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Heimat-Roman Doppelband #3

©2017 260 Seiten

Zusammenfassung

Dramatische Schicksale im Angesicht der Berge. Schicksalsromane vor der beeindruckenden, zeitlos-schönen Kulisse der alpinen Bergwelt. Hass und Missgunst herrschen in den Tälern, Intrigen werden gesponnen und Wilderer...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Table of Contents

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Allein gegen das ganze Dorf

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Unsere Liebe wäre perfekt - gäbe es da nicht zwei Probleme

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author / Cover Alfred Hofer/123rf

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

 

Allein gegen das ganze Dorf

von Anna Martach

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 95 Taschenbuchseiten.

 

Marita Schneider ist ein blitzsauberes Madl, das seinen Beruf liebt. Die hübsche, warmherzige junge Lehrerin übernimmt die Zwergschule des Bergdörfchens Mittenstein, und nicht jedem ist das recht. Die neuen Methoden der „fremden“ Pädagogin stoßen auf ein durchaus geteiltes Echo unter den traditionsbewussten Dörflern. Allerlei Spannungen und Probleme treten auf, die sich noch verstärken, als Maritas Schwester Annelie auftaucht, gebeutelt von Liebeskummer. Gibt es für die beiden Madln ein Happy End?

 

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

 

 

1

Schrill ertönte die Schulglocke zur großen Pause. Bücher wurden zusammengeklappt, Hefte in die Tornister geworfen, ein Johlen und Schreien setzte ein, dass einem schier angst und bange werden konnte. Die große Pause hatte begonnen.

Marita Schneider, die Lehrerin der vierten Klasse, schloss ebenfalls ihr Buch, verstaute einen Stapel Hefte zur Korrektur in ihrer Tasche, und wollte mit einem letzten Blick auf die wenigen Nachzügler, die noch herumbummelten, das Klassenzimmer verlassen. Doch plötzlich hielt sie inne. Ein quälender Reiz stieg in ihr auf, sie begann stoßweise und krampfhaft zu husten. Die Arme eng vor der Brust zusammengekrampft, sank sie auf einen Stuhl und rang mühsam nach Luft, während immer neue Hustenanfälle sie quälten.

Eines der Kinder lief hinaus, um den Rektor zu alarmieren. Dieser kam auch kurz darauf und füllte ihr höchstpersönlich ein Glas mit Wasser. Marita holte, noch immer hustend, ein Medikamentenröllchen aus ihrer Tasche. Zitternd nahm sie zwei Tabletten, und bald darauf klang der Krampf ab.

»So geht das net weiter, verehrte Kollegin«, sagte der Rektor. »Ich werde mich selbst darum bemühen, dass Ihr Versetzungsgesuch schnellstens genehmigt wird. Ihre Allergie verschlimmert sich hier nur. Das halten Sie doch nicht mehr lange aus!«

Dankbar sah das Madl zu ihm auf. Ihr feines, schmales Gesicht war von der Anstrengung gezeichnet, die schönen dunklen Äugen gerötet, und die kastanienbraunen Haare hingen etwas unordentlich und wirr um ihren Kopf.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Ungelegenheiten mache«, erklärte sie bedauernd. »Ich warte wirklich jeden Tag auf den Bescheid. Bis dahin werd’ ich’s aber wohl noch aushalten müssen.«

Marita hatte in der letzten Zeit eine Allergie entwickelt, die sich in heftigen Anfällen von Bronchialasthma äußerte. Seit ihr Arzt das erkannt hatte, bemühte sie sich um die Versetzung in einen anderen Ort, der möglichst hoch gelegen sein sollte und wo die Luft klar und rein war. Einen so schlimmen Anfall wie heute hatte sie schon lange nicht mehr gehabt.

»Gehn Sie doch lieber heim, Fräulein Schneider«, schlug der Rektor ihr vor, aber sie schüttelte den Kopf.

»Vielen Dank, aber jetzt geht’s schon wieder.«

Sie blieb noch eine Weile ruhig sitzen, bis sie spürte, dass ihre Kräfte zurückkehrten. Dann ertönte das schrille Geräusch der Klingel wieder, und es ging weiter mit dem Unterricht.

Gut eine Woche später kam der Bescheid zur Versetzung. Rektor Schröder selbst überbrachte die Nachricht.

»Sie werden ab nächsten Monat in Mittenstein unterrichten«, verkündete er.

»Mittenstein? Wo liegt denn das?«, fragte das Madl gespannt.

»Oh, ziemlich weit von hier in den Bergen«, erklärte ihr Vorgesetzter verlegen. »Es entspricht doch Ihren Vorstellungen?«

Marita seufzte leicht. »Ja, in den Bergen ist die Luft gewiss besser.«

»Ich bedaure es wirklich, Sie auf diese Weise zu verlieren. Ich hab’ Sie als Mensch und als Kollegin schätzen gelernt, und Ihr Weggang wird eine große Lücke hinterlassen«, erklärte der Rektor.

Marita musste über seine feierlichen Worte lachen und sagte, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

»Ich bin net gestorben, ich zieh’ nur um. Und aus der Welt bin ich da oben auch net. Wenn Sie wollen, können Sie mir ja schreiben«, meinte sie mit einem verschmitzten Lachen.

Verlegen sah der Rektor sie an. Er hielt den Bescheid noch immer in der Hand.

»Ja, natürlich, Kollegin Schneider. So war’s auch net gemeint. Ich wünsch’ Ihnen jedenfalls alles Gute für Ihren weiteren Weg. Hoffentlich fühlen Sie sich dort droben auch wohl.«

»Werd’ ich schon. Vielen Dank, Herr Kollege!« Marita nahm ihm das Papier aus der Hand und machte sich auf den Heimweg. Unterwegs las sie selbst den Brief noch einmal durch.

In der nächsten Zeit würde viel Arbeit auf sie zukommen. Sie musste ihre Wohnung auflösen, sich von liebgewordenen Freunden und Bekannten verabschieden. In ihrem neuen Heimatort würde sie ein Häuschen bewohnen, das dort zum Schuleigentum gehörte. Das alles klang sehr ländlich-sittlich, und sie fragte sich doch ein wenig bang, ob sie sich so leicht umstellen konnte. Schon zum nächsten Ersten sollte sie in Mittenstein anfangen.

Am Wochenende fuhr sie mit ihrem kleinen Wagen hinaus zu ihrer neuen Wirkungsstätte, um sich mit den Gegebenheiten ein wenig vertraut zu machen.

Mittenstein war ein kleines Dorf, das in idyllischer Bergeinsamkeit gelegen und nur über eine einzige Straße erreichbar war. Stattliche Bauernhäuser scharten sich um die hübsche Dorfkirche. Die Schule war aus rotem Backstein gebaut, genau wie das kleine Haus daneben, das inmitten eines blühenden Gartens lag. Es schien unbewohnt zu sein, und Marita überlegte, ob es vielleicht ihr künftiges Zuhause war? Nun, sie würde es schon rechtzeitig erfahren ...

 

 

2

Die Möbelpacker brachten die letzten Kisten in das kleine Haus neben der Schule. Marita dirigierte sie, nachdem sie kontrolliert hatte, was sich in den Kartons befand, ins Wohnzimmer.

Das Haus war wirklich lange Zeit unbewohnt gewesen, doch ihr Vorgänger hatte sich um den Garten gekümmert, da er selbst keinen besaß, und Marita war sicher, dass sie sich in dieser Umgebung rasch einleben würde.

Das erste Zusammentreffen mit Alfred Gröner, dem bisherigen Lehrer, ließ daran allerdings wieder leise Zweifel aufsteigen. Gröner war ein alter, verknöcherter, steifer Mann, pedantisch in seiner Haltung und Ausdrucksweise, der peinlich berührt eine Augenbraue hob, als Marita in ihrer lebhaften Art eine Begrüßung heraussprudelte.

»Ich hoffe doch, verehrte Kollegin, dass Sie den Kindern eine solche nachlässige Sprachweise nicht gestatten werden«, sagte er tadelnd, und Marita fühlte sich tatsächlich gemaßregelt wie ein Schulmadl. Trotzdem sagte sie lächelnd: »Selbstverständlich, Herr Kollege.«

»Und halten Sie auf Zucht und Ordnung«, fuhr Gröner fort. »Nichts hat schlimmere Folgen, als wenn diese Rabauken zu viel Freiheit genießen. Kinder müssen von früh auf an Disziplin und Ordnung gewöhnt werden, sonst können keine ordentlichen Menschen aus ihnen werden.«

Marita war erschüttert. Hatte er die Kinder hier wirklich so streng erzogen? Das konnte doch nicht wahr sein. Der Eindruck, den Gröner auf sie machte, war nicht gerade ermutigend. Aber mit ihm würde sie künftig nichts mehr zu tun haben, denn er ging zum Jahresende in Pension.

Marita hoffte inständig, dass der junge Kollege, mit dem sie gemeinsam diese Zwergschule leiten sollte, von anderem Schlag sein würde. Vielleicht konnte sie zusammen mit ihm aus diesen Kindern fröhliche und aufgeschlossene Menschen machen, die nicht nur Ordnung und Disziplin als Lebenszweck ansahen. Allerdings würde der junge Lehrer erst ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft seine Arbeit aufnehmen.

Dann kam der erste Schultag für Marita. Vom Fenster ihres Wohnzimmers aus beobachtete sie, wie die Kinder nacheinander langsam ankamen und sich in Grüppchen auf dem Schulhof zusammenfanden. Gewiss gab es an diesem Tag nur ein Gesprächsthema: die neue Lehrerin!

Marita war doch ein wenig bang ums Herz. Wie würden die Kinder wohl reagieren? Waren sie schon alle von diesem schrecklichen konservativen Menschen beeinflusst, oder konnten sie noch herumalbern und unbefangen fröhlich sein? Würden sie alle nur brav an ihrem Platz sitzen und sich nicht trauen, ungefragt ein Wort zu sagen?

Die junge Lehrerin liebt die oft spontanen Einfälle ihrer Schützlinge, auch wenn sie nicht immer zum passenden Zeitpunkt kamen. Sie hatte gelernt, den natürlichen Spieltrieb auszunutzen, wenn sie den Kindern etwas beibringen wollte.

Als die Schulglocke schrillte, schreckte Marita aus ihren Gedanken auf.

Warum müssen Schulglocken immer so schrecklich klingen?, fragte sie sich. Sonst machte ihr das eigentlich nicht viel aus, aber heute war es irgendwie anders. Ihr Herz raste, als sie das Schulgebäude betrat.

Alfred Gröner wartete bereits auf sie. Steif aufgerichtet, perfekt gekleidet, kein falsch gelegtes Härchen; mit einem etwas missbilligenden Blick stand er vor dem Klassenzimmer, in dem der Unterricht stattfinden sollte.

»Ich wollte Sie eigentlich noch Ihrem Kollegen vorstellen, bevor Sie anfangen, doch das würde den Beginn der Stunde verzögern. Sie werden Herrn Neumayr also erst während der Pause kennenlernen.«

Marita fühlte, wie Ärger in ihr aufstieg. Was dachte sich dieser Pedant eigentlich? Sie straffte den Rücken und warf den Kopf etwas hochmütig zurück. Sie würde es ihm schon zeigen!

»Herr Neumayr hat sich gestern bei mir vorgestellt. Wir können also ruhig pünktlich anfangen«, erklärte sie gereizt.

»Umso besser«, gab er zurück. Mit einem Ruck riss er die Tür auf.

Schlagartig verstummte jedes Geräusch, und in dem kleinen Klassenraum herrschte absolute Stille. Wie auf Kommando standen alle Kinder auf, stellten sich neben ihre kleinen Pulte und starrten den beiden eintretenden Personen entgegen. Hatte Marita neugierige Blicke, Flüstern und aufgeregtes Kichern erwartet, so wurde sie überrascht. Die Blicke der Kinder waren starr auf Alfred Gröner gerichtet und die Stille wurde langsam fast unheimlich.

»Guten Morgen«, sagte der alte Lehrer nach einem strengen Blick in die Runde.

»Guten Morgen, Herr Lehrer«, tönte es einstimmig zurück. Keines der Kinder rührte sich, alle blieben stehen.

»Das ist Fräulein Schneider«, stellte Gröner vor.

»Guten Morgen, Fräulein Schneider.«

»Setzen«, kommandierte Gröner.

Marita fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Diese Kinder hier benahmen sich wie Maschinen. Gröner stolzierte vor der Tafel auf und ab.

»Heute ist mein letzter Tag bei euch, wie ihr wisst. Ich erwarte, dass ihr mir keine Schande macht. Fräulein Schneider ist noch sehr jung. Ich hoffe, ihr werdet das net ausnutzen.«

Aus seinem Mund klangen die Worte so, als wollte er sagen, Marita sei selber noch ein Kind und müsste erzogen werden. Die Kinder verzogen jedoch keine Miene.

»Nein, Herr Lehrer«, kam es wie aus einem Mund.

»Gut, dann werden wir jetzt mit dem gestern begonnenen Thema fortfahren. Wir sprachen über das scharfe >S<. Wer kann mir etwas darüber sagen?«

Langsam und zögernd gingen die Arme mit den ausgestreckten Fingern in die Höhe. Marita hielt sich im Hintergrund und schaute nur zu.

In der großen Pause versuchte sie, ein wenig Kontakt zu den Kindern zu bekommen. Sie spielten draußen auf dem Hof Fangen, und Marita setzte sich auf eine Treppenstufe und rief eines der Kinder zu sich.

»Komm, erzähl mir, wie du heißt!«, forderte sie ein kleines Madl auf.

»Ich bin die Anja, Fräulein Schneider«, kam es schüchtern, aber gehorsam.

»Das ist ein schöner Name. Sag einmal, darf ich vielleicht mit euch spielen?«

Ungläubiges Staunen überzog das Gesicht der Kleinen. »Was wollen Sie? Können Sie denn so rasch laufen?«

Marita lachte hell auf. »Aber ja. Glaubst denn, ich schweb’ über dem Boden?«

Anja fasste ein wenig Vertrauen. Sie nahm einfach Maritas Hand und zog sie mit sich zu den anderen.

»Das Fräulein will mitmachen!«, erklärte sie.

»Na, wir probieren’s halt«, kam ein zögernder Zuspruch. Wenige Minuten später hatten die Kinder ihre Zurückhaltung abgelegt und sprangen um Marita herum, die mit erhitztem Gesicht und gelösten Haaren lachend in dem quirligen Knäuel der Kinder herumtollte.

Dann aber wurde sie von Alfred Gröner gerufen.

»Fräulein Schneider«, donnerte er sie an. »Halten Sie dieses Verhalten einer Lehrerin, einer Respektperson, für würdig? Sie sind ja noch undisziplinierter als die Kinder. Dabei sollten doch gerade Sie mit gutem Beispiel vorangehen.«

»Ach gehn Sie«, meinte Marita. »Ab morgen bin ich für die Kinder verantwortlich, und ich hab’ net vor, so steif und konservativ zu sein wie Sie. Ich bin Lehrerin geworden, weil ich Kinder liebe. Aber das haben Sie vermutlich noch nie gehört. Ich lasse mir von Ihnen keine Vorschriften machen. Sie sind schließlich net mein Vorgesetzter.«

Ihre Stimme klang fest und bestimmt. Sie würde sich doch nicht ins Bockshorn jagen lassen!

Gröner schnappte bei ihren Worten nach Luft. »Hat man Sie ein solches Verhalten auf der Universität gelehrt, Fräulein Schneider? Das sind sicher net die Richtlinien, die vom Kultusminister befürwortet werden. Das ist das Ende des geregelten Unterrichts!«

»Ganz im Gegenteil. Ich hab’ nix gegen Sie, Herr Gröner, aber so kann man heut kein Kind mehr was lehren. Was Sie auf der Universität gelernt haben, mag zu Ihrer Zeit passend gewesen sein, aber heutzutage ist eben alles anders. Servus, Herr Gröner!« Sie hatte ihren Ärger nicht länger zügeln können und die Worte mit blitzenden Augen hervorgestoßen. Jetzt ließ sie den verdutzten Lehrer stehen und ging zu den Kindern zurück.

Diese hatten die Auseinandersetzung sehr wohl verfolgt und freuten sich, dass ihr alter Lehrer endlich einmal sprachlos war. Mit neuerwachtem Respekt schauten sie dem Madl entgegen.

»Das war stark«, erklärte einer der Jungen. »Dem haben Sie aber was gezeigt.«

»Das soll net heißen, dass ihr gar net mehr gehorchen müsst. Aber ein bisserl Freude sollt ihr schon an der Schul’ haben. Also wollen wir versuchen, einen Mittelweg zu finden, und wenn wir uns alle gemeinsam bemühen, dann kann gar nix mehr schiefgehen«, erklärte Marita.

»Das ist ein Wort«, sagte einer der Jungen. Er hielt ihr eine Hand hin, und ohne zu zögern schlug Marita ein. Einen besseren Anfang mit den Kindern hätte sie sich nicht denken können.

 

 

3

Der erste Schultag näherte sich dem Ende. In der letzten Stunde, als Marita schon glaubte, diesen Menschen, der sich Lehrer nannte, kaum noch länger ertragen zu können, passierte es. Von irgendwo flog ein selbstgebastelter Papierflieger durch den Klassenraum, schlug ein paar Loopings und segelte dann in einem eleganten Bogen bis dicht vor Marita, wo er zu Boden fiel.

Unterdrücktes Kichern war zu hören, und auch Marita musste lächeln. Doch Gröner, der gerade in gleichförmigem Tonfall über das Teilen ganzer Zahlen sprach, explodierte.

»Wer war das?«, donnerte er.

Sofort herrschte Stille. Die Kinder schauten absolut unschuldig drein.

»Wenn sich der Übeltäter nicht sofort meldet, werd’ ich die ganze Klasse bestrafen«, erklärte Gröner.

Widerwillig stand einer der Buben auf. Gar nicht schuldbewusst schaute er auf den Lehrer.

»Schwender also wieder einmal. Nun, hast du etwas dazu zu sagen?«

»Nein, Herr Lehrer.«

Mit einem raschen Griff hatte Gröner den Zeigestock in der Hand und schlug den Jungen auf den Hosenboden. Der Bub schrie auf, und plötzlich wurde der Lehrer von einer kleinen, aber kräftigen Hand daran gehindert, noch einmal zuzuschlagen.

»Ja, sind Sie denn wahnsinnig?«, rief Marita entsetzt.

Sie hatte mit wachsender Empörung diesen Vorfall beobachtet. Das war doch nicht mehr als ein kleiner Scherz gewesen, der mit einer Ermahnung abgetan werden konnte! Doch Gröner reagierte überspitzt. Und als er begann, den Buben zu schlagen, griff sie ein.

Gröner fasste sich erstaunlich schnell.

»Sie untergraben meine Autorität, Fräulein Schneider«, sagte er eisig. »Wagen Sie es net, mich noch einmal in meinen erzieherischen Bemühungen zu unterbrechen.«

Wieder ging die Wut mit dem Madl durch. Nach einem harmlosen Schabernack ein Kind zu schlagen, zeugte doch nur von Hilflosigkeit und Unfähigkeit.

»Wenn das Ihre Vorstellung von Erziehung ist«, stieß sie zornig hervor, »dann werden wir uns tatsächlich niemals einigen können.«

Ihr hübsches Gesicht war gerötet, ihre Augen blitzten, und ihre Stimme hatte einen stahlharten Klang, entschlossen und fest. Gröner wich unwillkürlich zurück vor der plötzlich respektgebietenden Ausstrahlung des Madls. Dies war nicht mehr die überaus kindlich wirkende junge Frau. Nein, hier stand eine Erwachsene vor ihm, mit festen Grundsätzen und einem eigenen Kopf. Sie bot ihm die Stirn, und Gröner, der nur gegen Schwächere unnachgiebig vorgehen konnte, gab nach. Er ließ den Stock sinken und legte ihn auf das Lehrerpult.

»Es ist Ihre Klasse, Fräulein Schneider. Tun Sie, was Sie für richtig halten.«

Als gebrochener Mann verließ er den Raum, ohne sich darum zu kümmern, dass die Stunde noch nicht beendet war. Die Worte des Madls hatten ihn tief getroffen und ihm etwas klargemacht, was er nie hatte wahrhaben wollen. Er war im Grunde ungeeignet für den Lehrerberuf. Er verstand die Kinder nicht, hatte immer nur seine eigenen Vorstellungen durchsetzen wollen. Jetzt, am Ende seiner Laufbahn, musste er sich eingestehen, dass er versagt hatte.

Marita stand allein vor der Klasse. Ihr Ausbruch tat ihr jetzt leid, sie hatte sich einfach zu sehr hinreißen lassen. Doch jetzt musste sie vor den Kindern die Situation retten.

»Ich bin sicher, dass der Herr Gröner das Ganze net so gemeint hat. Wahrscheinlich war er ebenso aufgeregt wie ich. Und jetzt wollen wir die Stunde beenden. Morgen früh werden wir gemeinsam neu anfangen und net mehr über diesen Vorfall reden.«

Gehorsam packten die Kinder ihre Hefte und Bücher ein, stumm gingen sie hinaus.

Marita sank auf einen Stuhl, starrte aus dem Fenster und versuchte, sich darüber klarzuwerden, welche Auswirkungen dieser Vorfall haben könnte. In einem so kleinen Dorf sprach sich sicherlich alles schnell herum, und die Kinder würden ihren Eltern von den Ereignissen in der Schule erzählen. Ob die Dörfler genauso dachten wie der alte Lehrer, und ob sie ihr Schwierigkeiten machen würden? Marita stand seufzend auf. Man würde ja sehen, wie es weiterging. Etwas anderes als abzuwarten blieb ihr sowieso nicht übrig.

An diesem Abend wurde sie wieder von einem Asthmaanfall überrascht, obwohl sie sich hier in der klaren Luft bisher sehr wohl gefühlt hatte. Mühsam nach Luft ringend, schaffte sie es gerade noch, bis zum Telefon zu kommen und den Landarzt von Mittenstein zu rufen.

Kurze Zeit später war der Doktor da. Er gab ihr eine Spritze, und der Anfall ließ rasch nach.

»Ich versteh’ das gar net«, erklärte der Doktor. »Hier dürften Sie eigentlich keine Anfälle mehr bekommen, es sei denn, das wären noch die letzten Auswirkungen von Ihrem Leben in der Stadt. Oder haben Sie sich über irgendetwas aufgeregt?«

Marita erzählte ihm von dem Streit mit Gröner, und der Arzt schüttelte sorgenvoll den Kopf.

»Das sollten Sie in Zukunft lieber vermeiden. Ich bin sicher, dass Sie hier wieder richtig gesundwerden, aber nehmen Sie sich noch in acht.«

Marita versprach es und konnte dank des Medikamentes in dieser Nacht gut schlafen.

Auf seinem schönen großen Berghof arbeitet Konrad Schwender mit dem Traktor, als sein Sohn, der ebenfalls Konrad hieß, aus der Schule heimkam. Der Bub wurde allgemein nur Konny gerufen. Er ging gleich in die Küche, warf seinen Tornister in eine Ecke und setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl. Die Küchenmagd lachte.

»Hast mal wieder eine Abreibung gekriegt?«, fragte sie gutmütig.

»Ich hab’ nur ’nen Papierflieger gebastelt. Aber jetzt wird’s anders. Wie haben ’ne Neue.«

»Was? Schülerin?«

»Na, hast denn net gehört, dass wir eine neue Lehrerin bekommen haben?«

»Und die hat dich versohlt?«, wollte die Magd neugierig wissen.

»Nein, die doch net. Die hat dem Gröner den Stock weggeschlagen und hat ihn angebrüllt. Die ist ganz toll. Außerdem hat’s mit uns gespielt. Fangen, auf dem Schulhof«, erklärte Konny begeistert.

»Ach geh, du schwindelst ja. Das glaubst ja selbst net, dass ’ne Lehrerin Fangen spielt. Und jetzt lauf und wasch dir die Händ.’ Wir wollen essen.«

Widerwillig stand Konny auf, hielt sich mit einer Hand den Hosenboden und marschierte ins Bad.

Beim Essen erzählte er seinem Vater von Marita und schwärmte von ihr. Schwender hörte nur mit halbem Ohr zu. Er hatte seine Frau kurz nach Konnys Geburt verloren und bemühte sich, den Jungen allein aufzuziehen. Doch so ganz einfach war das nicht. Die Arbeit forderte ihren Tribut, und so blieb der Bub sich selbst überlassen oder wurde von den Mägden neben ihrer Arbeit mit beaufsichtigt, und ihm fehlte einfach die richtige Führung.

Das wirkte sich natürlich auf sein Verhalten aus. Er stellte ständig irgendetwas an und war frech und trotzig. Das alles war nichts anderes als eine Forderung nach Beachtung und Liebe. Doch stattdessen bekam er in der Schule Schläge und daheim ebenfalls öfter einmal eine Watschen, und niemand nahm sich Zeit für ihn. »Vielleicht benimmst dich dann in Zukunft etwas gesitteter, und ich brauch’ mir auf dem Elternabend keine Klagen mehr anzuhören«, erklärte Konnys Vater. Er hatte die Worte seines Sohnes kaum aufgenommen. Die Wintersaat stand an, und er war mit seinen Gedanken voll und ganz davon in Anspruch genommen.

Konny spürte natürlich, dass sein Vater wieder einmal nicht richtig zuhörte. Doch das war er schon gewöhnt. So stand er nach dem Essen auf und ging spielen, aber dabei musste er ständig an die neue Lehrerin denken.

In den nächsten Tagen versuchte Marita vorsichtig ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern aufzubauen. Noch längst nicht alle akzeptierten sie, und das hatte sie auch gar nicht erwartet. Die Kinder hatten jahrelang unter dem Regiment des alten Oberlehrers gelebt und sich an seine Art gewöhnt. Sie konnte nicht erwarten, dass jetzt gleich alles ins Gegenteil verkehrt sein würde, nur weil Gröner fort war und sie seinen Platz eingenommen hatte.

Doch mit viel Geduld schaffte sie es, nach und nach die Kinder etwas lebhafter am Unterricht zu beteiligen, was sie als kleinen Erfolg verbuchte. In diesen Tagen störten besonders Konny und seine Freundin Anja den Unterricht. Konny war der Anführer fast sämtlicher Streiche, die sich abspielten, und Anja war seine ständige Begleiterin. Sie bewunderte ihn, unterstützte alle Untaten und war vor allem seine Vertraute, wenn er mal wieder mit jemandem sprechen musste. Anja war es auch, die als erste kicherte, wenn Konny andere Mädchen an den Zöpfen zog, Papierkügelchen durch die Klasse schoss oder sonst etwas anstellte.

Diese beiden Kinder waren für Marita die größte Herausforderung, diese beiden musste sie einnehmen, dann hatte sie gewonnen. Das Madl beobachtete die beiden genau. Wo sollte sie ansetzen, um sie für sich zu gewinnen?

An einem strahlenden Herbsttag, als die Sonne von einem leuchtend blauen Himmel herabschien, schlug Marita vor, dass die Klasse einen Spaziergang machen sollte. Jubelnd warfen die Kinder ihre Bücher in die Tornister und stapelten diese in einer Ecke.

»Stellt euch bitte ordentlich auf«, sagte Marita. In Zweierreihen formierten sich die Kinder, wobei es viel Geschiebe und Geschubse gab. Endlich aber standen alle ordentlich in Reih und Glied.

»Schön. Nachdem ihr jetzt alle so viel Zeit vergeudet hab, muss der Spaziergang leider etwas kürzer ausfallen. Beim nächsten Mal wisst ihr das dann vielleicht besser. Lasst uns gehen.«

Marita beobachtete, ob die Kinder sich wenigstens halbwegs in der Reihe hielten und schlug dann vor, gemeinsam ein Lied zu singen. Gleich wurden ihr Vorschläge entgegengebrüllt, und alle riefen durcheinander.

»He, net so laut! Es soll hier Leute geben, die in Ruh’ arbeiten wollen. Also sagt mir einer nach dem anderen, was ihr singen wollt.«

Endlich einigten sich die Kinder, und gleich darauf erklang ein fröhliches Lied, das Marita mitsang. Ihre Stimme war klar und rein und deutlich herauszuhören. So zog die fröhliche Schar in den nahen Wald, einen kleinen Hügel hinauf, und hier forderte Marita die Kinder auf, Blätter und Baumfrüchte zu sammeln. Sie sollten alles zusammenbringen und dann die richtigen Früchte den richtigen Pflanzen zuordnen. Das Madl wunderte sich, dass die Kinder noch recht gut Bescheid wussten und mit Feuereifer bei der Sache waren. Der Ausflug schien wirklich ein voller Erfolg zu werden.

Die Schüler schnatterten wie wild durcheinander, lachten, johlten und dachten gar nicht mehr daran, dass dies ein Schulausflug war. Doch irgendwann wurde es Zeit zum Aufbruch. Marita rief die Kinder zusammen, zählte durch, ob alle da waren und bemerkte gleich darauf, dass zwei ihrer Schützlinge fehlten. Rasch stellte sie fest, dass es ihre Sorgenkinder Konny und Anja waren.

»Rasch, sucht die beiden«, rief sie den anderen zu. »Aber bleibt immer zu mehreren zusammen, geht net allein.«

Marita machte sich Sorgen um die beiden und hoffte, dass ihnen nichts passiert war. Aber insgeheim hatte sie den Verdacht, dass Konny und Anja sich irgendwo versteckt hatten und sich heimlich ins Fäustchen lachten.

Eine halbe Stunde später kamen die Kinder langsam wieder zurück, nach und nach trudelten sie ein, doch keiner hatte eine Spur der beiden Ausreißer entdeckt.

Als Marita völlig ratlos dastand und überlegte, was jetzt zu tun sei, hörte sie plötzlich Zweige knacken, und kurz darauf erschienen Konny und Anja mit herausforderndem Blick und blieben Hand in Hand vor ihr stehen.

Sie sah die beiden so lange schweigend an, bis sie schuldbewusst die Köpfe senkten. Dann sagte sie, ohne weiter auf den Vorfall einzugehen:

»So, nun wird’s höchste Zeit, dass wir heimkommen. Aber es wird net geschubst oder gedrängelt. Und im Klassenzimmer wartet ihr bitte noch, ich muss euch noch die Aufgaben für morgen diktieren.«

Allgemeines Stöhnen war die Antwort, und genau wie Marita es sich gedacht hatte, richtete sich der Unmut der Kinder gegen die beiden Ausreißer.

Daheim angekommen, fand sie im Postkasten einen Brief ihrer Schwester. Annelie lebte in der Stadt, hatte dort eine gute Stellung in einem Werbebüro und war eigentlich rundum zufrieden. Doch als Marita diesen Brief aufriss und las, klangen Sorgen aus den Worten der Schwester. Stirnrunzelnd überflog die junge Lehrerin den Brief ein zweites Mal, während sie mit einer Hand den Topf mit Suppe auf die Herdplatte setzte, die sie schon vorbereitet hatte.

Annelie schien Schwierigkeiten zu haben. Daran war sicherlich ihre Neigung schuld, sich in alle möglichen Abenteuer mit Männern einzulassen. Sie ging keinem Flirt aus dem Weg und hatte schon reihenweise Herzen gebrochen. Doch diesmal schien es genau andersherum zu sein. Mit einem nachsichtigen Lächeln setzte sich Marita an den Tisch und schrieb einen langen, liebevollen Brief zurück, in dem sie Trost und Hilfe anbot. Für einige Zeit konnte sie der Schwester sogar ein Heim bieten, wenn diese es dringend brauchen sollte.

Schließlich versiegelte das Madl den Brief und gab ihn gleich zur Post. Auf dem Rückweg durch das Dorf spürte sie, wie einige der Menschen, denen sie begegnete, ihr misstrauische Blicke zuwarfen. Doch sie störte sich nicht daran und strebte weiter dem kleinen Haus neben der Schule zu.

Dann setzte sich Marita daran, die Hefte durchzusehen, die sie von den Kindern eingesammelt hatte, um sie durchzuschauen. Daraus ließen sich schon viele Dinge ablesen, zum Beispiel, ob die Schüler eifrig oder eher faul, ordentlich oder gleichgültig arbeiteten. Darüber verging der Nachmittag schneller als gedacht. Hastig stand Marita auf. Sie wollte noch so einiges im Haus tun, um es nach und nach zu einem richtigen Schmuckstück zu machen. Deshalb zog sie sich bequeme Jeans an und wollte sich gerade an die Arbeit machen, als sie zusammenschrak, weil es an der Tür klopfte.

Wer kann das denn sein, um diese Zeit?, fragte sich das Madl. »Ich komm’ schon«, rief sie hinaus, fuhr sich noch einmal mit den Fingern durch die Haare und eilte zur Tür, um zu öffnen. Draußen stand Alfred Gröner.

Maßlos überrascht ließ Marita die Hand sinken, die sie zur Begrüßung ihres ersten Gastes bereits erhoben hatte.

»Sie, Herr Gröner? Verzeihen Sie, Herr Kollege«, stammelte sie dann verlegen.

»Ich würde Sie gern sprechen, Fräulein Schneider«, bat er leise. Gar nichts mehr war übrig von der Großspurigkeit und dem gestelzten Auftreten, das er ihr gegenüber bisher an den Tag gelegt hatte. Die hängenden Schultern, der bittende Ausdruck in seinen Augen, die gar nicht mehr kalt und hart dreinschauten, machten Marita die Entscheidung leicht.

»Kommen Sie nur herein. Ich mach’ uns einen Tee. Und dann sagen S’ mir, welches Problem Sie haben«, erklärte das Madl burschikos. Sie spürte, dass der Mann etwas auf dem Herzen hatte, und wollte es ihm leichtmachen. Längst tat es ihr leid, dass sie ihn so hart angefahren hatte. Er hatte sein Leben lang als Lehrer gearbeitet, hatte aus seiner Sicht sicherlich immer das Beste für die Kinder gewollt. Nur, er hatte sich und seine Zeit überlebt. Seine Methoden waren ganz einfach antiquiert.

Zögernd trat Gröner über die Schwelle und wurde von dem Madl in das Wohnzimmer geführt, dass sie sich schon recht gemütlich eingerichtet hatte. An den Wänden hatte Marita viele Regale aufgestellt, die ihren Büchern genügend Raum boten. Der kleine Kamin, der dem Zimmer eine behagliche Note gab, trug auf seinem Sims eine Vase mit einem bunten Blumenstrauß aus dem Garten. Einige Familienfotos standen ebenfalls dort und außerdem eine kostbare Kaminuhr, die wie für diesen Raum gemacht schien.

Marita ging in die Küche, um das Teewasser aufzusetzen, während sich Gröner ein wenig in dem Zimmer umsah. Was er sah, gefiel ihm recht gut. Fräulein Schneider schien keins von den neumodischen Madln zu sein, die mit viel Geld, aber ohne Geschmack ihre Einrichtung zusammensuchten. Nein, Wärme, Gemütlichkeit und Liebe sprach aus allem, was sie da zusammengetragen hatte.

Mit einem kleinen Tablett, auf dem zwei Tassen, eine dampfende Kanne und ein Teller mit Keksen standen, kam Marita wieder herein.

»Setzen S’ sich doch«, bat sie ihren Besucher. Mit geübten Bewegungen goss sie das aromatische Getränk ein, bot die Plätzchen an und wartete.

Eine Weile sagte Gröner gar nichts. Marita konnte nicht wissen, dass Alfred Gröner diese Augenblicke genoss, dieses Umsorgtwerden, die selbstverständliche Fraulichkeit, die in den wenigen Handgriffen lag. Seit seiner Frau vor einigen Jahren gestorben war, hatte er das nicht mehr erlebt. Seitdem war er allein, lebte mehr schlecht als recht, hielt aber grundsätzlich Ordnung in allem. Diese Ordnung war das letzte, woran er sich hielt, sonst wäre für ihn die Welt zusammengebrochen.

»Was kann ich für Sie tun?«, drang die warme, weiche Stimme des Madl an sein Ohr und riss ihn aus seiner Versunkenheit.

»Ach ja, Fräulein Schneider. Schön haben Sie’s sich hier gemacht. Ich wollt’ gern mit Ihnen reden.«

Aufmerksam und sehr gespannt schaute Marita ihn an.

»Ich wollt’ Sie fragen, ob es Ihnen etwas ausmachen würd’, wenn ich den Garten weiter pflege. Ich selbst hab’ leider keinen, doch die Gartenarbeit ist sehr entspannend.«

Marita war sehr überrascht. Alles andere hätte sie erwartet, doch nicht das. Jetzt verstand sie, warum der Garten so schön gepflegt aussah, im Gegensatz zu dem Haus, an dem sie noch sehr viel tun musste. Sie nickte lächelnd.

»Gern, Herr Kollege. Ich hab’ nur wenig Ahnung von Pflanzen und Blumen und freue mich, wenn im Garten alles blüht und grünt. Sie nehmen mir damit eine Sorge von der Seele.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, erklärte Gröner etwas steif.

Es lag ihm noch etwas auf dem Herzen, doch es fiel ihm offensichtlich schwer, damit herauszurücken.

»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen. Das können S’ mir ruhig sagen, wir sind hier allein und ich bin kein Klatschweib.«

»Das weiß ich, Fräulein Schneider. Ja, ich, ich denk’, ich mein’... Mein Verhalten heut früh war wohl net ganz richtig.«

Alfred Gröner hatte bei seinen letzten Worten sehr leise gesprochen, und Marita glaubte, nicht richtig gehört zu haben, nein, er sprach ja plötzlich auch völlig normal. Nichts mehr von dieser so gequälten feinen Aussprache, er verfiel sogar ein wenig in den singenden Tonfall, der den Menschen aus Mittenstein eigen war.

Warm lächelte Marita den alten Mann an, und das machte Gröner offensichtlich Mut.

»Ich glaub’, ich hab’ überzogen reagiert. Und wenn ich mir’s recht betrachte, dann hab’ ich das schon viel zu lang’ getan. Ich war kein guter Lehrer, Fräulein Schneider. Ich hab’ mir net genug Mühe gegeben, auf die Kinder einzugehen. Und da mussten erst Sie kommen, um mir das klarzumachen! Ich bin zwar schon sehr betroffen, aber eigentlich auch dankbar. Ich wollt’ nur, ich könnt’ einiges von dem wiedergutmachen, was ich falsch gemacht hab’.«

Marita räusperte sich. »Ich glaub’ net, dass es so schlimm war, wie Sie’s jetzt glauben. Ihre erste Aufgabe war es doch, den Kindern etwas beizubringen. Und ich bin sicher, das haben Sie auch getan. Wenn auch vielleicht net immer mit den richtigen Mitteln. Machen Sie sich net schlechter, als Sie wirklich sind. Es gibt hier noch sicherlich niemanden, der net lesen und schreiben kann.«

Ein flüchtiges Lächeln glitt über die harten, strengen Züge des Mannes. Ganz verändert sah er plötzlich aus, viel menschlicher, fand das Madl.

»Ich glaub’, das ist das einzige, was ich felsenfest behaupten kann. Alle Kinder, die ich unterrichtet hab’, haben auch was gelernt.«

»Wenn ein Lehrer das sagen kann, dann hat er viel erreicht. Sicher können Sie mir in vielen Dingen helfen. Darf ich Sie ab und zu um Rat fragen?«

Gröner war mehr als überrascht. Marita hatte ihn mit dieser Frage überrumpelt. Sie war eine gute Psychologin, und mit diesen Worten richtete sie ihn wieder auf und machte ihn gleichzeitig zu ihrem Verbündeten.

»Ich würd’ mich freuen, wenn ich Ihnen helfen könnt’«, erklärte er freudig.

»Erzählen Sie mir ein wenig von den Kindern aus dem Dorf, dann lern’ ich sie besser kennen. Mögen Sie noch einen Tee?«

»Gern, vielen Dank«, sagte er und hielt ihr die Tasse entgegen. Dann begann Marita zu fragen, und Gröner war glücklich, ihr helfen zu können. Erst als die Dämmerung bereits hereingebrochen war, verabschiedete er sich, und beide hatten das Gefühl, dass die Unstimmigkeiten zwischen ihnen jetzt ausgeräumt waren.

 

 

4

Die Auskünfte, die Marita von Alfred Gröner erhalten hatte, halfen ihr sehr, die Kinder besser kennenzulernen. In den nächsten Wochen verstand sie die Probleme ihrer Schützlinge schon viel besser. Es würde zwar immer noch seine Zeit brauchen, bis sie sich über alle ein Urteil gebildet hatte, doch so rasch wie diesmal hatte sie noch nie eine Klasse im Griff gehabt.

Drei Tage später schrieben die Kinder gerade etwas von der Tafel ab, als plötzlich die Tür zum Klassenzimmer stürmisch aufgerissen wurde. Marita wollte gerade mit scharfen Worten gegen die Störung protestieren, als sie erkannte, wer da in den Raum gestürzt kam.

»Annelie!«, rief sie überrascht aus, als sie ihre Schwester erkannte.

Aber wie sah das Madl aus! Rote, verschwollene Augen beherrschten das kleine, herzförmige Gesicht. Die Haare, die sonst immer makellos frisiert waren, hingen wirr und gelöst herunter.

»Annelie!«, rief Marita noch einmal, diesmal aber ernsthaft besorgt. »Kinder, seid’s mal fünf Minuten ruhig! Ich bin gleich wieder da.« Sie packte ihre Schwester energisch am Arm, zog sie mit sich und wunderte sich sehr, als das Madl, das sonst immer sehr eigensinnig war, widerspruchslos folgte. Marita führte ihre Schwester in ihr Haus, riet ihr, sich einen Kaffee oder Tee zu kochen und zu warten, bis die Schulstunde zu Ende war.

Die restliche Zeit, die Marita bei den Kindern verbrachte, war sie sehr unkonzentriert. Was wollte ihre Schwester hier? Und warum war sie so aufgelöst?

Marita war die ältere von beiden, aber Anneliese war immer schon sehr selbständig gewesen und hatte sich nur selten von ihrer Schwester helfen oder gar gängeln lassen. Dass sie jetzt hier so erschien, musste einen schwerwiegenden Grund haben. Ob es mit ihrem letzten Brief zusammenhing?

Endlich klingelte die Schulglocke zum Ende des Unterrichts. Eilig raffte Marita ihre Sachen zusammen und lief heim.

Annelie saß noch immer regungslos in der Küche. Sie hatte sich weder etwas zu trinken gemacht, noch sonst irgendwie gerührt.

Mit wenigen Handgriffen hatte Marita einen Kessel Wasser auf den Herd gesetzt, der bald darauf anfing zu summen. Die junge Lehrerin brühte einen starken Kaffee auf und sogleich breitete sich der aromatische Duft in der ganzen Küche aus.

Annelie rührte sich noch immer nicht. Marita stellte zwei Tassen auf den Tisch, und dann, einem spontanen Einfall folgend, ein Glas mit Weinbrand für Annelie. Dann goss sie den dampfenden Kaffee ein und forderte die Schwester auf:

»Komm, Annelie, trink ein wenig. Das wird dir guttun. Komm, sei lieb.« Mit gutem Zureden schaffte sie es nach einer Weile, dass ihre Schwester die Hände um die heiße Tasse legte, als suche sie dort Wärme. Marita löste behutsam eine Hand und schob das Schnapsglas hinein.

»Trink«, befahl sie. Fast willenlos gehorchte das Madl, begann aber gleich darauf heftig zu husten. Aus tränenden Augen schaute Annelie sie mit einem trübseligen Blick an.

Plötzlich legte sie den Kopf auf die Arme und begann jämmerlich zu schluchzen. Ein unstillbarer Tränenstrom ergoss sich, und Marita stand einigermaßen hilflos da. Was sollte sie tun? Wie konnte sie ihrer Schwester helfen?

Zunächst einmal ließ sie das Madl sich ausweinen. Das war immer gut.

Es schien endlos lange zu dauern, bis Annelie sich wiederaufrichtete. Marita reichte ihr ein Taschentuch, mit dem das Madl sich die Tränen von den Wangen wischte, während das Schluchzen langsam nachließ!

»Magst darüber reden?«, fragte Marita verständnisvoll.

Annelie schüttelte den Kopf. Dann schaute sie ihrer großen Schwester ins Gesicht.

»Er hat mich einfach abgeschoben«, sagte sie plötzlich und schluchzte wieder auf. »Er will nix mehr von mir wissen!«

Marita verstand. Sie zog ihre Schwester vom Stuhl hoch, schob sie ins Schlafzimmer und packte sie erst einmal ins Bett. Am nächsten Morgen würde es ihr sicher bessergehen. Jetzt musste sie erst einmal zur Ruhe kommen. Wahrscheinlich hatte Annelie endlich geglaubt, einen Mann gefunden zu haben, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, und dann hatte er sie einfach verlassen.

Eine leise Wehmut stieg in Marita auf, ein wenig Neid sogar, als ihr einfiel, dass sie selbst ihrer großen Liebe noch nicht begegnet war. Noch nie hatte sie dieses Gefühl empfunden, sich einem Mann bedingungslos anvertrauen zu können. Aber, so tröstete sie sich, deshalb war ihr bisher auch der herzzerreißende Kummer erspart geblieben, wie Annelie ihn jetzt empfand. Hier lag ihre kleine Schwester, die immer mit den Männern gespielt hatte, und war todunglücklich. Wer wohl dieser Bursch sein mochte, der ihre kleine Annelie so verletzt hatte? In diesem Moment hätte Marita ihm mit Freuden die Augen ausgekratzt.

 

 

5

»Los jetzt«, kommandierte Konny, rannte zur Tür des kleinen Hauses, klingelte und wartete ungeduldig, dass seine Freundin Anja das Streichholz an die Knallfrösche hielt. Endlich brannte die Lunte zischend, und die beiden liefen davon, während die Feuerwerkskörper laut knallend explodierten. An der Tür, an der sie geklingelt hatten, erschien Annelie Schneider, starrte einen Moment erschrocken hinaus und schlug dann hastig die Haustür wieder zu.

»Das war stark«, erklärte Konny begeistert und mit Kennermiene.

»Meinst net, dass das zuviel war? Sie hätt’ ja einen Herzschlag kriegen können«, sagte Anja etwas zweifelnd.

»Die doch net. Die ist so stur, die kriegst ja net mal mit’ nem Kanonenschlag aus der Ruhe«, meinte Konny großspurig.

Annelie wohnte jetzt seit einer Woche bei Marita, und sie hatte sich für das Madl als kleines Problem erwiesen. Annelie hatte bisher nur wenig mit Kindern zu tun gehabt, verstand auch ihre Schwester nicht, die sich freiwillig mit der Erziehung fremder Kinder abgab, und brachte dem Ganzen daher wenig Verständnis entgegen.

Sie hatte einigen Schülern, die Marita besuchen wollten, kurzerhand erklärt, sie bräuchte jetzt dringend ihre Ruhe und Marita sei schließlich in der Schule für sie da und brauche auch ein wenig freie Zeit. Außerdem legte Annelie viel Wert auf Ordnung und ein geregeltes Leben, anders als Marita, die oft spontane Einfälle hatte und schon mal alle fünfe gerade sein ließ. Es gab daher einige Streitpunkte zwischen den beiden Schwestern, was die Kinder natürlich schnell herausbekamen.

Geschickt begannen sie, die Madln gegeneinander auszuspielen, was Marita aber ebenso rasch durchschaute. Sie liebte ihre Schwester vielleicht eher noch mehr, seit Annelie ihr ihre Geschichte erzählt hatte.

Am zweiten Abend war es gewesen, als Annelie sich endlich wieder etwas normaler benahm und wenigstens auf Maritas Fragen antwortete. Die Madln saßen abends gemütlich beim Wein, Marita hatte den Kamin angezündet, weil der Abend doch schon kühl wurde, und die zwei hatten ein belangloses Gespräch geführt. Schließlich fragte Marita ganz offen:

»Warum sagst du mir net, was geschehen ist? Du weißt doch, mit mir kannst über alles reden.«

Annelie nahm noch einen Schluck Wein, starrte eine Weile sinnend in die flackernden Flammen und begann mit leiser Stimme zu reden.

»Du weißt ja, dass ich beim Weber in der Agentur gearbeitet hab’. Na ja, und mit der Zeit hab’ ich mich schrecklich in ihn verliebt. Weißt, er ist ja so sympathisch, zuvorkommend und freundlich gewesen, immer gut aufgelegt und sehr großzügig. Und nach einiger Zeit machte er mir dann auch Komplimente über meine Frisur, meine Kleider, mein Aussehen, einfach über alles. Ja, dann kam’s, wie’s kommen musste. Ich ging mit ihm aus, wir hatten eine Menge Spaß zusammen, und ich dacht’, ich hätt’ endlich den Richtigen gefunden.« Sie schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Und dann hab’ ich ihn zusammen mit einer anderen gesehen. Da hab’ ich ihn dann gefragt, was ihm denn einfiele, mit einer anderen herumzupoussieren. Und da hat er mir eine furchtbare Szene gemacht. Was mir denn überhaupt einfiele, er war’ doch net mein Eigentum, und er könnt’ immerhin machen, was er wollt’. Ich gab ihm natürlich 'raus, weil ich schrecklich eifersüchtig war. Und dann meinte er plötzlich ganz seelenruhig, es sei eine schöne Zeit gewesen mit mir, und er hätt’ ebenso seinen Spaß gehabt wie ich, aber jetzt wär’s genug. Und meine Arbeit würd’ in Zukunft eine andere machen, da ließe ich doch wirklich sehr zu wünschen übrig.«

Annelies Stimme war zuletzt immer leiser geworden. Die Tränen rannen über ihr Gesicht, verzweifelt schlug sie die Hände vor die Augen, und sie schluchzte wieder herzzerreißend auf.

Marita war empört. Eines wusste sie mit Sicherheit, ihre Schwester hatte immer saubere und ordentliche Arbeit geleistet. Ihr vorzuwerfen, sie sei nachlässig gewesen, war der Gipfel der Unverschämtheit. Sicher hatte sie häufig mit den Männern gespielt und längst nicht alles ernst genommen, und vielleicht hatte Markus, Annelies Chef, das auch gewusst und falsche Schlüsse daraus gezogen. Doch eine solche Behandlung hatte sie nicht verdient.

»Ich glaub’, ich muss diesem feinen Herrn mal den Kopf waschen«, stieß Marita erbost hervor.

»Nein, bitte nicht«, bat Annelie. »Ich will ihn niemals wiedersehen und nix mehr mit ihm zu tun haben.«

»Du sollst ihn auch net sehen. Das werd’ ich schon allein besorgen.« Marita war wütend.

»Nein, lass, es lohnt net. Ich hab’ ihm meine Meinung sehr deutlich klargemacht.«

»So? Wie denn?«, wollte ihre Schwester wissen.

Ein schüchternes Lächeln erschien auf Annelies Gesicht, auf dem noch immer deutlich die Tränenspuren zu sehen waren; Marita fand, dass die Schwester wie ein kleines Madl wirkte.

»Ich hab’ ihm eine sündhaft teure Vase zerschmissen«, bekannte sie mit schelmischem Lächeln.

»Du hast was?«, fragte Marita fassungslos.

»Die Vase stand gerade in Reichweite, und ich war so wütend«, erklärte Annelie.

Marita musste wider Willen lachen. »Ich glaub’ fast, dann ist er gestraft genug. Aber was hast denn jetzt vor?«

»Ich weiß noch net. Kann ich net erst einmal hierbleiben, bis ich was Neues gefunden hab’?«

»Was ist denn mit deiner Wohnung?«, erkundigte Marita sich vorsichtig.

»Da will ich erst mal net hin, weil mich alles an ihn erinnert, verstehst du das?«

»Du kannst natürlich hierbleiben. Aber hast dir auch gut überlegt, dass dies hier ein kleines Dorf ist? Die Kinder kommen zu Besuch, und jedermann ratscht hier herum. Meinst, das kannst du lange aushalten?«, fragte Marita ein wenig skeptisch.

»Ich denk’, für einige Zeit wird’s gehen«, gab Annelie zur Antwort.

Doch so einfach war das Zusammenleben für die beiden Mädeln nicht. Marita kam morgens nur schwer aus dem Bett und brauchte die kräftige Aufforderung eines lauten Weckers, Annelie stand schon vor Morgengrauen auf und werkelte in der Küche herum. Marita tat im Haus nur das Notwendigste, Annelie konnte stundenlang kochen, putzen und waschen. Marita saß gern ruhig bei einem guten Buch im Kerzenschein, Annelie brauchte Musik und Gespräche, sie war nicht gern allein.

So mussten die Schwestern Kompromisse schließen, und es ging mitunter mehr schlecht als recht.

In der Schule hatten die Kinder natürlich neugierige Fragen gestellt, und sie hatten auch Annelie selbst bestürmt und zum Spielen überreden wollen. Doch sie hatte sich abweisend verhalten, was die Kinder ihr sehr übelnahmen. Seit diesem Zeitpunkt war Annelie zum Ziel aller Streiche geworden, deren Höhepunkt jetzt gerade in dem Überfall mit den Knallfröschen erreicht war.

Wutentbrannt lief das Madl in die Küche und empfing die Schwester bei deren Heimkehr mit finsterer Miene und einem Schwall von Vorwürfen gegen die Kinder.

Marita kam vom Einkäufen zurück, hatte die Hände voller schwerer Taschen, sie fühlte sich müde und erschöpft und wünschte sich nichts als ein wenig Ruhe.

»Was haben Sie denn jetzt schon wieder angerichtet?«, fragte sie entnervt.

»Knallfrösche haben sie losgelassen, direkt vor der Tür! Ich hätt’ einen Herzschlag kriegen können. Diese ungezogenen Bälger«, schimpfte Annelie.

Marita stellte die schwere Tasche in der Küche auf den Tisch. »Hast schon mal daran gedacht, dass du vielleicht ein bisserl provozierst? Du magst die Kinder net, und das spüren sie. Du solltest vielleicht mal ein freundliches Wort finden, dann würden sie dich gewiss eher akzeptieren.«

»Weiter sagst du nix?«, empörte sich Annelie.

»Weiter kann ich dazu nix sagen. Hast du denn gesehen, wer’s war? Dann knöpf’ ich mir den Bengel mal vor.«

»Nein, hab’ ich net gesehen. Außerdem hätt’ ich sie eh’ net unterscheiden können.«

Marita seufzte. Es war nicht leicht mit Annelie, und so gern sie die Schwester hatte, hoffte sie doch, dass diese bald woanders Arbeit finden würde.

 

 

6

Die ganze Klasse saß ruhig da und schrieb. Ein Finger ging hoch.

»Kann ich mal kurz etwas aus meiner Jacke im Flur holen?«, fragte Konny merkwürdig artig.

»Ja. Aber beeil dich bitte«, sagte Marita und wandte sich wieder ihrer Korrekturen zu. Es dauerte nicht lange, bis der Bub zurückehrte.

»Das ging aber wirklich schnell«, lobte das Madl.

»Ach wissen Sie, es stinkt da draußen so furchtbar, dass man es gar net aushalten kann«, erklärte der Bub.

»Wie bitte?«, wollte Marita wissen, die glaubte, sich verhört zu haben.

»Na, da draußen, im Flur und überall.«

Unterdrücktes Kichern war zu hören, als Marita zur Tür ging, diese öffnete und hinaustrat. Es stank wirklich.

»Bleibt ruhig«, sagte sie über die Schulter zu den Schülern, als weiterhin Gekicher und Geflüster zu hören waren.

Im Flur verstärkte sich der Gestank noch. Marita hielt sich die Nase zu und ging weiter. Von irgendwoher müsste doch dieser penetrante Geruch kommen! Sie bog um die Ecke und stellt fest, dass hier der Gestank am stärksten zu sein schien. Und hier lagen ein paar Scherben am Boden, notdürftig zusammengekehrt und unter einen Heizkörper geschoben, aber noch zu sehen.

Für Marita war alles klar. Sie riss alle erreichbaren Fenster auf, um Luft hereinzulassen. Das Glas war ein Beweis, dass hier jemand eine Stinkbombe gelegt hatte und dieser Jemand konnte niemand anderes sein als Konny Schwender. Er war als einziger während der Schulstunde hinausgegangen, und er hatte schließlich Marita darauf aufmerksam gemacht.

Jetzt war sie wirklich wütend. Sie lief zurück in die Klasse und sagte:

»Für heute beenden wir den Unterricht, ihr könnt heimgehen. Alle, bis auf Konny.«

Der Bub blieb wie erstarrt sitzen, Anja, seine Freundin, tat es ihm nach.

»Anja, du kannst gehen. Ich hab’ mit Konny noch was zu bereden.«

»Aber der Konny hat doch nix gemacht. Und wenn, dann war ich dabei. Also muss ich auch bleiben«, erklärte das Dirndl mit verblüffender Logik.

»Anja, ich glaub’, hier hast du ausnahmsweise nix damit zu tun, dich trifft keine Schuld.«

Noch immer zögernd und nach einem fragenden Blick zu Konny nahm Anja ihre Tasche und lief hinaus. Auch die anderen Schüler hatten schon lachend und johlend das Gebäude verlassen.

Drinnen saß Konny auf seinem Stuhl wie ein armer Sünder. Er erwartete, jetzt auch von Marita ein paar saftige Streiche über den Hosenboden gezogen zu bekommen. Doch die ging die Sache anders an.

»Weißt Konny, ich war auch mal so alt wie du und hab’ in der Schule dem Lehrer Streiche gespielt. Aber das heut war net fair von dir, weil die ganze Schule darunter leidet. Stell dir einmal vor, jetzt haben wir den Unterricht abgebrochen, und was wir heut versäumen, müssen wir dann ein andermal nachholen. Wie willst sonst Lesen und Schreiben lernen? Und das kostet net nur meine Zeit, sondern auch eure. Denk immer darüber nach, wen du schädigst mit deinen Streichen. Dieser ging einfach zu weit. Ich möcht’ heut Nachmittag deinen Vater sprechen und zwar hier in der Schule.«

»Ja, aber ....«, druckste der Bub herum und sah sie treuherzig an, »aber mein Vater muss das doch net wissen, oder?«

»O doch. Heut Nachmittag schickst ihn mir her. Und keine Ausflüchte.«

Sehr geknickt schlich Konny heim, und als Marita ihm nachsah, konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken. Als sie jedoch den Flur betrat, in dem noch immer der aufdringliche Geruch in der Luft hing, straffte sie ihre Schultern. Sie hatte richtig gehandelt, denn irgendwie musste sie auch ihre Autorität wahren.

Konrad Schwender war ausgesprochen ungehalten. Er starrte seinen Sohn finster an, als der ihm mit leiser Stimme erklärt hatte, dass die neue Lehrerin ihn noch heute Nachmittag zu sehen wünsche. Auf die Frage nach dem Warum schwieg Konny sich aus, obwohl es seinem Vater doch nicht lange verborgen bleiben würde, was er angestellt hatte.

»Wennst net magst, gehst einfach net hin«, erklärte der Bub statt einer Antwort, was den Bauern noch wütender machte.

»Wenn deine Lehrerin mich sehen will, dann wird’s schon einen Grund haben. Es wäre besser, du würdest ihn mir gleich sagen, denn dann steh’ ich vor deinem Fräulein Schulmeister net da wie ein Depp!«

Der drohende Tonfall seines Vaters bewog Konny nun doch zögernd mit der Wahrheit herauszurücken.

»Ja, weißt, das war so ...« Stockend und langsam erzählte Konny die Geschichte mir der Stinkbombe. Schwender konnte sich ein Schmunzeln nur mit Mühe verkneifen, machte jedoch ein ernstes Gesicht, um seinen Sohn zu zeigen, dass es mit seinen Scherzen nicht immer so weitergehen konnte. Schließlich stand er auf.

»Wir werden’s ja sehen«, meinte er. »Hoffentlich erfahr’ ich net noch tausend andere Schandtaten. Aber so lern’ ich wenigstens deine Lehrerin kennen.«

Er war noch immer nicht ganz beruhigt. In gewisser Weise empfand er diese Aufforderung als Zumutung, denn dieses Gespräch hielt ihn nur von der Arbeit ab.

Dennoch stand er kurz darauf vor der Tür des kleinen Häusels, in dem Marita wohnte, und klopfte einmal. Nichts rührte sich. Er klopfte noch einmal. Nichts! Dann entdeckte er den nagelneuen kleinen Klingelknopf, der noch nicht dagewesen war, bevor die junge Lehrerin eingezogen war.

Kräftig drückte Konrad auf den Knopf. Drinnen erklang ein melodischer Gong, und gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Vor ihm stand ein kleines, schmales Persönchen. Lockiges, haselnussbraunes Haar umrahmte ein schmales Gesicht mit einem herzförmigen Mund, ein Blick ausstrahlenden braunen Augen traf ihn, und dann erschien ein Lächeln auf dem hübschen Gesicht. Konrad war wie vor den Kopf geschlagen. Dies hier sollte die neue Lehrerin sein?

Der junge Bauer wusste nicht ganz genau, was er erwartet hatte. Bei dem Wort Lehrerin hatte er sich wohl automatisch eine alte, verknöcherte Frau mit Brille und Haarknoten vorgestellt, und so traf ihn der Anblick der hübschen jungen Frau gänzlich unerwartet.

»Donnerwetter!«, entfuhr es ihm ungewollt.

»Hagel und Blitz!«, gab das Wesen vor ihm schlagfertig zurück. »Aber vielleicht versuchen Sie’s einmal mit >Guten Tag<! Sie sind Herr Schwender?«

»Ja. Grüß Gott auch!«

Marita schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, kam heraus und zog die Tür hinter sich zu.

»Ich bin Marita Schneider, und ich freu’ mich sehr, Sie kennenzulernen. Auch wenn die Umstände vielleicht net ganz danach sind, Freude zu empfinden.« Unbefangen hielt sie ihm die Hand hin, die Schwender wie verzaubert ergriff. »Kommen Sie, wir gehen zum Ort der Übeltat. Ich fürchte, ich kann morgen noch keinen Unterricht halten. Da hat sich ihr Konny einen ganz üblen Streich einfallen lassen. Sie wissen doch, was er wieder angestellt hat?«

Diese freundlichen Worte, die sich um das Einzige drehten, das Konrad Schwender wirklich am Herzen lag, nämlich seinen Sohn, holten ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Fräulein Schneider, glauben Sie wirklich, dass ein Dummer-Jungen-Streich so schlimm ist, dass Sie mich gleich her zitieren müssen?« Er straffte die Schultern und bemühte sich, möglichst streng dreinzublicken. Da hatte er sich wirklich von dieser Person verzaubern lassen, dabei wollte sie doch nichts weiter als ihn herunterputzen! Vielleicht würde sie ihm sogar Vorwürfe machen, dass er sich zu wenig um seinen Sohn kümmerte! Nein, da war sie bei ihm an der falschen Adresse. Das würde er ihr schon beibringen.

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738912982
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
heimat-roman doppelband
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Titel: Heimat-Roman Doppelband #3