blickte sich zu den anderen um. Insgesamt sechs Jungen zwischen zehn und zwölf Jahren bildeten dort mit verschränkten Armen und skeptischen Blicken einen Halbkreis. Marvin-Julian war der Jüngste in ihrer Bande, die sich einfach ‚Die Gang’ nannte. Oft genug hatten sie sich über ihn lustig gemacht. Aber heute konnte er auftrumpfen.

„Hey, was ist? Seid ihr feige oder traut ihr euch was?“

Das Geisterhaus – so hieß das seit einem Jahr leer stehende Gebäude bei den Kids in der Umgebung. Es war einfach unheimlich – schon deswegen, weil um das Gebäude herum immer wieder tote Ratten zu finden waren. Marvin-Julian gelang es, noch ein weiteres Brett zu lösen. Die entstandene Öffnung war jetzt groß genug, um ins Innere gelangen zu können. Dunkel war es dort. Schatten tanzten.

Und der Geruch hätte Marvin-Julian eigentlich warnen müssen...

Eigentlich...

Aber da war es wohl schon zu spät.

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Brasewinkel Straße 345...

Der Geruch, der aus dem Inneren des Gebäudes drang, war so stechend, dass Marvin-Julian innerhalb von Augenblicken Nase und Augen schmerzten. Ihm verschlug es den Atem. Aber nun konnte er nicht mehr zurück. Dazu hatte er sich zu weit vorgewagt. Jetzt einen Rückzieher zu machen, hätte bedeutet, sich vor den anderen bis auf die Knochen zu blamieren. Genau das erwarteten sie ja von ihm.

Nein, dachte er, ich werde es ihnen zeigen! Sie werden nicht sehen, dass ich Angst habe!

Marvin-Julian sah in die Gesichter der Gangmitglieder.

Einige grinsten. Andere sahen einfach nur interessiert zu und warteten ab.

„Wetten, dass du dich doch nicht traust!“, meinte Paul, der Älteste in der Gruppe. Er war der Anführer. Geräuschvoll räusperte er sich und spuckte aus. „Ist doch immer dasselbe mit dem Kerl! Erst gibt er groß an, nachher ist nichts dahinter.“

„Ich sag euch Feiglingen nachher, was innen zu sehen war!“, rief Marvin-Julian.

„Ha, ha!“, machte Paul und verzog das Gesicht dabei zu einer Grimasse. „Mach nur! Wir warten gespannt ab.“

„Besser nicht!“, äußerte sich Burat.

Burat war zehn, hatte eine Brille mit ziemlich dicken Gläsern und galt bei den anderen als der Vorsichtige in der Gruppe.

Er traute sich am wenigsten und verletzte sich trotzdem am Häufigsten von allen, was vor allem damit zusammenhing, dass er ziemlich ungeschickt war. „Lass es besser bleiben, Marvin-Julian“, meinte er. „Wer weiß, vielleicht ist sogar noch der Penner da drin...“

Burat spielte darauf an, dass sie vor einiger Zeit einen Obdachlosen auf dem Gelände beobachtet hatten. Es hatte wie aus Eimern geschüttet und die Jungen waren gerade von der Schule gekommen, als sie die abgerissene Gestalt in dem fleckigen, völlig durchnässten Regenmantel auf das Geisterhaus hatten zugehen sehen. 

Er hatte kurz zu ihnen hinübergeblickt.

Tief liegende Augen und fast völlig von einem verfilzten Bart überwuchertes, sehr hohlwangiges Gesicht hatten ihn ziemlich unheimlich aussehen lassen. ‚Der Mann mit dem Loch im Bart’ hatten sie ihn genannt, weil es da eine ziemlich eigenartig aussehende Lücke in diesen ansonsten alles überwuchernden Haaren gegeben hatte.

„Quatsch, der ist längst weg!“, meinte Marvin-Julian.

Wie hätte er den Gestank da drinnen auch aushalten sollen?, ging es dem Jungen dabei durch den Kopf.

„Und wenn nicht?“

„Wenn jemand von euch Mut hat, kommt er mit“, sagte Marvin-Julian. „Die anderen sollen in Zukunft in der Schule besser auf die Mädchentoilette gehen, denn da gehören sie hin!“

„Angeber!“, rief Paul.

Dann sprang Marvin-Julian hinunter. Dabei trat er auf etwas Weiches, dass sich im Schatten befunden hatte. Er taumelte, ging zu Boden und kam hart auf. Eine klebrige, zähflüssige Substanz befand sich dort.

Das Zeug roch so ekelhaft, dass er sich um ein Haar erbrochen hätte.

Aber Marvin-Julian war wild entschlossen, sich zusammenzureißen und keine Schwäche zuzugeben.

„Na, lebst du noch?“, hörte er Pauls vor Hohn und Spott nur so triefende Stimme von draußen.

„Super gemütlich hier!“, behauptete Marvin-Julian. Er musste Husten. In seinem Hals brannte es jetzt genauso wie in seinen Augen und in der Nase. Der Magen begann ihm ebenfalls wehzutun.

Vorsichtig erhob er sich. Das klebrige Zeug wischte er am T-Shirt ab.

Ärger mit seiner Mutter war jetzt sowieso vorprogrammiert. Er blickte auf das weiche Ding, auf das er beim Sprung aufgekommen war.

Marvin-Julian trat einen Schritt auf dieses Ding zu.

Seine Augen gewöhnten sich mehr und mehr an das Halbdunkel, das im Inneren des Gebäudes herrschte, und so erkannte er jetzt, was es war.

Er stieß einen kurzen, entsetzten Schrei aus.

„Was ist los?“, rief Burat von draußen.

„Hier liegt ´ne tote Katze!“, stieß Marvin-Julian röchelnd hervor. Er rang nach Luft. Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen. Er versuchte noch, sich an der Wand festzuhalten, rutschte dann aber an ihr zu Boden.

Dabei stieß er ein paar unartikulierte Laute aus.

Den anderen Mitgliedern der Gang stockte der Atem.

Sie standen wie erstarrt da. Niemand rührte sich. Sie lauschten, ob sich innen noch irgendetwas tat.

„Marvin-Julian?“, rief Paul.

Aber er bekam keine Antwort.

„Marvin-Julian, was ist los?“

„Vielleicht ist er verletzt und kann sich nicht helfen“, vermutete Burat.

„Wir sehen uns das an!“, bestimmte Paul. Er kletterte auf die Fensterbank. Als ihm von innen der stechende Geruch entgegen schlug, verzog er angewidert das Gesicht. „Das riecht ja wie ein Rattenfurz!“, meinte er, um cool zu wirken. Dann steckte er seinen Kopf durch die Öffnung.

Dort unten, auf dem Boden, lag Marvin-Julian und rührte sich nicht. Auch ihm selbst wurde plötzlich ganz schlecht.

Aber er riss sich zusammen. „Marvin-Julian liegt da unten und rührt sich nicht“, rief er.

Er stieg jetzt ebenfalls durch die Öffnung, brach dabei noch ein weiteres Brett heraus und sprang schließlich ins Innere.

Die anderen standen wie erstarrt da.

Niemand rührte sich. Von Paul waren nur noch ein paar Geräusche zu hören. Dann nichts mehr.

„Besser wir holen Hilfe“, meinte Burat.

Niemand unter den anderen Mitgliedern der Gang hielt ihn deswegen für einen Feigling.

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Als wir die Adresse in der Brasewinkel Straße erreichten, war dort bereits alles mit Einsatzfahrzeugen verstellt. Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, der ganze Zirkus eben.

Ich parkte den Sportwagen auf dem Bürgersteig. Roy und ich stiegen aus und gelangten wenig später an eine Flatterband-Absperrung. Kollegen in Uniform hielten dort Wache. Wir zeigten unsere Ausweise  vor und wurden durchgelassen.

„Wer leitet den Einsatz hier?“, fragte ich.

„Ja, mal immer mit der Ruhe“, sagte mein Gegenüber.

„Wenn ich heute noch Auskunft bekäme, wär das toll.“

„Wir sind auf der Arbeit, nicht auf der  Flucht.“

„Ach, ja?“

Der Uniformierte deutete auf einen korpulenten Mann mit roten, kurz geschorenen Haaren. „Das ist der Chef!“

„Danke.“

„Jo, gern geschehen.“

„So kann man sich täuschen.“

„Wie?“

„Ach, nix.“

Wir gingen auf den Rothaarigen zu und stellten uns vor.

„Uwe Jörgensen, Kripo Hamburg. Dies ist mein Kollege Roy Müller.“

„Polizeiobermeister  Robert Dennerlein“, erwiderte der 'Chef'. „Ich habe schon auf Sie gewartet. Wie viel wissen Sie denn schon?“

„Nur, dass es hier ein Haus voller Gift geben soll, das in Zusammenhang mit geplanten Terroranschlägen stehen könnte!“, sagte ich.

Dennerlein nickte. „Dieses Gebäude ist bis unters Dach mit völlig unzureichend gesicherten Behältern voll gestellt, die hochgiftige Substanzen beinhalten. Darunter offenbar auch Stoffe, die Dioxin enthalten sowie stark ätzende Substanzen. Kinder haben auf dem Gelände gespielt. Zwei Jungen sind durch ein Fenster gestiegen und wurden kontaminiert.“

„Wie geht es ihnen?“, fragte Roy.

Dennerlein hob die Augenbrauen und machte ein sehr ernstes Gesicht. „Der Rettungsdienst hat sie abgeholt und in das Albert Schweizer Krankenhaus gebracht. Es waren noch fünf weitere Jungen – alle so um zehn Jahre – dabei. Die haben schließlich auch dafür gesorgt, dass Hilfe geholt wurde.“

„Wo sind diese fünf Jungen jetzt?“, fragte ich.

„Ich gebe Ihnen die Adressen. Im Moment sind sie zu Hause und stehen ziemlich unter Schock.“ Dennerlein atmete tief durch. „Ich kann viel verkraften und hab’ in meinen Dienstjahren auch schon viele Grausamkeiten gesehen – aber wenn Kinder betroffen sind, geht einem das immer schon sehr nahe.“

„Das geht mir genauso“, bekannte ich.

„Sprechen Sie am besten selbst nachher noch mit dem Einsatzleiter des Feuerwehr. Im Moment ist der noch ziemlich im Stress, weil noch nicht ganz klar ist, welche Gefahren von diesem Haus ausgehen. Inzwischen haben wir eine Spezialeinheit der Bundeswehr für ABC-Einsätze angefordert.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, man erwischt die Schweine, die diese Sauerei veranstaltet haben.“

„Wissen Sie etwas über die Besitzer dieses Gebäudes?“, fragte ich.

„Als Eigentümer ist eine Holding eingetragen, die das Gebäude vor anderthalb Jahren an einen gewissen Mahmut Talani vermietet hat.“

„So ein Zufall!“, sagte ich.

„Wieso? Ist das eine bekannte Größe?“

„Dieses Gebäude ist das vierte mit Giftfässern gefüllte Haus in Hamburg, das von Mahmut Talani gemietet wurde“, erklärte ich. „Diese Häuser enthielten leicht entflammbare Chemikalien. Bei einem Brand wären jeweils riesige Wolken aus Dioxin und ätzenden, säurehaltigen Substanzen über Wohngebieten niedergegangen.“

Dennerlein zuckte die Achseln. „Bei einem koordinierten Vorgehen hätte man auf diese Weise den ganzen Großraum Hamburg in Panik versetzen können.“ 

Genau das war der Grund, weshalb Kriminaldirektor Johann Detlev Hoch, der Chef unserer Abteilung, uns hier her geschickt hatte. Mahmut Talani, der mysteriöse Mieter von insgesamt vier, scheinbar an strategisch günstigen Standorten gelegenen Gebäuden, die bis unter das Dach mit hochgiftigen Substanzen angefüllt gewesen waren, war möglicherweise nur ein skrupelloser Umweltsünder – vielleicht aber auch Terrorist. Natürlich lag in solchen Fällen die Annahme einer illegalen Giftmüllentsorgung erst einmal sehr viel näher.

Aber Mahmut Talani war iranischer Abstammung, besaß aber die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er besaß exzellente Geschäftskontakte in den mittleren Osten, darunter auch zu einigen Adressen in Saudi Arabien, die beim BND seit langem auf der Liste von Firmen und Privatpersonen standen, die radikale Islamistengruppen zu unterstützen.

Unglücklicherweise war Talani unauffindbar.

Er schien wie vom Erdboden verschluckt. So als hätte es ihn nie gegeben. Ein paar Daueraufträge von verschiedenen Konten auf den Cayman-Islands sorgten dafür, dass die Miete für die mit Giftfässern gefüllten Gebäude pünktlich bezahlt wurde. Er selbst hatte zuletzt in einer Etage in der Innenstadt mit traumhaftem Blick gelebt. Aber als sich unser Erkennungsdienstler Kommissar Pascal Steinberger mit einem Team diese Wohnung vornahm, mussten wir feststellen, dass sie so gut wie nichts enthielt, was irgendeinen persönlichen Charakter hatte. Man hätte denken können, dass Mahmut Talani diese Luxuswohnung nie betreten hatte. Nicht ein einziger Fingerabdruck des Gesuchten fand sich dort, geschweige denn Material, aus dem sich eine DNA-Probe hätte gewinnen lassen oder irgendwelche persönlichen Unterlagen.

Unsere Fahndungsabteilung favorisierte die Theorie, dass Talani unter falschem Namen längst das Land verlassen hatte.

Dass wir an ihn vermutlich nicht heran kamen, damit mussten wir uns wohl oder übel abfinden müssen - nicht aber damit, dass seine Helfershelfer und Hintermänner weiterhin ihr Unwesen trieben.

Ein Team der Kriminalpolizeilichen Einsatzgruppe Erkennungsdienst traf mit erheblicher Verspätung ein. Die Kollegen dieses zentralen Erkennungsdienstes aller Hamburger Polizeieinheiten waren im Stau stecken geblieben. Bis wir genau wussten, welche Chemikalien im Inneren der Häuser gelagert worden waren, würde einige Zeit vergehen.

Roy und ich ließen uns von Dennerlein die Adressen der Jungen geben und hörten uns außerdem in der unmittelbaren Nachbarschaft des Gebäudes um. 

Mehrere Zeugen sagten aus, dass sie beobachtete hätten, wie wiederholt des Nachts Lastwagen auf das Gelände gefahren wären. Allerdings war deswegen niemand misstrauisch geworden. Warum auch? Jedem in der Nachbarschaft war klar gewesen, das es sich bei dem Gebäude um ein Lagerhaus handelte.

Ein Umstand war allerdings bedeutsam.

Innerhalb der letzten Monate war so gut wie nichts mehr in das Gebäude gebracht oder von dort abgeholt worden.

Die einzige Person, die sich – abgesehen von den Jungen, aus deren Gruppe schließlich zwei ins Innere des Hauses eingedrungen waren – in dieser Zeit noch auf dem Gelände aufgehalten hatte, war ein Obdachloser.

Allerdings war dieser Obdachlose lediglich von den Kindern gesehen worden. Keiner der erwachsenen Zeugen konnte sich an ihn erinnern. 

Unsere Ausbeute an Ermittlungsergebnissen war bis zum Abend ziemlich dürftig. 

Die Kollegen von der Erkennungsdienst und das ABC-Spezialkommando der Bundeswehr kamen nur langsam voran. Inzwischen trafen auch noch Chemiker aus den Reihen unseres Polizeipräsidium ein, um die bereits mit der Untersuchung der Chemikalien beschäftigten Männer und Frauen zu unterstützen.

Uns wurde erst am frühen Abend gestattet, das Gebäude zu betreten. Dazu mussten Roy und ich uns in Spezialanzüge mit Atemmasken zwängen.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren mehr als ein Dutzend verschiedener, hochgiftiger Substanzen in dem Gebäude entdeckt worden. Der Verdacht, dass sich darunter große Mengen an Dioxin befanden, das insbesondere als Nervengift wirkte, sollte sich bestätigen. Darüber hinaus fanden sich  Substanzen, von denen Roger Benda, der Leiter des Chemiker-Teams der Kriminalpolizeilichen Einsatzgruppe Erkennungsdienst, meinte, es könnte sich sowohl um Industrieabfälle als auch um Ausgangsstoffe für primitive Kampfstoffe handeln.

„Wenn du mich fragst, hat das hier mit Terrorismus nichts zu tun“, meinte ich an Roy gerichtet, als wir das Haus schließlich verlassen hatten. „Das sieht mir eher nach einer illegalen Mülldeponie aus.“

Je mehr die Umweltauflagen in Bezug auf die Entsorgung von Industrieabfällen und Chemikalien verschärft worden waren, desto lukrativer war der jüngste Zweig des organisierten Verbrechens geworden: der illegale Müllhandel. Was die Gewinnspannen anging, hatte dieses Business den Drogenhandel oder die Schutzgelderpressung längst in den Schatten gestellt. Die Sache funktionierte leider viel zu einfach. Die so genannte Müll-Mafia übernahm Industrieabfälle aller Art zur Entsorgung. Aber anstatt sie auf den entsprechenden Deponien zu lagern oder für eine fachgerechte Entsorgung Gewähr zu leisten, vergrub man die Fässer mit Dioxin, schwermetallhaltigen Klärschlämmen oder was sonst auch immer anfallen mochte, einfach irgendwo in der Landschaft. Manchmal wurden auch über Strohmänner Lagerhäuser angemietet, wo die hochgiftigen Substanzen dann stehengelassen wurden. Die immens hohen Entsorgungskosten wurden dabei gespart und bildeten den Gewinn, den sich die beteiligten Firmen und die Müll-Mafia aufteilten. Die Differenz zu den Kosten einer regulären Entsorgung war so gewaltig, dass es mitunter sogar lohnte, Giftmüll außer Landes zu bringen, um ihn in Afrika oder Osteuropa illegal zu entsorgen.

„Ich würde mich da nicht so schnell festlegen, Uwe“, gab Roy nach einer längeren Pause zurück. „Du lässt außer Acht, dass dieser Mahmut Talani, dem alle vier in letzter Zeit aufgefundenen Giftmüll-Lagerstätten auf dem Boden der Stadt Hamburg gehörten, zwar alle möglichen üblen Kontakte hat – aber offenbar nicht zu den Müll-Syndikaten!“

„Wir können diese Kontakte bislang nicht nachweisen – das ist aber auch alles“, erwiderte ich. „Das heißt nicht, dass sie nicht existieren.“

„Fakt ist, dass Mahmut Talani Kontakt zu radikalen islamistischen Gruppen hat und mit ihnen offenbar auch in der Vergangenheit schon gute Geschäfte gemacht hat, Uwe!“

„Ich wette, wir wüssten mehr darüber, wenn wir Herr Talani selbst befragen könnten, Roy.“

Mein Kollege grinste

„Der wird uns kaum den Gefallen tun und sich bei uns im Polizeipräsidium melden.“

„Nö“, sagte ich. „Wird er nicht.“

„Sag ich doch, Uwe.“

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Mahmut Talani saß in einem Coffee Shop nach amerikanischem Vorbild. In einer Weltstadt wie Hamburg gab es auch so etwas. Der Coffee Shop trug den Namen „Luigi’s Lounge“, obwohl der Besitzer weder italienischer Abstammung war noch Luigi hieß. Talani hatte sich mit einem Cappuccino und ein paar Donuts an den Tisch in der hintersten Ecke gesetzt. Von hier aus konnte man den gesamten Coffee Shop gut übersehen, hatte einen freien Blick auf die Tür und konnte notfalls über den Zugang zur Küche und den Toiletten zum Hinterausgang flüchten.

Talani blickte nervös auf seine Uhr.

Der Mann, auf den er wartete, war bereits überfällig.

Ich will nicht hoffen, dass diese Ratte mich auch hereinlegen will!, ging es ihm grimmig durch den Kopf.

Ein Mann mit dunklen Locken, Mitte dreißig und von schlaksiger Statur betrat den Coffee Shop. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben und ließ den Blick durch das Lokal schweifen.

Sein Blick blieb kurz an dem Mann haften, der sich am Tresen hinter seiner Zeitung vergraben hatte und wanderte schließlich weiter zu Talani.

Der Lockenkopf stutzte erst. Dann näherte er sich Talanis Tisch.

„Hey, Mann, ich hätte Sie fast nicht erkannt! Mit den blonden Haaren und den blauen Augen...“

„Halten Sie Ihren Mund, Jannis und setzen Sie sich.“

Jannis nahm sich einen Stuhl und setzte sich rittlings drauf.

„Woher haben Sie denn auf die Schnelle so himmelblaue Kontaktlinsen hergekriegt?“, fragte er. „Jedenfalls sehen Sie jetzt aus wie ein Schwede!“

„Ich brauche Ihre Hilfe.“

„Kann ich mir denken. Also, was wollen Sie und wie viel sind Sie bereit dafür zu zahlen?“

„Ich brauche einen vollständigen Satz Papiere auf den Namen Björn Svenson. Besitzt sowohl die schwedische als auch die amerikanische Staatsbürgerschaft.“

„Haben Sie alle nötigen Unterlagen besorgt?“

„Sicher.“

Talani holte einen braunen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke und reichte ihn an Jannis weiter. „Da ist auch die vereinbarte Anzahlung drin. Den Rest gibt’s bei Lieferung der Ware.“

Jannis grinste, warf einen kurzen Blick in den Umschlag und steckte ihn ein.

„Okay“, meinte er.

„Wann sind Sie fertig?“

„Wollen Sie Qualitätsarbeit oder billigen Ramsch, mit dem Sie schon im Airport hier in Hamburg auffliegen?“ Jannis machte eine ausholende Geste. „Es ist nicht mehr so leicht wie früher, Pässe zu fälschen! Diese biometrischen Merkmale, die neuerdings in den Dingern drin sein müssen... Und dann auch noch schwedische Papiere! Die kennt doch kein Mensch.“

„Eben!“, erwiderte Talani. „Und bei einem schwedischen Pass schaut niemand so genau hin wie bei einem Dokument aus dem Iran oder Libyen.“

Jannis lachte. „Ihnen ist jemand ziemlich dicht auf den Fersen, was?“

„Sparen Sie sich Ihr Gequatsche“, knurrte Talani. „Sagen Sie einfach, wann Sie fertig sind!“

Talani fragte sich, weshalb Jannis so nervös war. Er blickte sich nun schon zum dritten Mal in Richtung der Fensterfront um.

Die Außentür des Coffee Shops flog zur Seite.

Zwei maskierte Männer in dunklen Rollkragenpullovern stürmten herein. Sie trugen automatische Pistolen mit aufgeschraubten Schalldämpfern.

Jannis sprang auf und schnellte zur Seite.

Talani begriff sofort, dass der Lockenkopf dies deshalb tat, um die Schussbahn freizumachen. Offenbar hatte dem Dokumentenfälscher jemand noch sehr viel mehr für seine Dienste gegeben, als er für die Anfertigung des Dokumentensatzes für einen gewissen Björn Svenson bekommen hätte.

Blutrot leckte das Mündungsfeuer aus den beiden Schalldämpferwaffen der Maskierten heraus. Zwei Schüsse wurden kurz hintereinander abgegeben. Jedes Mal entstand ein Geräusch, das wie ein heftiges Niesen oder ein Schlag mit einer Zeitung klang.

Die Kugeln fetzten durch Talanis Kleidung hindurch.

Darunter kam grauer Kevlar-Stoff zum Vorschein. Schon seit Tagen trug der Halb-Iraner sicherheitshalber eine kugelsichere Weste. Verschiedene Schichten dicht gewebter Materialien verhinderten, dass die Projektile in den Körper eindrangen. Die kinetische Energie, mit das Geschoss auftraf, wurde dabei auf eine größere Fläche verteilt. Für den Betroffenen war die Wirkung eines Treffers je nach Abstand und Kaliber mit einem kräftigen Tritt oder dem kräftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand vergleichbar.

Mahmut Talani stöhnte schmerzvoll auf.

Er wurde vom Stuhl geschleudert, riss gleichzeitig eine Automatik unter seiner Windjacke hervor und feuerte.

Getroffen sanken die beiden Maskierten zu Boden.

Talani hatte sie mit Kopftreffern niedergestreckt.

Stöhnend erhob er sich und betastete dabei vorsichtig seinen Brustkorb. Er konnte von Glück sagen, wenn er keine Rippe gebrochen hatte. Aber mit ein paar ausgedehnten Hämatomen musste er rechnen. Er rang nach Luft. Das Atmen schmerzte.

Jannis kauerte mit weit aufgerissenen Augen am Boden. Er hatte sich während des Schusswechsels hingeworfen, um nicht getroffen zu werden.

Jetzt zitterte er.

Den braunen Umschlag, mit Talanis Unterlagen und der Anzahlung für die falschen Papiere presste er an sich.

Talanis Gesichtsausdruck verzog sich zu einer Grimasse.

„Gib es zu, du hast diese Bastarde zu mir geführt....“

„Nein, ehrlich, ich wusste von nichts!“

Talani feuerte. Jannis’ Körper durchlief ein Ruck. Der Lockenkopf schrie auf, als die Kugel ihm in den Oberschenkel fuhr.

„Ich will die Wahrheit hören!“, beharrte Talani. „Oder ich teste mal, wie viel Blei ein menschlicher Körper so verträgt!“

Er legte kurz an, feuerte ein weiteres Mal und traf Jannis an der Hand. Der braune Umschlag rutschte blutverschmiert zu Boden.

„Ich hatte keine andere Wahl!“, schrie Jannis. „Die haben mich gezwungen!“

„Bestell Vic Noureddine schöne Grüße von mir, wenn ihr euch in der Hölle trefft!“, knurrte Talani. Sein Gesicht wurde dabei zu einer Grimasse des Hasses. Er feuerte zweimal. Die Kugeln fuhren Jannis in die Brust und die Stirn.

Talani trat an den Toten heran, um ihm die Unterlagen wieder abzunehmen, mit denen dieser die falschen Papiere hätte anfertigen sollen.

Der Halb-Iraner kniete nieder.

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er eine Bewegung an jener Tür, die hinten heraus führte.

Talani sah nicht mehr als einen Schatten. Er ließ sich fallen, drehte sich um die eigene Achse und riss seine Waffe empor.

Aber er kam nicht mehr zum Schuss.

Ein roter Punkt bildete sich mitten auf seiner Stirn. Talani sackte leblos und mit erstarrten Augen in sich zusammen.

An der Hintertür stand der dritte Mann des Killer-Trios, das offenbar mit dem Auftrag hier her geschickt worden war, ihn zu ermorden.

Dieser Mann war ebenfalls maskiert.

Er senkte den durch einen Schalldämpfer verlängerten Lauf seiner Waffe.

Aus der Ferne waren bereits die Sirenen von Einsatzfahrzeugen der Hamburg Polizei zu hören. Vermutlich hatten Leute außerhalb des Coffee-Shops die Schüsse aus Talanis Waffe gehört, die ja nicht mit einem Schalldämpfer versehen war.

Der Maskierte nickte dem vollkommen blass gewordenen Mann hinter dem Tresen kurz zu, ehe er sich in Richtung Hinterausgang wandte und davonlief.

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Am Vormittag des auf die Entdeckung des Giftmülllagers an der Brasewinkel Straße folgenden Tages hatten wir eine Besprechung im Büro von Kriminaldirektor Johann Detlev Hoch.

Außer Roy und mir nahmen an dieser Besprechung auch unsere Kollegen Stefan Carnavaro und Selcuk Salman teil. Der flachsblonde Italodeutsche Stefan war der stellvertretende Chef unserer Abteilung. 

Von der Kriminalpolizeilichen Einsatzgruppe Erkennungsdienst nahm Roger Benda an der Besprechung teil, um uns einen vorläufigen Bericht über den Stand der Erkenntnisse im Hinblick auf das Lagerhaus in der Brasewinkel Straße zu geben. Außerdem war noch Kommissar Heinz Allwörden anwesend, ein Innendienstler, dessen Spezialgebiet das Aufspüren verborgener Geldströme war. Er hatte Betriebswirtschaft studiert und war für unsere Arbeit längst genauso wichtig wie die Unterstützung durch Ballistiker oder Gerichtsmediziner. Sowohl im Bereich der organisierten Kriminalität als auch bei der Terrorbekämpfung lieferte eine Aufdeckung getarnter Finanzströme häufig erst einen Überblick über die kriminelle Strukturen.

„Guten Morgen“, sagte Kriminaldirektor Hoch, nachdem uns seine Sekretärin Mandy Kaffee in Pappbechern serviert hatte. Kriminaldirektor Hoch nahm einen Schluck und fuhr fort. „Heute früh erreichte mich eine Meldung der Schutzpolizei. In einem Coffee Shop hat es eine Schießerei gegeben. Bei einem der Toten handelte es sich um zweifellos um Mahmut Talani. Der Hergang des Geschehens konnte noch nicht ganz rekonstruiert werden, aber Talani hat sich dort mit Tony Jannis getroffen. Jannis ist mehrfach wegen Urkundenfälschung vorbestraft und sollte Talani offenbar falsche Papiere auf den Namen Björn Svenson besorgen. Die entsprechenden Unterlagen hat Talani neben einer Anzahlung zum Treffpunkt mitgebracht.“ Kriminaldirektor Hoch atmete tief durch und berichtete anschließend, dass er unsere Kollegen Kalle Brandenburg und Hansi Morell an den Tatort beordert hätte. Anschließend erteilte er Roger Benda, dem Leiter des zuständigen  Erkennungsdienst-Teams das Wort, der die bisherigen Ermittlungsergebnisse vom Tatort an der Brasewinkel Straße zusammenfasste. Dabei lieferte er unter anderem eine Liste der im Haus gelagerten Chemikalien. „Die Substanzen waren teilweise äußerst fahrlässig und unter Missachtung sämtlicher Sicherheitsbestimmungen gelagert worden“, erklärte Benda. „Besonders gefährlich sind dabei die vor allem im Obergeschoss gelagerten Plastikmüllsachen, wobei es sich um Abfälle der Verpackungsindustrie handelt. Bei einer derart dichten Lagerung kann es – gerade bei heißem Hochdruckwetter, wie wir es zurzeit in Hamburg haben – sehr leicht zur Selbstentzündung kommen. Es bestand akute Brandgefahr und in dem Fall wären hochgiftige Gase über Wohngebiete gezogen. Je nach Windrichtung hätte man halb Hamburg evakuieren müssen.“

„Haben Sie irgendetwas gefunden, was einen Verdacht im Hinblick auf terroristischer Aktivitäten erhärten könnte?“, hakte Kriminaldirektor Hoch nach.

Benda schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich habe mit den Kollegen vom Feuerwehr und den Spezialisten der Bundeswehr eingehend über dieses Thema gesprochen. Selbstverständlich ließe sich das Gebäude in der Brasewinkel Straße hervorragend als eine primitive Giftgasbombe benutzen. Besonders effektiv wäre das natürlich, wenn man durch die Detonation einer Sprengladung dafür sorgt, dass die giftigen Substanzen höher empor geschleudert werden und das Verbreitungsgebiet größer ist. Aber wir haben wirklich nicht die kleinsten Anzeichen dafür gefunden, dass so etwas vorbereitet wurde.“

„Es ist aber nun mal eine Tatsache, dass innerhalb weniger Monate vier auf ähnliche Weise mit Giftstoffen angefüllte Häuser entdeckt wurden, die alle von einem Mann angemietet worden sind, der nachweislich Kontakte zu extremen islamistischen Gruppen hatte“, gab Kriminaldirektor Hoch zu bedenken.

Benda hob die Schultern. „Der Befund am Tatort deutet eher auf Machenschaften der Müll-Mafia hin. Sie kennen das alte Spiel ja: Giftmüll wird zur angeblichen Entsorgung angekauft und dann irgendwo illegal gelagert. Bis diese Lager dann entdeckt werden oder sich von allein entzünden, sind die Strohmänner längst untergetaucht.“

„Dann müsste man eigentlich erwarten, dass es irgendeine Verbindung zwischen Talani und den Syndikaten gibt, die sich im Müll-Geschäft so tummeln“, meinte Kriminaldirektor Hoch.

„Da gibt es vielleicht etwas!“, meldete sich nun Kommissar Heinz Allwörden zu Wort. Unser Fachmann für Betriebswirtschaft zog damit die interessierten Blicke aller auf sich. Heinz lehnte sich zurück und sagte: „Talani befindet sich ja bereits seit Monaten in der Fahndung, und ich habe seine finanziellen Verhältnisse in dieser Zeit bis ins kleinste durchleuchtet. Dabei stieß ich auf einen geschäftlichen Kontakt mit einer Firma namens SAD GmbH & Co. auf den Cayman Islands. Wahrscheinlich nur eine Briefkastenfirma. Tatsache ist aber, dass dieselbe Firma auch geschäftliche Kontakte mit der Firma Trans-Act Inc. hat, von der wir seit kurzem wissen, dass sie zu hundert Prozent im  Besitz von Vic Noureddine ist, der als graue Eminenz im illegalen Müllhandel in Deutschland und Nordeuropa gilt.“

Der Name Vic Noureddine war uns allen ein Begriff. Wir verdächtigten ihn seit langem, eines der größten Syndikate zu leiten, die auf dem Gebiet der illegalen Müllentsorgung tätig waren. Leider war es bislang unmöglich gewesen, an ihn heranzukommen. Noureddine ließ sich zwar einerseits gerne als Paten von St. Pauli bezeichnen und schien es zu mögen, wenn alle Welt vor ihm zitterte. Aber juristisch ließ er nicht das Geringste anbrennen. Sein Vorstrafenregister wies wahrscheinlich nicht einmal eine Verwarnung wegen Falschparkens auf. Auch wenn der eine oder andere nur staunend den Hals verrenken konnte, wenn er sah, mit welcher Rasanz Noureddines Vermögen in den letzten Jahren angewachsen war, so hatten es weder das Kripo Hamburg noch die Steuerfahndung geschafft, ihm irgendetwas zu beweisen, was gegen das Gesetz verstieß. Noureddine war der typische Vertreter einer Gattung namens „weißer Kragen Täter“. Syndikate in der Müll-Branche waren im Allgemeinen so aufgebaut, dass von den Strafverfolgungsbehörden allenfalls die Strohmänner oder Spediteure ins Netz der Justiz liefen, aber den eigentlichen Hintermännern oft genug nichts nachzuweisen war.

So auch im Fall Vic Noureddine, der sich inzwischen von seinen Millionen die größte Villa an der Elbe geleistet hatte.

„Das bedeutet, es gibt eine – wenn auch indirekte –Verbindung zwischen Talani und dem Noureddine-Syndikat?“, vergewisserte ich mich.

Heinz Allwörden bestätigte dies. „So ist es – auch wenn ich nicht glaube, dass das bereits in irgendeiner Form juristisch verwertbar ist. Es handelt sich um ein einzelnes Indiz, das für uns kaum mehr als Hinweischarakter hat!“

„Immerhin ist er aber deutlich genug, um unsere Ermittlungen in Richtung Müll-Mafia zu konzentrieren, anstatt weiter nach Verbindungen zum internationalen Terrorismus zu suchen, die es in diesem Fall wahrscheinlich gar nicht gibt!“, schloss ich.

„Nicht ganz so schnell, Uwe!“, schränke Kriminaldirektor Hoch ein. „Im Prinzip haben Sie Recht, aber wir sollten, was die Möglichkeit angeht, dass hier ein Anschlag vorbereitet werden sollte, trotzdem nicht völlig ausblenden.“

Roger Benda meldete sich zu Wort. „Möglicherweise kommen wir über die Herkunft der Giftstoffe in der Brasewinkel Straße weiter. Vor allem die Kunststoffrückstände ließen sich rein theoretisch dem Hersteller zuordnen.“

Kriminaldirektor Hoch runzelte die Stirn.

„Was soll das heißen – rein theoretisch?“

„Erstens hüten die Unternehmen genaue Zusammensetzung und die Herstellungsverfahren für ihre Produkte wie ihren Augapfel. Und zweitens wären dazu auch recht umfangreiche und aufwendige Untersuchungen notwendig. Allein im Großraum Hamburg dürfte es einige Dutzend Produktionsanlagen geben, aus denen die gefundenen Mengen an Giftmüll stammen könnten. Nehmen wir mal an, die Leute, die für diese Schweinerei verantwortlich sind, haben einen einigermaßen gut ausgeprägten Sinn für Wirtschaftlichkeit, dann werden sie die Transportwege kurz halten. Das macht auch ansonsten Sinn, denn Transportkapazität dürfte in einer derartigen Organisation knapp sein. Schließlich ist jeder eingeweihte Spediteur ein potentielles Risiko.“

„Ich korrigiere Sie ungern, aber wir hatten schon Fälle von organisiertem Müll-Handel, bei dem die entsprechende Stoffe nach Afrika gebracht wurden, um sie dort irgendwo unauffällig zu vergraben“, gab Kriminaldirektor Hoch zu bedenken.

Benda hob die Hände. „Eine Verschiffung ist für die Betreiber solcher Geschäfte mit viel weniger Risiko verbunden, als ein Transport über die Straße“, erwiderte der Kollege von der Kriminalpolizeilichen Einsatzgruppe Erkennungsdienst. „In so fern kann es letztendlich tatsächlich preiswerter sein, das Zeug über den Ozean zu bringen – zumal man das mit Frachtern machen kann, die unter irgendeiner Billigflagge laufen und deren Matrosen nur einen Bruchteil dessen bekommen, was man einem LKW-Fahrer zahlen muss!“

„Ich glaube nicht, dass wir Durchsuchungsbefehle für die gesamte Kunststoff verarbeitende Industrie Hamburgs bekommen werden“, gab Kriminaldirektor Hoch zu bedenken.

„Eventuell könnten wir das im Labor noch etwas genauer eingrenzen“, stellte Bendas in Aussicht. „Und wenn wir dann einen Abgleich mit der Produktpalette der in Frage kommenden Firmen durchführen, haben wir am Ende vielleicht zwanzig Firmen im Umkreis von zweihundert Kilometern.“

Kriminaldirektor Hoch nickte bedächtig. „Besser, es wären weniger!“

„Wir tun, was wir können“, versprach Benda.

Kriminaldirektor Hoch wandte sich an Roy und mich. „Was ist mit den Aussagen der Anwohner und der Kinder?“, erkundigte er sich.

„Bis auf die beiden Jungen, die ins Albert Schweizer Krankenhaus eingeliefert wurden, sind die Vernehmungen abgeschlossen“, berichtete Roy. „Leider haben sich daraus keine weiteren Ermittlungsansätze ergeben.“

„Sollte wirklich Vic Noureddine und seine Organisation etwas damit zu tun haben, müssten wir unsere Informanten in St. Pauli anspitzen“, schlug ich vor.

„Tun Sie das, Uwe“, nickte Kriminaldirektor Hoch.

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Zur gleichen Zeit waren unsere Kollegen Kalle Brandenburg und Hansi Morell in einem Coffee Shop namens Luigi’s Lounge.

Dort bot sich ein Bild des Grauens.

Die Toten waren bereits abtransportiert worden. Blutlachen waren auf dem Fußboden eingetrocknet.

Gerhard Rinkovic von der Mordkommission 2 leitete die Untersuchung. Einige Kollegen der Kriminalpolizeilichen Einsatzgruppe Erkennungsdienst sicherten noch immer Spuren. Gerade die Verteilung der Blutspritzer konnte den exakten Tathergang möglicherweise erhellen.

Rinkovic ging mit Kalle und Hansi kurz vor die Tür und äußerte dabei laut, dass er unbedingt, dass er unbedingt frische Luft bräuchte.

Draußen atmete er tief durch.

„Ich kann Ihnen jetzt nur eins empfehlen“, meinte er an die beiden Beamte gerichtet. „Knöpfen Sie sich den Besitzer dieses Coffee Shops mal richtig vor. Der hat alles mit angesehen und weiß angeblich so gut wie nichts. Jede Kleinigkeit musste ich ihm einzeln aus der Nase ziehen. Er ist sich noch nicht einmal sicher, ob es zwei oder drei Täter waren, die auf Talani geschossen haben.“

„Wie heißt der Mann?“, fragte Kalle.

„Justin Dahlmisch. Ich habe ihn durch den Computer gejagt. Aber da ist nichts zu finden, was ihn irgendwie in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen könnte. Nur verstehe ich nicht, wieso er hier keine klare Aussage machen kann. Man könnte fast denken, dass ihm gar nicht so sehr daran gelegen ist, das wir den dritten Killer finden!“

„Es steht also fest, dass es drei Killer waren“, fasste Kalle zusammen.

Rinkovic nickte.

Er holte ein paar Fotos aus der Innentasche seines Jacketts und zeigte sie den beiden Beamte. Die Fotos waren unmittelbar nach Eintreffen der Mordkommission geschossen worden.

„Talani hat sich mit einem Passfälscher namens Jannis getroffen. Jannis muss sich dann vom Platz erhoben haben. Zwei Maskierte kamen zur Tür herein und Talani hat sich mit ihnen eine Schießerei geliefert.“

„Aber Talani hat die Angreifer erschossen“, schloss Kalle.

Rinkovic nickte. „Er trug eine Kevlar-Weste, die ihn schützte. Trotzdem eine erstaunliche Leistung, sich nach den Treffern, die er erhielt, aufzuraffen und so gezielt zu schießen. Anschließend hat jemand Talani niedergestreckt, der durch den Hintereingang kam und Schuhgröße 44 trug. Wir haben Abdrücke gefunden.“

„Was ist mit diesem Jannis passiert?“, fragte Hansi Morell. „Wurde der auch von diesem dritten Mann umgebracht“

Rinkovic zuckte die Achseln. „Das ist noch nicht geklärt. Talani und der dritte Mann hatten Waffen mit demselben Kaliber. Erst wenn wir den ballistischen Bericht haben, ist es möglich, dazu eine Aussage zu machen.“

Anschließend kehrten Kalle und Hansi zurück in Luigi’s Lounge, um Justin Dahlmisch zu verhören.

Der Besitzer von Luigi’s Lounge war vierundvierzig Jahre alt und betrieb den Laden seit sechs Monaten.

„Zuvor habe ich einen Laden in St. Pauli gehabt, aber der ging nicht so gut!“, meinte er und tippte dabei immer wieder nervös mit Fingern auf dem Tresen herum. Er atmete schwer. Sein etwas aufgedunsenes Gesicht war dunkelrot angelaufen und er schwitzte. „Verdammter Mist, das Ganze!“, setzte er noch hinzu, nachdem weder Kalle noch Hansi für ein paar Augenblicke etwas gesagt hatten. „Wissen Sie eigentlich was diese Sauerei für mich bedeutet? Wenn sich Ihre Kollegen mit ihrer Arbeit nicht etwas mehr beeilen, dann verliere ich einen ganzen Tag an Umsatz. Ihnen als Staatsangestellten mit Aussicht auf fette Pensionen kann das ja gleichgültig sein, aber für mich ist das eine mittlere Katastrophe.“

„Sie haben Sorgen“, stieß Kalle Brandenburg etwas empört hervor. „Außerdem – so fett sind die Pensionen auch nicht mehr!“

Hansi übernahm die Initiative und schaffte es auf diese Weise, das Gespräch wieder in etwas ruhigere Bahnen zu lenken.

„Ich kann Ihnen versichern, dass wir Sie nur so lange belästigen, wie es unbedingt nötig ist“, erklärte er sachlich. „Aber es gibt da einfach ein paar Dinge, über die weder der Chef der Mordkommission noch wir beide hinweg kommen!“

„So?“, knurrte er.

„Wo standen Sie genau?“, wollte Hansi wissen.

„Genau hier, wo ich jetzt stehe.“

„Außer den Tatbeteiligten und Ihnen war niemand im Laden?“

„Richtig.“

„Das ist um die Zeit auch sehr ungewöhnlich – jedenfalls, wenn das stimmt, was Sie uns gesagt haben und dieser Laden tatsächlich so gut läuft, wie Sie behauptet haben.“

„Sagen Sie mal, wollen Sie mir irgendetwas anhängen, oder was?“, fuhr Dahlmisch jetzt plötzlich auf. „Es ging alle so verdammt schnell und glauben Sie mir, ich hab gezittert wie Espenlaub. Ich hatte eine Scheißangst, da habe ich kaum noch zählen können, ob es nun zwei, drei oder noch mehr Killer waren!“

„Sind Sie Herrn Talani schon vorher begegnet?“, fragte Kalle. „Ist er öfter Gast in Ihrem Coffee Shop gewesen?“

„Keine Ahnung. Sein Gesicht ist mir nicht aufgefallen und den Namen höre ich heute zum ersten Mal“, gab Dahlmisch Auskunft.

„Es könnte sein, dass er eine andere Haarfarbe trug oder sich sonst wie äußerlich verändert hat“, gab Hansi zu bedenken.

„Ich wusste nicht, dass man neuerdings Coffee Shops nur noch mit einer fälschungssicheren ID-Cards betreten darf, auf den Iris-Scan und Fingerabdruck verzeichnet sind!“, gab Justin Dahlmisch mit ziemlich galligem Unterton zurück.

Hansi Morell ließ sich davon nicht weiter provozieren, sondern blieb die Ruhe selbst.

„Und was ist mit dem Mann, mit dem sich Talani hier treffen wollte?“, hakte er schließlich nach.

„Ich habe auch ihn noch nie zuvor gesehen“, behauptete Dahlmisch steif und fest. „Die Zeiten, in denen hier jeder jeden kannte, sind längst vorbei. Wir leben eben in einer kalten Welt, in der sich die Menschen gleichgültig sind.“

„Mir kommen gleich die Tränen!“, knurrte Rinkovic. Er trat hinzu und legte Dahlmisch eines der Polaroids auf den Tisch. Aber Dahlmisch schaute gar nicht richtig hin.

„Was, wenn wir Zeugen dafür hätten, die Talani regelmäßig hier beim Frühstück beobachtet haben!“, knurrte Kalle.

Dahlmisch wirkte unsicher. Er blickte von einem zum anderen und schien gerade abzuschätzen, ob das nur ein Bluff war oder ob Kalle Brandenburg tatsächlich etwas Derartiges in der Hand hatte.

Er hob die Hände und gab das Pokerspiel schließlich auf.

„Okay, okay, vielleicht war er ja öfter hier“, gestand Dahlmisch schließlich zu. „Was weiß ich. Ich kann mir nun wirklich nicht jeden Gast merken, der seine Nase in Luigi’s Lounge steckt!“ 

„Bei den vielen Gästen, die Sie angeblich haben...“, konterte Hansi.

Er machte Kalle Brandenburg ein Zeichen mit der linken Hand. Es hatte wenig Sinn, sich weiter mit Dahlmisch auseinander zu setzen. Eine vernünftige Aussage würde dabei nicht herauskommen.

Es fragte sich allerdings, welche Gründe der Coffee Shop-Besitzer für sein eigenartiges Verhalten hatte.

„Wenn Sie unter Druck gesetzt werden, können wir Sie schützen“, behauptete Kalle, kurz bevor er zusammen mit Hansi den Coffee Shop endgültig verließ.

Dahlmisch lachte heiser. In seinen Augen blitzte es und die Nasenflügel bebten. Offenbar hatte Kalle Brandenburg mit seinen letzten Worten einen wunden Punkt erwischt.

„Ach, wirklich? Herr Kommissar, Sie wissen doch selbst, dass das nicht wahr ist! Sie können nicht hinter jede Straßenlaterne einen Polizisten stellen – und genau das wäre nötig, um jemanden wirklich zu schützen....“ 

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Roy und ich verbrachten den Rest des Vormittags mit Computerrecherche. Heinz Allwörden gab uns einen Überblick über das Netzwerk des Noureddine-Syndikats. In großen Teilen beruhte dieses Netzwerk aus Firmen, Speditionen, Reedereien und Import/Export-Agenturen auf unseren Vermutungen. Vic Noureddine war eben clever genug, um dafür zu sorgen, dass keine Verbindungen zweifelsfrei zu ihm führten. Aber vielleicht war Talani endlich der Schlüssel dazu, einem gefährlichen Kriminellen das Handwerk zu legen.

„Irgendetwas muss schief gelaufen sein, sonst wäre es nicht nötig gewesen, Talani zu ermorden“, meinte ich.

„Du vermutest, dass Noureddines Organisation dahinter steckt?“, schloss Roy.

Ich zuckte die Achseln. „Es wäre doch eine Möglichkeit! Schließlich wurde Talani doch zu einem Sicherheitsrisiko für alle, die mit ihm zusammengearbeitet haben.“

„Ich frage mich, weshalb der Kerl überhaupt noch im Land geblieben ist“, meinte Roy. „Es wäre doch viel klüger gewesen, längst zu verschwinden.“ 

„Möglicherweise gab es dafür finanzielle Gründe“, ergänzte Heinz. „Seit er in der Fahndung ist, dürfte es schwierig für ihn gewesen sein, an sein Geld heranzukommen. Es ist ihm zwar gelungen, einen Teil seines Geldes verschwinden zu lassen, bevor wir Zugriff auf die Konten hatten, aber ich persönlich vermute, dass Talani in den letzten Monaten eine andere Identität angenommen hatte, die uns bislang nicht bekannt ist."

Am frühen Nachmittag kehrten Hansi und Kalle von dem Tatort im Coffee Shop zurück und informierten uns über die bisherigen Ermittlungsergebnisse.

Gegen vier Uhr nachmittags erhielten wir dann einen Anruf von Harry Käding. Käding war Buchmacher in St. Pauli und versorgte uns hin und wieder mit Informationen. Er hatte hervorragende Kontakte und außerdem die Gabe, förmlich das Gras wachsen zu hören.

„Ich muss Sie unbedingt sprechen, Kommissar Jörgensen“, äußerte er am Telefon.

„Worum geht es denn?", fragte ich.

„Kann ich am Telefon nicht sagen", meinte er. „Wir treffen  uns um halb acht in der Selene Bar. Kennen Sie die?"

„Ich werde da sein", versprach ich.

Käding legte auf.

Ich informierte Roy über das Gespräch.

„Ich kann mir eine schönere Feierabendbeschäftigung denken, als mich mit Harry Käding zu treffen", meinte Roy etwas missmutig.

„Wieso, hattest du schon was vor?", grinste ich.

Roy verzog das Gesicht. „Nein, aber ich kann diesen schmierigen Typen einfach nicht leiden."

„Ich finde es nur seltsam, dass sich der Kerl uns dieses Mal geradezu aufdrängt, wo man ihm ansonsten jede Information einzeln aus der Nase ziehen muss!"

Roy zuckte die Achseln. „Bin trotzdem mal gespannt, was er zu sagen hat. Schließlich hätten wir ihn im Zuge unserer Aktivierung von Informanten, die sich in der Szene von St. Pauli auskennen früher oder später ohnehin ansprechen müssen. So haben wir es wenigstens etwas schneller hinter uns.“

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Harry Käding war ein übergewichtiger Mann mit glänzendem, schütterem Haar. Wir versuchten etwas früher in der Selene Bar zu sein, aber Käding war noch pünktlicher.

„Das ist gar nicht seine Art“, raunte Roy mir zu. „Ich sag’s dir, da ist irgendetwas faul an der Sache.“

„Die Tatsache, dass er dir nicht sympathisch ist, schalte am besten jetzt einfach mal aus“, riet ich meinem Kollegen.

Allerdings fand ich es ebenfalls merkwürdig, dass ein Mann, der ansonsten dafür bekannt war, meistens etwas spät zu kommen, plötzlich geradezu überpünktlich am Treffpunkt erschien.

Wir bestellten uns einen Drink und setzten uns zu ihm an den Tisch.

„Sie sind früh dran, Herr Käding“, stellte ich fest.

„Ich wollte sicher sein, dass mir niemand gefolgt ist“, erklärte er.

„Also los“, forderte Roy ihn etwas ungeduldig auf. „Was ist so wichtig, dass wir hier sofort antanzen mussten und Sie meinem Kollegen nicht am Telefon sagen konnten?“

„Sagt Ihnen der Name ‚Blitz’ etwas?“

Natürlich sagte uns dieser Name etwas. Einer der gefährlichsten Auftragsmörder aller Zeiten war unter dieser Bezeichnung bekannt geworden. Er hatte mehr als dreißig Morde für verschiedene Syndikate begangen. Seit Jahren war er jedoch nicht mehr aktiv gewesen und es gab Gerüchte, wonach er sich irgendwo unerkannt zur Ruhe gesetzt hatte, um in Frieden sein Vermögen zu genießen.

Die Kripo Hamburg war seit vielen Jahren hinter ihm her,

Allerdings erfolglos. Und seit er sich aus dem aktiven Killer-Business zurückgezogen hatte, war es wohl nahezu unmöglich, noch auf seine Spur zu kommen. Vielleicht genoss er das Leben in Rio, Bangkok oder irgendeinem anderen sonnigen Plätzchen.

„Was ist mit Blitz?“, hakte ich stirnrunzelnd nach.

„Der Kerl ist wieder aktiv geworden.“

„Warum sollte er das tun?“, mischte sich Roy ein. „Dieser Mann hat mit seinen Mordaufträgen mehr Geld verdient, als er jemals ausgeben kann. Er müsste schon reichlich dämlich sein, um noch mal zur Waffe zu greifen und damit das Risiko einzugehen, dass die Justiz es doch noch schafft, sich an seine Fersen zu heften!“

Käding trank sein Glas leer. Er grinste über das ganze Gesicht. Nacheinander musterte er uns kurz und schien dabei abzuschätzen, in wie fern es ihm gelungen war, unser Interesse zu wecken.

„Wie gesagt, es gehen im Moment eine Menge Gerüchte in der Szene um. Eines besagt, dass Blitz es tatsächlich geschafft hat, sein ganzes Vermögen durchzubringen und jetzt wieder arm wie eine Kirchenmaus ist. Er ist also darauf angewiesen wieder zu arbeiten.“

„Ich kann nur hoffen, dass dieses Gerücht eine Ente ist“, meinte Roy. „Was sollen wir jetzt machen? Nur auf Grund vager Andeutungen eines Informanten die Fahndung nach einem Mann wieder aufnehmen, der es sich wahrscheinlich irgendwo unter südliche Sonne gut gehen lässt?“

„Ich habe diese Informationen aus einer brandheißen Quelle“, erklärte Käding. „Wenn ich sie Ihnen nenne, erfahre ich von dort nie wieder etwas. Aber in den letzten Jahren konnten Sie sich auf meine Tipps eigentlich immer verlassen – oder hatten Sie jemals Anlass, sich zu beklagen?“ Er beugte sich vor und sprach jetzt in gedämpftem Ton weiter. „Ich weiß auch, wer als nächster auf der Abschussliste dieses Killers steht!“

Ich hob die Augenbrauen.

„So?“

„Vic Noureddine, der Mann, dessen weißer Weste es niemand ansieht, dass er sich damit im Müll gewälzt hat.“

In diesem Augenblick gingen mir tausend Gedanken auf einmal durch den Kopf. Konnte das ein Zufall sein? Ausgerechnet Vic Noureddine der Mann, der vielleicht hinter Mahmut Talanis Machenschaften steckte, wurde uns hier von Käding als potentielles Mordopfer präsentiert!

„Wer steckt dahinter?“, hakte Roy ziemlich ungeduldig nach.

„Hey, Kommissar! Ihren Job müssen Sie schon selber machen. Aber einer wie Blitz nimmt Spitzenhonorare für seine Mörderdienste. Selbst dann, wenn ihm das Wasser bis zum Kragen steht und er in Geldnot ist. Sie können sich also an den Finger einer Hand ausrechnen, wer da als Kunde in Frage kommt! Und wenn man dann noch Vic Noureddines rasanten Aufstieg in den letzten Jahren sieht... Er hat ziemlich brutal jeden Konkurrenten aus dem Rennen geschlagen und da sind einige auf der Strecke geblieben. Andere mussten sich mit den hinteren Plätzen im Müll-Business zufrieden geben. Ich wette, da gibt es viele, die ihn die Pest an den Hals wünschen...“

„Oder eine tödliche Klette wie Blitz“, vollendete Roy Müller den Satz.

Käding sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Eine Rolex – und wenn mich nicht alles täuschte, sogar eine Echte. Von den Honoraren, die er vom Kripo Hamburg als Informant bekam, konnte er sich die mit Sicherheit nicht leisten, und was seine zwielichtigen  Buchmachergeschäfte anging, so war ich nicht so ganz auf dem Laufenden, wie es derzeit um seine Liquidität bestellt war.

„Ich verdrück mich jetzt“, meinte er. „Wie gesagt, Blitz ist wieder aktiv, so Leid es mir für Sie beide tut. Schließlich wird das für das Kripo Hamburg wohl jede Menge an Zusatzarbeit bedeuten, wenn ich mich nicht irre!“

Er kicherte in sich hinein.

Weder Roy noch ich konnten seinen seltsamen Humor in diesem Augenblick teilen.

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Käding verließ vor uns Selenes Bar. Wir hatten ihm versprochen, das Lokal frühestens zehn Minuten später zu verlassen. Doch es sollte anders kommen.

Ein Detonationsgeräusch war von draußen zu hören. Es übertönte die gedämpfte, jazzige Musik, die in Selenes Bar die akustische Hintergrundkulisse bildete.

Ein Mann betrat die Bar und rief: „Da ist ein Wagen in die Luft geflogen!“

Roy und ich drängten uns nach draußen. Die Sirenen von Einsatzfahrzeugen der Schutzpolizei und des Feuerwehr waren bereits ein paar Straßenzüge weiter zu hören. Es konnte nur noch wenige Minuten dauern bis die offenbar von Anwohnern alarmierten Rettungskräfte eintrafen.

Wir sahen Flammen aus einem gelben Porsche schlagen. Ich wusste sofort, dass es Kädings Wagen war. Er stand auf europäische Sportwagen. Gleichgültig, wie gut oder schlecht die Geschäfte auch immer gehen mochten, diesen mehr als dreißig Jahre alten Oldtimer hätte er nie verkauft.

Der Tank brannte auch. Es war unmöglich, sich dem Wagen weiter als fünf, sechs Meter zu nähern, wenn man keine Schutzkleidung trug.

Roy hatte schon begonnen, Kriminaldirektor Hoch über das Geschehen zu informieren. Dass sich unser Chef um diese Zeit noch im Büro befand, war nichts Ungewöhnliches. Seit er vor vielen Jahren seine Familie ermordet worden war, hatte er sein Leben voll und ganz der Bekämpfung des Verbrechens gewidmet und schon so manche Nacht im Büro verbracht. Er war morgens der erste und abends der letzte im Polizeipräsidium.

Roy klärte ihn in seinem knappen Bericht über den Inhalt der Unterredung auf, die wir mit Käding gehabt hatten.

Ich machte mich daran, Passanten zu befragen. Vielleicht hatte jemand von ihnen etwas Verdächtiges bemerkt. Jemanden, der sich an dem ziemlich auffälligen Porsche-Oldtimer zu schaffen gemacht hatte, zum Beispiel.

Inzwischen traf die erste Einheit des Feuerwehr ein.

Die Flammen wurden von den Feuerwehrleuten innerhalb kürzester Zeit gelöscht. Wenig später trafen auch die Einsatzwagen des Schutzpolizei sowie ein Krankentransporter des Rettungsdienst ein.

Letzterer kam mit Sicherheit zu spät.

Von unserem Polizeipräsidium aus wurde bereits mit der Kriminalpolizeiliche Einsatzgruppe Erkennungsdienst Kontakt aufgenommen, aber bei den Verkehrsverhältnissen, die um diese Zeit im Großraum Hamburg herrschten, würden die Kollegen wohl eine gute Stunde brauchen, um von der hier her zu gelangen.

Der Wagen bot ein Bild des Grauens.

Der einzige Insasse war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Aber er trug eine Rolex um das Handgelenk seiner linken. Genau wie Käding.

Der Einsatz der Schutzpolizei-Kräfte, die damit begannen, den Tatort weiträumig abzusperren, wurde von einem Beamten namens Björn Helgesen geleitet. Er wollte uns erst aus dem näheren Umkreis des explodierten Wagens verweisen, bis wir ihm unsere Kripo-Marken zeigten.

„Sorry! Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie diesmal sogar zuerst am Tatort sind.“

„Wir brauchen Ihre Unterstützung“, sagte ich. „Erstens muss gewährleistet sein, dass sich niemand mehr an dem Wagen zu schaffen macht, bis unsere Spurensicherer hier sind.“

„Kein Problem.“

„Zweitens könnten Sie vielleicht noch ein paar weitere Beamte herbeordern, ehe sich die Passanten und Schaulustigen zerstreuen.“

„Was sollten die denn gesehen haben?“, fragte Helgesen.

„Der Tote im Porsche ist mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ein Informant von uns. Minuten bevor er hier den Tod fand, hat er sich mit uns getroffen. Ich nehme an, dass ihm jemand auf den Fersen war, ihn beobachtet hat und ausschalten wollte.“

„Ein gelber Porsche ist ja auch nicht gerade unauffällig“, gab Roy zu bedenken. „Der Täter hatte leichtes Spiel. Er brauchte nur Augenblicke, um eine Sprengladung anzubringen, die er dann per Fernzünder hochgehen lassen konnte!“

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Roy und mir war rasch klar, dass dies ein langer Einsatz werden würde. An Feierabend war vorerst nicht zu denken.

Polizeimeister Helgesens Leute fanden mehrere Zeugen, die aussagten, dass kurz nach der Explosion ein dunkelblauer Van vom Typ Chrysler Voyager aus einer Parklücke geschossen war und einen regelrechten Kavaliersstart hingelegt hatte. Der Van hatte sich ziemlich brutal in den Verkehr eingefädelt und war mit quietschenden Reifen davongebraust.

Auf Grund der getönten Scheiben hatte keiner der Zeugen gesehen, wie viele Personen sich im Inneren befunden hatten – geschweige denn, dass es möglich gewesen wäre, dazu nähere Aussagen zu machen. 

Kriminaldirektor Hoch beorderte die Kollegen Stefan Carnavaro und Selcuk Salman an den Ort des Geschehens. Die beiden hatten längst Dienstschluss gehabt, aber Kriminaldirektor Hoch hatte sie aus dem Feierabend herausgeklingelt. Wenig später traf auch noch Kommissar Fred Menninga mit einem BMW aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft ein. Er kam in Begleitung von Kommissar Pascal Steinberger, einem unserer Kripo Hamburg eigenen Erkennungsdienstler.

Roy kam auf die Idee, die Geschäfte in der Nähe abzuklappern. Die meisten verfügten über hochmoderne Video-Überwachungsanlagen. Zumeist war der Eingangsbereich dadurch gesichert. Wenn wir Glück hatten, lagen auch der gelbe Porsche sowie der verdächtige Van im Fokus einer dieser Kameras.

Etwa ein Dutzend Geschäfte kamen von ihrer Lage dafür in Frage. Die meisten davon hatten um diese Uhrzeit längst geschlossen.

In einem Juwelierladen, der noch geöffnet hatte, wurden wir fündig. Die Videokamera war die ganze Zeit in Richtung des gelben Porsches gerichtet gewesen und der Besitzer war sofort bereit, uns die Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Er selbst hatte von der Explosion nur das Geräusch mitbekommen, da er sich gerade im hinteren, der Straße abgewandten Teil des Ladens befunden hatte.

Zur fraglichen Zeit war ein Mann zu sehen, der sich an dem Wagen zu schaffen machte. Er blickte sich mehrfach um, so als befürchtete er, beobachtet worden zu sein. Anschließend klebte er eine entsprechende Ladung von unten an den Wagen.

Wir zoomten das Gesicht des Kerls näher heran. Er trug eine Baseball-Cap und eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern, sodass von seinem Gesicht nur die Kinnpartie zu sehen war. Der Mund wurde von einem bisschen Schnauzbart verdeckt. Roy äußerte Zweifel daran, ob der überhaupt echt war.

„Dieser Kerl muss in die Fahndung!“, war mein Kommentar.

„Nur, dass das aufgezeichnete Material wohl kaum für einen Bildabgleich in unseren Archiven taugt“, gab Roy zu bedenken.

„Versuchen können wir es trotzdem – auch wenn nicht viel dabei herauskommt“, gab ich zurück.

Wir nahmen den Datenträger, auf dem die Aufzeichnungen gespeichert waren für weitere Untersuchungen mit.

Wenig später wandte sich Stefan Carnavaro an uns.

„Noureddine muss heute noch befragt werden“, erklärte er. Inzwischen war Stefan natürlich längst auch über unser Gespräch mit Käding informiert. „Ich selbst möchte das ungern tun, denn ich hatte bereits einmal im Rahmen eines anderen Verfahrens eine Hausdurchsuchung bei ihm zu leiten. Seitdem reagiert Noureddine allergisch auf mich. Aber in diesem Fall wäre es wichtig, ihm vielleicht die eine oder andere Information zu entlocken. Wenn nämlich auch nur das Geringste an der Reaktivierung dieses Killers mit der Bezeichnung Blitz dran ist, wette ich, dass der ‚Pate von St. Pauli’ ganz genau weiß, was dahinter steckt!“

Ich nickte knapp.

„Okay, wir fahren hin“, sagte ich.

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Vic Noureddines Villa hatte direkten Blick auf die Elbe. Es waren eine noble Gegend mit vielen außergewöhnlich luxuriösen Anwesen. Aber die Residenz von Vic Noureddine übertraf sie alle. Er hatte seinerzeit eins der größten und teuersten Häuser der Gegend aufgekauft, es bis auf das Fundament abreißen und anschließend nach seinen eigenen Vorstellungen neu errichten lassen. In den darauf folgenden Jahren hatte er aus Sicherheitsgründen die Nachbargrundstücke aufgekauft, und die dortigen Häuser ebenfalls niederreißen lassen.

Sein Anwesen wurde von einer zwei Meter hohen Mauer umgeben, auf der noch ein gusseisernes Gitter angebracht war, dessen Spitzen es zu einem lebensgefährlichen Abenteuer machten, diese Barriere kletternd überwinden zu wollen.

Davon abgesehen patrouillierten Leibwächter in dunklen Anzügen um das Haus. Sie führten mannscharfe Dobermänner mit sich und waren mit Maschinenpistolen ausgerüstet.

Ich parkte meinen Sportwagen in der Nähe des Eingangstores. Roy und ich stiegen aus und traten an die in den Stein eingelassene Sprechanlage.

Es war kurz vor Mitternacht.

„Warte wir ab, wie Herr Noureddine reagiert, wenn man ihn um diese Zeit herausklingelt!“, meinte Roy.

Ich betätigte den Knopf an der Sprechanlage.

Ein Kameraauge, das sich surrend bewegte, erfasste uns.

„Sie wünschen?“, fragte eine weibliche Stimme.

„Uwe Jörgensen, Kripo Hamburg!“, stellte ich mich vor und hielt den Dienstausweis in die Kamera. Ich deutete auf Roy. „Dies ist mein Kollege Kommissar Müller. Wir müssen dringend mit Herrn Vic Noureddine sprechen.“

„Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?“, fragte die Frauenstimme. „Wenn nicht, dann kommen Sie besser ein anderes Mal wieder oder setzen sich gleich mit Herrn Noureddines Anwälten auseinander.“

„Sagen Sie Herrn Noureddine, dass es für ihn vielleicht um Leben und Tod geht. Wir haben Informationen darüber, dass ihn jemand umzubringen plant.“

„Wir wollen nichts weiter, als Herrn Noureddines Leben verlängern, aber wenn er das nicht will, genießen wir auch gerne unseren Feierabend“, ergänzte Roy – für meinen Geschmack etwas zu heftig. Aber er schien die passende Tonlage getroffen zu haben, wie wir wenig später feststellen konnten. Es knackte im Lautsprecher.

Jetzt war eine Männerstimme zu hören.

„Halten Sie bitte Ihre Ausweise noch einmal deutlich in die Kamera!“

Roy holte seine Kripo-Marke ebenfalls hervor und wir taten, was von uns verlangt wurde.

Im nächsten Moment öffnete sich mit einem leisen Summen das imposante gusseiserne Tor, über dem ein bezeichnender Satz in messingfarbenen Lettern zu lesen war.

MY HOME IS MY CASTLE.

Wir traten ein.

Hundegebell empfing uns.

Vier Dobermänner eilten von verschiedenen Seiten auf uns zu. Wir standen wie erstarrt da. Unsere Hände glitten bereits zu den Dienstwaffen.

Auf einen Pfiff hin stoppten die offenbar sehr gut dressierten Hunde.

Abwartend saßen sie auf dem Boden. Einige der Leibwächter kamen im Laufschritt auf uns zu und richteten ihre Maschinenpistolen auf uns.

„Keine Bewegung und Hände hoch!“

„Sie sind gerade im Begriff, zwei Hamburger Kriminal-Kommissare zu bedrohen. Ich hoffe, Sie überlegen sich gut, was Sie da tun, denn andernfalls ist für jeden von Ihnen ein Platz in den Gefängnismauern der JVA Branebüttel reserviert!“, erwiderte Roy hart.

Ein Mann in den dreißigern mit kantigen Gesichtszügen und einem dunklen Schnauzbart, der die Lippen überdeckte, kam vom Portal der Villa herbei.

„Ist schon gut, Männer“, rief er.

Die Bodyguards senkten ihre MPis.

Die Hunde knurrten leicht.

Der Mann mit dem Schnauzbart kam mit weiten Schritten auf uns zu. Er reichte erst mir und dann Roy die Hand. „Ich bin Maik Noureddine. Keine Ahnung, ob wir schon mal persönlich das Vergnügen hatten, aber diese Staatsterroristen vom Finanzamt und der Kripo Hamburg tummeln sich hier ja schon fast nach Belieben, da kann schon mal durcheinander kommen!“

Der Name Maik Noureddine war uns natürlich ebenfalls bekannt. Es handelte sich um den Lieblingsneffen des selbst kinderlosen Vic Noureddine. Maik war vermutlich der zweite Mann im Noureddine-Syndikat und wahrscheinlich der Mann fürs Grobe. Leider waren ihm seine Machenschaften ebenso wenig nachzuweisen wie seinem Onkel.

Ich runzelte die Stirn.

„Wie nennen Sie uns? Staatsterroristen?“, echote ich ärgerlich.

Maik zuckte die Achseln und kraulte einem der Dobermänner den Nacken, woraufhin sich dessen bedrohliches Knurren in eine weniger bedrohliche Lautäußerung verwandelte.

„Ich stehe der Idee des Libertarianism nahe“, sagte Maik. „Jeder Mann sollte eine Waffe tragen, dann bräuchten wir keinen Staat, der uns freie Unternehmer doch nur aussaugt!“

„Hier sind zwei Staatsterroristen, die ihrem Onkel gerade das Leben retten wollen!“, knurrte Roy ziemlich aufgebracht. „Aber vielleicht legt der ja keinen Wert darauf!“

Maik Noureddine hob die Augenbrauen. „Ich wollte nicht ungastlich erscheinen, Müller – so war doch Ihr Name, oder?“

„Für Sie immer noch Kommissar Müller!“

Maik wandte sich an mich.

„Ich muss mich für unser Sicherheitspersonal entschuldigen. Die Männer pflegen manchmal einen etwas groben Umgangston.“

„Scheint so, als würde Ihr Onkel in ständiger Angst leben“, stellte ich fest.

„Die Welt ist schlecht, Kommissar Jörgensen. Das sollte jemand wie Sie doch wissen. Und jetzt folgen Sie mir bitte!“

Ich war ziemlich erleichtert, als die Hunde von den Leibwächtern wieder an die Leine genommen wurden. Maik Noureddine führte uns zum Portal der Villa.

Wir gingen die breiten Stufen empor.

Das Portal selbst war ziemlich protzig. Man hatte es einem griechischen Tempel nachempfunden.

Schließlich gelangten wir ins Innere des Hauses.

Vic Noureddine empfing uns in der Eingangshalle.

Eine Blondine mit kurvenreicher Figur und einem sehr eng anliegendem Kleid lehnte sich gegen ihn. Sie überragte Noureddine um einen halben Kopf.

„Du hättest diese Leute nicht hereinlassen sollen“, sagte sie und strich Vic Noureddine dabei über den bereits ziemlich kahlen Kopf. Ich erkannte die weibliche Stimme wieder, die wir über das Sprechgerät gehört hatten.

„Ich hatte leider keine andere Wahl, Kimberley“, knurrte Vic Noureddine.

Der Pate von St. Pauli trat vor.

„Sie haben ein paar Dinge dahergefaselt, die Sie mir vielleicht näher erläutern sollten, Herr Kommissar“, wandte sich Vic an mich und ich musste ziemlich an mich halten, mich von seiner herablassenden Art nicht auf die Palme bringen zu lassen. „Wie kommen Sie darauf, dass jemand darauf aus ist, mich umzubringen?“

„Sagt Ihnen der Name Blitz etwas?“, fragte ich.

„Was soll das sein? Eine Comic-Figur?“

„Herr Noureddine, Sie scheinen die ganze Sache nicht so richtig ernst zu nehmen. Das müssen Sie natürlich wissen. Wir geben Ihnen pflichtgemäß Informationen weiter, die vielleicht Ihr Leben retten, vorausgesetzt, Sie kooperieren mit uns.“

„Nanu, das sind ja ganz neue Töne. Die hätte ich mir bei der letzten Prüfung durch die Steuerfahndung gewünscht!“

„Nun mal halblang“, mischte sich jetzt Roy ein. „Die Steuerfahndung war das letzte Mal vor drei Jahren bei Ihnen. Da können Sie sich eigentlich nicht beschweren.“

Vic Noureddine verzog das Gesicht.

Er nahm mich zur Seite.

„Ich habe das Gefühl, dass Ihr Kollege mich nicht leiden kann, Kommissar Jörgensen“, meinte er.

„Sie wissen genau wer Blitz ist“, erwiderte ich eisig. „Sie brauchen mir gegenüber keine Komödie zu spielen. Blitz ist einer der effizientesten Lohnkiller, der jemals in diesem schmutzigen Gewerbe gearbeitet hat. Alle Welt dachte, dass er irgendwo unter südlicher Sonne seine Millionen genießt, aber jetzt gibt es Hinweise darauf, dass er pleite ist und wieder seinen Job macht...“

„Ich wüsste nicht, weshalb mich Ihre Geschichten über irgendwelche Kriminellen, denen Sie offenbar nicht das Handwerk legen konnten, interessieren sollten!“, sagte Vic Noureddine und verzog dabei angewidert das Gesicht.

„Sie sind das Ziel, Herr Noureddine. Jemand hat diesen Lohnkiller beauftragt, um Sie zu töten und am besten überlegen Sie mal, wer das sein könnte!“

Vic wechselte einen kurzen Blick mit seinem Neffen. Er hatte für einen kurzen Moment seine Mimik nicht ganz unter Kontrolle, dann erstarrte sein Gesicht wieder zu einer kalten Maske.

„Ich weiß nicht, weshalb Sie mich mit diesem Zeug belästigen, Kommissar Jörgensen, aber ich kann Ihnen sagen, dass es juristische Konsequenzen für Sie haben wird, wenn Sie irgendein mieses Spiel mit mir zu spielen versuchen.“

„Eigenartig“, sagte ich. „Es scheint Sie gar nicht zu interessieren, aus welcher Quelle wir diese Informationen haben.“

„Was soll das schon für eine Quelle sein? Irgendein schmieriger Informant, der sich wichtig machen will, das ist alles!“

„Sie sind nahe dran, Herr Noureddine. Aber dieser Informant heißt Harry Käding und wurde nur Minuten, nachdem wir mit ihm gesprochen haben, ermordet. Das ist auch ein Grund, weshalb wir Sie befragen.“

„Sie werden vielleicht bemerkt haben, dass mein Anwesen sicherheitstechnisch auf dem neuesten Stand ist und sich ein paar gut ausgerüstete Bodyguards darum kümmern, dass mir nichts passiert“, sagte der Pate von St. Pauli schließlich gedehnt.

Warum weicht er aus?, fragte ich mich. Es konnte eigentlich nur eine Erklärung für sein Verhalten geben. Vic Noureddine wusste sehr genau, wer ihm ans Leder wollte. Ich hielt es sogar für möglich, dass Käding seine Informationen nicht nur an uns, sondern auch noch an Noureddine verkauft hatte.

„Haben Sie Harry Käding persönlich gekannt?“, fragte ich.

„Ich weiß nur, dass er ein Buchmacher war, der so ziemlich bei jedem Schulden hat, der in St. Pauli mehr als zwei Dollar in der Tasche hat.“ Vic machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist wahrscheinlich besser, ich sage jetzt nichts mehr, sonst drehen Sie mir daraus am Ende noch irgendeinen Strick. Geben Sie es doch zu, Sie wollen mich in irgendeinen wie auch immer gearteten Zusammenhang mit dem Tod dieses Mannes bringen. Wir können das Gespräch gerne ein anderes Mal in Anwesenheit eines Anwaltes fortsetzen – oder Sie haben einen Haftbefehl dabei und nehmen mich fest. Ansonsten wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mein Haus möglichst schnell wieder verlassen würden!“

Vic Noureddine drehte sich um.

Die Blondine namens Kimberley folgte ihm. Beide verschwanden durch eine der Türen, die von der pompösen pseudo-klassisch gestalteten Eingangshalle aus in die anderen Gebäudetrakte führten.

Schwer fiel die Tür ins Schloss.

„Ich muss mich für meinen Onkel entschuldigen“, sagte Maik Noureddine. „Wir werden Sie natürlich in jeder Form unterstützen, nur fürchte ich, dass mein Onkel in der Sache vollkommen Recht hat....“

„Dann wollen auch Sie allen ernstes behaupten, dass Vic Noureddine, der Mann, den man den Paten von St. Pauli nennt, keine Feinde hat?“, fragte Roy ironisch.

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Wir verließen die Noureddine-Villa und fuhren mit dem Sportwagen nordwärts. Es war inzwischen bereits halb zwei Uhr in der Nacht. Die Silhouette der Stadt glich um diese Zeit einem funkelnden Sternenmeer, als wir über eine Brücke Richtung Hafen City fuhren.

Wenn man um diese Zeit im Großraum Hamburg unterwegs war, hatte das den Vorteil, dass man wenigstens nicht dauernd im Stau stand und einigermaßen schnell vorankam.

Zwischendurch nahmen wir telefonisch Kontakt mit dem Polizeipräsidium auf. Da wir die Freisprechanlage eingeschaltet hatten, konnten wir beide mithören.

Kriminaldirektor Hoch war noch immer im Büro.

Wir lieferten ihm einen knappen Bericht über den Verlauf unseres Gesprächs in der Noureddine-Villa.

Unterwegs gingen wir noch in eine rund um die Uhr geöffnete Snack Bar, um einen Hot Dog zu essen.

„Auf die paar Stunden Schlaf kommt es jetzt auch nicht mehr an“, meinte Roy während wir in der Snack Bar saßen.

„Wir werden Käding und sein Umfeld ganz genau ausleuchten müssen“, meinte ich. „Ich frage mich nur, wer seine Quelle war, was diesen Lohnkiller namens Blitz angeht.“  Das Ganze erschien mir im nach hinein immer dubioser.

„Worauf willst du hinaus, Uwe?“

„Es fällt mir einfach schwer, an Zufälle zu glauben, Roy. Wir finden innerhalb relativ kurzer Zeit mehrere Häuser voller Giftmüll, die einem Mann namens Talani gehören. Endlich gelingt es uns, eine vage Verbindung zu Noureddine und seiner Organisation zu konstruieren, da taucht dieser Käding aus der Versenkung auf und tischt uns die Story über den reaktivierten Blitz auf.“ Ich zuckte die Achseln. „Das hängt alles irgendwie zusammen, aber das entscheidende Teil in diesem Puzzle haben wir einfach nicht gefunden.“

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Später jagten wir das beschlagnahmte Bildmaterial, das den Mörder von Käding zeigte, durch den Computer. Unser Innendienstkollege Kommissar Max Vandersteen aus der Fahndungsabteilung half uns dabei, denn er war in der Handhabung der Suchsysteme weitaus geübter als wir.

„Der Kerl hat sich regelrecht verkleidet, damit ihn später niemand identifizieren kann“, war für Max der Fall sofort klar. „Aber ein telemetrischer Abgleich lässt sich durch einen Schnauzbart nicht betrügen. Das Problem ist nur, dass die Zahl der telemetrischen Merkmale, die standardmäßig von dem Programm verglichen werden, sich durch die Maskierung verringert hat. Der exakte Abstand der Augen zueinander, der Abstand zwischen Lippen und Nase und noch ein paar andere Merkmale können wir anhand dieser Bilder nicht vergleichen. Zehn bis zwölf dieser Merkmale sind notwendig, um einen Menschen eindeutig zu identifizieren.“

„Versuch es einfach, Max!“, forderte Roy.

Und ich ergänzte: „Was wir brauchen ist auch nicht unbedingt eine gerichtsverwertbare Identifizierung. Es reicht uns schon Hinweis, wo wir nach dem Kerl suchen könnten.“

Max kopierte aus dem aufgezeichneten Videomaterial ein Standbild heraus, von dem er glaubte, dass es sich besonders gut zur telemetrischen Vermessung eignete. Natürlich blieben im Wesentlichen die Merkmale des Kinnbereichs übrig. Selbstverständlich war auch ein Abgleich von Körpermerkmalen möglich, etwa das Verhältnis der Größe zur Schulterbreite, die Länge von Armen und Beinen, das Verhältnis des Unterarms zum Oberarm und so weiter. Das Problem war nur, dass bei einer erkennungsdienstlichen Behandlung in der Regel nur Fotos angefertigt wurden, die Kopf und Oberkörper aus verschiedenen Perspektiven zeigten, sodass Max sich auf die Kinnpartie beschränkte.

Das Programm lief. „Ihr solltet nicht zu sehr enttäuscht sein“, meinte er vorbeugend. „Leichter wäre es, wenn wir einen Verdächtigen hätten, den wir ausschließen wollten.“

„Den haben wir doch“, sagte ich. „Ich meine diesen Blitz.“

„Ein Mann von dem niemand mit Sicherheit sagen, wer dahinter steckt?“, fragte Max grinsend.

Schließlich hatten wir das Ergebnis.

Insgesamt 507 Personen aus unseren Archiven hatten ein Kinn, das nicht im Widerspruch zu den abgemessenen Merkmalen  stand. Max suchte unter den Namen und rief plötzlich: „Volltreffer!“

„Wovon sprichst du?“, fragte ich.

„Unter diesen 507 Namen ist auch Arvid Lennart Alexander, ehemaliger Leutnant bei den Kommando Spezialkräften, gesucht wegen Fahnenflucht und die Person, die höchstwahrscheinlich mit ‚Blitz’ identisch ist.“

„Dann hat dieser Blitz irgendwie davon erfahren, dass Käding Dinge über ihn erzählt, die er nicht verbreitet haben will und ihn deswegen umgebracht?“, fragte Roy.

„Moment!“, warnte Max. „Wir wissen nicht definitiv, dass der Mann auf der Videoaufnahme Blitz ist. Wir wissen nur, dass Blitz einer von 507 Personen ist, die Kädings Mörder sein könnten. Ich betone das Wort könnten!“

„An Zufälle glaube ich aber nun mal nicht“, meinte ich.

„Ich auch nicht“, sagte Max. „Sie kommen aber vor!“

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Kannst du nicht schlafen?“

Vic Noureddine stand am Fenster und blickte hinaus in die Gartenanlagen, die seine wie eine Festung bewachte Villa umgaben.

Es war drei Uhr morgens.

Kimberley erhob sich aus dem breiten Wasserbett. Sie war nackt. Über einer Stuhllehne hing ein Kimono, nach dem sie griff. Während sie sich die fließende Seide um den Körper hüllte, fiel ihr das weiße Pulver auf, das auf dem Nachttisch in kleine Häufchen aufgeteilt worden war. Daneben lag ein Nasenröhrchen.

Vic Noureddine hatte sich nie im Drogenhandel betätigt. Die alteingesessene Konkurrenz war zu stark und sich gegen die Drogensyndikate durchsetzen zu wollen war für Newcomer so gut wie aussichtslos. Die einzige Möglichkeit war, von ganz unten zu beginnen. Aber Vic Noureddine war nun einmal jemand, der nichts so sehr hasste, wie der Vasall eines Anderen zu sein. Er hatte immer schon sein eigener Herr sein wollen und ließ sich von niemandem reinreden.

Als Vic vor zehn Jahren in der Müllbranche anfing, war die noch jung gewesen. Der Aufstieg dementsprechend leicht und die Gewinne so gigantisch, dass jeder Kokaingroßdealer dagegen wie eine arme Kirchenmaus aussah.

Auch wenn seine Geschäfte mit Drogen nichts zu tun hatten, privat genehmigte sich Vic immer wieder mal eine Nase voll. Natürlich nur Stoff von erstklassiger Qualität.

Kimberley trat neben ihn, schmiegte sich an ihn.

„Du kennst diesen Blitz, von dem die Beamte sprachen.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die in diesem Augenblick über Kimberleys Lippen kam.

„Ich habe ihn sogar selbst schon einmal engagiert. Er ist einfach der Beste seines Fachs, und es ist kein Wunder, dass man ihn bisher nicht gefunden hat.“

„Und wer steckt dahinter und will dich tot sehen? Darüber denkst du doch schon die ganze Zeit nach, oder?“

Vic sah in ihre blauen Augen. Manchmal war es beängstigend, wie gut sie seine Gedanken zu lesen vermochte. Aber diesmal lag sie etwas daneben.

„Ich weiß, wer dahinter steckt!“, sagte er und ballte dabei unwillkürlich die Hände zu Fäusten. „Darüber brauche ich gar nicht erst nachzudenken! Die Frage, die mich beschäftigt, ist eine ganz andere: Wie kann ich diese Schweine unter die Erde bringen, bevor sie dasselbe mit mir tun.“

„Du solltest nicht übereilt handeln.“

„Wahrscheinlich habe ich viel zu lange gezögert. Ich hätte Timothy Kronewitteck umbringen sollen, als er noch ein kleiner Fisch im Karpfenteich war. Aber so ist der Lauf der Welt. Menschlichkeit rächt sich früher oder später.“

Die junge Frau atmete tief durch.

Ihr Gesicht musterte Vic eine ganze Weile, ehe sie ihn schließlich fragte: „Bist du je mit diese geheimnisvollen Blitz persönlich zusammengetroffen?“

„Wieso fragst du mir eigentlich Löcher in den Bauch, Baby?“, knurrte er ärgerlich. Er seufzte hörbar. „Auf jeden Fall muss etwas geschehen. Ich will, dass allen Leuten, die Käding kannten, mal so richtig auf den Zahn gefühlt wird. Dieser verfluchte Buchmacher muss doch eine Quelle für seine Informationen haben.“

„Und wenn er einfach nur Wind machen wollte?“

Auch dieser Gedanke war Vic schon gekommen. Er dachte noch einen Moment darüber nach, schüttelte schließlich aber den Kopf. „Dafür scheint mir das Risiko einfach zu hoch“, sagte er.

Kimberly ließ ihn los. Sie schlenderte durch das Zimmer, setzte sich schließlich auf das Bett und machte eine Lampe an. Dann nahm sie Vics Blasrohr, das zwischen den Kokain-Häufchen auf dem Nachttisch lag und schnupfte eine ziemlich große Dose. Anders, so dachte Kimberley, ließ sich der Tag nicht überstehen.

„An deiner Stelle würde ich mir über ganz andere Dinge Gedanken machen, Vic“, meinte sie danach, ließ sich auf das Wasserbett fallen, dessen Inhalt daraufhin in merkliche Schwingungen geriet, und schloss die Augen.

„Du hast doch was Bestimmtes mit deiner Bemerkung im Sinn“, stellte Vic stirnrunzelnd fest.

„Ich denke da zum Beispiel an die Häuser mit dem giftigen Inhalt, auf die die Behörden in letzter Zeit so verdächtig oft gestoßen sind.“ 

„Talani ist ein Narr gewesen“, murmelte Vic. „Ein so gottverdammter Narr...“

Mehr hatte Vic Noureddine dazu nicht zu sagen.

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Am nächsten Morgen fuhren Roy und ich zum Albert Schweizer Krankenhaus, um die beiden Jungen zu vernehmen, die sich in das Haus in der Brasewinkel Straße vorgewagt hatten und dabei vergiftet worden waren.

Inzwischen waren beide Jungen außer Lebensgefahr. Die Ärzte hielten sie immerhin für vernehmungsfähig. Aus rechtlichen Gründen musste wenigstens ein Elternteil bei den Vernehmungen zugegen sein, woran wir uns auch hielten.

Beide Jungen lagen auf demselben Zimmer im Albert Schweizer Krankenhaus. Paul Oldendorff war wach und las in der neuesten  Ausgabe von SPIDER-MAN. Marvin-Julian Pellemeier schlief und schien von den Entgiftungsmaßnahmen noch sehr geschwächt zu sein.

Die Eltern der der beiden Jungen waren bereits vor uns eingetroffen. 

„Ich hoffe, Sie tun alles, um diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die unseren Kindern dies angetan haben“, sagte Herr Pellemeier.

„Sie können sicher sein, dass wir nicht eher ruhen, bis die Verantwortlichen vor ihrem Richter stehen“, versicherte ich.

Herr Pellemeier schüttelte den hochroten Kopf. „Die Ärzte sagten uns, dass unsere Jungs großes Glück gehabt haben, weil so schnell Hilfe herbeikam. Sonst hätte das alles ganz anders ausgehen können.“

Ich wandte mich Paul zu.

„Sie sind ein echter Kommissar?“, fragte er.

Ich zeigte ihm meinen Kripo-Ausweis.

„Kann ich den mal kurz ansehen?“

„Sicher.“ Ich gab ihm den Ausweis und der Junge sah ihn sich ausgiebig an.

„Tragen Sie auch eine Waffe?“, fragte er.

„Natürlich. Aber die werde ich dir nicht geben.“

„Aus Sicherheitsgründen, schätze ich.“

„So ist es.“

Er atmete tief durch. „Ich schätze, es war wohl ein Fehler, in dieses Haus einzusteigen.“

„Allerdings!“

„Aber ich habe das nur getan, weil Marvin-Julian nicht zurückkam“, verteidigte sich Paul Oldendorff. „Das roch so komisch da drinnen und dann ist mir plötzlich ganz schwindelig geworden. Ich habe gedacht, ich könnte Marvin-Julian helfen. Er lag auf dem Boden.“

„Hauptsache, du hast für die Zukunft daraus gelernt“, erwiderte ich.

Paul nickte. „Das habe ich. Ich hätte gleich Hilfe holen sollen.“

„Paul, ich möchte wissen, ob dir irgendetwas aufgefallen ist, was in Zusammenhang mit diesem Haus steht. Es kann Wochen oder Monate vorher passiert sein. Ist dort mal jemand gewesen?“

„Nur ein Obdachloser.“

„Wie sah der aus?“

„Ziemlich abgerissen. Ich habe ihn nur einmal kurz gesehen. Es regnete stark und wahrscheinlich hat der Mann gedacht, dass man sich im Geisterhaus gut unterstellen könne.“

„Geisterhaus?“, echote ich.

„So haben wir es immer genannt, weil es so unheimlich ist und wegen der vielen toten Ratten in der Umgebung. Außerdem ist die Katze von unserer Nachbarn auf dem Grundstück verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Sie lag dort, wo Marvin-Julian und ich eingestiegen sind. Wahrscheinlich ist ihr genauso schlecht geworden, aber sie hatte nicht das Glück, rechtzeitig gerettet zu werden.“

„Allerdings!“

„Seltsam.“

„Was?“, hakte ich sofort nach. Ich merkte, dass Paul Oldendorff über irgendetwas plötzlich sehr intensiv nachdachte. Er blickte auf und sah mich fragend an. „Haben Sie diesen Obdachlosen eigentlich auch im Geisterhaus gefunden?“

„Nein, da war kein Toter. Wieso fragst du?“

„Na, weil ihm doch eigentlich auch schlecht werden musste, oder?“

Ich versuchte herauszubekommen, wie lange es schon her sein mochte, dass er den Obdachlosen gesehen hatte. Marvin-Julian Pellemeier – der den Mann wohl ebenfalls beobachtet hatte – mischte sich nun erstmals in das Gespräch ein. Er wirkte verschlafen und sehr müde. Das hing wohl mit den Medikamenten zusammen, die er bekommen hatte.

Die Aussagen der beide Jungen waren im Hinblick auf den Zeitpunkt etwas widersprüchlich, aber mir wurde deutlich, dass dieses Erlebnis durchaus schon mehrere Monate her sein konnte – zu einem Zeitpunkt, da das Geisterhaus noch nicht so stark kontaminiert gewesen war.

„An eine Sache erinnere ich mich noch!“, meinte Marvin-Julian plötzlich. „Aber ich weiß nicht, ob das wirklich wichtig ist.“

„Sag’s uns“, forderte ich den Jungen auf. „Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“

„Hat denn der Obdachlose was mit dem Fall zu tun?“

„Nein, wahrscheinlich nicht, aber es könnte sein, dass er ein wichtiger Zeuge ist“, erwiderte ich.

Marvin-Julian nickte und auf seiner Stirn erschien eine tiefe Furche. Er wirkte jetzt sehr ernst. „Der Mann hatte ein Loch im Bart.“

„Was genau meinst du damit?“, hakte ich nach.

„Nun, ein Bart wuchs ihm fast bis unter die Augen. Deswegen sah er auch so unheimlich aus. Wie ein Ghoul oder so etwas...“

„Der Junge schaut zu viel fern“, mischte sich Herr Pellemeier ein. „Nehmen Sie das nicht so ernst, er vermischt da wahrscheinlich Fantasie und Realität!“

„Ich weiß doch, was ich gesehen habe!“, empörte sich Marvin-Julian. „Der Bart war ganz schwarz, aber genau hier war ein längliches Loch in den Haaren!“ Der Junge zeigte auf seine Wange, malte das, was er gesehen hatte mit der Fingerkuppe seines Zeigefingers dort nah.

„Vielleicht eine Narbe“, vermutete Roy.

Vielleicht war dieser Mann irgendwann einmal verhaftet oder in trunkenem Zustand zur Ausnüchterung auf ein Polizei-Revier gebracht und erkennungsdienstlich behandelt worden. Dann konnten wir seine Daten über das landesweite Datenverbundsystem abrufen. Immerhin war es möglich, dass dieser Zeuge wertvolle Beobachtungen gemacht hatte, da er wahrscheinlich das Haus zu einem Zeitpunkt betreten hatte, als dort noch mehr oder weniger regelmäßig Giftmüll eingelagert wurde.

„Hat jemand von euch mal einen Lastwagen gesehen, der auf das Gelände gefahren ist?“, fragte ich.

Paul meldete sich zu Wort. „Ja, einmal sogar ein Atego 500!“

Ich lächelte.

„Du kennst dich aus mit Lastwagen?“

„Klar! Und deswegen bin ich mir auch ganz sicher.“

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Insgesamt sechs Bodyguards schirmten Vic Noureddine und seinen Neffen Maik ab, als die das Lokal „Chez Pierre“ betraten - das beste französische Lokal Hamburgs.

Es gehörte einem Franzosen namens Pierre Lacroix, den Noureddine zu seinen persönlichen Freunden zählte und dem er deswegen auch absolut vertraute. Als stiller Teilhaber war Noureddine über einen Strohmann an dem Nobellokal sogar beteiligt. Rein wirtschaftlich gesehen war es für ihn eine Möglichkeit, kleinere Geldmengen in eigener Regie zu waschen, was ihn unabhängiger von den auf diesem Gebiet tätigen Geschäftspartnern machte und damit auch das eigene Risiko minimieren half. Schließlich musste Noureddine immer dann, wenn einer dieser Partner aufflog, damit rechnen, dass dieser auf ein Kooperationsangebot der Staatsanwaltschaft einging.

Vic Noureddine hatte das das „Chez Pierre“ an diesem Tag für sich und seine Gäste allein. Normalen Publikumsverkehr gab es aus Sicherheitsgründen nicht.

Pierre Lacroix empfing Vic Noureddine und seine Leute.

„Ihre Gäste sind bereits anwesend, Monsieur“, sagte der Kanadier mit starkem französischem Akzent.

„Dann wollen wir sie nicht länger warten lassen“, knurrte Vic.

Pierre führte sie in den großen Hauptsaal des Lokals.

An einem großen, nierenförmigen Tisch hatte ein breitschultriger Mann mit grauen, kurz geschorenen Haaren Platz genommen. Er wurde von zwei Leibwächtern flankiert, die dunkle Rollkragenpullover und kugelsichere Westen trugen.

Der Grauhaarige trug ebenfalls eine Kevlarweste. Sie drückte sich deutlich durch das Hemd ab, dessen Knopfleiste dadurch ziemlich gespannt wurde.

„Seien Sie gegrüßt, Herr Makarow“, sagte Vic und bleckte dabei die Zähne wie ein Raubtier.

„Nennen Sie mich ruhig Peter“, erwiderte der Grauhaarige.

„Dann bestehe ich darauf, dass Sie mich Vic nennen.“ Der Pate von St. Pauli deutete auf seinen zweiten Mann. „Dies ist übrigens mein Neffe Maik...!“

„Angenehm“, nickte der Gast.

Pjotr „Peter“ Makarow war ein ehemaliger KGB-Mann, der sich inzwischen mit dubiosen Geschäften als so genannter „Businessman“ in Russland und darüber hinaus etabliert hatte.

Vic Noureddine hatte die Absicht, mit ihm groß ins Geschäft zu kommen. Erste Kontakte waren bereits vor einem halben Jahr geknüpft worden. Beide Seiten waren zunächst einmal sehr vorsichtig gewesen. Aber nun sollte diese Geschäftsbeziehung in eine neue Phase treten.

Vic und Maik setzten sich. Ihre Bodyguards schoben ihnen die Stühle zurecht und postierten sich anschließend dahinter.

Makarow zündete sich eine Zigarette an.

Einer der Leibwächter gab dem zum Businessman gewandelten Ex-KGB-Mann Feuer. Er sog an seinem filterlosen Glimmstängel und blies seinem Gegenüber den Rauch ins Gesicht. „Es ist schon erstaunlich, was für Geschäfte mit Müll möglich sind!“, sagte er akzentschwer. „Bei uns wären solche Gewinnspannen niemals realisierbar.“

„Weil die Umweltstandards viel geringer sind“, stellte Vic fest.

Makarow bestätigte dies. „Ein Hoch auf den Umweltschutz! Darauf sollen wir einen trinken, Vic!“

„Ich bin dafür, dass wir vorher das Geschäftliche regeln und dann erst zum angenehmen Teil dieser Zusammenkunft übergehen.“

Peter Makarow zuckte die Achseln.

„Ganz wie Sie wünschen, Vic.“

„Sehen Sie, es wird immer schwieriger, innerhalb der Bundesrepublik Deutschland oder der Europäischen Union geeignete Lagerstätten zu finden. Die Gegenseite schläft ja nicht. Die Masche mit den von Strohmänner gemieteten Häusern hat sich längst herumgesprochen und es wird immer schwieriger, so eine Nummer durchzuziehen, ohne dabei als Investor selbst ein erhebliches juristisches Risiko einzugehen.“ Vic Noureddine beugte sich vor. „Russland ist das größte Land der Erde. Da gibt es doch mehr als genug einsame Gegenden in denen man etwas vergraben kann, was danach garantiert zwanzig oder dreißig Jahre lang nicht gefunden wird.“

Makarow grinste schief.

„Da ließe sich auf jeden Fall etwas machen“, war er überzeugt. „Vorausgesetzt natürlich, Sie könnten die Verschiffung der in Frage kommenden Giftmüllmengen diskret veranlassen.“

„Das geht. Die nötigen Kontakte habe ich längst. Bislang habe ich Afrika als ausländisches Ziel bevorzugt, aber es könnte durchaus lohnend sein, sich auch mal anderswo umzusehen.“

„Ich werde Ihnen eine vollständige Kalkulation zukommen lassen, dann können Sie beurteilen, ob sich das für Sie lohnt“, meine Makarow. „Von meiner Seite aus sehe ich da keinerlei Probleme. Das könnte ein glänzender Deal werden.“

„Das sehe ich auch so... Peter!“

Vic zögerte, ehe er die deutsche Form von Makarows Vornamen aussprach. Der Chef des Noureddine-Syndikats war eigentlich ein eher förmlicher Mensch, der jede Form der Anbiederung hasste, von einem lockeren Umgangston hielt er nichts, er bevorzugte militärische Strenge, denn anders, so sein Credo, konnte ein Syndikat einfach nicht zusammengehalten werden.

„Es freut mich, dass Sie unseren Ideen so aufgeschlossen gegenüberstehen, Peter“, sagte Vic etwas gedehnt.

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Anderthalb Stunden später verließen zunächst Makarow und sein Gefolge und später die Noureddines und ihre Leute das Lokal „Chez Pierre“.

Der Chef persönlich verabschiedete die Gäste.

Eine dunkle Stretchlimousine fuhr genau im passenden Moment vor. Vic Noureddine wollte nichts dem Zufall überlassen. Dazu fühlte er sich einfach zu stark bedroht. Als er ins Freie trat, griff er in die Westentasche seines dreiteiligen Anzugs und holte eine silberne Tablettendose hervor. Er nahm ein paar Dragees daraus und schluckte sie trocken herunter. Vic hoffte, dass ihn das ein wenig beruhigen würde.

Die Limousinentür wurde ihm aufgehalten. Seine Leibwächter schirmten ihn so gut es ging ab. Das Fahrzeug selbst war gepanzert. Schon seit geraumer Zeit traute sich Vic Noureddine nicht mehr, ein ungepanzertes Fahrzeug zu benutzen.

Die Nachricht, nach der er auf der Todesliste jenes Superkillers namens Blitz stand, hatte ihn in dieser Ansicht nur bestärkt.

Sie werden alle teuer bezahlen!, durchzuckte es ihn. Alle, die glauben, mich aus dem Weg räumen zu können!

Ein roter Punkt tanzte durch die Luft. Der Laserstrahl eines Zielerfassungsgewehrs brach sich für einen Sekundenbruchteil an der Radioantenne der Limousine.

Ein Ruck durchlief Vic Noureddines Körper, als er noch etwa drei Meter von der offen stehenden Limousinentür entfernt war.

Eine Kugel riss ihm das Hemd knapp unterhalb des Halses auf. Ein zweiter Schuss traf ihn. Aber trug darunter eine Kevlarweste. Die Bodyguards schoben ihn auf die Limousine zu und umringten ihn dabei mit ihren Waffen im Anschlag. Einer der Leibwächter schrie auf, als eine Kugel seine Wange steifte und anschließend an Vic Noureddines Schulter vorbeistreifte. Der Anzug, den er trug wurde aufgerissen. Blut quoll hervor.

„Oh, nein, nicht auch noch das!“, schimpfte Vic.

„Er muss da drüben sein!“, rief einer der Bewaffneten und deutete auf ein fünfzehnstöckiges Gebäude, das sich ein paar Straßen entfernt befand und über mehrere Reihen niedrigerer Häuser hinausragte. Es handelte sich um den Rohbau eines Kaufhauses. Kräne und Gerüste ragten an den Fassaden empor.

Maik saß inzwischen neben ihm auf der Hinterbank der Stretch-Limousine. Vic saß mit schmerzverzerrtem Gesicht daneben und versuchte mit seiner Hand die Blutung an der Schulter zu stillen. Rot rann es ihm zwischen den Fingern hindurch.

Endlich stiegen auch die Leibwächter zu.

Die Stretch-Limousine raste mit quietschenden Reifen davon.

„Bist du in Ordnung, Onkel Vic?“, fragte Maik.

„Was heißt hier in Ordnung! Um ein Haar hätte eine der Kugeln meinen Hals durchschlagen und im Moment fühle ich mich, als wäre eine Dampframme über mich drüber gegangen!“, rief Vic aufgebracht.

Einer der Leibwächter kümmerte sich um die Verwundung des Bosses und sorgte dafür, dass sie notdürftig verbunden wurde.

„Was denkst du?“, fragte Vic. „Hat dieser Kommissar Jörgensen Recht, der mich vor Blitz warnte?“

„Scheint so“, murmelte Maik Noureddine, an den diese Frage gerichtet war. Aber der zweite Mann des Noureddine-Syndikats blickte fast gedankenverloren durch die getönten und mit Spiegelglas versehenen Scheiben der Stretch-Limousine.

„Glaubst du, Timothy Kronewitteck und seine Meute haben von unserer Zusammenkunft mit Makarow und seinen Leuten gehört und wollte eine Übereinkunft verhindern?“

„Onkel Vic, was soll ich dazu sagen? Ich kann mich unmöglich in das kranke Hirn dieses Mannes versetzen, der sich Blitz nannte“, versetzte er ziemlich genervt.

„Vielleicht sollte ich handeln und diesen Kronewitteck und seine Brut aus dem Weg räumen“, brummte er.

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Wir werden die Spuren verfolgen, die Sie uns mitgebracht haben, Uwe“, versprach Kriminaldirektor Hoch, nachdem er sich endlich gesetzt hatte. Wir saßen im Büro unseres Chefs und tranken einen Becher Kaffee. Außer uns waren noch eine Reihe weiterer Kommissare unseres Polizeipräsidiums anwesend, darunter Stefan, Selcuk, Kalle und Hansi. Kriminaldirektor Hoch fuhr fort: „Allerdings glaube ich nicht, dass es uns besonders weiterhilft, wenn wir alle Speditionen heraussuchen, die in ihrer Fahrzeugflotte einen Atego 500 haben.“

„Es wäre immerhin ein Anfang“, meinte ich. „Und wenn man noch weitere Raster anlegt, könnte man die Zahl der Treffer einschränken. Zum Beispiel indem man erstmal nur Speditionsfirmen berücksichtigt, von denen bekannt ist, dass sie chemische Abfälle transportieren.“

Kriminaldirektor Hoch hob die Augenbrauen. Er wirkte immer noch ziemlich skeptisch, nickte schließlich aber dennoch. „Unsere Innendienstler werden sich darum kümmern, Uwe. Und vielleicht finden sie ja sogar die Identität dieses Obdachlosen heraus... Aber wir werden darauf nicht unsere Prioritäten ausrichten können. Dazu hält uns ein anderer Bursche zu sehr in Atem.“

Kriminaldirektor Hoch schaltete einen Beamer an, mit dessen Hilfe ein Bild an die Wand projiziert wurde.

Das Gesicht eines jungen Mannes war zu sehen. Er war Mitte zwanzig, hatte dunkles Haar und trug eine Uniform der Bundeswehr.

„Das ist – oder war – Arvid Lennart Alexander, Leutnant bei den Kommando Spezialkräften der Bundeswehr. Das Foto ist allerdings schon fünfundzwanzig Jahre alt. Alexander verschwand unter mysteriösen Umständen. Er wird noch heute als fahnenflüchtig geführt, aber inzwischen gilt es als ziemlich sicher, dass er mit dem Killer namens Blitz identisch ist. Die drei ersten Morde, die Blitz zugeschrieben werden, wurden mit Waffen begangen, die er aus einem Bundeswehr-Depot entwendete, bevor er untertauchte. Fast fünfzehn Jahre lang war er seitdem als Profi-Killer aktiv, bis er sich wahrscheinlich vor fünf Jahren mit einem geschätzten Vermögen von zehn Millionen Dollar zur Ruhe setzte. Jedenfalls ist seitdem keine Tat mehr bekannt geworden, die die Handschrift dieses Mannes getragen hätte. Außerdem sind einige frühere Auftraggeber im Laufe der Zeit verhaftet worden, wobei man sie natürlich auch nach Blitz befragt hat. Es gibt eine Reihe von übereinstimmenden Hinweisen darauf, dass er tatsächlich seinen Job als Lohnkiller der Syndikate an den Nagel gehängt hat, um das Leben zu genießen oder was auch immer. Allerdings sind all diese angeblich Informationen über Blitz mit äußerster Vorsicht zu genießen. Alexander hat eine Zusatzausbildung in psychologischer Kriegsführung gemacht. Spezialgebiet: Desinformation. Wenn jemand weiß, wie man Gerüchte streut, die einem nützen, dann ist es zweifellos dieser Mann.“

„Fragt sich nur, ob die Geschichte von seiner Reaktivierung, die Käding uns auf die Nase gebunden hat, nicht auch nur ein Gerücht ist“, meinte Roy.

„Die Frage wäre allerdings, wem so eine Nachricht nützen würde“, wandte Stefan Carnavaro ein. „Blitz bestimmt nicht. Einer wie der kann alles Mögliche vertragen, nur keine gesteigerte Aufmerksamkeit.“

„Dieser fahnenflüchtige Leutnant besitzt übrigens ein besonderes Kennzeichen“, erklärte Kriminaldirektor Hoch noch und zeigte uns eine weitere Aufnahme, die die Nackenpartie jenes Mannes zeigte, der mit größter Wahrscheinlichkeit unter dem Namen Blitz zu trauriger Berühmtheit gelangt war. „Sie sehen hier eine rotbraune, sichelförmige Stelle von etwa zehn Zentimeter Läge, die nicht sichtbar ist, solange Alexander den Hemdkragen geschlossen trägt. Diese Stelle resultiert aus einer als Teenager erlittenen Verbrennung – und selbst unter der Voraussetzung, dass Blitz genug Geld verdient hat, um sich die besten plastische Chirurgen leisten zu können, so müsste davon noch etwas vorhanden sein! Außerdem ist er natürlich über die bei seiner Bundeswehr-Bewerbung für das Kommando Spezialkräfte genommenen und nach wie vor über unser Datenverbundsystem abrufbaren Fingerabdrücke identifizierbar“, gab Kriminaldirektor Hoch Auskunft. „Leider hat Leutnant Alexander in seiner Zeit als Blitz niemals Spuren hinterlassen, die wir  abgleichen könnten, sodass bei der Identifizierung von Alexander mit dem Lohnkiller Blitz immer noch ein Rest von Unsicherheit besteht – so viele Indizien auch dafür sprechen mögen.“

Kriminaldirektor Hochs Finger glitten über die Tasten des Laptops, das sich neben dem Beamer befand, mit dessen Hilfe Alexanders Bild an die Wand geworfen worden war.

Das Gesicht des jungen Leutnants aus den Reihen der Kommando Spezialkräfte veränderte sich.

Es alterte.

Bis wir schließlich in das Antlitz eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes blickten, dessen Haar an den Schläfen bereits deutlich ergraut war.

„So sieht Arvid Lennart Alexander wahrscheinlich heute aus“, erklärte unser Chef. „Wir können nur hoffen, dass er seinen Auftrag, Vic Noureddine zu ermorden, nicht in die Tat umsetzen kann – denn sonst haben wir Krieg in St. Pauli!“ Unser Chef wandte sich an Stefan Carnavaro. „Was haben Ihre Ermittlungen in Richtung von Timothy Kronewitteck ergeben? Er gilt schließlich als Noureddines härtester Konkurrent...“

„Bislang gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Kronewitteck der Auftraggeber für Blitz ist“, berichtete Stefan. „Ich habe sämtliche Informationsquellen in seinem Umkreis aktiviert. Allerdings muss ich zugeben, dass es uns bis heute nicht gelungen ist, jemanden in Kronewittecks Organisation einzuschleusen, der wirklich Zugang zum inneren Kreis hätte.“

„Ich habe gleich noch ein Telefonat mit der Staatsanwaltschaft vor mir“, berichtete Kriminaldirektor Hoch. „Dem will ich zwar nicht vorgreifen, aber so wie es aussieht, bekommen wir die Erlaubnis, Kronewittecks Telefon- und Internetverbindungen abzuhören. Was Noureddine angeht, war das auf Grund des anfänglichen Terrorismus-Verdachts etwas leichter...“

Eines der Telefone auf Kriminaldirektor Hochs Schreibtisch klingelte.

Hoch nahm ab. Er sagte nur ein paar Mal knapp „Ja!“ und ich konnte seinem veränderten Gesichtsausdruck ansehen, dass es nicht der erhoffte Bescheid über die Genehmigung von Abhörmaßnamen war.

Das Gespräch war schnell zu Ende.

„Auf Vic Noureddine ist ein Attentat verübt worden. Er ist leicht verletzt und befindet sich derzeit in stationärer Behandlung im St. Joseph Krankenhaus. Stefan, ich möchte, dass Sie und Selcuk sich zum Tatort nach St. Pauli begeben. Die Kollegen des Erkennungsdienstes sind schon unterwegs.“ Kriminaldirektor Hoch wandte sich an Roy und mich. „Sie beide sollten Vic Noureddine so schnell wie möglich im St. Joseph Krankenhaus aufsuchen. Der Kerl sollte jetzt eigentlich begriffen haben, dass er jetzt mit uns zusammenarbeiten muss.“

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Wir erwischten Vic Noureddine gerade noch im St. Joseph Krankenhaus. In Begleitung seiner Leibwächter war er im Begriff, die Eingangshalle der Klinik zu verlassen. Draußen wartete schon seine Limousine.

Maik Noureddine war ebenfalls anwesend.

Vic verdrehte die Augen, als er uns sah. Dann tippte er auf seine verletze Schulter und meinte: „Sehen Sie? So sicher ist man hier in Hamburg. Und jetzt erzählen Sie mir nicht, dass Sie mich davor geschützt hätten, wenn ich kooperationsbereiter gewesen wäre oder so einen Mist!“

„Doch, genau das muss ich Ihnen vorhalten, Herr Noureddine!“, sagte ich sehr ernst zu ihm und stellte mich dem Paten von St. Pauli zusammen mit Roy in den Weg.

Die Leibwächter wurden schon unruhig. Sie warteten allerdings erst einmal ab, wie ihr Boss reagierte.

„Wie Sie sehen, geht es mir den Umständen entsprechend gut.“

Vic machte seinen Leibwächtern ein Zeichen. Sie folgten ihm. Die Gruppe ging einfach an uns vorbei und es gab keinerlei rechtlich einwandfreie Möglichkeit, um sie daran zu hindern.

Ich wandte mich an Maik Noureddine.

„Warten Sie einen Moment, ich möchte Sie unter vier Augen sprechen“, sagte ich zu ihm.

Maik Noureddine tat mir den Gefallen.

„Ist schon in Ordnung, Onkel Vic!“, sage er in Richtung seines Onkels. „Ich komme gleich nach.“

Vic nickte knapp. Er ging anschließend mit seinen Leibwächtern davon.

„Lassen Sie meinen Onkel einfach in Ruhe, Jörgensen!“, zischte Maik mich wütend an. „Er ist ein ehrlicher Geschäftsmann, der vielleicht manchmal mit harten Bandagen kämpft. Aber er tut nichts Verbotenes. Zumindest haben Sie und Ihre Helfershelfer es in all den Jahren nicht geschafft, ihm das Gegenteil zu beweisen. Also seien Sie ein fairer Verlierer!“

„Und was ist, wenn Blitz ein weiteres Mal zuschlägt?“, wandte Roy ein. „Noch mal wird er sich wohl nicht damit begnügen, Ihren Onkel nur zu verletzen!“

„Ich wusste gar nicht, dass man sich beim Kripo Hamburg so viele Gedanken um die Gesundheit von Vic Noureddine macht!“, gestand Maik mit einem schneidenden Unterton.

„Bringen Sie Ihren Onkel zur Vernunft“, erwiderte ich. „Wir könnten einiges für ihn tun.“

„Was schwebt Ihnen denn da so vor, Jörgensen?“

Ich zuckte die Achseln. „Wenn er dazu beiträgt, dass Blitz uns ins Netz geht, ist die Staatsanwaltschaft sicherlich bereit...“

„Vergessen Sie es!“ unterbrach mich Maik Noureddine ziemlich schroff. „Auf diesem Ohr ist mein Onkel vollkommen taub – und ich übrigens auch!“

Damit ließ er mich stehen und folgte seinem Onkel und den Leibwächtern.

„Was ist los, Uwe? Hat dich dein Talent zur einfühlsamen Befragung heute verlassen?“, fragte Roy.

„Scheint so“, murmelte ich.

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Bis zum Tatort  war es nur ein Katzensprung. Stefan und Selcuk befanden sich dort mit einigen Kollegen der Polizei  und des Erkennungsdienstes. Als wir eintrafen war Stefan gerade damit beschäftigt, Pierre Lacroix zu befragen, vor dessen Restaurant sich das Attentat abgespielt hatte.

Der Mann stand noch immer ziemlich unter Schock. Seine Schilderungen wirkten recht wirr und ohne Zusammenhang. Vielleicht würden wir ihn zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal verhören müssen, wenn er sich etwas besser erholt hatte.

Unser Erkennungsdienstler Kommissar Pascal Steinberger holte ein Projektil aus dem Asphalt vor dem Lokal „Chez Pierre“.

Selcuk hatte in der Zwischenzeit einige Mitglieder des Küchenpersonals befragt.

Unser türkisch-stämmige Kollege nahm Roy und mich zur Seite. Wir ließen Stefan mit Pierre Lacroix allein im Hauptsaal des Restaurants und gingen auf den Flur.

„Von den Leuten, die in der Küche arbeiten, will keiner detaillierte Angaben machen“, meinte Selcuk. „Die scheinen alle irgendwie unter Druck zu stehen. Ich habe die Personalien aufgenommen. Vielleicht müssen wir da ein paar Hausbesuche machen, um etwas herauszubekommen – ohne dass ihr Chef dabei ist.“

„Wenn es wirklich Blitz ist, der dahinter steckt, dann wundert es mich, dass er daneben geschossen hat!“, meinte Roy. „Ich dachte immer, der Kerl wäre so effektiv wie eine Maschine!“

Selcuk zuckte die Achseln. „Aber er ist auch immer auf Nummer sicher gegangen. Ich habe mir das über BKA-DATA-REQUEST abrufbare Dossier noch mal gründlich durchgelesen. Sehr häufig hat er aus großer Distanz getötet. Und das hat er auch diesmal versucht.“

„Von wo aus wurde geschossen?“, fragte ich.

„Von einem im Bau befindlichen Hochhaus. Stefan hat schon weitere Kommissaren angefordert, um die Arbeiter zu befragen, die da beschäftigt sind.“

„Der hat geschossen, während in dem Haus gearbeitet wurde?“, echote ich verwundert. „Und du sprichst davon, dass er auf Nummer sicher gegangen ist.“

„Er brauchte sich nur entsprechend anziehen, unter die Arbeiter mischen und sich ein Stockwerk aussuchen, das einerseits hoch genug ist und wo andererseits gerade nichts zu tun ist. Vermutlich hat keiner der dort Beschäftigten überhaupt irgendetwas gemerkt. Aber etwas anderes gibt mir zu denken.“

„Was?“, fragte ich.

„Das ‚Chez Pierre’ war an diesem Tag geschlossen. Ich weiß nicht, ob dir das kleine Hinweisschild am Eingang aufgefallen ist?“

„Dann hat Vic Noureddine hier jemandem getroffen“, schloss ich. „Jemandem, der wichtig genug war, um für ihn ein ganzes Lokal zu mieten.“

„Wäre sicher aufschlussreich zu wissen, wer das war...“

Im Verlauf der Ermittlungen rund um das „Chez Pierre“ tauchten weitere Hinweise auf. So fiel uns in der Küche die Einkaufsliste des Küchenchefs auf. Die Mengen waren äußerst sparsam bemessen. Und außerdem war auffällig, dass offenbar Wodka getrunken wurde. Auf die Frage, wie das denn zu der in diesem Haus gepflegten französischen Küche passte, bekamen wir nur ausweichende Antworten.

Die Befragung der Arbeiter in dem Hochhausrohbau war wenig ergiebig.

Unser Kollege Kommissar Fred Menninga leitete die Aktion in enger Zusammenarbeit mit Polizeiobermeister Mackensen von der Schutzpolizei. Überall wurden Bilder herumgezeigt, die Arvid Lennart Alexander als jungen Offizier bei den Kommando Spezialkräften oder virtuell gealtert zeigten. Aber niemand konnte sich an ihn erinnern. Besondere Beobachtungen waren auch nicht gemacht worden. Unser Chef-Ballistiker David Eichenbaum war eingetroffen, um die Schussbahn und den genauen Ort, von wo aus gefeuert worden war, zu bestimmen. In diesem Fall würde das allerdings auf Grund der dürftigen Spurenlage ziemlich kompliziert werden.

Später teilten wir uns die Restaurantangestellten auf, um sie später in ihren Wohnungen zu befragen. Pierre Lacroix hatte ihnen für den Rest des Tages freigegeben – wahrscheinlich um dafür zu sorgen, dass sie so schnell wie möglich aus unserem Blickfeld waren und nicht doch noch irgendetwas verrieten.

Auf unserer Liste stand Linda Degenhall, die bei Lacroix als Küchenhilfe angestellt war. Sie wohnte ein paar Straßen weiter in einem Mietshaus.

Als wir vor ihrer Tür standen und wir ihr unsere Dienstausweise unter die Nase hielten, verdrehte sie genervt die Augen. „Ich habe Ihrem Kollegen doch schon alles gesagt, was ich weiß", sagte Linda Degenhall, eine junge Frau von höchstens fünfundzwanzig Jahren. Das dunkle, gelockte Haar fiel ihr bis über die Schultern. Ihre smaragdgrünen Augen wirkten verängstigt.

„Wir müssen uns trotzdem mit Ihnen kurz unterhalten", sagte ich ruhig. „Können wir hereinkommen?"

„Bevor Sie mir die Tür eintreten - bitte!"

Wir betraten ihr kleines Ein-Zimmer-Apartment. Linda Degenhall schloss hinter uns die Tür und blieb dort mit vor der Brust verschränkten Armen stehen.

„Wie kommen Sie darauf, dass wir gleich die Tür eintreten würden?", fragte ich. „Haben Sie irgendwann mal schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht?"

„Wie man es nimmt", murmelte sie vor sich hin und fügte schließlich hinzu: „Mein Ex-Freund war Polizist bei der Schutzpolizei - außerdem Alkoholiker. Er hat mich ziemlich oft geschlagen, wenn er zuviel getrunken hatte."

„Das tut mir leid", sagte ich.

Sie hob das Kinn. Ein harter Zug bildete sich um ihre Mundwinkel. „Das braucht es nicht", erwiderte sie schneidend. „Ich habe es schließlich ja doch noch geschafft, mich von dem Kerl zu trennen."

„Also wir treten Ihnen weder die Türen ein, noch wollen wir, dass Sie Ihren Job bei Herr Lacroix verlieren, Frau Degenhall", gab ich zurück. Sie wich dabei meinem Blick aus.

„Sie haben gut reden, Herr..."

„Kommissar Uwe Jörgensen. Aber ich habe nichts dagegen, wenn Sie mich Uwe nennen."

„Zahlen Sie mir meine Miete, wenn Herr Lacroix mich rausschmeißt, Uwe?"

„Ich denke nicht, dass Sie durch Ihr Schweigen vielleicht einen Mörder decken wollen...", erwiderte ich.

Und Roy ergänzte: „Wir werden Ihre Aussage mit größtmöglicher Diskretion behandeln. Herr Lacroix wird nichts davon erfahren."

Sie atmete tief durch.

„Okay, was wollen Sie wissen?"

„Mit wem hat sich Vic Noureddine zu einer Art Geschäftsessen getroffen", fragte ich.

„Woher soll ich das wissen? Glauben Sie, man hat uns die Leute vorgestellt."

„Sie werden schon irgendetwas mitbekommen haben. Einen Namen vielleicht oder irgendein anderes Detail. Möglicherweise eine physische Besonderheit."

„Scheint ein Wodka-Liebhaber gewesen zu sein", ergänzte Roy. „Zu einem französischen Essen würde ich als kulinarischer Laie eher Wein vermuten", mischte sich Roy ein.

Linda Degenhall strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht.

„Ich war nur ein einziges Mal zur Bedienung im Hauptsaal.  Der Mann, mit dem sich die beiden Noureddines getroffen haben, wurde erst Herr Makarow genannt und bot seinen Gastgebern dann an, ihn Peter zu nennen."

„Können Sie den Mann beschreiben", fragte ich.

„Graues, kurz geschorenes Haar, Mitte fünfzig, schien aber noch gut in Form zu sein."

„Wer war sonst noch dabei?"

„Nur noch Leibwächter. Sie standen lediglich herum und haben sich gegenseitig finster angeschaut."

„Sie sprachen von den beiden Noureddines. Das bedeutet, Maik war ebenfalls anwesend."

„Ja."

„Haben Sie irgendetwas von der Unterhaltung mitbekommen?"

„Herr Lacroix hat uns eingeschärft, dass wir all das vergessen und gegenüber niemandem erwähnen sollten. Außerdem musste ich mich voll auf meinen Job konzentrieren. Schließlich mussten dann alle von uns den Raum verlassen. Später, kurz bevor Makarow und sein Gefolge das Chez Pierre verlassen hatten, war irgendwie von einem Schiff die Rede."

„Versuchen Sie sich zu erinnern", forderte Roy sie auf.

Sie blickte einige Augenblicke starr ins Nichts, bevor sie schließlich heftig den Kopf schüttelte. „Tut mir leid, aber das ist wirklich alles!"

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Zwei Stunden später befanden Roy und ich uns in unserem gemeinsamen Dienstzimmer, das wir uns im Polizeipräsidium teilten.

Wir starrten beide auf den Computerschirm. Eine Abfrage über BKA-DATA-REQUEST wegen Peter Makarow ergab einen Treffer.

Makarow war ehemaliger KGB-Kommissar, hatte zum Personal der sowjetischen Botschaft gehört und war von der Bundesregierung schließlich wegen seiner Spionagetätigkeit ausgewiesen worden.

Nach dem Ende der Sowjetunion hatte Makarow seine exzellenten Kontakte dazu benutzt, innerhalb kürzester Zeit mit dubiosen Geschäften ein immenses Vermögen anzuhäufen. Unter anderem gab es Hinweise darauf, dass er Giftmüll aus Italien importiert und einfach in der Steppe an der kasachischen Grenze hatte vergraben lassen. Zeitweilig war Makarow mit internationalem Haftbefehl deswegen gesucht worden.

Die Untersuchung der russischen Polizei war jedoch ergebnislos verlaufen. Es war nicht einmal zur Anklage gekommen. Es war anzunehmen, dass Makarow die Angelegenheit mit Geld geregelt hatte.

„Bingo!“, sagte ich. „Dieser Kerl passt genau ins Bild!“

„Worüber sich Vic Noureddine und Makarow unterhalten haben, können wir jetzt wohl auch erraten“, meinte Roy.

Ich nickte.

„Offenbar plant Noureddine einen oder mehrere große Giftmülltransporte nach Russland.“

„Da macht sogar die Bemerkung einen Sinn, die Linda Degenhall über irgendein Schiff mitbekommen hat, Uwe!“

„Du sagst es.“

„Ich würde sagen, wir alarmieren umgehend die Hafenpolizei.“

„Und mit welchem Ergebnis, Roy?“ Ich schüttelte den Kopf. „Erstens könnte da jemand geschmiert sein, zweitens wissen wir noch nicht einmal, ob Hamburg wirklich der Ausgangshafen dieser Ladung ist und wie weit die Vorbereitungen des Unternehmens bereits vorangekommen sind.“

„Und was schlägst du vor, wenn ich mal fragen darf?“

Ich ließ meine Finger über ein paar Tasten gleiten und sorgte dafür, dass das Bild von Makarow ausgedruckt wurde. Vielleicht kamen wir in die Verlegenheit es einem Zeugen zeigen zu müssen.

„Wir müssen diesen Makarow so schnell wie möglich ausfindig machen und beschatten. Vielleicht ist er der Schlüssel, um Vic Noureddine doch noch zur Rechenschaft zu ziehen.“

„Ich dachte, es geht erst einmal darum, zu verhindern, dass er umgebracht wird...“, grinste Roy.

„Ja, aber nur um ihn anschließend vor Gericht stellen zu können“, erwiderte ich. „Vergiss nicht, dass dieser Mann letztlich die Verantwortung dafür trägt, dass zwei Jungen um ein Haar gestorben wären – von nicht auszuschließenden Spätschäden mal ganz abgesehen.“

In diesem Moment betrat unser Innendienst-Kollege Max Vandersteen aus der Fahndungsabteilung unser Dienstzimmer.

„Ich habe euch eine Liste aller Speditionen auf den Rechner geschickt, die mindestens einen Atego in ihrer Flotte haben. Das sind für den Großraum Hamburg insgesamt 132 Unternehmen. Für Deutschland sind es...“

„Schon gut, Max“, unterbrach ich ihn. „War es nicht möglich, die Trefferzahl etwas einzugrenzen?“

„Etwa zwei Drittel dieser Firmen hat nach meinen bisherigen Recherchen auch den Transport von giftigen Chemikalien im Serviceangebot. Wenn wir die alle unter die Lupe nehmen, sind wir vielleicht in einem Jahr fertig, Uwe! Und außerdem wissen wir nicht, ob der Lastwagen, dessen Typ der Junge identifizieren konnte, nicht aus dem Fuhrpark einer weiter entfernt gelegenen Spedition stammt.“

Ich zuckte die Achseln. „Irgendwo muss man ja anfangen zu suchen“, meine ich.

„Uwe, diese Aktion bringt nichts. Wir bräuchten irgendeinen weiteren Hinweis, der die Suche eingrenzt.“

Zu allem Überfluss schlug sich auch noch Roy auf Max' Seite. „Er hat Recht, Uwe. Konzentrieren wir uns auf diesen Makarow. Über den kommen wir auch an Vic Noureddine heran, und das ist schließlich unser Ziel.“

Max runzelte die Stirn.

„Von wem redet ihr bitteschön?“

Ich deutete auf das gerade ausgedruckte Gesicht und fasste in knappen Worten zusammen, was an Erkenntnissen über Makarow über BKA-DATA-REQUEST abrufbar war. „Es müsste doch herauszufinden sein, wo der Kerl zurzeit residiert! Schließlich benutzt er Kreditkarten!“

Max nickte. „Das ist kein Problem“, versprach er.

Damit rauschte er davon.

Ich nippte an meinem halbvollen Kaffeebecher, dessen Inhalt inzwischen kalt geworden war. Dann machte ich mich noch einmal an die Computerrecherche.

„Was machst du da jetzt?“, wollte Roy wissen, während meine Fingerkuppen über die leichtgängige Tastatur glitten.

„Ich suche nach dem Obdachlosen mit dem Loch im Bart, wie der Junge das ausgedrückt hat“, erklärte ich. „Vielleicht ist er ja irgendwann einmal erkennungsdienstlich erfasst worden.“

Roy seufzte.

„Du kannst es einfach nicht lassen, was?“

„Was meinst du jetzt genau?“

„Nun, dich mit unwichtigen Dingen zu befassen, Uwe. Dafür  haben wir jetzt keine Zeit. Was sollte uns der Mann mit dem Loch im Bart denn schon an neuen Fakten liefern können?“

„Wenn ich das wüsste, würde ich ihn nicht mehr suchen“, gab ich zurück.

Es dauerte fast anderthalb Stunden, bis ich ihn schließlich fand.

Seine letzte Verhaftung hatte im letzten Winter stattgefunden. Die Umstände sahen für mich so aus, dass er seinen Gefängnisaufenthalt von ein paar Wochen absichtlich provoziert hatte, um während des letzten Winters nicht der der mörderischen Kälte ausgesetzt zu sein, die seinerzeit in Hamburg geherrscht hatte.

Das letzte Foto war damit erst wenige Monate alt.

Sein Name war Hermann Martinson. Er war früher Steuer- und Anlageberater gewesen. Irgendwann vor fünf Jahren musste dann der Absturz gekommen sein.

„Okay, du weißt jetzt wer er ist“, sagte Roy. „Aber deswegen haben wir noch nicht auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung, wo er sich gerade aufhalten könnte.

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Einen Tag später kannten wir den Aufenthaltsort von Peter Makarow.

Er residierte im Alster Palast Hotel. Er wurde nun rund um die Uhr von Kollegen observiert.

Insgesamt traten wir in diesem Fall etwas auf der Stelle. Makarow verließ das Alster Palast Hotel nur ab und zu, wenn er im Park Planten und Blomen joggen wollte oder ihm nach dem Besuch eines Nacht Clubs in St. Pauli war. Jedes Mal war er dann von einer Horde Leibwächter umgeben. Makarow schien genau wie Vic Noureddine davon auszugehen, dass er viele Feinde in Hamburg hatte.

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Vic Noureddine saß zusammen mit seinem Neffen Maik auf der Rückbank der schwarzen Stretch-Limousine und schnupfte eine Prise Kokain.

„Das solltest du lassen, Onkel Vic“, meinte Maik. „Eines Tags wirst du es bereuen....“

„Ich brauche das jetzt einfach“, meinte Vic.

Seit Jahren hatte Vic Noureddine kein Kokain mehr angerührt. Aber der Druck, unter dem er seit einiger Zeit stand, hatte dazu beigetragen, dass er rückfällig geworden war. Zu viel hing davon ab, wir er sich jetzt verhielt. Der große Deal war fast perfekt. Eine einmalige Chance, um unvorstellbar viel Geld zu verdienen.

Und dann war da ja noch die Sache mit Blitz...

Inzwischen hatte Vic Noureddine auch aus anderen Quellen das Gerücht gehört, dass der Mann, der sich für seine Tätigkeit als Hitman dieses Pseudonym gegeben hatte, auf die Bühne zurückgekehrt war, weil pure Geldnot ihn dazu trieb.

Vic lehnte sich zurück, schloss die Augen. Die Limousine fuhr derweil  weiter.

Vic hatte dem Fahrer Anweisung erteilt, das Alster Palast Hotel, in dem Peter Makarow residierte, nicht auf direktem Weg anzusteuern, sondern ein paar Schleifen kreuz und quer durch Hafen City zu fahren, bis fest stand, dass ihnen niemand gefolgt war. Für den Fall, dass bei der Durchführung des Deals später irgendetwas schief ging, musste Vic verhindern, dass ihn irgendjemand mit Makarow in Verbindung bringen konnte.

„Was glaubst du, wie viel hat Kronewitteck diesem Killer namens Blitz wohl geboten, um mich zu töten?“, fragte Vic ohne die Augen dabei zu öffnen.

„Keine Ahnung. Aber unter zweihunderttausend Dollar ist jemand wie Blitz wohl nicht zu haben – selbst wenn man miteinberechnet, dass er im Moment vielleicht in Geldnot ist und nahezu jeden Job annehmen muss.“

„Vielleicht könnte es unseren Leuten gelingen, Blitz aufzuspüren und ihm ein Angebot zu machen.“

„Du willst dich freikaufen, Onkel Vic?“

Vic Noureddine zuckte die Achseln. „Warum nicht? Ich traue mich ja schon fast nicht mehr, mein Haus oder diese kugelsichere Limousine zu verlassen. Und genau darauf braucht er – dieser geheimnisvolle Blitz - nur zu warten.“

Maik Noureddine schwieg zunächst. Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Ich schlage vor, wir konzentrieren uns jetzt auf den Abschluss der Verhandlungen mit Herr Makarow.“

Vic grinste krampfhaft. Er bleckte die Zähne, aber diesmal wirkte das aufgesetzt und keineswegs wie ein Ausdruck gesteigerten Selbstbewusstseins.

„Keine Sorge, das wird schon klappen.“

„Ich weiß nicht, ob es wirklich der richtige Weg ist, sich mit diesem Kerl einzulassen“, wandte Maik ein. „Bisher lief es doch gut. Weshalb also dieses Risiko eingehen?“

„Maik, ich dachte, das hätten wir ausführlich diskutiert!“, tadelte Vic seinen zweiten Mann.

Inzwischen erreichte die Limousine das Alster Palast Hotel. Ein Van mit hervorragend ausgebildeten Security-Männern fuhr ihnen zunächst hinterher, überholte schließlich aber kurz vor Erreichen des Hotels wieder und fuhr auch zuerst in die dazugehörige Tiefgarage ein.

Diese Tiefgarage hatte nur ein einziges Deck, das allerdings erst in einer Tiefe von drei Stockwerken zu finden war.

Der Van ordnete sich schließlich in einen wenig frequentierten Bereich des Parkdecks ein und hielt. Die Türen öffneten sich. Die mit MPis und automatischen Pistolen ausgerüsteten Leibwächter stiegen aus. Insgesamt sechs Mann gingen in Stellung. Der Fahrer des siebensitzigen Vans parkte das Fahrzeug rückwärts ein.

Die Limousine hielt ebenfalls und wurde von den Bewaffneten umringt.

Einer der Security Guards öffnete die Tür.

Vic stieg aus.

Maik öffnete die Tür auf seiner Seite selbst.

Im nächsten Moment ging durch den Körper eines der Leibwächter ein Ruck.

Auf der Stirn des groß gewachsenen, breitschultrigen Mannes bildete sich ein roter Punkt. Er wankte und sank zu Boden, ehe er seine Waffe hochreißen konnte. Ein zweiter und ein dritter Leibwächter bekamen nur Sekunden später ebenfalls mit äußerster Präzision gesetzte Kopftreffer in Schläfe und Stirn.

Sie waren sofort tot.

Der vierte Leibwächter duckte sich, riss die Waffe empor und richtete sie in die Richtung aus der die Schüsse gekommen waren. Der Strahl eines Laserpointers tanzte für Sekundenbruchteile durch den Raum, brach sich kurz an der ausgefahrenen Radioantenne der Limousine.

Der Leibwächter feuerte seine MPi ab. Sekundenbruchteile später sanken jedoch auch die anderen drei Leibwächter getroffen zu Boden.

Einer von ihnen hatte noch versucht, sich in Deckung zu begeben, war aber vorher ebenfalls durch einen Treffer abgefangen worden.

Maik Noureddine hatte sich inzwischen ins Innere der gepanzerten Limousine gehechtet.

Sein Onkel hatte weniger Glück. Mehrere Kugeln fuhren ihm in den Oberkörper.

Er taumelte zu Boden.

Da er wie stets unter seiner Kleidung Kevlar trug, hatten ihn die Kugeln nicht töten können. Er rang nach Luft und keuchte erbärmlich.

Der Geschosshagel verebbte.

Der Chauffeur der Limousine saß wie erstarrt da. Ihm konnte nichts passieren, aber es war ihm auch unmöglich in das Geschehen einzugreifen.

Zwei weitere Schüsse trafen die Reifen der Limousine, die sich daraufhin auf der linken Seite etwas absenkte.

Der Schütze kam jetzt aus seiner Deckung.

Er war maskiert, trug einen schwarzen Rollkragenpullover, Kevlarweste und ein Sturmgewehr für Scharfschützen mit Laserzielerfassung.

Er kam rasch näher, legte kurz an und zielte auf den Chauffeur. Die Kugel wurde vom Panzerglas aufgefangen.

Der Maskierte trat näher.

Er kratzte sich am Nacken. Die Sturmhaube, mit der er sich maskiert hatte, rutschte etwas empor. Eine dunkle Stelle war dort kurz zu sehen.

Er ließ den Blick über den Boden schweifen, stieß einen der getöteten Leibwächter kurz an.

Dann blieb er bei Vic Noureddine stehen und blickte auf ihn herab. Dieser hielt sich den Oberkörper.

Er wollte etwas sagen, brachte aber nichts weiter heraus als ächzende Laute. Sein Gesicht war hochrot. Der Maskierte schob das Sturmgewehr, das mit Schulterriemen befestigt war, nach hinten. Er zog ein Kampfmesser, fasste mit der anderen den Haarschopf des am Boden liegenden Vic Noureddine und ließ das Messer vorschnellen. Der Pate von St. Pauli starb, ohne noch einen Schrei abgeben zu können.

Der Maskierte wischte das Messer an der Kleidung des Toten ab, steckte es weg und griff dann erneut nach dem Sturmgewehr. Er zielte kurz und feuerte auf das surrende Kameraauge, das ihn die ganze Zeit beobachtet hatte.

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Roy Müller und ich gehörten diesmal zu den letzten, die am Tatort auf dem Parkdeck des Alster Palast Hotels eintrafen. Die Kollegen der Schutzpolizei hatten bereits den gesamten Bereich weiträumig abgesperrt und Beamte der Erkennungsdienst machten bereits ihren mühseligen Job und suchten den Betonboden nach kleinsten Spuren ab. Die Gerichtsmedizin war mit einem ganzen Team vor Ort.

Einige der Leichen waren schon abtransportiert worden. Dort, wo sie gelegen hatten, waren ihre Umrisse mit weißer Kreide auf den Asphalt gezeichnet.

Kommissar Fred Menninga begrüßte uns und fasste für uns knapp zusammen, was sich nach dem bisherigen Ermittlungsstand zugetragen hatte.

Etwas abseits stand Stefan Carnavaro und befragte zwei Männer. Einer davon war Maik Noureddine, wie ich gleich erkannte. Der zweite trug eine Uniform, wie sie für Chauffeure typisch war.

„Die beiden haben alles mitbekommen“, sagte Fred. „Sie konnten sich in den gepanzerten Wagen retten, bevor der Killer auch sie niederschießen konnte...“

„Es war nur ein Mann?“, wunderte sich Roy.

„Ja“, bestätigte Fred. „Es gibt eine Aufzeichnung der Überwachungskamera. Der Kerl war aber leider maskiert, sodass wir ihn nicht identifizieren können. Er muss mit unglaublicher Geschwindigkeit und Sicherheit nacheinander die Leibwächter abgeknallt haben. Alles Kopftreffer.“

„Er hat sich wohl gedacht, dass es wenig Sinn macht, wenn er auf den Rumpf zielt“, meinte ich. „Schließlich musste er damit rechnen, dass Noureddines Wachpersonal Kevlar-Westen trägt.“

„Genau“, nickte Fred. „Trotzdem, diese Schusssicherheit ist beängstigend.“

„...aber vielleicht typisch für einen ehemaligen Elite-Soldaten“, meinte Roy. „Wäre interessant zu erfahren, ob Blitz damals im Rahmen seiner Ausbildung auch ein Scharfschützentraining absolviert hat.“

„Kalle und Hansi sind übrigens auch hier“, berichtete Fred. „Die beiden verhören gerade Makarow, der ein paar Etagen hier drüber in einer Luxus-Suite residiert.“

„Dann wollten die Noureddines wohl zu ihm“, murmelte ich.

„Sieht so aus.“

Gemeinsam mit Fred Menninga gingen Roy und ich zu den Gerichtsmedizinern.

Die Leiche von Vic Noureddine lag noch dort, wo der Täter ihn niedergestreckt hatte.

Eine ziemlich große Blutlache hatte sich gebildet.

Der Gerichtsmediziner war Dr. Claus. So stellte er sich uns gegenüber knapp vor, ohne dabei den Blick von dem Toten zu nehmen. Er war gerade damit beschäftigt ein paar Fotos zu machen.

„Sagen Sie nicht, ich wäre pingelig, weil ich meine eigenen Fotos schieße und nicht auf die Tatortbilder des Kripo Hamburg oder des Erkennungsdienstes vertraue“, sagte Dr. Claus, als er Roys skeptischen Blick registrierte. „Nichts gegen das fotografische Können Ihrer Leute, aber die wissen in der Regel nicht genau genug, worauf es mir ankommt.“

„Ich verstehe schon“, sagte ich. Mich interessierte vielmehr die Schnittwunde an Vic Noureddines Hals.

Dr. Claus hörte auf zu fotografieren, betrachtete das Ergebnis kurz auf dem Display seiner Digitalkamera und nickte dann zufrieden.

Anschließend wandte er sich an mich.

„Das ist in der Tat sehr seltsam“, meinte er. „Diese Killermaschine, die hier zugeschlagen hat, war gut genug, die Leibwächter durch Kopfschüsse auszuschalten. Ehe die gemerkt haben, was los war, waren vermutlich zwei, drei Mann tot.“ Dr. Claus holte zu einer großen Geste aus und deutete schließlich mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Vic Noureddines Leiche. „Nur den Kerl hier trifft der Schütze am Oberkörper, der natürlich mit Kevlar gesichert war, wie Sie sehen können.“

„Das dürfte trotzdem ziemlich schmerzhaft für Vic Noureddine gewesen sein“, stellte ich fest. „Zumal er vor kurzem erst ein paar solcher Treffer abbekommen hatte und vielleicht sogar ein paar Rippen etwas angeknackst waren.“

„Das werde ich mir noch alles genauer bei der Obduktion ansehen“, versprach Dr. Claus. „Ich gehen jedenfalls davon aus, dass der Ermordete durch die Wucht der Geschosse zu Boden gerissen und außer Gefecht wurde. Anschließend hat man ihm dann die Kehle durchgeschnitten. Sehen Sie, wie der Schnitt geführt wurde!“ Dr. Claus ging in die Hocke und zeichnete den Verlauf des Schnittes nach. „Ich frage mich, wieso er den Mann nicht einfach erschossen hat! Schließlich hatte er die Waffe in der Hand!“

„Die geradezu beängstigende Effektivität, mit der dieser Kerl vorgegangen ist, spricht dafür, dass es sich tatsächlich um Blitz handelt“, meinte ich.

Roy war derselben Ansicht.

„Mal angenommen, das trifft zu – dann sollten wir mal nachforschen, ob es vielleicht irgendeine offene Rechnung zwischen Vic Noureddine und diesem Killer gibt.“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, meinte auch Fred Menninga. „Wer so tötet, will doch irgendetwas demonstrieren.“

„Fragt sich nur was“, murmelte ich und wandte den Blick ab.

„Sie sollten herausfinden, wer auf diese spezielle Weise ein Messer führt“, meinte Dr. Claus. „Ansonsten werde ich mich mit der Obduktion beeilen. Aber die wichtigsten Angaben, wie Tatzeit und Tathergang stehen sowieso nicht in Zweifel. Schließlich gibt es doch die Videoaufzeichnung und Zeugen.“

Bei der Befragung von Maik Noureddine und dem Chauffeur ging etwas lauter zu.

„Ihr Onkel ist tot – finden Sie nicht, dass es jetzt an der Zeit wäre, endlich mit uns zu kooperieren?“, fragte Stefan ziemlich aufgebracht.

„Ich habe meiner Aussage nichts hinzuzufügen“, erwiderte Maik Noureddine ziemlich kühl. „Im Übrigen habe ich das recht zu schweigen...“

„Sie sind kein Angeklagter, sondern nur ein Zeuge – und als solchem steht ihnen dieses Recht nicht zu.“

Maik Noureddine trat auf Stefan Carnavaro zu und sagte dann ziemlich schneidend: „Meiner Ansicht nach sollten Sie sich ein paar ganz andere Fragen stellen, Kommissar Carnavaro! Zum Beispiel, wie es möglich ist, dass mein Onkel heimtückisch ermordet wurde, obwohl Sie ihn doch angeblich beschattet haben!“

„Lass es gut sein, Stefan, es hat keinen Sinn!“, fand Selcuk. Der als bestangezogendster Kommissar geltende und stets hochmodisch gekleidete Salman hatte seine Seidenkrawatte und den ersten Knopf seines Hemdes gelockert. Ein ungewohnt legerer Anblick. Aber das Bild des Grauens, was sich auf dem Parkdeck des Alster Palast Hotels nach wie vor bot, war wohl auch auf ihn nicht ohne Wirkung geblieben. Es gibt Dinge, an die man sich in unserem Job trotz aller Routine einfach nicht gewöhnt. Der Anblick von Ermordeten gehört dazu. Selbst dann, wenn es sich bei den Opfern um Personen handelte, die selbst alles andere als schuldlos waren.

„Sie können gehen, Herr Noureddine“, wandte sich Stefan schließlich an Maik. „Aber ich möchte, dass Sie sich in nächster Zeit für uns zur Verfügung halten, falls wir noch Fragen an Sie haben.“

„Selbstverständlich“, sagte Maik. Sein Gesicht wurde sehr ernst und er hatte inzwischen die vollkommene Kontrolle über seine Mimik zurückerlangt. „Wissen Sie, es stand Onkel Vic wohl niemand so nahe wie ich... Sein Tod ist ein herber Verlust. Ich bräuchte ihn in einer Situation wie dieser doppelt. Nicht nur als Geschäftspartner, sondern als einen Mann, der für mich immer wie ein Fels in der Brandung dastand. Jemand, auf den man sich absolut verlassen konnte, und der sich auch nicht scheute, zu einem zu stehen, wenn es sonst niemand tat.“

Zusammen mit dem Chauffeur verschwand er über den Aufzug, der von hier aus ins Erdgeschoss des Alster Palast Hotels führte. Um nach Hause zu gelangen, mussten die beiden ein Taxi nehmen oder sich einen Wagen aus Maik Noureddines Fuhrpark herbeordern, schließlich waren zwei Reifen an der Stretch-Limousine zerschossen worden und außerdem waren die Erkennungsdienst-Kollegen mit ihrer Behandlung des Wagens noch lange nicht fertig.

Stefan und Selcuk begrüßten uns knapp. „Komisch Uwe, aber wenn dieser arrogante Kerl den Mund aufmacht, glaube ich nicht einen Ton davon!“

„Kann ich gut verstehen“, erwiderte ich. „Aber wir werden wohl kaum erwarten können, dass Maik uns irgendetwas sagt. Solange es dem Syndikat schadet, das sein Onkel aufgebaut hatte.“

„Irgendjemand wird ja wohl in die Fußstapfen des Alten treten“, meinte Roy.

Stefan wandte sich unterdessen an mich. „Hört mal, könntet ihr euch nicht die Videoaufzeichnung ansehen? Zumindest oberflächlich.“

„Machen wir“, versprach ich.

„Der Chef des hiesigen Sicherheitsdienstes findet ihr in seinem Büro. Es liegt im Erdgeschoss des Alster Palast Hotels. Am besten, ihr fragt den Wachmann in der Eingangshalle.“

„Danke.“

„Wir nennen das einen 'Doorman'.“

„Ah ja. Klingt schön deutsch.“

„Naja, er bewacht die Tür. Deswegen.“

„Wäre ich jetzt nicht drauf gekommen. Aber danke für den Hinweis.“

„Immer gerne.“

„Tschüss.“

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Wir begaben uns also ins Erdgeschoss. Den sogenannten „Doorman“, der dort in einem gepanzerten Glaskasten ausharrte und für Sicherheit sorgte, fragten wir nach seinem Chef. Über seine Sprechanlage nahm er daraufhin Kontakt mit seinen Vorgesetzten auf. Wenig später erschien einer der schwarz uniformierten Sicherheitsleute, holte uns ab und brachte uns in das winzige Büro, von wo aus die Überwachungskameras bedient wurden.

Wir hielten dem Diensthabenden unsere Kripo-Marken hin und stellten uns vor.

Der Name unseres Gegenübers stand an seinem Uniformhemd: D. Purwin.

„Ihr Kollege bat mich, die Video-Aufzeichnungen auf einen Datenträger zu ziehen, damit sie im Labor unter die Lupe genommen werden können.“

„Danke, Herr Purwin. Vielleicht wäre es aber möglich, dass wir uns das Ganze schon mal hier anschauen.“

„Sicher, warum nicht? Ihre Kollegen haben ja auch schon einen flüchtigen Blick auf die Szene geworfen.“ Purwin schüttelte energisch den Kopf. Seine Finger glitten dabei über ein Rechner-Terminal. Wenig später begann dann jene Szene, die zu dem Tod von Vic Noureddine und sechs seiner Leibwächter geführt hatte. 

Die Szene lief in all ihrer Grausamkeit vor uns ab. Wir schauten sie uns gezwungenermaßen mehrfach an – bis zu jenem Augenblick, in dem der Täter die Mündung des Sturmgewehrs hob und gezielt die Kamera zerstörte. Aber bis dahin war alles aufgezeichnet. Auch der Mord an Vic Noureddine war klar und in jeder grausamen Einzelheit zu erkennen.

„Diese Art und Weise, wie der Täter sein Opfer mit dem Messer tötet, scheint mir sehr speziell zu sein“, meinte Roy.

„Ja, ein perfekt eingeübter Bewegungsablauf – vollkommen automatisiert“, bestätigte ich.

„Wir sollen mal nachprüfen, ob es sich um eine Nahkampftechnik handelt, die bei den Kommando Spezialkräften verwendet wird“, schlug Roy vor.

„Stopp!“, rief ich plötzlich.

Purwin hielt die Aufzeichnung an. Bei den neuen digitalen Aufnahmeverfahren gab es dabei keinerlei Zittern mehr. Standbilder waren so gestochen scharf wie Fotos.

„Kann man das Bild irgendwie etwas näher heranzoomen?“, fragte ich an Purwin gerichtet.

Dieser nickte. Er tippte auf seiner Tastatur herum und der Bildausschnitt veränderte sich.

„Ich will die Nackenpartie“, sagte ich.

Purwin zoomte sie mir heran, bis die einzelnen Pixel sichtbar wurden und eine weitere Vergrößerung nicht mehr sinnvoll gewesen wäre. Ich trat etwas näher und deutete auf eine Stelle am Hals. Die Sturmhaube war dort hoch gerutscht.

Eine dunkle Stelle war zu sehen.

„Könnte das nicht die Verbrennung sein, die bei Blitz alias Arvid Lennart Alexander als besonderes Kennzeichen angegeben war?“, fragte ich.

„Könnte gut sein“, meinte Roy. „Zumindest sollen sich die Leute vom Labor das mal genau unter die Lupe nehmen. Vielleicht können die diese Aufzeichnung noch irgendwie bearbeiten, so das man die Stelle am Hals noch etwas stärker vergrößern kann!“

Ich atmete tief durch.

„Ja“, murmelte ich. Purwin ließ die Aufnahme weiterlaufen und ich sah zum x-ten Mal, wie der Killer das Messer zog und seine Tat eiskalt vollendete.

„Zählen wir zwei und zwei zusammen, Uwe, ich denke, wir können davon ausgehen, dass dieser Mann wirklich mit dem Killer namens Blitz identisch ist – genauso wie auch ziemlich sicher feststehen dürfte, dass Arvid Lennart Alexander tatsächlich der Mann ist, der unter dem Namen Blitz einer der erfolgreichsten Lohnkiller aller Zeiten war.“

Was Roy sagte, klang logisch. Irgendetwas war aber noch an der Aufnahme, was mich beschäftigte. Ich konnte nicht einmal genau sagen, was es eigentlich war. Irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas sehr Wichtiges übersehen zu haben.

„Komm, wir haben genug gesehen“, meinte Roy.

„Nein, ich möchte noch einen Durchgang“, beharrte ich.

Wir sahen uns die Bilder schweigend an.

Ich hatte das Gefühl, ganz nahe dran zu sein. Aber ich kam einfach nicht darauf. 

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Später fuhren wir mit großer Mannschaft los, um Vic Noureddines Villa zu durchsuchen. Zu Lebzeiten hatten seine Anwälte verhindert, dass es dazu jemals gekommen war – und wir hätten einiges dafür gegeben! Aber jetzt konnte sich der Pate von St. Pauli dagegen nicht mehr wehren, denn die Wohnungs– oder Hausdurchsuchung bei einem Mordopfer gehört zur Routineprozedur.

Die Aktion wurde von Stefan Carnavaro, dem stellvertretenden Chef unserer Abteilung, geleitet. Es bedurfte eines Palavers, das sich über fast fünf Minuten hinzog, um die von Vic Noureddine instruierten Wachleute davon zu überzeugen, dass es besser war, das gusseiserne Tor zu öffnen. Weil sie uns damit von der Notwendigkeit befreiten, das Grundstück zu stürmen.

Mit mehreren Dienstfahrzeugen fuhren wir in die großzügig angelegte Einfahrt des Anwesens. Die im Garten patrouillierenden Wächter wurden erkennungsdienstlich behandelt.

Auf weiteres Personal trafen wir nicht.

Einer der Wächter öffnete die Haustür.

„Unsere Aufgabe war es, das Haus von außen zu sichern“, erklärte er. „Ich muss gestehen, dass ich von den Innenräumen lediglich die Eingangshalle gesehen habe!“

„Da geht es Ihnen ja wie uns“, erwiderte ich.

Wir wussten nicht, was uns im Inneren erwartete.

Natürlich erhofften wir uns weitere Hinweise auf das Ausmaß von Noureddines illegalen Müllgeschäften.

Wie wir von Kalle und Hansi zwischen Tür und Angel erfahren hatten, war die Befragung von Makarow so gut wie ergebnislos verlaufen. Wahrscheinlich würde er sich jetzt besonders vorsichtig verhalten, vielleicht sogar geplante Transaktionen erst einmal verschieben.

Wir betraten das Innere der Villa. Vom Personal schien niemand da zu sein. Einer der Wachleute hatte angedeutet, dass man den Bediensteten freigegeben hatte.

Insgesamt waren wir gut zwei Dutzend Beamte, die sich die Räumlichkeiten systematisch vornahmen. Schließlich fanden wir das Büro des Paten von St. Pauli.

„Wirkt verdammt aufgeräumt!“, stellte Kommissar Roy Müller trocken fest.

„Eine glatte Untertreibung“, gab ich zurück.

Tatsache war, dass sich so gut wie nichts mehr in dem Büro befand. Kein Papier, keine Datenträger, keine Aktenordner.

Kalle Brandenburg, der mit uns gekommen war, schüttelte fassungslos den Kopf. „Da fehlt nur noch ein Schild mit der Aufschrift Büro- und Gewerbeflächen zu vermieten!“

„Hier hat jemand aufgeräumt“, sagte ich und schaltete den Computer ein. Aber schon das Booten verlief nicht so, wie es hätte sein sollen. Der Rechner erkannte die Festplatte nicht mehr.

„Na großartig“, murmelte Roy mit einem Blick auf den Bildschirm.

Unser Kollege Hansi Morell betrat den Büroraum.

„Im Obergeschoss haben wir etwas gefunden“, berichtete er. „Es handelt sich um die Leiche einer jungen Frau...“

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Die junge Frau lag ausgestreckt auf einer Couch. Sie trug nichts weiter als ein langes T-Shirt. Ihre Augen waren starr. Es gab keinen Zweifel daran, dass sie nicht mehr lebte. Ein Heroinbesteck lag verstreut herum.

„Es sieht so aus, als hätte sie sich eine Überdosis gegeben“, stellte Hansi Morell fest.

„Wir müssen die Gerichtsmedizin und die Erkennungsdienst verständigen“,  sagte Stefan und griff bereits zum Handy.

„Das habe ich schon erledigt“, erklärte Hansi Morell.

„Wir sind dieser Frau begegnet, als wir erste Mal hier waren, um mit Vic Noureddine zu sprechen“, erklärte ich. „Er nannte sie Kimberley.“

„Bei ihren Sachen war ein Führerschein, ausgestellt auf den Namen Kimberley Stockmeier“, ergänzte Hansi. „Sie scheint hier in der Villa gelebt zu haben. Jedenfalls hat sie ihre Kleider hier untergebracht und die Utensilien im Bad werden wohl auch von ihr stammen.“

Stefan atmete tief durch. „Vielleicht ergibt die Personenabfrage etwas.“

Ich deutete auf die deutlich sichtbaren Hämatome an den Oberarmen. „Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber für mich sieht das so aus, als wäre sie festgehalten worden. Die Injektion erfolgte in den Oberschenkel und an den Fußgelenken sind ebenfalls Druckstellen.“

„Worauf willst du hinaus, Uwe? Dass sie ihren goldenen Schuss nicht freiwillig bekam.“

„Genau.“

„Wenn Vic Noureddine seine Freundin umgebracht hat, können wir ihm dafür jetzt leider nicht mehr ans Leder“, meinte Selcuk. „Der steht jetzt vor einem höheren Richter.“

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Timothy Kronewitteck war ein fast zwei Meter großer, stark übergewichtiger Mann, der annähernd drei Zentner auf die Waage brachte. Er residierte in einer Traumetage und hatte von der Fensterfront aus einen direkten Blick auf die Außen-Alster. Er stand an der Fensterfront und blickte versonnen hinaus in das nächtliche Lichtermeer der Stadt. Nervös tickte der riesige Koloss mit den Fingern gegen das Dreifachglas der Thermopenscheiben.

Kronewitteck ballte schließlich die Hände zu Fäusten und wandte sich zu den drei Gästen herum, die in den breiten Ledersesseln Platz genommen hatten. Es handelte sich um Unterführer seiner Organisation.

„Wenn unsere Konkurrenz über diesen Makarow ihre Müllladungen zu einem Spottpreis in Russland vergraben darf – einem Preis, der noch weit unter dem liegt, was man hier für die Anmietung einer entsprechenden Gewerbefläche aufbringen müsste – dann sind wir für die nächsten Jahre aus dem Rennen“, erklärte Kronewitteck.

„Wir hätten mehr auf Zack sein müssen!“, meinte einer der anwesenden Gäste. „Alles, was uns jetzt übrig bleibt, ist Schadensbegrenzung.“

„Kein Grund sich aufzuregen“, erklärte Kronewitteck. „Wir werden die Sache wieder unter Kontrolle bekommen.“

„Wie denn?“, ereiferte sich einer der Sprecher, ein grauhaariger Mann mit hohen Wangenknochen und einem sehr gepflegten Knebelbart. „Wir haben doch versucht, mit Makarow ins Geschäft zu kommen, aber...“

„Ich bin überzeugt davon, dass in dieser Sache noch nicht alles verloren ist“, unterbrach Kronewitteck sein Gegenüber.

„Nun sagen Sie schon, was haben Sie denn noch in petto, Herr Kronewitteck?“, nörgelte der Mann weiter. „Hoffen Sie etwa darauf, dass Vic Noureddine ganz plötzlich etwas zustößt und die Karten noch mal neu gemischt werden? Aber dann würde doch vermutlich Maik Noureddine die Geschäfte seines Onkels übernehmen und den Deal erben.“

„Das glaube ich nicht“, äußerte ein anderer Sprecher. Er war der jüngste im Raum, etwa dreißig Jahre alt. Er hieß Chess Vritzko und Kronewitteck hielt ihn für einen seiner besten Leute, weswegen er ihm auch den überaus raschen Aufstieg in die Führungsriege ermöglicht hatte. „Nach allem, was wir wissen, befürwortet Maik doch seit langem eine Kursänderung der Noureddine-Geschäfte. Der Müll ist ihm zu schmutzig.“

„Aber Dollars stinken nicht!“, meinte einer der anderen. Gelächter kam kurz auf. Aber Kronewittecks ernster Blick ließ es sofort wieder verstummen.

„Aber das Müll-Business ist riskanter geworden. Gerade jetzt! Was meinst du, was geschieht, wenn nächste Woche noch mal irgendwo ein paar kleine Jungs in ein Lagerhaus einsteigen und sich vergiften? Dann ist aber der Teufel los! Und im Nu dreht das Kripo Hamburg in Zusammenarbeit mit den lokalen Polizeibehörden Stein um Stein um! Darauf kann man Gift nehmen!“

„Sehr witzig!“, knurrte Kronewitteck tadelnd in Vritzkos Richtung. Die vorlaute, nassforsche Art des Dreißigjährigen gefiel ihm eigentlich, aber heute war ein Tag, an dem er einfach keine Nerven dafür hatte.

Das Telefon klingelte.

Kronewitteck nahm ab.

„Hier spricht Blitz“, wisperte eine Stimme. „Ich habe Ihren Auftrag ausgeführt, Herr Kronewitteck. Vic Noureddine ist tot. Ich erwarte die zweite Zahlungshälfte auf mein Konto in Zürich.“

„Sie...“

Der Anrufer legte auf.

Kronewitteck stand wie versteinert da. Sein Gesicht war hochrot angelaufen.

„Was ist los?“, fragte Vritzko.

„Der Wunsch einiger hier ist in Erfüllung gegangen“, verkündete Kronewitteck schließlich.

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Die Untersuchungen in der Noureddine-Villa zogen sich hin. Es wurden kleinere Mengen an Kokain, Heroin sowie ein großes Sortiment an Tabletten in Kimberleys Sachen gefunden.

Ältere Einstiche in den Armbeugen verrieten, dass sie wohl tatsächlich seit längerer Zeit fixte und die gerötete Nase mit den völlig zerstörten Schleimhäuten bezeugte den Kokainmissbrauch.

Aber letzte Sicherheit, was die Frage betraf, ob sie ermordet worden war oder sich selbst den goldenen Schuss gesetzt hatte, würden erst die Laboruntersuchungen der Gerichtsmedizin ergeben.

Was Noureddines Geschäfte anging, so fanden wir auch nach mehrstündiger Suche nicht einen einzigen Hinweis. Nicht einmal ein Telefonregister war aufzutreiben.

„Uwe, hier hat jemand so gründlich aufgeräumt, dass man nur davon ausgehen kann, dass da eine größere Zahl von Personen beteiligt war“, meinte Roy. „Der Mann war ein Geschäftsmann – wenn er auch eine Dienstleistung angeboten hat, die kriminell war! Aber ich frage mich, wie er dieses Geschäft oder wie man es nun auch nennen mag, führen kann, ohne sich wenigstens mal eine Telefonnummer aufzuschreiben oder ein funktionierendes Email-Postfach zu haben.“

„Hier muss ein Rollkommando gewütet haben“, war ich überzeugt.

Wir knöpften uns die Wachleute vor und befragten sie intensiv. Aber die stellten sich dumm, keiner von denen wollte etwas bemerkt haben. Es war ihnen einfach keine Angaben darüber zu entlocken, wer sich in den letzten Stunden im Haus aufgehalten hatte.

„Wer immer auch für diesen Aufräumakt verantwortlich war – er hat gewusst, dass Vic Noureddine sterben würde“, stellte ich fest.

Stefan war meiner Ansicht und ergänzte noch: „Vielleicht wurde diese Kimberley Stockmeier bei dieser Aktion gestört oder sie hat mehr mitbekommen, als gut für sie war.“

„Tja“, sagte ich.

„Da steckt man halt nicht drin“, meinte Roy Müller.

„Echt nicht.“

„So isses.“

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Es war schon nach Mitternacht, als wir uns von Vic Noureddines Anwesen entfernten, das nun unter der Bewachung von Kräften des Kripo Hamburg und der Schutzpolizei stand.

Aber wir mussten wohl davon ausgehen, dass Beweise, die wir dort hätten finden können, vernichtet oder beseitigt worden waren.

Kalle und Hansi nahmen den Computer in ihrem BMW aus den Beständen unserer Fahrbereitschaft mit, um ihn im Polizeipräsidium abzugeben. Sollten sich unsere Spezialisten damit befassen. Wenn man Glück hatte, ließen sich selbst bei einer zerstörten oder formatierten Festplatte noch Reste der ursprünglichen Daten rekonstruieren.

Roy und ich fuhren noch zu Maik Noureddines Residenz, um den Neffen mit der Nachricht zu konfrontieren, dass wir im Haus seines Onkels eine Tote gefunden hatten. Stefan hatte uns diese Aufgabe aufgedrückt. „Auf mich reagiert der Kerl doch inzwischen allergisch, seit ich ihn auf dem Parkdeck des Alster Palast Hotels befragt habe. Ist doch möglich, dass er auf euch etwas kooperativer eingeht!“

Ich machte eine wegwerfende Geste.

„Der Kerl ist äußerst kontrolliert und eiskalt, soweit ich ihn bisher kennen gelernt habe“, gab ich zu bedenken. „Der wird uns nichts verraten, was er uns nicht wissen lassen will!“

„Das mag sein“, gestand Stefan zu.

Roy klopfte mir auf die Schulter. „Wozu brauchen wir Schlaf, Uwe?“

„Auch wieder wahr!“

„Eben!“

„Tja.“

„Wir arbeiten einfach durch.“

„Sollen wir jetzt in Zukunft auch noch Kokain nehmen, um im Kampf gegen die Verbrecher lange genug wach zu bleiben?“

„Da gibt es sicher eines Tages eine Dienstvorschrift für, Uwe.“

„Kann schon sein.“

„Und bis dahin...“

„Ja?“

„...muss Kaffee reichen.“

„Hm.“

„... und kein Kokain.“

„Hm.“

„Oh Mann, Uwe...“

„Was?“

„Du klingst jetzt etwa so temperamentvoll wie der Darboven-Mann in der Kaffee-Werbung.“

„Bin eben ein echter Norddeutscher.“

„Jo.“

*

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Maik Noureddine bewohnte ein Luxus-Penthouse.

Die Sicherheitsvorkehrungen waren selbst für Hamburger Verhältnisse extrem streng. Rund um die Uhr patrouillierten schwarz gekleidete Sicherheitsleute und sämtliche Korridore waren Videoüberwacht.

Vor der Tür zu Maiks Wohnung standen dann noch dessen persönliche Leibwächter.

Trotz der späten Stunde empfing uns Maik Noureddine.

„Ihre Kollegen haben mich in der Tiefgarage des Alster Palast Hotels eindringlich und alles andere als höflich befragt. Wollen Sie dieselbe Tour jetzt hier in meinen eigenen vier Wänden fortsetzen?“, fragte er und wartete meine Antwort gar nicht erst ab. „Wenn Sie wollen, bekommen Sie trotzdem einen Drink, Herr Jörgensen.“

„Nein, danke, Herr Noureddine“, erwiderte ich kühl. „Wir sind im Dienst.“

Er führte uns in sein Wohnzimmer. An den Wänden hingen ein paar Gemälde, die im Stil an Graffiti erinnerten.

„Was wollen Sie?“, fragte er.

„Wir haben die Villa Ihres Onkels durchsucht.“

„Und sind jetzt enttäuscht, dass Sie nicht haufenweise Beweismaterial für angebliche finstere Geschäfte gefunden haben?“

„Wir haben gar nichts gefunden. Wann haben Sie oder Ihre Leute dort aufgeräumt, Herr Noureddine?“ Eine Hypothese schwirrte mir im Kopf herum  - und außerdem war ich zu der Erkenntnis gelangt, dass ich diesen eiskalten Taktierer vielleicht einmal aus der Reserve locken musste, um von ihm Informationen zu bekommen.

„Hören Sie mal, jetzt gehen Sie zu weit!“, knurrte er ärgerlich. „Vielleicht sollte ich jetzt meinen Anwalt anrufen.“

Ich hatte wohl einen wunden Punkt erwischt. Und das ermunterte mich dazu weiter zu bohren.

Dass ich dabei eigentlich gar nichts in der Hand hatte, war mir schon klar.

Aber was konnten wir schon verlieren?

Damit, dass dieser Gangsterboss abgesehen von Stefan Carnavaro jetzt auch noch einen zweiten Kommissar der Kripo Hamburg unsympathisch fand, konnte ich leben.

„Jedenfalls weise ich Sie ausdrücklich darauf hin, dass Sie nichts zu sagen brauchen, womit Sie sich selbst belasten“, sagte ich im Tonfall eines Ermittlers, der jede Menge Beweismaterial in der Hinterhand hat. „Aber noch sind Sie kein Beschuldigter, sondern ein Zeuge – was sich jedoch im Handumdrehen ändern kann.“

„Was werfen Sie mir vor?“

„Ich denke nur darüber nach, wem der Tod Ihres Onkels eigentlich nützt.“

„Nur zu! Fantasieren Sie ruhig weiter!“

„Ich stelle fest, dass Sie den größten Vorteil daraus ziehen, dass in der Villa ihres Onkels nicht einmal mehr auf der Computerfestplatte etwas zu finden war. Und wenn sich herausstellen sollte, dass Sie etwas damit zu tun haben und die Aktion vielleicht schon zu einem Zeitpunkt begann, als Ihr Onkel noch lebte, stellt sich doch die Frage, ob Sie vielleicht wussten, dass er nicht in sein Haus zurückkehren würde!“

„Sind Sie wahnsinnig? Sie werden sich die Videoaufzeichnung in der Tiefgarage vom Alster Palast Hotel ja wohl angesehen haben.“

„Sicher“, nickte ich.

„Dann haben Sie vielleicht auch mitbekommen, dass ich dabei beinahe draufgegangen bin. Der Killer hätte mich auch getötet, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, auf der anderen Seite der Limousine ausgestiegen zu sein, sodass ich mich zurück in den Wagen retten konnte!“ Sein Kopf war dunkelrot geworden. Der Appetit auf einen Drink schien ihm jetzt endgültig vergangen zu sein. „Sie können nichts von dem beweisen, was Sie gesagt haben, Jörgensen. So ist es doch, oder?“

„Leider ja. Aber das kann sich im Laufe der Ermittlungen noch ändern“, sagte ich.

Und Roy ergänzte: „Vielleicht kriegen wir Sie dann nicht wegen Ihrer illegalen Müllgeschäfte dran, sondern nur wegen Mordes, aber...“

„Wegen Mordes?“, echote er.

Ich versuchte abzuschätzen, ob seine Irritation echt oder nur gut gespielt war. Eigentlich kann ich mich noch auf meine Menschenkenntnis ganz gut verlassen und ich habe in solchen Dingen meistens richtig gelegen. Aber diesmal war ich mir nicht sicher. Es stand fifty-fifty.

„Sagt Ihnen der Name Kimberley Stockmeier etwas?“, fragte ich.

„Natürlich. Onkel Vic hat in den letzten anderthalb Jahren mit ihr zusammengelebt. Genau genommen war die gute Kimberley der Grund für seine dritte Scheidung. Ich habe ihn immer vor ihr gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören.“ Er schwieg einen Moment und runzelte die Stirn. „Lassen Sie mich raten: Kimberley hat sich eine Überdosis von irgendetwas gegeben, das eigentlich gute Laune machen soll!“

„So sollte es aussehen“, schränkte ich ein. „Aber sie scheint sich den goldenen Schuss nicht freiwillig gesetzt zu haben.“

„Ach, waren Sie dabei?“

„Sie hatte blaue Flecken, die darauf hindeuteten, dass sie festgehalten wurde.“

Er seufzte hörbar. „Sie kannten Kimberley nicht. Sonst würden Sie nicht so einen Unsinn reden, Jörgensen.“

„Dann erzählen Sie mir etwas über sie.“

„Wir alle haben uns gewundert, dass so etwas nicht schon viel früher passiert ist. Onkel Vic hat sich in sie verliebt, aber ich glaube, sie hat nie etwas anderes in ihm gesehen, als jemanden, der Geld wie Heu hatte und in der Lage war, ihren Drogenkonsum zu finanzieren. Das konnte nicht gut enden.“

„Ich glaube, dass sie Ihren Handlangern in die Quere kam, Herr Noureddine. Den Männern, die damit begonnen haben, die Villa von jedem verdächtigen Staubkorn zu säubern, das man dort finden konnte, gleich nachdem Sie zusammen mit Ihrem Onkel das Grundstück verlassen hatten, um Makarow aufzusuchen! Vielleicht wusste sie auch einfach zuviel.“

„Ich glaube, Sie verlassen jetzt besser meine Wohnung“, sagte Maik Noureddine. „Dieses Gespräch ist jedenfalls beendet – es sei denn, Sie haben genug Beweise, um einen Richter dazu zu bewegen, einen Haftbefehl auszustellen!“

Ich lächelte dünn.

„Für jemanden, der vollkommen unschuldig ist, reagieren Sie ziemlich gereizt auf ein paar logische Überlegungen, die sich doch einfach aufdrängen!“

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Bist du eigentlich wahnsinnig, Uwe?“, fragte mich Roy aufgebracht, als wir wieder in meinem Sportwagen saßen und Richtung Norden fuhren.

„Ich bin überzeugt, dass ich Recht habe“, erwiderte ich.

Diesmal machten wir einem kleinen Umweg  Der Grund dafür war, dass eine Brücke in diesen Nachtstunden für kurze Zeit auf Grund von Brückenbauarbeiten gesperrt war, wie wir zuvor in den lokalen Radionachrichten gehört hatten.

„Ich bin mir sicher, dass ich in Bezug auf Maik Noureddine Recht habe. Er hat seinen Onkel umgebracht, um selbst die Geschäfte an sich zu reißen und den Alten endlich zu verdrängen. Das passt doch perfekt zusammen! Maik Noureddine hat Blitz engagiert, ihm gesagt wann und wo er den ach so ängstlichen Vic Noureddine, der sich kaum noch aus seiner Festung mit Elbblick herausgetraut hat, treffen kann. Maik selbst hatte das perfekte Alibi, denn er kann jetzt jederzeit nachweisen, dass er selbst in Gefahr war. Zumindest sah es auf der Videosequenz so aus. In Wahrheit dürfe die Sache abgekartet gewesen sein. Und während noch Vic Noureddine von diesem Killer nach Art der Elite-Soldaten der Kommando-Spezialkräfte aufgeschlitzt wurde, war das Räumkommando bereits in der Villa. Vermutlich waren es die Wächter. Maik ist der zweite Mann in der Organisation, er kümmert sich um das Grobe und wahrscheinlich hat er diese Männer ausgesucht.“

„Das ist 'ne hübsche Theorie, Uwe. Vollkommen logisch und so weiter.“

„Aber dir gefällt sie nicht!“

„Nö.“

„Wieso?“

„Schiet-Theorie, Uwe.“

„Hast du auch 'ne Begründung?“

„Wieso ich? Wer die Theorie hat, muss begründen.“

„Naja.“

„Also, dann helfe ich dir mal auf die Sprünge, Kollege.“

„Bin gespannt.“

„Es gibt keinen Beweis, Uwe. Die Wächter haben wir verhört. Die werden so einsilbig bleiben wie bisher. Und wenn ihnen mit dieser Kimberley etwas passiert ist, was nicht beabsichtigt war, wird es sie noch mehr dazu veranlassen, dicht zu halten.“

„Ich glaube, es war beabsichtigt, Roy.“

„Und was bringt dich dazu, das anzunehmen?“

„Reine Logik.“

„Ach, komm, schon Uwe. Jetzt übertreib mal nicht.“

„Diese Kimberly hatte wahrscheinlich einfach zu viel über die Geschäftskontakte von Vic Noureddine mitbekommen. Sie dürfte Maik einfach zu unzuverlässig gewesen sein. Deswegen hat er sie umbringen lassen.“

„Uwe! Nichts davon wirst du Maik Noureddine nachweisen können.“

„Ja, ich weiß“, murmelte ich. „Wenn sich nicht noch irgendetwas ergibt wird er mit allem durchkommen. Er wird die Geschäfte seines Onkels übernehmen, erneut Leute wie Talani engagieren, um irgendwelche Fabrikhallen oder Lagerhäuser anzumieten und mit hochgiftigen Abfällen füllen, bis zur Selbstentzündung oder spielende Kinder darauf stoßen. Oder er lässt es über Leute wie Makarow nach Russland bringen.“

Manchmal konnte es schon frustrierend sein, wenn ein Gangster uns eine lange Nase machte.

Und genau dieses Gefühl hatte ich bei Maik Noureddine.

In Gedanken ging ich den Fall immer wieder durch. Die Straßen waren um diese Zeit frei, so brauchte ich mich nicht zu sehr auf den Verkehr zu konzentrieren.

Ich dachte noch mal über das einfach nicht mehr fassbare Detail nach, von dem ich glaubte, ich hätte es in der Videoaufnahme von Vic Noureddines Ermordung erkennen können.

Ja, erkennen müssen!

Aber ich kam auch jetzt nicht drauf. Da war nur diese nagende Gewissheit, etwas übersehen zu haben.

Ein paar andere Dinge an dem Fall verwirrten mich nach wie vor.

Weshalb dieses demonstrative Aufschlitzen von Vic Noureddines Kehle? Der Täter hatte erst danach die Kamera zerschossen. Und falls es sich - wofür immer mehr Anzeichen zu sprechen schienen – bei dem Killer tatsächlich um den berüchtigten Blitz alias Arvid Lennart Alexander handelte, dann hielt ich einen Zufall für ausgeschlossen.

Dieser Lohnkiller wusste genau, was er tat.

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In dieser Nacht hielten wir an keiner Snack Bar mehr. Der Appetit war uns beiden gründlich vergangen. Ich ließ Roy bei ihm an der Ecke raus. Bis zu seiner Wohnung waren es für ihn noch ein paar Schritte.

Ein paar Minuten später war auch ich zu Hause.

Der Nachtwächter, der im Eingangsbereich des Mietshauses für Ruhe und Ordnung sorgte, grüßte mich. Im Gegensatz zu mir war er erfrischt und ausgeschlafen, denn seine Schicht hatte gerade erst begonnen.

Er hatte einen kleinen Fernseher in der Kabine aus Panzerglas, in der er seinen Platz hatte. Der Kanal, den er eingeschaltet hatte, trug die Bezeichnung „Latter Days Television – der Kanal zu Gott“. Den kannte ich auch. Der Hauptteil des Programms bestand aus Live-Übertragungen von Gottesdiensten, deren Charakter zumeist durch die Auftritte charismatischer Prediger geprägt wurde und in deren Verlauf sich dann zumeist allerlei Wunder ereigneten.

Der andere Teil des Programms bestand aus Wiederholungen dieser Aufzeichnungen, sodass man vom Latter Days Television in einem Dutzend Sprachen rund um die Uhr spirituell bedient wurde. Alle Programme mit deutschen Untertiteln.

Es gab sogar Sendungen auf Plattdeutsch, wie ich später erfuhr.

Ein Prediger redete geradezu ekstatisch ergriffen von der Güte Gottes, während im Hintergrund ein Gospelchor summte. Für einen kurzen Moment blieb mein Blick an dem Bildschirm haften. Die Kamera schwenkte herum und zeigte einen Mann in ziemlich abgerissener Kleidung, der mit geschlossenen Augen wie entrückt da saß.

Was mich von einem Augenblick zum nächsten wieder völlig wach machte, war die Narbe in seinem Gesicht!

Es sah tatsächlich genau so aus, wie Marvin-Julian Pellemeier es mir geschildert hatte!

Der Mann hatte ein Loch im Bart!

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Wir machen noch einen kleinen Abstecher zur Martin Luther Kirche, ehe wir zum Polizeipräsidium fahren“, sagte ich zu Roy, nachdem er am anderen Morgen zu mir in den Sportwagen gestiegen war.

Roy blickte auf die Uhr.

„Dann kommen wir zu spät“, wandte er ein.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, das geht schon. Die Martin Luther Kirche liegt fast auf unserem Weg.“

Ich berichtete Roy in knappen Worten, was ich gesehen hatte.

„Du glaubst, das war der Obdachlose, den die Jungs in der Brasewinkel Straße gesehen haben wollen“, schloss Roy.

Ich nickte.

„Ich bin mir sogar sicher. Die Beschreibung von Marvin-Julian Pellemeier war einfach zu treffend! Das wirst du auch feststellen, wenn du ihm gegenüberstehst.“

Ein Blick per Handy in das Online TV-Programm hatte genügt, um herauszufinden, aus welcher Kirche dieser Gottesdienst übertragen worden war. Natürlich war die nächtliche Sendung, die ich gesehen hatte, nur eine Wiederholung gewesen, von der ich auch nicht wusste, wann sie tatsächlich aufgenommen worden war. Aber das machte nichts. Möglicherweise kannte den Mann mit dem Loch im Bart jemand aus dieser Gemeinde. Vielleicht kam er öfter dort hin, weil es eine Tafel oder eine Kleiderkammer mit gutem Angebot gab. 

Wir würden sehen.

Ich parkte den Sportwagen in der Nähe der Kirche. Wir stiegen aus und stellten später fest, dass das Kirchengebäude offen war. Wir traten ein. Eine Gruppe von Männern und Frauen war mit Reinigungsarbeiten beschäftigt.

Darunter auch der Mann mit dem "Loch im Bart"

Er blickte misstrauisch auf, als er uns bemerkte.

Ich zeigte ihm meinen Ausweis.

„Kommissar Uwe Jörgensen, Kripo Hamburg", stellte ich mich vor. „Ich muss mit Ihnen sprechen."

Jeder Muskel und jede Sehne dieses Mannes waren sofort angespannt. Mein Ausweis schien eine Art Fluchtreflex ausgelöst zu haben. 

„Keine Angst", versuchte ich ihn zu beschwichtigen. „Es wird Ihnen nichts vorgeworfen, aber es könnte sein, dass Sie für uns ein sehr wichtiger Zeuge sind.“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen“, sagte der Mann.

„Sind Sie Hermann Martinson?“

„Ja. Leider kann ich Ihnen derzeit keine feste Adresse angeben. Im Augenblick verdiene ich mir hier ein paar Euro. Der Pastor hat mir eine Chance gegeben und vielleicht bekomme ich durch diesen Job wieder festen Boden unter die Füße.“

„Ich habe Sie in einer Gottesdienstübertragung im Latter Days Television gesehen...“

„Häh?“

„LDT - Der Kanal zu Gott! Kennen Sie doch...“

„Der Glaube gibt mir Halt“, sagte Hermann Martinson. „Und den brauche ich auch, um den Alkoholentzug durchzuhalten. Denn wenn ich das nicht schaffe, ist auch der Job im Handumdrehen wieder weg.“ Er seufzte. „Für mich hat etwas Neues begonnen. Ein neues Kapitel in meinem Leben. Ich weiß, dass es in meiner Vergangenheit ein paar dunkle Flecke gibt, die...“

„Nein, es geht nicht um Ihre Vergangenheit. Es geht überhaupt nicht um Sie!“, versicherte ich ihm. „Es geht um einen Gangsterboss, der Häuser und Gewerbegrundstücke über Strohmänner anmieten lässt, sie dann mit Giftmüll anfüllt und den Strohmann schließlich untertauchen lässt. Dafür kassiert er Millionen, weil das für die Firmen immer noch billiger ist, als die Gifte teuer zu entsorgen. Irgendwann findet dann jemand diese üblen Hinterlassenschaften – wenn sie sich nicht vorher selbst entzünden. In diesem Fall waren es ein paar Kinder, von denen zwei fast gestorben wären.“

„So ein Schwein!“, stieß Hermann Martinson spontan hervor.

„Sie waren vor einiger Zeit auf einem Grundstück mit einem verlassenen Lagerhaus. Das war in der  Brasewinkel Straße... Die Kinder, von denen ich sprach, haben Sie genau beschrieben. Der Mann mit dem Loch im Bart.“

„Ja, das trifft zu“, gestand Martinson ein. „Ich war dort. Und ich werde das auch so schnell nicht vergessen. Ich hatte gedacht, dort für einige Zeit unterkriechen zu können. Es wurde immer kälter, aus der U-Bahn vertrieben die Wachdienste Leute wie mich und so war ich froh, ein Dach über dem Kopf gefunden zu haben. Ich blieb allerdings nur ein paar Nächte.“

„Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als das Haus noch nicht bis unters Dach mit Giftmüll gefüllt war.“

Martinson nickte. „Ja, das mag sein. Da standen jedenfalls eine Menge Fässer herum und auch so Plastikzeug. Irgendwie roch das komisch und ich bekam Kopfschmerzen. Deswegen bin ich weiter gezogen. Das hat ein paar Wochen gedauert, bis die Kopfschmerzen wieder weg waren. Außerdem sind mir für eine Weile die Haare ausgegangen. Hat sich glücklicherweise alles wieder normalisiert.“

„Haben Sie irgendwann einmal mitbekommen, dass jemand das Grundstück besucht hat?“

„Ich habe die Kinder gesehen. Ja, und dann kam einmal ein Lastwagen, von dem ein paar Behälter abgeladen wurden. Ich kann nicht sagen, was drin war.“

„Erinnern Sie sich an irgendwelche Details! Es kann alles wichtig sein!“, forderte ich ihn auf.

Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Der Wagen hatte vorne einen Stern wie bei Mercedes-Benz.“

„Dann könnte es der Atego gewesen sein, den auch Marvin-Julian Pellemeier gesehen hat!“, warf Roy ein.

„Sonst noch etwas? Vielleicht war der Name der Spedition irgendwo aufgedruckt!“, sagte ich.

Martinson schüttelte den Kopf. „Nein, nichts dergleichen. Aber ich habe mir einen Teil der Autonummer merken können. Das mache ich immer so. Ich bin einmal von einem Wagen angefahren worden und der Kerl ist einfach abgehauen und hat mich liegenlassen. Deswegen versuche ich mir jetzt immer die Nummern von Fahrzeugen in meiner Nähe zu merken. Außerdem ist es eine Art Sport. Schließlich hatte ich früher nichts anderes zu tun. Ich habe dann immer darauf gewartet, diese Fahrzeuge irgendwo wieder zu treffen, was auch ab und zu geschehen ist.“

„Wie lautet die Nummer?“, fragte ich.

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Wir kamen tatsächlich etwas zu spät an der Präsidium an. Die Besprechung im Büro von Kriminaldirektor Hoch, an der wir eigentlich von Anfang an hätten teilnehmen müssen, war längst im Gange. Aber wie es schien, hatten wir noch nicht viel verpasst. Unser Chef hielt die Ausgabe einer Morgenzeitung hoch, sodass der reißerische Aufmacher zu sehen war.

HAMBURG ZITTERT VOR KILLER-BLITZ war da in bluttriefenden Riesenlettern zu lesen.

„Es möge bitte jeder von Ihnen in sich gehen, ob er vielleicht ein paar unvorsichtige Äußerungen gegenüber irgendwelchen Vertretern der Medien gemacht hat“, ermahnte uns Kriminaldirektor Hoch, der das Auftauchen von Roy und mir lediglich mit einem knappen Nicken quittierte. „Genau das hier“, fuhr er fort und deutete auf die Schlagzeilen, „können wir im Moment am wenigsten gebrauchen. Und dieses Medientheater wird uns garantiert nicht helfen, diesen Blitz endlich dorthin zu bekommen, wo er schon seit vielen Jahren hingehört. In die JVA Branebüttel nämlich!“

Kriminaldirektor Hoch legte die Zeitung zur Seite, setzte sich und nahm erst einmal einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.

Im folgende wurden wir vom Erkennungsdienst-Kollegen Roger Benda sowie unseren eigenen Erkennungsdienstlern, Ballistikern und anderen Spezialisten über die bereits vorliegenden Laborergebnisse unterrichtet. So erfuhren wir, dass der Bewegungsablauf, mit dem der Killer den am Boden liegenden Vic Noureddine getötet hatte, tatsächlich der bei den Kommando Spezialkräften eingeübten Nahkampftechnik entsprach, bei der es darum ging, im Rahmen eines Kommandoeinsatzes Gegner lautlos zu töten und mit der Klinge des Kampfmessers sich nicht in dichten Geweben von Splitter-Westen und ähnlichem zu verhaken, was insbesondere bei Westen, die am Hals hoch emporragten leicht passieren konnte.

Die Analyse, ob es sich bei der auf dem Video sichtbaren dunklen Stelle am Hals des Killers tatsächlich um die Brandnarbe handelte, die Arvid Lennart Alexander davongetragen hatte, war noch nicht abgeschlossen. Das Problem dabei war, dass diese Stelle nur für wenige Sekunden sichtbar gewesen war. Immerhin war festgestellt worden, dass die Position dieser Stelle exakt mit Flashs Narbe übereinstimmte.

Nach Ansicht von Roger Benda war der Killer schon so gut wie überführt. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen gleicher Größe und Statur an der exakt gleichen Stelle eine Nabe mit höchstwahrscheinlich identischen Umrissen hatte, ging gegen null.

Kriminaldirektor Hoch befürchtete nun, dass Blitz sich so schnell es ging wieder zurückzog und wahrscheinlich schon im Ausland war, wo er in irgendeinem x-beliebigen Land, das mit Deutschland kein Auslieferungsabkommen abgeschlossen hatte, geduldig darauf warten konnte, über irgendein russisches oder südamerikanisches Email-Postfach seinen nächsten Mordauftrag zugewiesen zu bekommen.

Noch etwas wurde festgestellt.

De Fußabdruck, den man nach der Ermordung von Mahmut Talani im Coffee Shop ‚Luigi’s Lounge’ gefunden hatte, stimmte mit einem Abdruck überein, der im Parkdeck des Alster Palast Hotels sichergestellt worden war.

Wie unser Erkennungsdienstler Pascal Steinberger eingehend anhand von charakteristischen Unregelmäßigkeiten und Abriebspuren der Gummisohle und ihres Profils darlegte, handelte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um denselben Schuh.

„Das bedeutet, dass Blitz der ominöse dritte Mann ist, der an dem Anschlag auf den Strohmann Mahmut Talani beteiligt war!“

„Ist aus einer der früheren, Blitz zugeschriebenen Morde denn bekannt, dass er jemals im Team gearbeitet hat?“, fragte ich etwas skeptisch.

„Zumindest können wir das schon deshalb nicht ausschließen, weil wir wahrscheinlich über einen Bruchteil der von ihm begangenen Morde überhaupt informiert sind“, erwiderte Kriminaldirektor Hoch. „Wir wissen zwar nach wie vor nichts über den gegenwärtigen Aufenthaltsort des Killers – aber wir erhielten einen Hinweis auf den Auftraggeber. Von Anfang stand ja der Verdacht im Raum, dass Noureddines Konkurrent Timothy Kronewitteck dahinter steckt und seitdem lassen wir dessen Telefon überwachen. Kronewitteck erhielt einen Anruf von Blitz, in dem dieser die Erfüllung seines Auftrags meldet und die Zahlung der zweiten Rate seines Honorars anmahnt. Das reicht für einen Haftbefehl und eine Anklage wegen Verabredung zum Mord.“

Im Anschluss wurde uns der Mitschnitt vorgeführt.

„Und was, wenn das nur ein inszenierter Anruf war?“, fragte ich.

„Wer sollte so etwas tun?“, fragte Kriminaldirektor Hoch.

„Jemand, der den Verdacht auf Timothy Kronewitteck lenken will und damit auch noch einen Konkurrenten im Müll-Business aus dem Feld schlägt: Maik Noureddine!“

Es passte wirklich alles hervorragend zusammen.

Kriminaldirektor Hoch gegenüber fasste ich meine Hypothese, nach der Maik Noureddine hinter der Ermordung seines Onkels, stand noch einmal zusammen. „Wenn man die Frage nach dem Nutzen konsequent verfolgt, kommt man immer wieder auf den Namen Maik Noureddine. Wenn Kronewitteck verhaftet und womöglich sogar verurteilt wird, hat er sein Ziel erreicht und kommt auch noch ungeschoren davon!“

Kriminaldirektor Hoch hörte sich meine Überlegungen geduldig an.

Hin und wieder nickte er zustimmend.

Aber schließlich kam er auf den Haken bei der Sache zu sprechen. Einen Haken, auf den mich auch schon Roy hingewiesen hatte.

„Es gibt keinen sachlichen Beweis dafür, dass Maik Noureddine es war, der diesen Blitz engagiert hat. Ja, schlimmer noch! Wir haben noch nicht einmal einen Nachweis dafür, dass die Noureddines etwas mit dem Haus an der Brasewinkel Straße zu tun hatten! Tut mir leid, Uwe, es ist nun mal so.“

„Ja, Chef“, sagte ich wenig erfreut.

Anschließend berichtete ich noch von der Spur, auf die uns Martinson, der Mann mit dem Loch im Bart, gebracht hatte.

Kriminaldirektor Hoch zuckte die Schultern. „Vielleicht ist das ein neuer Ansatzpunkt, um endlich an die Noureddines heranzukommen, Uwe“, gestand er zu. „Aber wohl eher, um sie wegen illegaler Müllgeschäfte dranzukriegen, nicht wegen Anstiftung zum Mord.“

„Leider, Chef“, sagte ich.

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Ein Mann saß in einem Straßencafé und genoss seinen doppelten Espresso. Eine dunkle Brille verdeckte den Großteil seines Gesichts.

Der Mann las in der Zeitung den Artikel über den Killer namens Blitz, der angeblich wieder aktiv geworden war.

Auf der Stirn des Mannes bildete sich dabei eine tiefe Furche.

Er öffnete den ersten Hemdknopf und kratzte sich am Halsansatz. Die alte Verbrennungsnarbe juckte ab und zu immer noch, vor allem, wenn Hochdruckgebiete im Anzug waren.

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Nachdem Kriminaldirektor Hoch die Frage, ob man Timothy Kronewitteck zunächst weiter beobachten oder ihn sofort verhaften sollte, mit der Staatsanwaltschaft geklärt hatte, rückten wir mit großem Aufgebot aus, um Kronewitteck in Gewahrsam zu nehmen. Oberstaatsanwalt Alois J. Mahlheim war persönlich anwesend. Er hatte auf die Verhaftung gedrängt und angesichts der Beweislage, die durch das aufgezeichnete Telefonat entstanden war, hatte Kriminaldirektor Hoch kaum Argumente parat, die ein anderes Vorgehen hätte rechtfertigen können.

Mir war nicht wohl bei der Sache.

Nicht, dass ich Timothy Kronewitteck nicht einen möglichst langen Aufenthalt in der JVA Branebüttel gegönnt hätte. Den hatte er genauso verdient wie Maik Noureddine. Schließlich betrieb er dasselbe, miese Business, das immer wieder unschuldige Opfer kostete – etwa wenn illegal abgeladene Giftmülldepots Teile ihres Inhalts an das Grundwasser abgaben und Menschen womöglich über Jahre hinweg kontaminiert wurden, ohne es je zu ahnen.

Was mich störte, war der Gedanke, dass wir Maik Noureddine damit auf den Leim gegangen waren und genau sein Spiel mitspielten.

„Nimm’s nicht so tragisch, Uwe“, raunte mir Roy zu, als wir Kronewittecks Adresse erreichten. „Immerhin bekommen wir so auch eine Durchsuchung bei Kronewitteck. Und das erspart uns mit Sicherheit eine Menge Arbeit.“

Kronewittecks Leibwächter empfingen uns vor dem Zugang zu seinem Penthouse mit der MPi im Anschlag.

Aber sie waren vernünftig genug, sich unserer Übermacht sofort zu ergeben. Keiner von ihnen wollte unnötig sein Leben aufs Spiel setzen.

Kronewitteck war völlig überrascht.

Stefan las ihm seine Rechte vor und wies ihn insbesondere darauf hin, dass von nun an alles, was er äußerte, vor Gericht gegen ihn verwendet werden konnte.“

„Ich sage keinen Ton“, knurrte Kronewitteck. „Jedenfalls nicht, solange mein Anwalt nicht hier ist.“

Unser Kollege Salman reichte ihm das Telefon. „Beordern Sie ihn am besten gleich zum Polizeipräsidium!“, meinte er.

Im Gegensatz zur Durchsuchung von Maik Noureddines Villa, die ja ein kompletter Schlag ins Wasser gewesen war, fanden sich in Kronewittecks Residenz jede Menge Beweismittel. Computer wurden beschlagnahmt und außerdem fand sich ein Adressverzeichnis, das sich als eine Art Gesamtverzeichnis von Kronewittecks Organisation erwies.

In den nächsten Tagen begann das juristische Tauziehen.

Aber ich hatte nach wie vor das Gefühl, dass der größte Schurke noch immer frei herumlief.

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Wir bekamen anhand von den Angaben, die Martinson über das Nummernschild des Lastwagens gemacht hatte, ziemlich schnell die Spedition heraus, die damals offenbar in mehr oder minder regelmäßigen Abständen Giftmüll in das von Marvin-Julian Pellemeier und seinen Freunden so genannten Geisterhaus gebracht hatten. Auch wenn die Erinnerung des Obdachlosen in Bezug auf das Nummernschild nur bruchstückhaft war, so ließ sich das Fahrzeug doch anhand der Angaben zum Typ und zur Frachtart schnell bestimmen.

Die Spedition Janssen & Partner GmbH aus Lübeck hatte bereits auf der Liste jener Unternehmen gestanden, die einen Atego in ihrer Transportflotte hatten und außerdem den Transport giftiger Substanzen in ihrem Serviceangebot hatten.

Wir erbaten Amtshilfe von unseren Kollegen von der Kripo Lübeck.

Janssen & Partner wurde in einer groß angelegten Razzia unter die Lupe genommen. Die Geschäftsführer wurden verhaftet. Roy Müller und ich fuhren zusammen mit unserem Vernehmungsspezialisten Dirk Hecker hinüber nach Lübeck, um an den Befragungen teilzunehmen. Schließlich erhofften wir uns Hinweise auf weitere Komponenten aus der Noureddine-Organisation.

Aber die Verhafteten schwiegen eisern.

Die Durchsuchung der Geschäftsräume ergab ein fast komplettes Kundenverzeichnis. Die betroffenen Firmen behaupteten natürlich allesamt, nichts davon gewusst zu haben, dass der von ihnen zur Entsorgung weggegebene Giftmüll einfach nur irgendwo abgelegt wurde.

Eine Verbindung zwischen Mahmut Talani und der Spedition Janssen & Partner konnte nachgewiesen werden. Aber es gab auch hier keine Spur, die zu Maik Noureddine oder seinem verstorbenen Onkel führte.

Dazu war die Vorgehensweise des Paten von St. Pauli und seines Stellvertreters und Nachfolgers einfach zu gerissen gewesen.

An Maik Noureddine kamen wir einfach nicht heran.

Immer wieder sah ich mir in den folgenden Tagen das vorhandene Video-Material an, das den Killer zeigte, der wohl mit dem geheimnisvollen Blitz identisch war. Die Aufnahme, die Vic Noureddines Tod zeigte, nahm ich mir ebenso vor wie die Bilder von dem Kerl, der unseren Informanten Käding in die Luft gejagt hatte, kurz nachdem wir mit ihm sprachen. Ich hatte noch immer das Gefühl, etwas Entscheidendes übersehen zu haben.

Schließlich fand ich es.

Ich zoomte in beiden Videosequenzen jeweils ein ganz bestimmtes Standbild auf maximale Größe.

Das Futteral, aus dem der Killer von Vic Noureddine sein Messer geholt hatte, wies ein ganz charakteristisches Muster auf. Eine deutlich sichtbare Kratzspur zog sich über das Leder.

Bei dem Kerl, der Käding auf dem Gewissen hatte, ragte für kurze Zeit etwas Dunkles unter der Jacke hervor. In Zusammenarbeit mit Max Vandersteen aus unserer Fahndungsabteilung bekam ich schließlich heraus, dass es sich um ein Messerfutteral mit einer identischen Kratzlinie handelte.

„Das bedeutet, dass wir auch den Tod von Käding auf das Konto von Blitz alias Arvid Lennart Alexander buchen können“, kommentierte Roy dieses Ergebnis.

„An der ganzen Sache ist etwas faul“, meinte ich. „Gerade die Aufnahme im Parkdeck des Alster Palast Hotels sieht so aus, als wolle da jemand um jeden Preis demonstrieren: Seht her, hier ist Blitz.“

„Jetzt komm nicht wieder damit, dass alles eine Inszenierung von Maik Noureddine sein soll, der vielleicht auch noch einen Mann als Killer engagiert hat, der gar nicht Blitz ist!“

„Warum nicht, Roy? Würde das nicht hervorragend den Verdacht ablenken?“

„Und wenn es doch irgendeine alte Rechnung ist, die dieser Blitz mit Vic Noureddine offen hatte und die Grund für diese extrem demütigende Art und Weise war, mit der die Tat ausgeführt wurde?“

„Roy, wir haben nichts gefunden, was dafür spräche!“

„Wir haben aber auch nichts gefunden, was für deine These spräche, Uwe!“

„Immerhin haben wir einige Merkmale, die dafür sprechen, dass Arvid Lennart Alexander auf diesen Aufnahmen zu sehen ist“, gab Max Vandersteen seiner Überzeugung Ausdruck.

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Maik Noureddine nahm den Telefonhörer ans Ohr.

„Ja?“, fragte er und lehnte sich dabei in seinem großen, klobigen Ledersessel zurück.

„Hie spricht Justin Dahlmisch.“

„Es muss sich um einen Irrtum handeln. Rufen Sie mich auf dieser Leitung bitte nicht wieder an!“, versetzte Maik Noureddine. Er wollte schon auflegen. Aber Dahlmischs Worte hielten ihn davon ab.

„Wenn Sie auflegen, werde Sie es bereuen, Herr Noureddine. Und tun Sie nicht so, als würden Sie mich nicht kennen! Justin Dahlmisch, Besitzer des Coffee Shops Luigi’s Lounge an der Ecke. Früher hatte ich mal einen ähnlichen Laden in St. Pauli. Sie und Ihr Onkel sind dort des Öfteren meine Gäste gewesen. Sie kennen mich! Und ich kenne nicht nur Sie, sondern auch die Leute aus Ihrem Gefolge.“

„Kommen Sie zur Sache, Dahlmisch!“, forderte Maik Noureddine.

„Sie wissen doch – ich war dabei, als Mahmut Talani erschossen wurde. Ich habe Ihnen doch den entscheidenden Tipp gegeben, Herr Noureddine! Ich will mich ja nicht darüber beklagen, dass Sie mich zu schlecht bezahlt hätten, aber...“

Maik Noureddines Gesicht wurde dunkelrot. Er ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Es lief auf eine Erpressung heraus, so schien es.

„Sie wollen mehr, Dahlmisch?“

„Ja.“

„Wofür? Sie könnten den Bogen überspannen!“

„So? Tut mir leid, aber alles wird teurer, Herr Noureddine. Ich habe Ihnen bisher übrigens noch nicht gesagt, dass ich den dritten Mann damals erkannt habe.“

„Sie bluffen!“

„Er war maskiert, das gebe ich zu. Aber er hätte vielleicht besser auf sein Kampfmesser achten sollen. Das Futteral hat eine ganz bestimmte Kratzspur, die wie eine Signatur aussieht.“

„Was verlangen Sie?“

„Fünfzigtausend in bar. Fürs Erste. Kein Schwarzgeld, nur kleine Scheine.“

„Ich schicke jemanden, der es Ihnen bringt.“

„Kommen Sie selbst, Herr Noureddine. Darauf bestehe ich. Und wenn Sie einen Ihrer Gorillas mitbringen, platzt der Deal und ich gehe zur Kripo Hamburg!“

„Okay, ganz wie Sie wollen“, murmelte Maik Noureddine.

Am anderen Ende der Leitung machte es klick. Die Verbindung war unterbrochen.

„Verdammter Mist“, knurrte er. Er erhob sich aus seinem Sessel und wandte sich an die zweite Person im Raum, einem Mann von Anfang vierzig, gut durchtrainiert und mit Baseball Cap auf dem Kopf. Er spielte mit seinem Kampfmesser herum und reinigte sich damit die Fingernägel. Maik Noureddine fand das Ekel erregend, aber der Kerl war nun mal der beste Lohnkiller, den er für Geld hatte auftreiben können.

„Blitz muss noch einmal aktiv werden“, sagte der neue Chef des Noureddine-Syndikats.

„Muss das sein?“

„Es steht für mich viel auf dem Spiel.“

„Ich hoffe, das wird sich in Ihrem Honorar bemerkbar machen.“

„Sie können alles Mögliche über mich behaupten – aber nicht, dass ich in der Vergangenheit jemals knauserig gewesen wäre!“

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Noureddines Limousine hielt vor Luigi’s Lounge.

„Ich werde als erster hineingehen“, kündigte Maik Noureddine an, der ganz erbärmlich schwitzte. Das hatte einerseits mit der warmen Witterung und andererseits damit zu tun, dass er unter seiner Kleidung noch eine Kevlar-Weste trug. 

„Ich würde das Risiko nicht eingehen“, sagte der Lohnkiller.

„Das war Dahlmischs Bedingung. Der Mann ist nicht gefährlich, nur geldgierig.“ Noureddine tickte gegen den Diplomatenkoffer, der sich auf seinem Schoß befand. „Warum sollte er mir etwas tun? Ich bin schließlich die Kuh, die er noch melken will...“

„Wenn Sie es sagen, Herr Noureddine...“

„Erledigen Sie die Sache diskret, sobald ich draußen bin.“

„In Ordnung.“ Der Lohnkiller grinste. Er holte eine Waffe hervor und schraubte einen Schalldämpfer auf. Unter der Lederjacke, die er trug, ragte außerdem das Futteral eines Kampfmessers hervor.

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Noureddine stieg aus.

Er trat auf den Eingang von Luigis Lounge zu. Heute geschlossen stand dort. Aber die Tür war nicht abgeschlossen. Maik Noureddine betrat den Coffee Shop.

Niemand befand sich im Schankraum.

„Kommen Sie hier her!“, sagte Dahlmisch. Maik Noureddine war sich sicher, dass es seine Stimme war. Sie vibrierte leicht. Jetzt fiel Noureddine auf, dass er dieses Vibrieren bereits während des Telefongesprächs bemerkt hatte. Er umrundete den Tresen und ging durch den offenen Eingang zum Küchentrakt.

Dort fand er Dahlmisch.

Er war an einen Stuhl gefesselt. Sein Gesicht war aufgequollen. Offenbar war er mit Schlägen traktiert worden. Hinter ihm stand ein Mann mit einer Sturmhaube, die nur die Augen freiließ. Er hielt eine Waffe mit Schalldämpfer in der Rechten.

„Sie sind also gekommen, um zu bezahlen“, stellte der Maskierte fest, der Dahlmisch offenbar zu dem Telefonat gezwungen hatte. „Legen Sie den Geldkoffer auf den Boden und heben Sie die Hände.“

Maik Noureddine gehorchte. Seine Hände zitterten dabei. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit dieser Variante.

„Wer sind Sie?“, fragte er.

Der Maskierte öffnete den ersten Knopf seines Hemdes und zog den Kragen ein wenig zur Seite.

„Nennen Sie mich Blitz“, sagte er. „Ihr Onkel hat mich auch so genannt, als ich für ihn eine lästige Freundin entsorgt habe. Aber das war vor Ihrer Zeit, Maik.

„Mein Gott“, flüsterte Noureddine.

„Wie man so hört hat sich Vics Vorliebe für drogensüchtige, hilfebedürftige junge Frauen gehalten.“

Blitz deutete auf die Narbe.

„Man braucht sich nur die Steckbriefe auf der offiziellen Website der Kripo Hamburg ansehen, um solche Einzelheiten zu erfahren. Alte Fotos von mir tauchen jetzt wieder in den Medien auf. Es ist zum Verrücktwerden.“

Die Bandnarbe war deutlich zu erkennen.

Der Maskierte richtete für einen Moment die Waffe auf Dahlmischs Kopf und drückte ab. Die Kugel ließ das Gesicht nach vorn sacken.

„Den Kerl brauche ich nicht mehr. Aber ich muss zugeben, dass er für die Rolle des Erpressers Talent hatte. Offenbar hat er viel geübt.“

„Was wollen Sie?“

„Haben Sie Ihr Handy dabei?“

„Ja.“

„Dann nehmen Sie es heraus.“

„Und dann?“

„Dann rufen Sie den Kerl her, den Dahlmisch eigentlich erledigen sollte. Ich bin gespannt, diesen Kollegen kennen zu lernen – auch wenn er nicht Blitz ist.“

„Hören Sie, man kann doch über alles reden!“

„Ich hatte mich vor Jahren zur Ruhe gesetzt. Selbst in Deutschland konnte ich mich ungezwungen und ohne jede Angst bewegen und wahrscheinlich hätte die Kripo Hamburg oder wer auch sonst immer in den nächsten dreißig Jahren keine allzu großen Anstrengungen unternommen, um mich zu finden. Herzlichen Dank, kann ich da nur sagen.“

„Wie gesagt, über Geld können wir reden“, wiederholte sich Maik Noureddine.

„Ich habe Geld genug“, sagte der Maskierte. „Und jetzt rufen Sie bitte den Kerl an, der an meiner Stelle als Blitz aufgetreten ist. Sein Name ist Ronald Dünsing, nicht wahr?“

„Wie haben Sie das herausgekriegt?“

Der Lohnkiller stieß den schlaff und leblos in seinen Fesseln hängenden Dahlmisch mit dem Schalldämpfer seiner Pistole an. „Er hatte Ihren Killer tatsächlich wiedererkannt, als dieser Halb-Iraner hier getötet wurde. Dünsing war der so genannte dritte Mann, für den sich das Kripo Hamburg so brennend interessierte. Nachdem ich Dahlmisch überzeugen konnte, mit mir zu reden, war er sehr auskunftsfreudig.“

„Sie haben ihn gefoltert.“

„Ein hässliches Wort.“

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Ich will, dass der Lohnkiller ausgeschaltet wird, den Sie engagiert haben. Solange er als mein Doppelgänger durch Hamburg zieht, habe ich keine Chance auf Ruhe und Frieden. Aber wenn das Kripo Hamburg seine Leiche findet, wird man erkennen, dass alles nur eine Farce war, die Sie inszeniert hatten und der echte Blitz keineswegs reaktiviert wurde, so wie Sie alle Welt glauben machen wollen!“

„Warum sollte ich Dünsing herrufen?“, fragte Maik Noureddine. „Sie werde uns doch anschließend ohnehin beide erschießen – aber ich warne Sie! Ich habe alle Ausgänge mit meinen Leuten besetzt!“

„Mit denen werde ich fertig!“, versicherte Blitz. Er schüttelte den Kopf und trat etwas näher. „Wenn Sie tun, was ich sage, lasse ich Sie am Leben. Sie können versuchen, zu fliehen oder abwarten, bis die Kripo Sie verhaftet. Meinetwegen können Sie auch berichten, was sich in diesem Raum abgespielt hat. Nur wird Ihnen das niemand glauben. Aber immerhin lasse ich Sie leben und das sollte für Sie Grund genug zur Kooperation sein.“

Er richtete die Schalldämpferwaffe auf Maik Noureddines Kopf.

„Ich habe wohl keine andere Wahl“, gestand der Nachfolger des Paten von St. Pauli ein.

„So ist es, und vergessen Sie nicht, Ihre Leute von den Türen abzuziehen.“

„Das mit den Leuten an den Türen war ein Bluff. Um Dahlmisch auszuschalten reicht ein Mann wie Dünsing völlig aus.“

„Dann wartet er draußen darauf, in Aktion treten zu können?“

„Ja. Sie können ihn haben.“ Maik Noureddine deutete auf den getöteten Dahlmisch. „Seine Aufgabe haben Sie ja schon erledigt und eigentlich hat doch jeder von uns dann, was er wollte. Lassen Sie mich zu ihm hinausgehen. Dann wird er hier auftauchen, um Dahlmisch zu töten. Sie können ihn einfach erwarten.“

„Auf den Trick falle ich nicht herein, Noureddine. Sie rufen ihn telefonisch her. Und falls sie irgendein falsches Wort sagen, kann ich Ihnen versprechen, dass ich Sie auf sehr schmerzhafte Weise töten werde.“ Mit diesen Worten stieß Blitz den Stuhl mit dem gefesselten Dahlmisch zu Boden.

Kalter Schweiß stand jetzt auf der Stirn des Mannes, der sich als Nachfolger des Paten von St. Pauli sah und schon am Ziel seiner Träume geglaubt hatte. Jetzt war ein Alptraum daraus geworden.

„Okay“, flüsterte er.

Zitternd tippte Maik Noureddine Dünsings Nummer in die Tastatur seines Handys.

Sekunden später hatte er eine Verbindung.

„Kommen Sie rein, Dünsing“, sagte er.

„Ich dachte...“

„Der Plan hat sich geändert.“

„Wie Sie meinen, Herr Noureddine.“

Die Verbindung wurde unterbrochen.

„Sehr gut!“, lobte Blitz.

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Unsere Kollegen hatten das Gespräch zwischen Maik Noureddine und Justin Dahlmisch mitgeschnitten. Jetzt waren wir mit mehreren Einsatzfahrzeugen auf dem Weg. Dieser Mitschnitt war der Beweis dafür, dass Maik Noureddine offenbar den Mord an Mahmut Talani in Auftrag gegeben hatte. Der Grund dafür war naheliegend. Nachdem sich die Justiz an Talanis Fersen geheftet hatte, war er eine Gefahr für die Noureddine-Organisation geworden. Ob Maik dabei eine direkte Anweisung seines Onkels ausgeführt oder den Mordauftrag nur in dessen Interesse ausgeführt hatte, war dabei unerheblich.

Etwa zwanzig Beamte waren an dieser Operation beteiligt, darunter außer Roy und mir auch Kalle Brandenburg, Hansi Morell und Selcuk Salman.

Stefan Carnavaro leitete den Einsatz.

Roy legte bereits unterwegs das Headset an, über das wir alle untereinander Funkverbindung halten konnten.

Ich holte dies nach, nachdem ich den Sportwagen in der Uwe Seeler Straße geparkt hatte.

Von verschiedenen Seiten näherten wir uns dem Coffee Shop. Es gab einen Hinterausgang, an den sich unsere Kollegen Hansi Morell und Kalle Brandenburg mit einem Team von Kollegen heranmachten.

Stefan und Selcuk hatten ihren BMW aus den Beständen der Fahrbereitschaft der Kripo Hamburg ebenfalls in der Nähe geparkt.

Fred Menninga meldete sich über Interlink, sodass alle es mithören konnten.

„Die Stretch-Limousine auf der anderen Straßenseite ist auf Maik Noureddine zugelassen. Wer drinsitzt ist wegen der getönten Scheiben nicht zu erkennen.“

In diesem Augenblick öffnete sich die Hintertür der Limousine. Ein Mann in Lederjacke und Baseball-Cap stieg aus, überquerte die Straße und strebte auf den Eingang des Coffee Shops zu.

Für einen kurzen Moment ragte die Spitze eines Messerfutterals unter seiner Jacke hervor.

Das ist er!, war ich überzeugt.

Auf jeden Fall handelte es sich um einen von Noureddines Männern, der uns jetzt auf keinen Fall in die Quere kommen durfte. „Zugriff!“, ordnete Stefan an.

Wenige Meter vor dem Eingang des Coffee Shops Luigi’s Lounge fingen wir den Kerl ab. Auf Clives Signal hin zogen wir unsere Waffen unter der Kleidung hervor.

„Stehen bleiben! Kripo Hamburg! Keine Bewegung!“, rief ich.

Gleichzeitig schlugen unsere Kollegen um Fred Menninga auf der anderen Straßenseite zu. Die Fahrertür der Limousine wurde aufgerissen. Der Wagen war nicht abgeschlossen, der Chauffeur wurde festgenommen.

Wir wandten uns dem Mann mit der Lederjacke zu.

Er wirkte verdutzt und erstarrte. Aber er war vernünftig genug, nicht unter seine Jacke zu greifen. Augenblicke später klickten die Handschellen.

„Sie sind vorläufig festgenommen“, sagte Stefan. Unter der Lederjacke kam eine Automatik mit Schalldämpfer zum Vorschein. Außerdem ein Kampfmesser, dessen Lederfutteral eine sehr charakteristische Kratzspur zeigte.

„Das ist also der Lohnkiller, der sich Blitz nennt“, stellte Selcuk fest.

„Sie irren sich!“, zeterte der Mann.

Er trug einen Führerschein auf den Namen Ronald Dünsing bei sich, wie Selcuk feststellte.

Stefan riss Dünsings Hemdkragen zur Seite.

Von einer Narbe war da nichts zu sehen.

Aber jetzt war nicht die Zeit, um Fragen zu stellen oder gar die Identität eines Killers zu klären.

Jetzt mussten wir nur noch zusehen, dass uns Maik Noureddine nicht durch die Lappen ging.

Glaubten wir.

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Einige unserer Kollegen führten Dünsing ab.

Wir erreichten inzwischen den Eingang von Luigi’s Lounge.

Heute geschlossen, war dort zu lesen.

„Für uns gilt das nicht!“, meinte Stefan.

Wir hatten unsere Dienstwaffen im Anschlag.

Roy öffnete vorsichtig die Tür. Wir betraten den Coffee Shop.

„Maik Noureddine! Hier spricht das Kripo Hamburg! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“, rief ich.

Augenblicke später erschien Noureddine in der offenen Tür zum Küchentrakt. Aber er war nicht allein. Ein Maskierter stand hinter ihm und setzte ihm den Schalldämpfer an die Schläfe.

„Legen Sie Ihre Waffen ab!“, forderte der Maskierte. „Oder ich töte diese Geisel.“

„Er hat Dahlmisch auf dem Gewissen!“, keuchte Maik Noureddine.

„Sie kommen hier nicht raus!“, sagte ich. „Der Hinterausgang wird bewacht!“

„Das hat mir heute schon mal jemand weiszumachen versucht!“, knurrte der Maskierte. „Und jetzt die Waffen runter!“

„Er wird uns alle nacheinander erschießen, wenn Sie das tun!“, rief Noureddine, dessen Stirn glänzte. „Das ist Blitz! Ich habe die Narbe gesehen!“

Blitz senkte den Lauf seiner Waffe, drückte ihn gegen den Oberarm seiner Geisel und drückte ab. Ein Geräusch, das wie der Schlag mit einer Zeitung klang, war zu hören, danach Maik Noureddines heiserer Schrei. Die Kugel fetzte durch den Arm hindurch, zischte knapp an Stefan vorbei und blieb in der Wand stecken.

„Ich meine es ernst!“

„Ich ebenfalls!“, ertönte hinter ihm eine Stimme. Blitz spürte in seinem Nacken die Waffe unseres Kollegen Kalle Brandenburg, der über die Interlink-Verbindung zumindest akustisch alles mitbekommen und sich zusammen mit Hansi Morell vom Hintereingang vorgearbeitet hatte.

Hansi nahm Blitz erst die Waffe und dann die Maskierung ab.

Das Gesicht sah beinahe genau so aus wie die virtuell gealterte Version des Fahndungsfotos von Arvid Lennart Alexander.

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Maik Noureddine fand sich schon wenig später im Klinik-Trakt der JVA Branebüttel wieder. Die Durchsuchung seiner Wohnung ergab weiteres Beweismaterial, das es endlich erlaubte, ihm seine maßgebliche Beteiligung an illegalen Müllgeschäften nachzuweisen. Aber allein schon die Strafe, die ihn für die in Auftrag gegebenen Morde an seinen Onkel Vic, Mahmut Talani und Harry Käding erwartete, lief darauf hinaus, dass er nie wieder in Freiheit sein würde. Ronald Dünsing, der falsche Blitz, war sehr kooperativ. Er hatte auch nichts mehr zu verlieren, da die Beweislage aufgrund der Videoaufzeichnungen völlig eindeutig war. Natürlich belastete er seinen Auftraggeber Maik Noureddine schwer. Dessen Idee sei es gewesen, über Harry Käding das Gerücht zu verbreiten, Blitz sei wieder aktiv geworden und den Tod von Vic Noureddine so zu inszenieren, dass der Verdacht auf diesen legendären Profi-Killer gelenkt wurde. Eine mit kosmetischen Mitteln aufgetragene Brandnarbe inklusive.

Die Noureddine-Organisation wurde im weiteren Lauf der Ereignisse vollkommen zerschlagen.

Pjotr ‚Peter’ Makarow konnte an der Grenze nach Kanada aufgehalten werden. Den Flughafen Hamburg hatte er aus gutem Grund für die Heimreise nach Russland gemieden. Der kirgisische Diplomatenpass, mit dem er angetroffen worden war, erwies sich als gefälscht.

Und was Arvid Lennart Alexander alias Blitz anging, so bedeutete seine Festnahme wohl, dass in den nächsten Monaten die Ermittlungen in Dutzenden Mordfällen neu aufgerollt und zu einem Abschluss gebracht werden konnten. Ganz gleich, was dabei heraus kommen würde, für den Mord an Dahlmisch würde er allein schon lebenslänglich bekommen.

„Sie hatten von Anfang an Recht mit Ihrer Einschätzung von Maik Noureddine“, sagte Kriminaldirektor Hoch während einer unserer Besprechungen in seinem Büro.

„Allerdings hätte wir ihm vielleicht nie etwas nachweisen können, wenn der echte Blitz sich nicht eingemischt hätte“, gab ich zurück.

Unser Chef nickte leicht.

„Übrigens sind heute die beiden Jungs aus der Klinik entlassen worden. Herr Pellemeier sagte mir am Telefon, dass sein Sohn Marvin-Julian jetzt den Wunsch äußern würde, später Kommissar bei der Kripo Hamburg zu werden!“

ENDE

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Tote Bullen

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Ein Harry Kubinke Krimi

von Alfred Bekker

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Udo’s Imbiss am Berliner Westhafen in Moabit hatte 24 Stunden geöffnet. „Udo's“ mit Apostroph. Darauf bestand Udo Jakobi, der Besitzer des Schnellrestaurants, in dem sich zu den üblichen Stoßzeiten sowohl die Anzugträger aus dem Verwaltungskomplex der Hafenverwaltungsgesellschaft, als auch die Arbeiter von den Binnenschifffahrtsterminals tummelten.

Man bekam dort die besten Fishburger von Berlin.

Man konnte natürlich auch Pommes rot-weiß oder eine Currywurst bekommen. Notfalls sogar einen Veggie-Döner, der gerade bei den unter Bewegungsarmut und Kalorienüberschuss leidenden Angestellten der Hafenverwaltungsgesellschaft sehr beliebt war.

Aber die eigentliche Spezialität von Udo's Imbiss war und blieb der Fishburger.

Udo Jakobi kam gebürtig aus Bremerhaven und hatte deswegen besondere Affinität zu Fisch und Fischgerichten. Auch wenn sich der selbstkreierte Krabben-Döner nicht so richtig durchgesetzt hatte – der Fishburger hatte das Schnellrestaurant in ganz Moabit berühmt gemacht.

Und Udo Jakobi war clever genug, sich die Markenbezeichnung >Udo's Fishburger< schützen zu lassen.

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2

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Thorben Rademacher, Kommissar bei der Mordkommission, hatte eine anstrengende Nachtschicht hinter sich. Jetzt war es vier Uhr morgens und Rademacher hatte den toten Punkt längst überwunden.

Er bestellte einen Kaffee, zwei Fishburger und eine Portion Chips. Rademacher trank als Erstes den halben Kaffeebecher leer.

Sein Handy klingelte. Rademacher nahm den Apparat ans Ohr.

„Was gibt es?“, fragte er.

„Hier spricht Ede Gerighauser.“

„Verdammt, wo bleiben Sie?“

„Ich werde nicht zu Ihnen hereinkommen.“

„Was soll das Theater?“

„Haben Sie mich nicht verstanden? Ich komme nicht zu Ihnen!“

„Aber unser Treffpunkt war Udo's Imbiss.“

„Kann schon sein.“

„Und wie soll das jetzt laufen?“

„Kommen Sie raus an die Kaimauer vom Kanal.“

Die Verbindung wurde unterbrochen.

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Rademacher blickte auf die Fishburger, verschlang einen davon mit ein paar Bissen und trank den Kaffee aus. Die Pommes ließ er liegen. Er hatte sie probiert und festgestellt, dass sie ihm nicht knusprig genug waren.

Wenig später ging er in die Nacht hinaus.

Das Hafenbecken und der Hohenzollernkanal, über den der Westhafen mit Havel und Spree verbunden war, wirkten wie ein breites, lichtloses Band. Dahinter waren die Lichter der Stadt zu sehen. Das Verwaltungsgebäude der Hafengesellschaft mit seinem 52 Meter hohen Turm, hob sich wie ein drohender Schatten dagegen ab.

Es war eine klare Nacht.

Kräne erhoben sich wie Umrisse riesenhafter Spinnenmonster.

Rademacher schlang auch den zweiten Fishburger herunter und wischte sich die Finger an einem Taschentuch ab. Dann überprüfte er kurz den Sitz seiner Waffe. Sie steckte in seinem Holster. Darüber trug er einen dunklen Blouson. Die Jacke war weit geschnitten, sodass sich die Waffe nicht abzeichnete.

Rademacher ging auf die Kaimauer zu.

Ein dunkler Schatten hob sich gegen das Lichtermeer ab. Rademacher zögerte einen Moment, dann trat er näher. Von der Gestalt am Ende war nichts Näheres zu erkennen.

Das muss er sein!, dachte Rademacher. Er sah auf die Uhr. Vier Uhr und zehn Minuten.

Die Gestalt bewegte sich nun und kam Rademacher entgegen.

In einer Entfernung von ein paar Schritten wartete der Schatten schließlich. Das Licht einer Laterne fiel auf seinen Körper vom Hals abwärts. Das Gesicht blieb im Dunkeln.

Die rechte Hand war tief in seiner Manteltasche vergraben.

„Herr Rademacher?“

„Ja?“

Der Mann zog eine Waffe mit Schalldämpfer unter seinem Mantel hervor. Der Strahl eines Laserpointers tanzte durch die Nacht. Der Schuss war kaum zu hören. Zweimal blitzte das Mündungsfeuer auf.

Die erste Kugel traf Rademacher in die Brust und riss ein Loch in den Stoff seines Blousons. Die zweite Kugel traf ihn dicht darüber.

Das graue Kevlar einer kugelsicheren Weste kam darunter zum Vorschein.

Rademacher taumelte zu Boden. Er griff unter den Blouson, um seine Dienstwaffe zu ziehen.

Erneut blitzte die Schalldämpferpistole in der Hand des Killers auf. Fünf Schüsse in rascher Folge ließen den Körper des Kommissars zucken. Ein Schuss traf den Kopf, noch ehe er seine eigene Waffe abdrücken konnte.

Regungslos lag er in seiner Blutlache.

Der Killer trat aus dem Schatten.

Mit dem Fuß stieß er den verrenkt daliegenden Körper an. Er steckte seine Waffe ein. Rademachers Pistole nahm er vom Boden auf und warf sie im hohen Bogen ins Hafenbecken. Anschließend bückte er sich und packte die Leiche bei den Schultern. Dann schleifte er den Toten zur Kaimauer und ließ ihn ins Wasser rutschen.

Der Killer atmete tief durch.

Er streifte die Latexhandschuhe ab, mit denen er seine Hände vor Schmauchspuren geschützt hatte und warf sie hinterher.

Sie schwammen noch ein paar Augenblicke auf der dunklen Wasseroberfläche, weil sie zu leicht waren, um die Oberflächenspannung zu durchbrechen.

Innerhalb von wenigen Augenblicken hatte das dunkle Wasser des Hafenbeckens aber dann doch alles verschluckt.

Die Leiche trieb dicht unter der Oberfläche, war aber erstmal unsichtbar. Vielleicht geriet der Körper des Kommissars ja in irgendeine Schiffsschraube...

War gar nicht so unwahrscheinlich.

Dann ist er Hackfleisch, dachte der Killer.

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Dr. Bernd Claus führte uns in die Leichenhalle des gerichtsmedizinischen Instituts der Ermittlungsgruppe Erkennungsdienst. Dieser zentrale Erkennungsdienst hatte seine Labors in Moabit.

Dr. Claus öffnete eins der Kühlfächer. Anschließend zog er das weiße Laken, das den Toten bedeckte, so weit zur Seite, dass man das Gesicht sehen konnte.

Es war bleich und aufgedunsen. Auf der Stirn war die Eintrittswunde eines Projektils zu sehen. Anhand der Fotos, die mein Kollege Rudi Meier und ich zuvor in unserem Präsidium zu Gesicht bekommen hatten, hätte ich ihn nicht wieder erkennen können.

„Dies ist Kommissar Thorben Rademacher von der Mordkommission. Dass er etwas anders aussieht als auf den offiziellen Fotos in seiner Dienstakte, liegt einfach daran, dass er eine ganze Weile im Wasser gelegen hat. Herr Delmar, sein Vorgesetzter bei der Mordkommission, hat ihn auch nicht wiedererkannt, obwohl er tagtäglich mit ihm zu tun hatte.“

„Was können Sie uns darüber sagen, was geschehen ist?“, fragte Rudi.

„Rademacher wurde von mehreren Kugeln getroffen. Er trug eine Kevlar-Weste, die einige davon auffing. Die Hämatome am Oberkörper sind deutlich zu sehen.“ Dr. Claus zog das Laken noch ein Stück zurück. Die Blutergüsse befanden sich in Herznähe und inzwischen so groß wie Untertassen. „Der Treffer in den Hals ging glatt durch. Dasselbe gilt für einen Streifschuss an der Schulter. Mindestens diese beiden Projektile müssten sich noch am Tatort befinden.“

„Bislang wissen wir noch nicht, wo der sein könnte, aber vielleicht sind Ihre Untersuchungsergebnisse das entscheidende Mosaikstein, das uns weiterhilft!“, sagte ich.

„Der tödliche Schuss ging in den Kopf, durchdrang mitten auf der Stirn die Schädeldecke und blieb an der Halswirbelsäule stecken.“

„Also wurde der Schuss von schräg oben geführt“, schloss ich.

„Ja“, nickte Dr. Claus. „Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Rademacher durch die Wucht der Treffer, die von der Kevlar-Weste aufgehalten wurden, zu Boden taumelte, während der Killer weiter auf sein Opfer geschossen hat. Als der Kopftreffer ihn erwischte, muss er sich gekrümmt haben. Der ballistische Bericht liegt ja bereits vor und danach sind die Kugeln aus einer Entfernung von mindestens fünf Metern abgefeuert worden. Aber ich nehme an, Sie haben den Bericht bereits gelesen.“

„Er ist ein Grund dafür, dass wir den Fall übernehmen“, erklärte ich. „Der Abgleich des untersuchten Projektils hat nämlich ergeben, dass die verwendete Waffe zuvor bereits einmal in einer Schießerei im Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen benutzt wurde.“

Dr. Claus zuckte die Schultern. „Die Kollegen von der Ballistik waren diesmal deutlich schneller als ich. Aber ich konnte ihnen leider auch nur ein einziges Projektil bieten – nämlich jenes, das in der Halswirbelsäule stecken geblieben ist. Sie können also von Glück sagen, dass der Täter zufällig aus diesem Winkel getroffen hat, sonst wäre die Kugel durch die hintere Schädelwand wieder ausgetreten und Sie könnten jetzt in der ganzen Stadt nach ein paar Kugeln suchen, an der vielleicht noch etwas DNA-testfähige Hirnmasse haftet.“ Dr. Claus deutete auf den Oberkörper. „Die Projektile, die von der Kevlar-Weste aufgefangen wurden, liegen wahrscheinlich auf dem Grund des Kanals. Das stundenlange Wasserbad, dem die Leiche ausgesetzt war, muss sie weggespült haben.“

Ich deutete auf die Achseln des Toten, um die herum dunkle Stellen zu sehen waren.

„Druckstellen eines zu eng geschnallten Schulterholsters und – Schleifspuren. Der Täter muss den Toten unter den Achseln angefasst und weggeschleift haben.“

„Dann war es nur eine Person“, schloss ich.

Dr. Claus nickte. „Sagen wir so: Es hat nur einer angepackt.“

„Gibt es Spuren, die darauf hindeuten, dass der Tote in einem Kofferraum transportiert wurde?“

„Nein. Wahrscheinlich geschah der Mord in der Nähe des Wassers. Der Täter musste ihn nur ein paar Meter weiter schleifen und hineinwerfen.“

„Wann war der Todeszeitpunkt?“

„Rademachers Leiche wurde gestern Mittag am Kanalufer gefunden. Ich denke, dass der Tote mindestens sechs Stunden im Wasser war. Also würde ich schätzen, dass Herr Rademacher gestern zwischen drei und fünf in der Früh starb. Aber Sie bekommen natürlich noch meinen ausformulierten Bericht, wo Sie das alles nachlesen können.“

„Erst mal danken wir Ihnen, Dr. Claus“, sagte ich.

Der Gerichtsmediziner schob den Toten zurück in seine vorläufige Ruhestätte, nachdem er das Tuch wieder über sein Gesicht gebreitet hatte.

„Rufen Sie mich an, falls Sie noch Fragen haben.“

„In Ordnung.“

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Wir machten wir uns auf zu Rademachers Kripo-Kollegen. Herr Delmar war sein direkter Vorgesetzter und Herr Nürnberger wiederum war der Vorgesetzte von Herrn Delmar.

Inzwischen lief die Suche nach dem möglichen Tatort längst auf Hochtouren.

Als Laie denkt man ja erstmal, dass ein Kanal für die Binnenschifffahrt ein stehendes Gewässer ohne Strömung ist und dass deswegen in so einem Fall die Leiche in der unmittelbaren Nähe des Fundortes ins Wasser gelangt sein muss .

Dass ist aber ein Irrtum.

Durch den Schiffsverkehr, durch den Betrieb der Schleusen und weitere, ähnliche, in ihrem Zusammenspiel nur sehr schwer zu berechnende Faktoren, kommt es auch in Gewässern, die man gemeinhin als nicht-fließend bezeichnet, zu erheblichen Sogwirkungen. Und diese Sogwirkungen können mit einer Flussströmung in den Auswirkungen durchaus vergleichbar sein.

Ganz so einfach würde die Suche nach dem Tatort also nicht werden.

Zahlreiche Kollegen der Berliner Polizei sollten sich in der Nähe des Westhafens umhören, ob jemand dort Kommissar Rademacher in der Nacht seines Todes gesehen hatte.

Herr Nürnberger empfing uns in seinem Büro. „Herr Delmar ist noch nicht hier. Er wurde zwischenzeitlich zu einem Tatort gerufen, aber ich nehme an, dass Sie mit sprechen können, sobald wir hier fertig sind.“

„In Ordnung“, sagte ich. „Erzählen Sie uns am besten alles, was Ihnen zum Kollegen Rademacher einfällt. Wir stehen ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Alles, was wir wissen ist, dass er in Ufernähe erschossen wurde, eine Kevlar-Weste trug und die Kugel, die ihn tötete, aus einer Waffe stammt, die bei einer Schießerei im Club ‚El Abraxas’ verwendet wurde.“

„Und das ‚Abraxas’ steht unter Kontrolle von Benny Farkas, einem der aufstrebenden Kriminellen Berlins“, ergänzte Herr Nürnberger. Er hatte sich offenbar gut informiert.

„Die genauen Hintergründe der Tat konnten nie wirklich aufgeklärt werden“, fuhr ich fort. „Tatsache ist, dass es damals fünf Tote und mehrere Schwerverletzte gab, darunter auch der Anführer einer Drogengang.“

„Sieht ganz nach geschäftlichen Differenzen aus, wenn man das so bezeichnen will“, sagte Herr Nürnberger. „Aber was den Kollegen Rademacher angeht, könnte es da noch eine alte Rechnung geben. Er war schließlich erst seit ein paar Monaten hier bei uns in der Abteilung. Vorher gehörte er zu Drogenfahndung.“

„Bei uns sind die Akten noch nicht angekommen“, gab ich Auskunft. „Ich kenne nur die Kurzfassung, die uns Kriminaldirektor Bock gegeben hat.“

„Die Sache ist ganz einfach: Kommissar Rademacher wurde verdächtigt, kleine Drogendealer und Mitglieder von Gangs erpresst zu haben, indem er ihnen Drogen unterschob und Beweismittel manipulierte. Es lief ein Verfahren gegen ihn. Dieses Verfahren ist inzwischen eingestellt worden, aber man hielt es für besser, Rademacher trotzdem zu versetzen.“

„Mich wundert, dass man ihn nicht bis zur Klärung der Sache suspendiert hat!“, ergänzte ich.

„Nein, das sehen Sie jetzt falsch. Die Sache konnte sehr schnell geklärt werden und Rademacher galt als unbescholten.“ Herr Nürnberger zögerte einen Moment, ehe er weitersprach. Ihm schien selbst aufzufallen, dass sich da allein schon angesichts der nüchternen Aufzählung der Fakten ein widersprüchliches Bild ergab. Aber Herr Nürnberger hatte offenkundig keinerlei Interesse daran, diesen sachlichen Widerspruch auch noch sprachlich hervorzuheben. Er wirkte etwas verunsichert. Schließlich fuhr er schließlich fort: „Nun, er sollte jedenfalls nichts mehr mit Drogen zu tun haben.“

„Dann war seine Weste vielleicht doch nicht so rein, wie das eingestellte Verfahren vermuten lässt?“, fragte ich.

Ein messerscharfer Schluss.

Aber einer, der Herr Nürnberger nicht gefiel.

Und einer, den er so auch nicht stehen lassen wollte.

Er brauchte allerdings einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen und darauf zu reagieren.

Nürnberger atmete zuerst tief durch und setzte zweimal an, ohne dass dann tatsächlich auch irgendein Satz über seine Lippen gekommen wäre. Dann zuckte er die Schultern, ehe er schließlich doch seine Sprache wiederfand. „Jemand, der in der Drogenfahndung arbeitet, vollführt täglich einen Tanz auf der Rasierklinge. Man sieht wie die Dealer mit Millionen jonglieren und der Ermittler denkt an die Hypotheken für sein Haus und daran, dass sein Wagen noch nicht abgezahlt ist und sich seine Kinder beklagen, dass schon im zweiten Jahr nacheinander keine Urlaubsreise drinsitzt, während der Drogenboss mit dem Privatjet mal kurz nach Monaco hinüberfliegen kann.“

„Da will ich nicht widersprechen“, sagte ich.

Herr Nürnberger fuhr fort: „Da braucht man schon einen stabilen Charakter, um auf der richtigen Seite zu bleiben.“

Ich hob die Augenbrauen. „Wem sagen Sie das!“

„Glauben Sie, Rademacher besaß nicht den nötigen Charakter?“, mischte sich Rudi ein.

„Wie gesagt – die Untersuchung konnte den Verdacht gegen ihn nicht erhärten“, erklärte Nürnberger nochmals. „Sie werden es ja in den Akten nachlesen können.“

„Sobald die uns erreicht haben“, sagte Rudi. Und er gab sich wirklich große Mühe, dabei nicht sarkastisch zu klingen.

Unser Gegenüber nickte.

„Ja“, sagte Herr Nürnberger.

„Aber das ist keine Antwort auf die Frage.“

„Welche Frage meinen Sie nochmal?“, fragte Herr Nürnberger.

„Die mit dem Charakter“, stellte ich klar.

Nürnberger lächelte dünn. „Ja, Sie haben Recht. Aber die lässt sich vielleicht auch gar nicht so leicht beantworten. Wer von uns kann schon in den Schädel eines Kollegen hineinschauen?“ Herr Nürnberger machte eine kurze Pause, erhob sich aus seinem Schreibtischstuhl und füllte seinen Kaffeebecher wieder auf. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, sagte er schließlich: „Ich will ehrlich sein.“

Na endlich!, dachte ich.

Herr Nürnberger fuhr fort: „Am Anfang war ich sehr skeptisch, was Rademacher anging.“

„Warum?“

„Dafür kann ich Ihnen noch nicht einmal einen greifbaren Grund angeben.“

„Aha...“

„Es war einfach mein Bauchgefühl – und in all den Jahren, in denen ich als Ermittler meinen Mann stehe, habe ich gelernt, dass es einem das Leben retten kann, wenn man sich auf dieses Gefühl verlässt.

„Okay...“

„Aber was Rademacher angeht, hat mich mein Instinkt wohl getrogen.“

„Erklären Sie mir das!“

„Jedenfalls gab es keinen Ärger, so lange er hier war und soweit ich das beurteilen kann, hat er gute Arbeit geleistet. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit“, sagte ich.

Man ist ja höflich.

Selbst hier im sprachlich etwas raueren Berlin.

Aber das ist sowieso nur ein Klischee.

Wirklich.

Nürnberger nickte. „Vielleicht kann Ihnen Herr Delmar etwas mehr dazu sagen, schließlich arbeitete er mit Rademacher direkt zusammen.“

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Kollege Delmar ließ immer noch auf sich warten, so aßen wir eine Pizza, die vom Express Service für die ganze Abteilung geliefert wurde. Kriminalhauptkommissar Delmar traf schließlich doch noch ein.

Er bat uns in sein Büro.

„Tut mir Leid, dass es etwas später geworden ist, aber ich war bei einem Tatort und bin auf dem Rückweg leider in einen Stau geraten.“

„Ist schon in Ordnung“, sagte ich.

„Sie sind Kubinke und Meier vom BKA, nicht wahr?“

„Ja – und wir suchen zurzeit den Mörder Ihres Kollegen Thorben Rademacher“, bestätigte Rudi.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, weshalb der Fall nicht in unserer Zuständigkeit geblieben ist!“

„Weil die Tatwaffe im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität benutzt wurde“, gab ich Auskunft. „Der Fall hat eine größere Dimension, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Delmar zuckte mit den Schultern. „Meiner Ansicht nach sagt das nicht viel aus. Diese Waffen gehen doch von Hand zu Hand. Andererseits könnte da natürlich ein Zusammenhang bestehen. Über Rademachers Vergangenheit in der Drogenabteilung wissen Sie ja sicher inzwischen Bescheid oder?“

„In Ansätzen. Es gab da wohl mal einen Verdacht gegen Rademacher, wonach er Verdächtige erpresst haben soll.“

„Deswegen war er dann bei uns bei den Tötungsdelikten. Die Sache ist niedergeschlagen worden, es kam nicht einmal zu einer offiziellen Anklage. Aber wie heißt es so schön? Es bleibt immer etwas hängen. Ganz besonders, wenn es um einen Polizisten geht. Der kleinste Flecken auf der weißen Weste kann schon dazu führen, dass man wie ein Paria behandelt und bei Beförderungen übergangen wird.“ Delmar zuckte die Schultern. „So ist das nun einmal und bevor man sich auf das Spiel einlässt, informiert man sich am besten über die Regeln und akzeptiert sie.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Rademacher damals etwas angehängt wurde?“

„Mir gegenüber hat er in diese Richtung ein paar Andeutungen gemacht. Ist doch klar, wenn ich ein Drogenhändler wäre und hätte mit einem Polizisten eine Rechnung offen, kann ich ihm doch am besten schaden, in dem ich seine Gesetzestreue in Frage stelle!“

„Aber wenn das wirklich so gewesen ist, dann hatten diese Leute doch ihr Ziel erreicht. Rademacher war kalt gestellt. Wozu ihn noch ermorden?“

„Das würde ich auch gerne wissen.“

„Was wissen Sie über Rademachers Privatleben?“, fragte Rudi.

„Ehrlich gesagt, war er ein ausgeprägter Einzelgänger. Ihm fehlte der Teamgeist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn die Beamten einer Schicht zum Kegeln gingen, fuhr er nach Hause. Er hat mal erwähnt, dass er ein Eigenheim draußen im Umland hat. Und ich nehme an, dass er gar nicht daran dachte, hier in die Gegend zu ziehen. Vielleicht nahm er auch an, dass die Versetzung irgendwann zurück genommen werden würde.“

„Wie waren die Chancen dafür denn?“

„Gar nicht so schlecht. Wahrscheinlich hätte er hier noch ein halbes Jahr abreißen müssen und wäre dann wieder zurück auf seine alte Planstelle gekommen, falls nicht zwischenzeitlich doch noch Beweise aufgetaucht wären, dass er irgendwie Dreck am Stecken hatte. Aber dafür gab es keine Hinweise.“

„Wir brauchen die Anruflisten seines Diensttelefons“, sagte ich.

„Die können Sie haben“, versprach Delmar.

„Zeigen Sie uns bitte noch seinen Schreibtisch.“

„Ich führe Sie hin.“

„An was für einem Fall arbeitete er im Moment?“

„Denken Sie, dass seine Ermordung damit zusammenhängt?“

„Wir müssen allen Spuren nachgehen.“

„In der Otto Beierlein Straße wurde eine Rentnerin von ein paar Jugendlichen ausgeraubt und niedergestochen. Sie ist an den Folgen der Verletzungen gestorben. Rademacher bearbeitet den Fall zusammen mit Frau Tomasino und Herrn Wolff, die Sie beide gerne dazu befragen können.“

Delmar führte uns zu Rademachers Schreibtisch. Das Dienstzimmer teilte er sich mit den Kollegen Wolff und Tomasino. Die beiden berichteten uns von dem Fall, an dem sie mit Rademacher zuletzt gearbeitet hatten. Es schien sich um Routineermittlungen zu handeln.

„Er hat ziemlich viel mit seiner neuen Flamme telefoniert“, berichtete uns Herr Wolff noch.

„Wissen Sie, wer das war?“, hakte ich nach.

„Sie heißt Christine. Den Nachnamen kenne ich nicht, aber ich nehme an, dass sie die Telefonlisten überprüfen und anhand der Daten werden Sie das leicht herausfinden.“

Der Schreibtisch selbst bot nichts, was auf den ersten Blick ins Auge fiel. Wir packten dennoch den Inhalt in einen Pappkarton und nahmen ihn mit. Insbesondere alles das, was persönlichen Charakter hatte. Ein Telefonregister und einen voll geschriebenen Notizblock zum Beispiel. Außerdem beschlagnahmten wir seinen Rechner. Sollten die Kollegen im Labor mal den Email-Verkehr unter die Lupe nehmen.

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Wir waren gerade in den Dienst-Porsche eingestiegen, als uns ein Anruf erreichte. Herr Kriminaldirektor Bock, unser Chef, war am Apparat.

„Es hat sich jemand gemeldet, der Rademacher in der Nacht seines Todes gesehen haben will“, berichtete uns Kriminaldirektor Bock. Rademachers Bild war mit der Frage an die Bevölkerung über die Medien verbreitet worden, wer den Beamten der Mordkommission in der Mordnacht gesehen hatte, um auf diese Weise nach und nach rekonstruieren zu können, was sich vor der Tat ereignet hatte. Vor allem ging es uns natürlich um den Tatort, denn dort waren möglicherweise noch Spuren zu finden. „Der Mann heißt Udo Jakobi und betreibt eine 24-Stunden-Snack Bar mit Fischgerichten. Der Laden liegt am Westhafen.“

„Wir sind schon so gut wie dort“, versprach ich.

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Als wir Udo’s Imbiss am Berliner Westhafen erreichten, waren dort bereits zwei Einsatzfahrzeuge der Schutzpolizei.

Wir stiegen aus. Vögel kreischten.

Ein Frachter lag an der Kaimauer vor Anker.

Mehrere uniformierte Kollegen der Schutzpolizei sahen sich dort bereits um.

Wir betraten Udo’s Imbiss.

Es herrschte kaum Betrieb.

Eine junge Polizistin saß zusammen mit einem Mann mit weißer Schürze und Matrosenmütze an einem der Tische. Wir traten hinzu.

„Harry Kubinke, BKA. Dies ist mein Kollege Rudi Meier“, stellte ich uns vor.

„Rebecca Düpree“, nannte die junge Polizistin ihren Namen. „Herr Udo Jakobi hat uns angerufen, und wir haben gleich das BKA verständigt.“

„Danke.“ Wir setzten uns dazu. „Sie haben Thorben Rademacher wiedererkannt“, wandte ich mich an Udo Jakobi.

Der Besitzer von Udo’s Imbiss nickte. „Ja. Er aß regelmäßig hier. Fast täglich. Die Uhrzeit war wochenweise verschieden. Ich nehme an, dass er immer nach seiner Schicht hier vorbei kam. Zwei Fishburger und eine Tasse Kaffee, dazu Chips. Das war seine Standard-Bestellung.“ Udo Jakobi atmete tief und fuhr schließlich fort: „Sein Bild wurde im Lokalfernsehen gebracht. Ich habe ihn gleich wiedererkannt.“

„Schildern Sie uns, was geschehen ist.“

„Es war ungefähr vier Uhr morgens. Er saß am letzten Tisch dort hinten, in der Ecke. Dort ist er immer hingegangen. Er gähnte dauernd, weil er wohl eine Nachtschicht hinter sich hatte. Er hat seine Bestellung aufgeben, angefangen zu essen und wurde dann über das Handy angerufen.“

„Konnten Sie etwas verstehen?“

„Ja, er war der einzige Gast um die Zeit und ich habe mitbekommen, dass sich mit dem Typ am anderen Ende der Leitung verabredet hatte. Er war etwas ungehalten darüber, dass der Kerl noch nicht da war. Vielleicht sollte er auch in der Imbiss auf ihn warten.“

„Woraus schließen Sie, dass es ein Mann war?“

Udo Jakobi zuckte mit den breiten Schultern und hob die Augenbrauen. „Also, wenn Sie mich so fragen...“

„Ja?“

„Ich habe das einfach nur angenommen.“

„Hm.“

„Durch die Art, wie er mit ihm redete.“

„Okay.“

„Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausgedrückt habe...“

„Doch, doch... Fahren Sie ruhig fort, Herr Jakobi.“

„Jedenfalls verließ er kurz nach dem Anruf das Lokal und verschwand draußen in der Dunkelheit.“

„Sie haben nichts mehr gesehen oder gehört?“

„Nein. Wenn es dunkel ist, spiegeln die Scheiben. Man sieht fast nichts.“

„Mehr können Sie uns nicht sagen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, tut mir Leid.“

Ich wechselte einen kurzen Blick mit Rudi. Wir kennen uns gut genug, um zu wissen, was der andre denkt. Manchmal muss es gar nicht mehr ausgesprochen werden.

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738913422
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
vier alfred bekker krimis dunkle morde

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Vier Alfred Bekker Krimis: Dunkle Morde