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19 Alfred Bekker Krimis auf 2300 Seiten

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2017 2300 Seiten

Zusammenfassung

19 Krimis für den Urlaub auf 2300 Seiten
Neun Romane in einem Buch - 2300 Seiten Thriller Spannung

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 2300 Taschenbuchseiten.

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Neun spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

ALFRED BEKKER ist ein Schriftsteller, der vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Alfred Bekker: Das Elbenkrieger-Profil

Alfred Bekker: Ein Killer läuft Amok

Alfred Bekker: Mord am East River

Alfred Bekker: Stadt der Schweinehunde

Alfred Bekker: Im Zeichen der Fliege

Alfred Bekker: Der Hacker

Alfred Bekker: Kahlgeschoren

Alfred Bekker: Mörder-Chip

Alfred Bekker: Erwürgt!

Alfred Bekker: Die namenlose Tote

Alfred Bekker: Abendessen mit Konversation

Alfred Bekker: Kubinke und die Katze

Alfred Bekker: Ein Fall für den Norden

Alfred Bekker: Tod in Tanger

Alfred Bekker: Die programmierten Todesboten

Alfred Bekker: Mörderpost

Alfred Bekker: Amok-Wahn

Alfred Bekker: Bilder eines Mordes

Alfred Bekker: Die Tour des Mörders

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


19 Krimis für den Urlaub auf 2300 Seiten

Neun Romane in einem Buch -  2300 Seiten Thriller Spannung

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 2300 Taschenbuchseiten.

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Neun spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Mal lokal-deutsch, mal amerikanisch. Und immer anders, als man zuerst denkt.

ALFRED BEKKER ist ein Schriftsteller, der vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Alfred Bekker: Das Elbenkrieger-Profil

Alfred Bekker: Ein Killer läuft Amok

Alfred Bekker: Mord am East River

Alfred Bekker: Stadt der Schweinehunde

Alfred Bekker: Im Zeichen der Fliege

Alfred Bekker: Der Hacker

Alfred Bekker: Kahlgeschoren

Alfred Bekker: Mörder-Chip

Alfred Bekker: Erwürgt!

Alfred Bekker: Die namenlose Tote

Alfred Bekker: Abendessen mit Konversation

Alfred Bekker: Kubinke und die Katze

Alfred Bekker: Ein Fall für den Norden

Alfred Bekker: Tod in Tanger

Alfred Bekker: Die programmierten Todesboten

Alfred Bekker: Mörderpost

Alfred Bekker: Amok-Wahn

Alfred Bekker: Bilder eines Mordes

Alfred Bekker: Die Tour des Mörders

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Das Elbenkrieger-Profil

von Alfred Bekker

Ein Serienkiller geht um im Münsterland, sein letztes Opfer wird auf dem berühmten Mittelalter-Markt von Telgte gefunden. Doch während Kriminalhauptkommissar Sven Haller von der Kripo Münster und Kriminalpsychologin Anna van der Pütten im Dunkeln tappen, heftet sich ein Ermittler an die Fersen des irren Mörders, der selbst wahnsinnig zu sein scheint: Er nennt sich Branagorn der Elbenkrieger und behauptet, aus einer anderen Welt zu stammen. Doch er scheint der Einzige zu sein, der es mit dem Mörder aufnehmen kann ...

Prolog

Wer ist schon fähig, darüber zu richten, was der Traum, was der Wahn und was die wirkliche Welt ist - außer dem Herrn? Und geht es nicht vielen von uns wie dem Besessenen in der Geschichte von den Schweinen zu Gerasa, den Jesus nach dem Namen fragt und der da antwortet: „Mein Name ist Legion, denn viele sind wir.“

Branagorn von Corvey (auch bekannt als Fra Branaguorno d'Elbara), in den Jahren 989-1002 Lehrer, Erzieher und Berater von Kaiser Otto III.

––––––––

Sire, geben Sie Narrenfreiheit!

Mynona (alias Salomo Friedlaender; 1871-1946)

Die Tote in Telgte

Der Blick durch das Zielfernrohr zeigt den Körper einer jungen Frau. Erst auf den zweiten Blick sieht man, dass es eine Frau ist, denn ihr Schädel ist vollkommen kahl. Sie lehnt mit dem Rücken gegen das Wagenrad eines Anhängers. Ihr Blick ist starr und tot, die Augen weit aufgerissen, die Züge eine Maske puren Entsetzens. Das Fadenkreuz ist genau auf den Hals ausgerichtet, wo noch immer Blut austritt und dann von der Kleidung aufgesogen wird.

Ein Mann kommt herbei. Er trägt die Gewandung eines mittelalterlichen Händlers. Das Trinkhorn entfällt ihm vor Schreck. Met spritzt heraus. Er ruft laut und versucht dabei, den Sound der Mittelalter-Rockband mit der nervtötenden Leier zu übertönen. Seine Stimme klingt heiser. Es dauert nicht lange und andere kommen herbei. Ein kleiner Menschenauflauf bildet sich.

„Notarzt!“, ruft jemand.

Nein, für den ist es zu spät.

Viel zu spät.

Das Entsetzen breitet sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Nur eine einzige Seele empfindet jetzt so etwas wie Zufriedenheit. Nein, eher Genugtuung. Und auch das nur für einen sehr kurzen, raren Moment, der rasch verfliegt. Ein paar Herzschläge – länger dauert es nicht.

Schließlich senkt sich der Blick durch das Zielfernrohr, obwohl es kaum möglich ist, sich aus dem Bann der Ereignisse zu befreien.

Eine Hand greift in die weiten Taschen des Gewandes und fühlt nach den Büscheln mit Haaren, die sich darin befinden. Dichtes, dickes Haar ist es. Erinnert schon fast mehr an die Mähne eines Pferdes als an das Haar einer Frau. Es fühlt sich auf jeden Fall gut an.

Ein Gedanke drängt sich auf.

Jetzt gehört es mir!

*

„Danke, dass Sie so freundlich waren, mich mitzunehmen“, sagte Anna van der Pütten. Sie war 31, Kriminalpsychologin, hatte dunkelbraunes, schulterlanges Haar, das sie mit ein paar Nadeln zu einer Frisur aufgesteckt hatte, die ihr im Moment reichlich ramponiert vorkam. Es hatte alles etwas schnell gehen müssen, und zu allem Überfluss war ihr Wagen gerade heute in der Werkstatt. Aber auf so etwas nahmen Mörder leider keine Rücksicht. Und Serienkiller schienen in dieser Hinsicht besonders rücksichtslos zu sein. Ein halbes Jahr Pause ohne Mord und dann zielsicher einen Tag heraussuchen, an dem es einem schlecht passte. Fast konnte man dahinter böse Absicht vermuten. Oder doch eher eine Projektion meinerseits!, überlegte Anna, die gerade damit beschäftigt war, den Inhalt ihrer Handtasche zu ordnen. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, dort für Ordnung zu sorgen. Vielmehr war das eine Art Ritual für sie, dass der Konzentration diente. Geordnete Tasche, geordneter Geist. Ein kleiner Trick, um umzuswitchen und kurzfristig alles vergessen zu können, was bis vor ein paar Minuten noch wichtig erschienen war und jetzt nichts als geistigen Ballast darstellte, den man so schnell wie möglich loswerden musste, um sich auf die nächste Anforderung zu sammeln. In Anna van der Püttens Beruf war dies ein immer wiederkehrendes Problem. Man hatte sich in einem Gespräch mit einem Patienten sehr stark auf dessen jeweilige Problematik eingelassen, war tief in die traumatisierenden Erlebnisse eines Menschen, der überfallen worden war, eingestiegen und musste sich dann blitzschnell auf einen potenziellen Selbstmörder einstellen, der mutwillig als Geisterfahrer auf der A1 unterwegs gewesen war, um dabei den Tod zu finden, und bei dem festgestellt werden sollte, inwiefern die Gefahr von Selbst- oder Fremdgefährdung noch anhielt.

Am Steuer des Volvo saß Kriminalhauptkommissar Sven Haller von der Kripo Münster. Eine gute Viertelstunde war es her, da das Telefon in seinem Büro im Polizeipräsidium am Friesenring geklingelt und er die Nachricht erhalten hatte, dass es ein neues Opfer des 'Barbiers' gab.

Ein halbes Jahr war Ruhe gewesen. Und jetzt hatte jener geheimnisvolle Serienmörder, der bereits zuvor vier Frauen ermordet hatte, wieder zugeschlagen. Barbier nannte ihn die Boulevardpresse inzwischen, weil er die Angewohnheit hatte, seinen Opfern post mortem die Haare abzurasieren, von denen sich dann an den Tatorten auch stets so gut wie nichts mehr befunden hatte.

Frauenhaar schien für den Mörder so etwas wie eine Trophäe zu sein. Ansonsten glich kein Verbrechen dem anderen und die ermittelnden Behörden tappten noch immer vollkommen im Dunkeln.

Sieben Jahre war der erste Fall schon her. Am Anfang hatte sich das LKA eingeschaltet und eine große Sonderkommission war gebildet worden, die für eine Weile fast die gesamten personellen Kapazitäten der Kripo Münster gebunden hatte. Aber das Interesse von Medien und Öffentlichkeit war flüchtig – und nachdem die Ermittlungen irgendwann mehr oder minder stecken geblieben waren, landete der Fall schließlich bei den unaufgeklärten Verbrechen. Viele davon gab es nicht. Zumindest bei den Morden, die überhaupt als solche bekannt wurden, konnte man mit einer fast vollständigen Aufklärungsrate rechnen.

Der Barbier war eben einer der wenigen Ausnahmen. Er hatte in den darauffolgenden Jahren wieder und wieder zugeschlagen. Immer waren die Opfer junge Frauen und immer sicherte er sich ihr Haar als Trophäe – oder welche abartige Begründung auch immer letztlich für sein Vorgehen herhalten mochte. Die Kollegen des LKA hatten ein sogenanntes Profiling vorgenommen und versucht, die Taten anhand einer exakten Analyse des Tatortes einem bestimmten Tätertypus zuzuschreiben, den man vielleicht näher eingrenzen konnte.

Aber irgendwie schien sich der Barbier all dieser Kategorisierungen zu entziehen. Kein Verbrechen glich dem anderen, die Methode war jedes Mal unterschiedlich und inzwischen hatte Sven Haller die von den Kollegen angefertigten Gutachten innerlich bereits in den Papierkorb geworfen. In diesem Fall passte einfach nichts zusammen. Jede Spur schien nur weiter in die Irre zu führen.

Und doch dachten weder Sven Haller noch Anna van der Pütten daran aufzugeben.

Anna van der Pütten war erst beim letzten Fall vor einem halben Jahr hinzugezogen worden. Sie hatte sich in die Materie eingearbeitet, und anfangs hatte Haller die Hoffnung gehabt, durch ihre Unterstützung die Ermittlungsfäden noch mal aufnehmen zu können.

Aber diese Hoffnung hatte sich leider nicht erfüllt. In den letzten sieben Jahren war kein Tag vergangen, an dem dieser Fall Sven Haller nicht wenigstens für kurze Momente durch den Kopf gegangen war. Der Gedanke, dass ein Mörder nicht nur nach wie vor frei herumlief, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit nach weiteren Opfern suchen und irgendwann wieder zuschlagen würde, hatte Haller nicht losgelassen.

Nun war genau das eingetreten.

„Ist es wirklich sicher, dass es der Barbier war?“, fragte Anna van der Pütten in die bedrückende Stille hinein. Haller war gerade auf die Westbeverner Straße gefahren. Von nun an musste man nur noch den Schildern mit der Aufschrift 'Telgte' folgen, um auch tatsächlich nach Telgte zu kommen. Sie kamen gerade an einem Plakat vorbei, das auf den berühmten Mittelalter-Markt hinwies, der zweimal im Jahr in der Kleinstadt vor den Toren Münsters stattfand.

Genau dieses Ereignis hatte der Täter sich offenbar für sein Comeback als Serienkiller ausgesucht.

„Nach dem, was die Kollegen durchgegeben haben, treffen alle Merkmale zu. Auch die, die nicht in der Presse waren. Es muss derselbe Verrückte sein.“

„Ich weiß, dass das kein Trost ist, Herr Haller, aber vielleicht kommen wir ihm durch diesen Mord ein Stück näher!“

„Nein, das ist tatsächlich kein Trost“, murmelte Haller düster.

„Versuchen Sie, sich nicht persönlich in die Sache zu involvieren“, sagte Anna van der Pütten. „Betrachten Sie die Tatsache, dass dieser Mörder wieder zugeschlagen hat und noch immer keine Handschellen trägt, nicht als persönliche Niederlage.“

„Tut mir leid, das tue ich aber“, erwiderte Haller etwas ungehalten. „Ich kann da nicht einfach nur meinen Job machen. Das geht einfach nicht.“

„Vielleicht wäre das aber das Beste.“

„Was?“

„Wenn Sie einfach Ihren Job machen. Und nicht mehr.“

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen unbekannten Irren analysieren würden – und nicht mich, Frau van der Pütten!“ Hallers Worte klangen etwas ärgerlich. Die größten Fehler wurden bei Ermittlungen meistens am Anfang gemacht, wusste Anna. Frühzeitige Festlegungen aufgrund von zu großer persönlicher Anteilnahme, individuellen Vorurteilen oder zu großer Empathie mit dem Opfer. Aber Anna schwieg jetzt. Sie wusste nur zu gut, dass es nicht darauf ankam, jemandem die Wahrheit zu sagen. Es kam vielmehr darauf an, diese Wahrheit im richtigen Moment zu sagen – und das war immer ein Moment, in dem sie auch angenommen werden konnte. Alles andere war schlicht sinnlos.

„Er ist wie eine Zikade“, sagte Haller plötzlich.

„Wer?“

„Na, der Mörder. Wer sonst?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung davon, wie dieser Vergleich gemeint ist. In Biologie war ich nie besonders gut.“

Haller lächelte matt. „Zikaden schlüpfen nur alle 17 Jahre. In der Zwischenzeit sind sie scheinbar verschwunden, aber nach 17 Jahre treten sie so massenhaft auf, dass ihre Fressfeinde völlig überfordert mit den großen Schwärmen sind. Verstehen Sie nicht? Für eine Weile in der Versenkung zu verschwinden, ist eine Strategie, um sich seinen Jägern zu entziehen, sie glauben zu machen, dass man gar nicht mehr existiert. Und wenn derjenige dann plötzlich doch wieder aus der Versenkung auftaucht, rechnet niemand mehr mit ihm!“

„Ein guter Vergleich. Aber ich fürchte, unser Mörder wird keine 17 Jahre brauchen, um erneut aufzutauchen. Wenn es wirklich bei allen Morden dieser Serie derselbe Täter war, dann dürfte seine Reizschwelle inzwischen erheblich vermindert worden sein. Er wird immer schneller diesen besonderen Kick brauchen, den ihm seine Taten verschaffen.“

*

Mehrere Wiesen waren während des Mittelalter-Marktes in Telgte zu Parkplätzen umfunktioniert worden. Aber Haller dachte gar nicht daran, das letzte Stück bis zur sogenannten Planwiese zu Fuß hinter sich zu bringen, die ganz im Zeichen mittelalterlicher Heerlager und eines ausgedehnten Marktes stand. Er fuhr bis zum eigentlichen Markt. Ordner, die ihn aufzuhalten versuchten, bekamen seinen Dienstausweis entgegengehalten.

Schließlich ging es allerdings auch mit Hilfe dieses Ausweises nicht mehr weiter. Haller stellte den Wagen zu ein paar anderen Dienstfahrzeugen, die bereits früher eingetroffen waren. Anna van der Pütten stieg einen Moment vor ihm aus.

Sie ließ den Blick über den Mittelalter-Markt schweifen. Sowohl viele der Aussteller als auch zahlreiche Gäste hatten sich in eine mittelalterliche Gewandung geworfen. Sie trugen Wams, Umhang, spitze Lederstiefel, die an der Spitze die Form eines nach oben gebogenen Schnabels aufwiesen. Die Frauen trugen geschnürte Kleider und an jeder Ecke gab es Schwerter, Trinkhörner und andere Dinge, die entweder tatsächlich oder vermeintlich mittelalterlich waren. Manchmal mischte sich das mit Accessoires der Gothic- und der Fantasy-Szene, und so fand sich zwischen all den aufrechten Recken, holden Burgmaiden oder bunten Gauklern, die mit ihren Kunststücken die Leute zu unterhalten wussten, hin und weder auch ein untoter Vampir oder ein mehr oder minder gut geschminkter Ork. Anna war schon einmal auf dem Mittelalter-Markt in Telgte gewesen – allerdings in der Vorweihnachtszeit, wenn dort eine ganz andere, nicht minder reizvolle Atmosphäre herrschte und die hehren Recken und holden Maiden die Kälte mit reichlich Met bekämpften. Schließlich waren die wenigstens in ihrer historischen Gewandung so naturgetreu, dass sie sich die Kleidung etwa mit Pferdehaaren ausstopften. Jetzt war Sommer und da es in den letzten Wochen nicht geregnet hatte, sank man auf der Wiese wenigstens nicht bis zum Knöchel in den Schlamm ein.

Es war auffällig, dass viele Leute zusammenstanden und redeten, während sich eine Mittelalter-Rockband auf der Bühne ziemlich vergeblich darum bemühte, ihr Publikum zu begeistern. Aber das war keineswegs die Schuld der Musiker. Genauso wenig wie es nicht an den Auslagen der Händler lag, dass sich im Moment kaum jemand für Dolche, Schwerter, Gewandung oder CDs mit originalgetreuem Minnesang in historisch korrektem Mittelhochdeutsch interessierte. Es hatte sich offenbar inzwischen herumgesprochen, dass irgendetwas Schreckliches geschehen war. Die verhältnismäßig große Anzahl von uniformierten Polizisten war ein Indiz dafür. Außerdem war ein Teil des Marktes quasi abgeriegelt worden. Eine Markierung mit Flatterband zeigte an, welcher Bereich nicht mehr betreten werden durfte.

„Da sind Sie ja endlich“, begrüßte einer der Uniformierten die beiden Ankömmlinge. Er war Mitte fünfzig, hatte einen grauen Bart und wirkte etwas behäbig. Anna hatte das Gefühl, dieses Gesicht irgendwann schon einmal gesehen zu haben, aber das konnte auch eine Täuschung sein. Sie hatte oft mit Polizisten zu tun und es gab viele in diesen Jahrgängen und mit ähnlich grauen Bärten.

Haller runzelte die Stirn.

„Wer sind Sie denn?“, fragte er.

„Kriminalobermeister Ternieden. Ich leite den Einsatz hier.“

„Ach so.“

„Dafür weiß ich aber, wer Sie sind – nämlich vom Kollegen im ausgebeulten Cord-Jackett.“

„Kommissar Raaben ist schon da?“

„Ja. Schon eine geraume Weile.“

„Und wo ist die Tote nun?“

„Hinter dem Stand da vorne. Folgen Sie mir.“ Bevor sie gingen, wandte sich Ternieden an Anna van der Pütten. „Sie sind wahrscheinlich die Gerichtsmedizinerin?“

„Nein, Kriminalpsychologin. Ich heiße Anna van der Pütten.“

„Oh tut mir leid.“

„Was?“

„Es hat mir niemand gesagt, dass jemand wie Sie kommt. Ich sag immer, wenn schon einer tot ist, ist es eigentlich zu spät für den Einsatz eines Psychologen.“ Anna war sich nicht sicher, ob das witzig gemeint gewesen war. Ternieden schien sich da selber nicht so ganz im Klaren zu sein. Er wirkte jedenfalls etwas verlegen und unsicher. „Am besten, Sie beide sehen sich einfach mal an, was los ist“, meinte er schließlich. „Also, ich bin ja schon lange dabei und habe auch schon manches mitansehen müssen. Von Unfällen auf der A1 bis zu sonst was – aber das hier wird mir sicher einige Nächte lang den Schlaf rauben!“, war er überzeugt.

*

Die Tote lehnte gegen ein Anhängerrad. Anna erschrak unwillkürlich. Es war nicht der Tatort, der sie erschreckte, und wenn Haller mit seiner Vermutung recht hatte, dann war es noch nicht einmal der erste, für den dieser spezielle Täter verantwortlich war. Und trotzdem konnte Anna nicht verhindern, dass ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. Es gab eben Dinge, an die konnte man sich trotz aller professioneller Distanz einfach nicht gewöhnen. Und vielleicht war das auch ganz gut so. Man durfte sich nur nicht so sehr von den grausigen Umständen einer Tat gefangen nehmen lassen, dass man seinen Job nicht mehr machen konnte. Wie so oft war die Dosis entscheidend. Etwas Einfühlung war gut, zu viel davon reines Gift, wenn es darum ging, der Wahrheit ein Stück näher zu kommen.

Im Hintergrund hörte Anna wie aus weiter Ferne, wie einer der Polizisten über Funk fragte, wieso denn die Gerichtsmedizin noch nicht da sei und dass man die Tote jetzt doch bitteschön langsam abholen könne. Wahrscheinlich lag es an einem der regelmäßig auftretenden Staus, die einen mit ziemlich großer Sicherheit festsetzten, wenn man versuchte, Münster zu bestimmten Zeiten zu verlassen oder wenn man umgekehrt von außen in die City wollte. Alles eine Frage des Timings. Und wenn Anna das, was sie vom Funkverkehr mitbekam, richtig interpretierte, hatten sich die Kollegen wohl den falschen Zeitpunkt und die falsche Strecke ausgesucht.

Anna ging auf die Tote zu, der man eine furchtbare Wunde am Hals zugefügt hatte. Einen Schnitt wie mit einer Sense oder einem langen Messer gezogen. Ihre toten Augen starrten ins Nichts. Die Tote trug eine dunkle Hose, weiße Bluse und einen dunklen Blazer. Die Kleidung war voller Blut.

Der Schädel war sehr sorgfältig rasiert worden.

Genau wie bei den anderen Opfern des Barbiers!, ging es Anna durch den Kopf. Das letzte Opfer – Nummer vier der Serie des Barbiers – hatte Anna nur in der Leichenhalle gesehen. Was die Frauen anging, die der unbekannte Serienmörder zuvor umgebracht hatte, war sie auf das am jeweiligen Auffindungsort der Leiche geschossene Fotomaterial angewiesen gewesen. Aber dieses Material umfasste insgesamt mehrere tausend Fotos, die jedes Detail auf den Speicherchip bannte, das man seinerzeit für wichtig gehalten hatte. Das Problem war natürlich immer, dass man zumeist erst später sagen konnte, was tatsächlich relevant war und was nicht. Jedenfalls hatte sich Anna tagelang diese Fotos angesehen in der Hoffnung, dabei auf irgendein Detail zu stoßen, das ihr vielleicht etwas mehr über den Täter zu verraten vermochte. Jeder Mensch gab schließlich in jedem Augenblick durch sein Verhalten eine Stichprobe seiner Persönlichkeit ab. Eine Stichprobe, die bis zu einem gewissen Grad immer auch repräsentativ für das Ganze war und einem Rückschlüsse auf die Persönlichkeit erlaubte – sofern man diese Stichprobe richtig zu interpretieren wusste.

Und das Verhalten eines Täters am Tatort war – darüber waren sich alle Fachleute einig – die aussagekräftigste Verhaltensstichprobe, die sich nur denken ließ. Nichts dabei war einfach nur zufällig oder Ergebnis irgendwelcher Umstände.

„Kennen wir den Namen der Toten?“, fragte Haller an seinen Kollegen Kevin Raaben gerichtet. Raaben war vielleicht Anfang dreißig und damit gute zehn Jahre jünger als Haller. Er trug eine Lederjacke und zerschlissene Jeans. Am Hals war außerdem eine Tätowierung zu sehen. Irgendein verschnörkeltes Zeichen, das Anna, die Raaben nur flüchtig kannte, nicht zu deuten wusste. Es wirkte chinesisch. Anna vermutete, dass Raaben wohl irgendwie durch dieses Tattoo etwas gegen das biedere, uncoole Beamtenimage tun wollte, das sein Job nun mal mit sich brachte.

„Jennifer Heinze“, gab Raaben an. „Sie hatte einen Ausweis bei sich. Wohnt in Ladbergen. Außerdem hatte sie einen Autoschlüssel dabei.“

„Das heißt, wir müssen jetzt alle Autos auf dem Parkplatz überprüfen und zusehen, ob der Schlüssel passt!“, seufzte Willi Ternieden. „Aber vielleicht können wir das leichter haben.“

„Ich bin für Vorschläge immer offen“, meinte Haller.

„Ich schlage vor, einfach bei ihr zu Hause anzurufen. Sie wird ja möglicherweise Angehörige haben. Der Lerchenweg in Ladbergen – da stehen nur Einfamilienhäuser. Sie ist noch zu jung, um selbst eins zu besitzen. Sie ist schließlich erst 26. Also nehme ich an, dass das Opfer noch bei seinen Eltern wohnte.“

„Und denen wollen Sie dann am Telefon mitteilen, dass Ihrer Tochter der Hals aufgeschlitzt wurde, um dann nach der Automarke zu fragen, die ihre Tochter fährt?“, fragte Anna dazwischen. „Klingt nicht gerade nach viel Takt, Herr Ternieden.“

Der Kriminalobermeister zuckte mit den Schulten. „Irgendwann werden sie es ja doch erfahren. Und man muss ja auch mal daran denken, wie wir hier über die Runden kommen, finde ich ...“

„Ich denke, der Wagen ist jetzt nicht das Wichtigste“, meinte Haller. „Wir müssen vor allem die Personalien der Zeugen sichern. Sonst sind die weg und wir müssen sie erst über die Medien wieder mühsam zusammentrommeln, was erfahrungsgemäß nie so richtig klappt!“

*

In diesem Moment war ein Tumult zu hören. Anna sah einen Mann in einem grauen Wams aus fließendem Stoff, der mit beiden Händen ein Schwert umfasste. Er trug eng anliegende Hosen und hohe Lederstiefel. Während er mit dem Schwert voranstürmte, stieß er einen durchdringenden Kampfschrei aus. Die Kapuze, die bis dahin seinen Kopf bedeckt hatte, glitt zurück und gab den Blick auf schulterlanges, weißblondes Haar frei. Sein Gesicht wirkte feingeschnitten und war sehr blass. Die zweischneidige Klinge wirbelte mit einer mörderischen Geschwindigkeit und Präzision durch die Luft. Die dazu nötige Kraft traute man dem zwar hochgewachsenen, aber dennoch zierlich und feingliedrig wirkenden Mann kaum zu. Nur um Haaresbreite strich die Klinge über den mit einer Schnabelmaske verdeckten Kopf eines Pest-Arztes hinweg. Ein dumpfer Laut kam unter der Maske hervor. Der Pest-Arzt taumelte zurück, während der bleiche, langhaarige Krieger zu einem weiteren Schlag ausholte.

Zwei der uniformierten Polizisten kamen herbei.

„Hören Sie auf!“, rief Kriminalobermeister Willi Ternieden, der ebenfalls auf dem Weg dorthin war. Der Pest-Arzt drängte sich zwischen den Menschen hindurch, die sich rund um den Fundort der Leiche angesammelt hatten. Der Schwertstreich des Kriegers ging derweil ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte beinahe. Dann ergriffen ihn mehrere Beamte. Einer entwand ihm das Schwert.

„Haltet ihn! Haltet den Traumhenker! Ergreift den Todesboten oder Ihr werdet es bereuen!“, schrie der hagere Krieger aus Leibeskräften. Er meinte ganz offensichtlich die Gestalt in der Schnabelmaske, die wenig später in der Menge untergetaucht war.

Der Krieger ließ sich nur mit Mühe von den Beamten halten. Er mobilisierte das Äußerste an Kraft, um sich loszureißen, und schien wie ein Wahnsinniger von dem Wunsch erfüllt zu sein, dem Boten des Schwarzen Todes zu folgen.

„Was ist das denn für ein Irrenhaus hier?“, murmelte Haller.

Raaben hingegen war wie erstarrt und Willi Ternieden rief: „Handschellen! Worauf warten Sie denn?“

Anna van der Pütten ging unterdessen mit entschlossenen Schritten auf den langhaarige Krieger zu.

„Warten Sie, bleiben Sie hier!“, verlangte Haller.

„Ich kenne den Mann!“, erklärte Anna knapp.

„Und wer ist der Verrückte?“, fragte Haller.

„Er heißt eigentlich Frank Schmitt, glaubt aber, er sei Branagorn der Elbenkrieger!“

„Na, Gott sei Dank nicht Jack the Ripper!“

„Das ist nicht witzig, Herr Haller!“

„Ist er bei Ihnen in Behandlung?“

„Ja.“

Haller folgte Anna und versuchte, sie einzuholen.

„Lassen Sie mich durch!“, rief sie dann mit einer Entschiedenheit, die man ihr auf den ersten Blick kaum zutraute, einer Polizistin entgegen, die sie davon abhalten wollte, sich weiter dem Krieger zu nähern, der sich noch immer den Griffen der Uniformierten zu entwinden versuchte und dabei wie ein Wahnsinniger schrie. Er rief jetzt unverständliche Worte in einer fremden Sprache – aber vielleicht auch nur sinnlos aneinandergereihte Silben. Da war sich niemand unter den Anwesenden völlig im Klaren.

„Branagorn, hören Sie auf damit!“, rief Anna. „Was fällt Ihnen ein, mit dem Schwert auf jemanden einzuschlagen!“

Der Angesprochene wirkte wie erstarrt, als er Anna sah. Im nächsten Moment gab er seinen Widerstand gegen die Beamten, die ihn festhielten, auf.

Einer der Beamten holte Handschellen hervor.

„Das wird nicht nötig ein!“, versicherte Anna.

„Das sah gerade aber etwas anders aus!“, meinte der Beamte.

„Ich kenne den Mann! Und Sie können mir glauben, dass ich die Situation kontrolliere. Lassen Sie ihn los. Er wird niemandem etwas tun!“ Sie wandte sich an Willi Ternieden. „Bitte! Wenn Sie wollen, dass eine Eskalation vermieden wird, dann sollten Sie auf mich hören! Herr Schmitt ist mein Patient! Warum er ausgerechnet hier und jetzt seine Impulse nicht kontrollieren konnte, weiß ich nicht, aber dafür wird es einen Grund geben. Er ist nicht gefährlich.“

Ternieden nickte schließlich. „Machen Sie keine Dummheiten“, forderte er.

Branagorn alias Frank Schmitt wurde losgelassen und schien sich tatsächlich etwas beruhigt zu haben. „Ich weiß, wer die Frau getötet hat! Ich kenne den Boten des Todes!“

„Immer der Reihe nach Herr, äh ... Schmitt“, sagte Ternieden dann etwas unbeholfen.

„Es ist der Traumhenker! Und Ihr lasst ihn unbehelligt davonlaufen.“ Der Elbenkrieger streckte die Hand mit den dürren und sehr langen Fingern in die Richtung aus, in der der Pest-Arzt mit der Schnabelmaske verschwunden war. „Die Schritte des Todesboten sind noch deutlich zu hören und Ihr folgt ihm nicht, obwohl es Eure Pflicht wäre, das Böse zu bekämpfen!“

„Beruhigen Sie sich!“, forderte Anna. „Sie kennen mich doch. Wir können über alles sprechen und werden auch sicherlich eine Lösung für Ihr Problem finden.“

Er sah sie an. „Wie könnte ich Euer Gesicht vergessen, werte Cherenwen!“, sagte der Elbenkrieger nun in einem sehr viel sanfteren Tonfall. „Aber Ihr vertut Euch, nicht ich habe ein Problem, sondern Ihr alle! Denn der Traumhenker ist unter Euch. Der Tod-in-Gestalt! Der pure Wille zum Bösen und der Verderbtheit! Und er nimmt Besitz von Euch! Er kriecht in Eure Seelen, bis er eins ist mit einem von Euch und ihn zum Werkzeug des Verderbens macht, weil das seine Natur ist! Ich kenne ihn! Ich kenne diesen Todbringer und Seelenverderber!“

„Wichtig ist, dass Sie jetzt ruhig werden, Branagorn!“, sagte Anna. Sie hatte ihn vor ein paar Monaten begutachten müssen, um festzustellen, ob eine Fremd- oder Eigengefährdung bei ihm vorlag. Nach einer zeitweiligen stationären Unterbringung in der westfälischen Landesklinik in Lengerich hatte sich sein Zustand gebessert. Gebessert in dem Sinn, dass er in der Lage schien, sein tägliches Leben als Hartz-IV-Empfänger in einem betreuten Wohnprojekt in Münster-Kinderhaus zu bewältigen. Zum ersten Mal begegnet war sie ihm, als er auf dem Dach des Signal-Iduna-Hochhauses am Servatii-Platz in der Nähe des Hauptbahnhofs gestanden hatte, um sich in die Tiefe zu stürzen. Er leide vermutlich an einer Krankheit namens Lebensüberdruss, war die Diagnose gewesen, die er selbst später während ihres gemeinsamen Gesprächs gestellt hatte. Nicht gerade ein psychologisch anerkannter Fachterminus, aber in der Sache vollkommen zutreffend. Anna van der Pütten hatte ihn auch danach weiter therapeutisch begleitet. Auch wenn nicht mehr von einer akuten Suizid-Gefahr auszugehen war, so war Schmitt noch lange nicht über den Berg, zumal Anna auch noch eine Reihe weiterer Symptome und Krankheitsbilder an ihm diagnostiziert hatte, die zum Teil nur schwer einzuordnen waren und ein äußerst komplexes Gesamtbild ergaben. Dass er sich einbildete Branagorn von Elbara, ein Elbenkrieger aus einer anderen Welt zu sein, der auf magische Weise auf die Erde verschlagen worden war, war nur eine der zum Teil bizarren Persönlichkeitsmerkmale von Frank Schmitt.

Dazu gehörte auch, dass man leichter mit ihm kommunizieren konnte, wenn man ihn nicht mit 'Herr Schmitt' anredete, sondern akzeptierte, dass er Branagorn, der Elbenkrieger, war. So wie sie es auch mitunter tolerierte, dass er sie Cherenwen nannte, was vermutlich der Name einer offenbar verwandten Seele war. Jedenfalls hatte Anna das Gefühl, dass es in vielfacher Hinsicht einfacher geworden war, einen kommunikativen Zugang zu ihm zu finden. Und das rechtfertigte diese Vorgehensweise allemal. Das psychische System des Patienten verstehen – das war immer der erste Schritt. Aber nur der erste. Da musste noch einiges mehr folgen. Branagorn lebte anscheinend in seiner eigenen Realität und schien auch wenig geneigt zu sein, diese zu verlassen. Wahrscheinlich, so war es Anna schnell klar geworden, musste man einfach etwas bescheidener sein, was die erreichbaren Ziele anging. Wenn einer psychisch stabil genug war, um dem Wunsch, der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, nicht nachzugeben und im Alltag einigermaßen über die Runden zu kommen, war das vielleicht schon mehr, als man erhoffen konnte. Da konnte er zum Beispiel seine seltsame Ausdrucksweise ruhig beibehalten.

Branagorn machte einen Schritt auf Anna zu. „Cherenwen! Ihr seid Euch anscheinend nicht darüber im Klaren, dass Euch ein schlimmer Feind gerade entkommt! Der Mörder ist auf und davon und Ihr seht zu und hindert mich daran zu tun, was notwendig wäre!“

„Hallo, Kripo Münster“, mischte sich jetzt Sven Haller ein und zeigte Branagorn seine Polizeimarke.

Der Elbenkrieger wandte sich an den Leiter der Mordkommission und verzog das Gesicht, so als litte er unter starken Schmerzen. Mit der linken Hand fasste er sich ans Ohr, dass unter seinem langen Haar verborgen war. „Ihr braucht nicht so zu schreien“, sagte Branagorn. „Ich habe ein sehr feines Gehör. Eure Worte tun mir weh!“

„Ich bitte vielmals um Verzeihung“, knirschte Haller sichtlich genervt zwischen den Zähnen hindurch. „Sie haben gerade gesagt, dass Sie etwas über den Täter wissen, der für das furchtbare Verbrechen verantwortlich ist, das hier geschehen ist!“

„In der Gestalt eines Pest-Arztes ist er entkommen!“, antwortete Branagorn.

„Der Kerl, mit dem Sie gekämpft haben?“

„Ihr solltet ihn Traumhenker nennen, denn er wird Euch in Euren Albträumen wieder erscheinen, da bin ich mir ganz sicher!“

„Also Ihre Mittelalter- und Fantasy-Spielerei in allen Ehren, aber wenn Sie irgendeine Beobachtung gemacht haben, die mit dem Verbrechen in Zusammenhang steht, dann teilen Sie mir das jetzt bitte mit, Herr ...“

„Branagorn, Herzog von Elbara.“

Haller atmete tief durch. „Wie auch immer! Haben Sie gesehen, dass ...“ Haller deutete in Richtung der Toten, aber Branagorn war offensichtlich gedanklich mit etwas völlig anderem beschäftigt.

Raaben trat hinzu und flüsterte an Haller gerichtet: „Das ist ein Spinner, auf den sollten wir nichts geben.“

„Ich glaub auch“, murmelte Haller und wandte sich wiederum an Anna van der Pütten. „Verständigen Sie den Sozialpsychologischen Dienst?“

„Wie – in die Klapse?“, fragte Willi Ternieden ziemlich laut. „Kommt der jetzt einfach so davon? Herr Schmitt hat sich strafbar gemacht! Versuchte Körperverletzung und Bedrohung! Pardon, versuchte schwere Körperverletzung, schließlich ist eine Waffe verwendet worden!“

„Wenn Sie diesen Pest-Doktor hier irgendwo finden, steht einer Anzeige nichts im Wege“, meinte Raaben grinsend. Terniedens Blick glitt über die Menschenmenge. Die Suche nach dem Pest-Doktor hätte jetzt wohl der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen geglichen. „Allerdings weiß ich nicht, ob der wirklich Anzeige erstatten würde. Es schien ihm wichtiger zu sein, schnell abzuhauen!“

„Würden Sie nicht schnell zu türmen versuchen, wenn jemand mit einem Schwert hinter Ihnen her wäre?“, fragte Ternieden.

„Ja, das ist eine mögliche Erklärung dafür“, stimmte Raaben zu.

„Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass dieser Schwarze-Tod-Karnevalist der Barbier ist!“, ereiferte sich Ternieden.

Raaben zuckte mit den Schultern. „Voreilige Festlegungen sind der größte Feind eines erfolgreichen Ermittlungsabschlusses.“

Ternieden seufzte. „Zu unserer Zeit haben wir nicht gelernt, wie man so geschwollen redet. Ich weiß gar nicht, wie wir so unsere Arbeit schaffen konnten!“

Raaben wandte sich an Anna. „Da muss man doch kein Psychologe sein, um eine gewisse unterschwellige Aggressivität herauszuhören, oder?“

Anna kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Haller ergriff nun das Wort. Ein Machtwort. „Lassen Sie alle nach einem Kerl Ausschau halten, der als Schwarzer Tod oder Pest-Doktor herumläuft. Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass ich irgendeinen Hinweis nicht verfolgt hätte. Und was die Anzeige gegen Herrn Schmitt angeht, so leite ich Ihren Bericht und Ihre Anzeige gerne an den Staatsanwalt weiter, falls Sie von Amts wegen Anzeige erstatten wollen.“

„Was ist mit meinem Schwert?“, fragte Branagorn. Anna beobachtete schon eine ganze Weile, wie der bleiche Mann mit gesenktem Blick dastand, so als würde er intensiv den Boden absuchen. Sein Alter war schwer zu schätzen, fand Anna. Er konnte Ende zwanzig sein, aber manches an ihm wirkte seltsam greisenhaft und die pergamentartige, durchscheinende Haut trug ebenfalls zu diesem Eindruck bei. Außerdem war er sehr hager, was auch in einem Gesicht die Knochen hervorstehen ließ. Eigenartig, wenn ich nicht wüsste, dass in seinen Unterlagen ein Geburtsdatum stand, das ihn als gerade Dreißigjährigen auswies, so hätte Anna auch eine Angabe in den Fünfzigern ohne Verwunderung akzeptiert. Er selbst behauptete allerdings, bereits Jahrtausende lang gelebt zu haben – in dieser und anderen Welten. Elbenkrieger waren schließlich nahezu unsterblich.

„Ich brauche mein Schwert“, stellte Branagorn jetzt fest, machte einen Schritt auf die Leiche zu und schien dabei einen weiteren Quadratmeter grasbewachsenes Bodenareal der Telgter Planwiese systematisch mit den Augen abzusuchen. Dieses Mal fasste er seine Worte nicht in die Form einer Frage. Es war vielmehr eine unmissverständliche Forderung, die mit solchem Nachdruck über die Lippen gebracht wurde, dass Haller und Raaben aufhorchten. Ternieden machte hingegen nur eine wegwerfende Handbewegung, griff zum Walkie-Talkie und gab an die Kollegen eine kurze Beschreibung des Pest-Doktors durch.

„Ihr Schwert bleibt erst mal konfisziert“, erklärte Haller an Branagorn gerichtet.

„Mit welchem Recht?“, fragte Branagorn, ohne dabei den Blick vom Boden aufzurichten.

„Was heißt hier, mit welchem Recht?“

„Ein Schwert zählt juristisch nicht als Waffe“, erklärte Branagorn. „Rechtlich gesehen handelt es sich um ein stehendes Messer und für deren Besitz gibt es keinerlei Einschränkungen oder Meldepflichten, im Gegensatz zu Springmessern mit verdeckter Klinge, für die ab einer Klingenlänge von zehn Zentimetern gesonderte Bestimmungen gelten.“

„Sie rasseln das ja regelrecht herunter!“

„Ich habe mich informiert.“

„Hatten Sie schon mal Ärger wegen Ihres Schwertes – oder weshalb haben Sie das alles auf Abruf parat?“

Branagorn blickte jetzt auf. Er musterte Haller auf eine so intensive Weise, dass dies dem Kriminalhauptkommissar sichtlich unangenehm war. „Wollt Ihr Euch nun an die Gesetze halten und mir mein Eigentum zurückgeben?“

„Nein.“

„Ihr wollt das Gesetz vertreten und haltet Euch selbst nicht daran! Was für eine verderbte Welt! Was für ein schändliches Verhalten! Aber anstatt, dass Ihr das Böse sucht und findet, das in die Gestalt des Schwarzen Todes gefahren ist, quält Ihr jemanden, der reinen Herzens ist und so rechtschaffen, dass sich das Eure schmutzige Fantasie vermutlich gar nicht vorzustellen vermag!“

Raaben kicherte. „Tschuldigung, aber Sie haben wirklich eine seltsame Weise, sich auszudrücken.“ Er wandte sich an Haller. „Aber in der Sache hat er Recht!“

„Das Schwert bekommt er nicht wieder“, stellte Haller fest. „Und was das Juristische angeht, Herr Schmitt ...“

„Bitte Branagorn!“, bat der bleiche Mann. „Und im Übrigen beschwöre ich Euch! Bleibt bei den Buchstaben des Rechts, Herr, und überlasst mich nicht einer unkalkulierbaren Willkür! Denn wenn ich dem Traumhenker das nächste Mal begegne, so will ich es gut gerüstet tun!“

„Wie auch immer! Bei Großveranstaltungen ist es möglich, den Waffenbegriff etwas weiter auszulegen. Vor Fußballspielen sammeln wir auch alles Mögliche ein, was man ansonsten ohne Meldepflicht oder Genehmigung besitzen darf.“

„Und dieser Winkelzug soll rechtfertigen, dass Ihr mich um mein Eigentum bringt?“, brauste Branagorn auf und sein Gesichtsausdruck bekam eine Art wilder Entschlossenheit.

„Das ist kein Winkelzug, sondern unsere Gesetzeslage!“

„Ihr wollt das Entwenden eines Schwertes damit rechtfertigen, dass hier eine Großveranstaltung durchgeführt wird, auf der wiederum jeder zweite oder dritte Anwesende eine Klinge bei sich führt? Ihr wollt mich anscheinend für dumm verkaufen und verspottet mich!“

„Ich bin überzeugt davon, dass Sie Ihr Schwert nach Abschluss eines eventuellen Verfahrens - falls es dazu überhaupt kommen sollte – zurückerhalten werden, werter Branagorn“, mischte sich nun Anna van der Pütten ein, um die sich langsam aber sicher eskalierende Situation wieder etwas zu entspannen. Sie wandte sich an Haller und nickte ihm zu. „Nicht wahr, Herr Haller?“, fragte sie um Bestätigung heischend noch einmal nach, wobei sie in ihren Tonfall eine Art von Nachdruck legte, die dem Kriminalhauptkommissar bedeuten sollte, die Sache jetzt bitteschön endlich wieder etwas herunterzukochen. Haller seufzte.

„Ja, das kann ich Ihnen in der Tat hoch und heilig versprechen, Herr Schmitt, ich meine natürlich Herr Branagorn!“

Branagorns Blick bekam etwas Stieres. Er fixierte einen bestimmten Punkt am Boden. Anna glaubte zunächst, dies sei ein äußeres Zeichen der tiefen inneren Oppositionshaltung, die er Haller und den anderen Polizisten gegenüber zweifellos empfand. Auf jeden Fall stand hier ein Mensch, der bis ins innerste Mark empört darüber war, wie er behandelt wurde, und es offenbar einfach nicht nachvollziehen konnte, dass man ihn daran gehindert hatte, auf jemand anderen mit dem Schwert loszugehen. „Ich denke, wenn Sie Ihr Schwert ein paar Tage nicht zur Hand haben, werden Sie damit leben können, Branagorn.“

„Wenn Ihr das von mir verlangt, Cherenwen, dann werde ich es auf mich nehmen, ohne zu murren.“

„Da bin ich sehr froh!“

Branagorn streckte nun eine Hand aus und deutete auf einen bestimmten Punkt am Boden. „Dort sind Haare.“

Anna runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass sie im Moment gar nicht angesprochen worden war, sondern dass Branagorn seine Worte in Wahrheit an Sven Haller gerichtet hatte.

„Ich bin zwar kein Fährtensucher und es mag sicher andere geben, die sich auf die Kunst des Spurensuchens besser verstehen als ich, aber ich glaube, Ihr solltet diese Haare sichern, um daraus Eure Erkenntnisse herauszulesen, wie es bei Euch üblich ist, Herr Haller!“

„Ich sehe nichts!“, sagte Haller.

„Dann schaut genau hin. Es sind die Haare der Toten. Derjenige, der sie ihr abgenommen hat, scheint einige von ihnen verloren zu haben ...“ Branagorn folgte mit den Augen der Spur am Boden. „Hier sind ebenfalls Haare!“

Raaben hockte sich hin. Er hatte einen Latexhandschuh über die rechte Hand gestreift und blinzelte. Dann ging er auf die Knie, und beugte sich noch tiefer. „Da ist ja tatsächlich was!“, entfuhr es ihm. Er holte eine Pinzette und ein kleines Tütchen aus den Taschen seiner Lederjacke. Wenig später hielt er irgendetwas mit der Pinzette ins Licht. Anna konnte unmöglich erkennen, was es war.

„Das könnte wirklich ein Haar sein.“

„Fassen Sie nichts an!“, sagte Haller, als Branagorn sich der Toten bis auf wenige Schritte genähert hatte.

Branagorn deutete auf eine Stelle, etwa zwei Handbreit neben dem Kopf der Toten. „Hier ist ein Abdruck!“, stellte er fest.

Raaben war bei ihm.

„Da ist tatsächlich irgendetwas!“, wunderte er sich. „Könnten sogar Fingerabdrücke sein.“

„Vergesst die Fingerabdrücke“, fuhr Branagorn dazwischen. „Wenn Ihr die nehmt, dann zerstört Ihr die tatsächliche Spur.“

„Was sollte das bitteschön sein, wenn ich mal in aller Bescheidenheit fragen darf?“, warf Raaben mit einem halb spöttischen, halb ironischen Unterton ein.

„Die tatsächliche Spur besteht aus diesen Flecken hier!“

Er zeigte mit seinen dünnen, langen und sehr mager wirkenden Fingern auf das, was er meinte.

Raaben hob die Augenbrauen. „Ach, ja?“

„Es ist der Abdruck einer Hand, die sich hier kurz abgestützt hat!“

„Und warum sehen wir da keine Fingerabdrücke, deren Lage dazu passen würde?“

„Weil die Fingerabdrücke von den Leuten stammen, denen der Wagen gehört und schon vorher dort waren. Aber die anderen Abdrücke stammen von einer Hand, da bin ich mir sicher! Allerdings einer Hand, die von einem Handschuh bedeckt wurde. Deswegen ist es sinnlos, einen Abdruck finden zu wollen. Die kleinen unverwechselbaren Linien werdet Ihr nicht finden und daher auch nicht vergleichen können, werter Hüter der Ordnung!“

Raaben war ziemlich perplex.

Haller ebenfalls.

„Herr Schmitt hat anscheinend gute Augen“, stellte Raaben fest.

„Er stört trotzdem“, stellte Haller klar und wandte sich an Anna. „Frau van der Pütten, ich möchte, dass dieser Elbenkrieger hier verschwindet und uns unsere Arbeit machen lässt.“

„Ich sehe genau, was geschehen ist“, sagte Branagorn unterdessen. „Eine Person, die nicht größer als ein Meter siebzig ist, hat mit einem sehr scharfen Messer den Hals dieser Frau aufgeschlitzt. Es war eine einzige, von Wut erfüllte Bewegung, mit viel Kraft. Und sehr viel Hass. Dem Hass, den ein zuvor selbst zutiefst erniedrigstes Wesen empfindet oder jemand, der sich in höchster Lebensgefahr glaubt.“

„Branagorn!“, schritt Haller ein.

Aber der Elbenkrieger ließ sich nicht stoppen. Dass inzwischen der Gerichtsmediziner und ein Team der Spurensicherung eingetroffen waren, schien ihn nicht zu kümmern. Sein Blick wirkte glasig, so als würde er alles um sich herum ausblenden. Alles, bis auf ganz bestimmte Details, von denen er glaubte, dass sie eine Bedeutung hatten. Er sprach weiter, und Anna, die zuerst ebenfalls den Impuls in sich verspürte, ihn in seinem Redefluss zu stoppen, sagte dann doch kein Wort. Sie spürte eine eigenartige Faszination, die schwer zu erklären war. Branagorns Wortfluss entfaltete einen Sog, dem auch sie sich nicht entziehen konnte, auch wenn sie es eigentlich gewollt hätte. Es widerstrebte ihr zutiefst, sich einfach auf diese Straße aus reiner Fantasie entführen zu lassen. Ein schlüpfriger Regenbogen, der ins Nirwana führte und von dem man erwartete, dass er einen von jeglicher Erkenntnis entfernte. Aber eigenartigerweise hatte Anna genau das gegenteilige Gefühl – und vielleicht war es das, was sie am meisten verwirrte. Branagorn sprach über die Geschehnisse, die sich seiner Meinung nach hier zugetragen hatten so, als wäre er auf eine geheimnisvolle Weise in der Lage, sie zu sehen - nicht wie jemand, der lediglich eine begründete Hypothese aufstellte. Es schien ihm alles genauso klar vor Augen zu liegen, wie die Haare, die er am Boden gesehen hat oder der Handabdruck beziehungsweise das, was er dafür hielt. Das war ja noch keineswegs erwiesen. Genauso gut konnte wirklich alles nur Gerede sein, und Anna rief sich diese Möglichkeit ganz bewusst in Erinnerung.

„Das lange Messer, die Todessichel des Traumhenkers, wurde an der Kleidung abgewischt“, fuhr Branagorn fort. „Dreimal ist die Klinge am Stoff der Beingewandung entlanggestrichen worden und einmal an der Bluse, deren fließender Stoff das Blut nicht so leicht annimmt. Aber dennoch war dies der vierte Streich, denn das Gewehr war inzwischen schon fast zur Gänze gereinigt.“

„Gewehr?“, echote Raaben.

Branagorn drehte sich kurz um. „Ihr verzeiht, Unwissender. Ich vergaß, dass das Wort Gewehr innerhalb des letzten Jahrtausends eine Verarmung seiner Bedeutung hinnehmen musste und in dieser Zeit nicht mehr für jede Art der Bewaffnung von Messer bis zum Schwert oder einem explodierenden Handrohr steht, sondern nur noch für langläufige Schusswaffen verwendet wird.“

„Was Sie nicht sagen ...“

„Der Traumhenker hat vielerlei Gestalt. Diesmal ist er in eine Person gefahren, die sich befleckt sieht und die trotz ihrer grenzenlosen Wut die Schuld fühlen kann, die sie mit dem Blut an ihrem Messer abstreifen will, als hätte sie sich Kleider mit Staub besudelt.“ Er ließ aufmerksam den Blick schweifen. Die Augen der Gaffer, die sich in ziemlich großer Zahl versammelt hatten, hingen an Branagorn. Vielleicht war sich der eine oder andere sogar nicht hundertprozentig sicher, ob dies hier nicht vielleicht sogar Teil irgendeiner Vorstellung war, die im Rahmen des Mittelalter-Spektakels auf der Planwiese gegeben wurde. Anna entnahm das zumindest einigen Bemerkungen, die vorzugsweise von Leuten kamen, für die der schrecklich zugerichtete Leichnam aufgrund des Blickwinkels nicht zu sehen war. „Nicht mit dem Messer, sondern mit der Klinge eines Baders, die nicht länger ist als drei Finger!“

„Nennt man so etwas auf Deutsch nicht zufällig Rasierklinge?“, fragte Raaben spöttisch.

Branagorn ging nicht weiter darauf ein. „Man sieht an der Haut, wie die einzelnen Bahnen gezogen wurden. Die Klinge war sehr scharf. Der Traumhenker scheint ein Meister des Baderhandwerks gewesen zu sein! Kein Haar ist geblieben und er hat auch nur wenige verloren ...“ Er blickte plötzlich an sich herab und zuckte dabei förmlich zusammen. An seinem Ärmel schien er etwas entdeckt zu haben. Wenig später hatte er es in der Hand. Es war ein Haar – so schwarz und dick, dass es zu dem feinen und sehr hellen Haar dieses sonderbaren Mannes einfach nicht passte und daher auch nicht von ihm stammen konnte.

Branagorn wandte sich an Haller und hielt ihm das Haar hin. Er hielt es dabei mit Daumen und Zeigefinger. „Bewahrt dies auf, Hüter der Ordnung. Vielleicht gelingt es Euch, daraus mit der Magie Eurer Wissenschaft Erkenntnisse zu gewinnen.“

„Darf ich Sie daran erinnern, dass das Haar an Ihrer Kleidung war, Herr Schmitt!“

„Ich würde es bevorzugen, wenn Ihr mich Branagorn ...“

„Nein, diesen Mist mache ich nicht mit! Hier liegt eine Tote und da sollte das Spiel vorbei sein.“

„Wie auch immer – nehmt dieses Haar und untersucht es mit den Methoden, die Euch zur Verfügung stehen, Hüter der Ordnung, denn den meinen werdet Ihr gewiss misstrauen, so wie Ihr mir insgesamt recht argwöhnisch gegenübersteht!“

„Das kann man wohl sagen!“

„Dass dieses Haar an meiner Kleidung war, ist nicht verwunderlich! Der Totenhenker hat es dorthin übertragen, als ich mit ihm kämpfte. Ihr wart doch ein Zeuge dieses Geschehens, in dessen Verlauf mir mein Schwert genommen wurde!“

„Tun Sie ihm doch den Gefallen“, sagte Anna.

„Wenn Ihr Patient mir auch einen Gefallen tut, Frau van der Pütten! Er soll von hier verschwinden und sich augenblicklich aus dem markierten Bereich entfernen! Sofort!“

„Wenn Ihr Euer Versprechen haltet, so will ich Euch entgegenkommen“, versprach Branagorn.

Haller machte Raaben ein Zeichen mit der Hand. Daraufhin nahm Raaben das Haar an sich und tütete es fachgerecht ein, sodass man es einer Laboruntersuchung zuführen konnte.

Branagorn verneigte sich leicht. Dann schritt er davon.

Er drehte sich nicht noch einmal um. Mit einem etwas ungelenk wirkenden Sprung überwandt er das Flatterband. Seine Haare wehten dabei etwas zur Seite.

Anna sah in diesem Moment zum ersten Mal sein Ohr. Es lief spitz zu und wirkte irgendwie entstellt. Vielleicht die Folge eines Unfalls!, ging es ihr durch den Kopf. Dafür, dass es sich um das Ergebnis einer kosmetischen Operation handelte, war das Ergebnis einfach zu schlecht. Es gab Fälle, in denen sehr fantastische Rollenspieler, nicht nur im tägliche Leben als Ork, Teufel oder Vampir verkleidet waren, sondern sich zusätzlich noch chirurgisch-plastischen Eingriffen unterzogen, sich lange Zähne oder Implantate von Teufelshörnern einsetzen ließen. Eines stand jedenfalls für Anna fest. Das Werk eines Schönheitschirurgen war Branagorns Ohr auf gar keinen Fall!

„Herr Haller, entschuldigen Sie mich ...“

„Frau van der Pütten, lassen Sie diesen Spinner jetzt einfach laufen und unterstützen Sie mich hier! Bitte! Für Herrn Schmitt können Sie frühestens dann wieder etwas tun, wenn die Staatsanwaltschaft ihn von Amtswegen anklagt und Sie dann irgendein Papier aufsetzen können, das sich Gutachten schimpft und in dem diesem Verrückten dann bescheinigt wird, dass er nichts für die Dummheiten kann, die er begeht!“

Anna zögerte. Aber im nächsten Moment war Branagorn bereits in der Menge verschwunden. Sie ließ suchend den Blick umherschweifen, aber er war plötzlich nirgendwo mehr zu sehen.

„Er ist mein Patient“, sagte Anna schließlich.

„Aber nicht jetzt, Frau van der Pütten! Nicht jetzt! Denn jetzt brauche ich Sie hier! Und so lange verbannen Sie diesen Bekloppten bitte aus Ihren Gedanken. Meine Güte, man sollte mit dem Ritterspielen aufhören, wenn man älter als zehn ist, würde ich sagen! Alles andere ist doch krank!“

„Das nennt man LARP, Herr Haller.“

„Wie bitte?“

„Live-Acting Role-Playing. Sehen Sie sich um! Das ist heute nichts Ungewöhnliches!“

*

Anna ertappte sich dabei, dass sie immer wieder nach Branagorn Ausschau hielt. Sie fragte sich, ob sie ihn jetzt einfach so sich selbst überlassen konnte. Schließlich hatte er sich mit dem Pest-Arzt ja eine handfeste Auseinandersetzung geliefert, die um ein Haar ein schlimmes Ende hätte nehmen können.

Anna sah zu, wie der Gerichtsmediziner seine erste oberflächliche Begutachtung abschloss, gegenüber Haller die naheliegende Vermutung äußerte, dass tatsächlich der Kehlenschnitt die Todesursache war und wie dann der Leichnam in einen Zinksarg gelegt und abtransportiert wurde. Inzwischen war auch die Presse da. Nicht nur die örtliche, sondern auch Vertreter einer Boulevardzeitung, deren Logo auf seiner Tasche zu sehen war. Das lokale Fernsehen würde sicher auch nicht lange auf sich warten lassen. Vom Studio Münster des WDR aus war es schließlich auch nicht viel weiter, als wenn man die Fahrt nach Telgte am Friesenring begann.

Die Beamten der Spurensicherung machten sehr akribisch ihre Arbeit und inzwischen waren zusätzliche Beamte gekommen, die von Hauptkommissar Haller instruiert worden waren, die Personalien so vieler Besucher des Mittelalter-Marktes wie möglich aufzunehmen und sie danach zu fragen, ob sie vielleicht irgendwelche sachdienlichen Hinweise geben konnten, die Aufschluss über das Tatgeschehen geben konnten.

Wahrscheinlich würde es Wochen dauern, all diese Hinweise abzuarbeiten und dabei die Spreu vom Weizen zu trennen. Das war auch der Grund dafür, dass Sonderkommissionen, die direkt im Anschluss an ein Verbrechen eingerichtet wurden, zuerst unter Umständen mit über hundert Beamten besetzt waren und dann im Laufe der Zeit auf eine kleine Zahl von Ermittlern zusammenschmolzen.

Die Personalien aller Passanten auf dem Mittelalter-Markt aufzunehmen, war vermutlich nicht machbar. Schon jetzt strömten viele von ihnen zu den Parkplätzen, weswegen Willi Ternieden vorschlug, einige Beamte damit zu beauftragen, die Nummernschilder der dort parkenden Fahrzeuge zu notieren. Es konnte ja schließlich sein, dass man später auf einen möglichen Täter aufmerksam wurde und später Indizien dafür brauchte, dass er sich überhaupt am Tatort aufgehalten hatte.

Außerdem gab es eine Megafon-Durchsage, die alle aufrief, sich zu melden, die möglicherweise den Tathergang beobachtet hatten oder das Opfer kannten. „Wer von Ihnen kennt Jennifer Heinze aus Ladbergen? Falls sie nicht allein auf dem Mittelalter-Markt war, so sollten ihre Begleiter sich umgehend mit der Polizei in Verbindung setzen, denn jede Information kann der Aufklärung des Verbrechens dienen.“

Haller wandte sich an Anna van der Pütten.

„Tun Sie mir in Zukunft einen Gefallen, Frau van der Pütten!“

„Wenn es sich machen lässt!“

„Halten Sie mir diesen Irren in Zukunft vom Leib!“

„Wie kommen Sie darauf, dass er Sie noch mal ansprechen wird?“, fragte Anna.

Haller sah sie etwas verwundert an. „Hören Sie, dazu braucht man nicht Psychologie studiert zu haben, um das zu prognostizieren.“

„Ach, nein?“

„Der schien doch regelrecht besessen von diesem Geschehen hier zu sein und hat es anscheinend in seine Wahnvorstellungen integriert! Das ist nichts Besonderes. Bei viele Querulanten ist das der Fall. Die quälen einen dann oft sehr ausdauernd mit ihren angeblichen Hinweisen und wollen einem erklären, wie man zu arbeiten hat, wen man am besten verhaften sollte und so weiter!“

„Na, wenigstens glauben Sie nicht, dass er etwas mit dem Verbrechen zu tun hat.“

„Wir werden uns natürlich sein Schwert genau anschauen, aber wie es scheint, hat es nicht die richtige Form und ist auch viel zu stumpf, um die Tatwaffe gewesen zu sein. Ich will natürlich nicht den Laboruntersuchungen vorgreifen, aber ...“

„Sie haben ernsthaft vor, die Waffe einzuschicken?“

„Natürlich!“

Anna war ziemlich perplex. „Dann müssten Sie theoretisch alle Dolche und Messer und was es sonst noch an mittelalterlichen Hieb- und Stichwaffen zur Zeit auf der Planwiese so gibt, einsammeln und untersuchen! Da hätten Sie dann aber eine Waffenkammer zusammen, über die sich Barbarossa und Co. sicherlich gefreut hätten!“

„Verlassen Sie sich darauf, dass unsere Kollegen bei ihren Befragungen den Aspekt 'verdächtige Bewaffnung' durchaus im Auge haben“, stellte Haller klar.

„Na, da bin ich ja beruhigt.“

„Aber zurück zu dem, was hier geschehen ist! Es muss sehr schnell gegangen sein. Ein einziger Hieb und das Opfer sank zu Boden. Ich habe gerade mit den Spurensicherern gesprochen. Vermutlich wurde das Opfer in seine jetzige Position geschleift – ein oder zwei Meter weit.“

„Wir haben auf jeden Fall wieder eine neue Tötungsmethode“, stellte Anna fest. Die bisherigen Opfer dieser Serie waren entweder mit einem Jagdgewehr erschossen, mit einer Drahtschlinge erwürgt oder - wie vor einem halben Jahr das vorletzte Opfer – mit einem stumpfen, bisher nicht identifizierten Gegenstand erschlagen worden.

„Schließen Sie irgendetwas daraus?“, fragte Haller.

„Wenn es kein anderer Täter ist, der sich den Barbier zum Vorbild genommen hat, dann scheint er blutiger, brutaler, wütender zu werden. Mit einer Schusswaffe haben Sie eine große Distanz zwischen Täter und Opfer. Bei einer Drahtschlinge oder einer Keule sehen sie kein Blut. Der Tod kommt fast klinisch rein daher. Aber wenn Sie jemandem mit einem Messer die Kehle aufschlitzen, dann ist das schon eine sehr direkte Form der Konfrontation. Der Täter hat Jennifer Heinze direkt in die Augen geschaut, gesehen, wie der Schrecken in ihrem Gesicht stand, die Todesangst, das Entsetzen über den unmittelbar bevorstehenden Tod ...“

„Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Glauben Sie, er wollte das? Hat er es genau auf diese Eindrücke abgesehen?“

„Ja, das könnte sein. Er hat es diesmal auch in Kauf genommen, sich im wahrsten Sinn des Wortes mit Blut zu besudeln, denn bei dieser Mordmethode kann eigentlich niemand damit rechnen, ohne Blutspritzer davonzukommen.“

Haller nickte. „Das gilt selbst für Elitesoldaten und Schächter, die eigentlich gelernt haben, wie man mit einem Messer tötet.“

Schächter und Elitesoldaten – ein eigenartiger Zusammenhang, den Haller da ganz beiläufig und nur unter dem rein handwerklichen Aspekt betrachtet herstellte, fand Anna. Aber genau dieser in anderer Hinsicht gewiss etwas irritierende Vergleich setzte bei Anna einen Gedankenfluss in Gang. „Vielleicht war Branagorns Gedanke gar nicht so weit von dem entfernt, was ...“

„Kommen Sie mir nicht wieder mit dem Spinner! Ein paar Haare auf dem Boden zu finden ist keine Kunst! Was glauben Sie, wie viele Leute hier herumlaufen und andauernd Haare verlieren. Und abgesehen davon ...“

„Nein, das meine ich nicht“, widersprach Anna.

Haller hob die Augenbrauen. „Sondern? Was dann?“

„Ich war gedanklich immer noch bei dem vorhergehenden Aspekt. Das mit dem sich mit Blut besudeln. Wenn es wirklich derselbe Täter war, scheint er immer weniger Scheu gehabt zu haben.“

„Korrekt. Erst das Gewehr, dann die Drahtschlinge, zuletzt die Keule oder was es auch immer gewesen sein mag und nun eine richtige Sauerei!“

„Also jemand, der sich eigentlich nicht gerne die Hände oder irgendetwas anderes schmutzig macht. Warum hat er es jetzt aber in Kauf genommen? Vielleicht deswegen, weil er sich in irgendeiner Form davor geschützt hat!“

„Ich komme nicht ganz mit Ihrer Argumentation mit, Frau van der Pütten!“

„Verstehen Sie wirklich nicht? Der Pest-Arzt, mit dem Branagorn aneinandergeriet! Die Pest-Ärzte des Mittelalters haben diese Schnabelmasken getragen, um sich vor den Ausdünstungen der Kranken zu schützen – auch davor, dass sie mit hochinfektiösem und in der Regel mit Blut vermengten Speichel angespuckt wurden und sich dabei selbst infizierten.“

„Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“, glaubte Haller. „Verzeihen Sie diese Ausdrucksweise angesichts der besonderen Umstände dieses Verbrechens, bitte! Aber Sie können doch nicht im Ernst daraus schließen, dass der Täter hinter dieser Pest-Maske steckte und der edle Elbenritter namens Schmitt das natürlich mit seinen Argusaugen sofort erkannt hat und nichts anderes im Sinn hatte, als den Täter zu stellen – beziehungsweise einen Unhold mit dem Schwert zu enthaupten, wie dieser komische Vogel sich wahrscheinlich ausgedrückt hätte!“

„Es würde aber passen!“, beharrte Anna. „Das mit dem Pest-Doktor, meine ich! Es würde psychologisch und vom vermutlichen Tatgeschehen her zusammenpassen, das war alles, was ich dazu sagen wollte! Und keine Sorge, ich werde jetzt nicht versuchen, mit Hilfe irgendwelcher magischen Sprüche, unsere bisher reichlich dürftigen Erkenntnisse zur Täterpersönlichkeit noch etwas zu vermehren!“

„Das beruhigt mich, Frau van der Pütten!“, seufzte Haller.

Der Irre aus Münster

„Ey, guckst du komisch!“, rief einer der Jugendlichen, die vor dem Siebziger-Jahre-Wohnblock herumlungerten. Sie trugen tief hängende Hosen und ihre Kapuzen-Shirts hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit Branagorns Wams.

Brüningheide oder Kinderhaus-West hieß dieser Stadtteil von Münster, der seinem Image als sozialer Brennpunkt trotz aller amtlichen Anstrengungen nie wirklich entkommen war. In einem dieser Hochhäuser, die wie eine Zeitkapsel den Eindruck einer Satellitenstadt aus den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts bewahrten, wohnte Frank Schmitt alias Branagorn, Elbenkrieger aus dem Gefolge des Königs von Elbiana und Herzog von Elbara, den man auch Branagorn, den Suchenden nannte. Ein kleines Apartment, das abgesehen von Küche und Bad nur aus einem einzigen Raum bestand, hatte man ihm zugewiesen. Aber er fand, dass er schon schlechter gewohnt hatte. Immerhin war die Wohnung – anders, als eine, die er zuvor belegt hatte – frei von Schimmel. In dieser Hinsicht war er empfindlich. Er konnte Schimmel sofort in der Nase spüren und hasste alle intensiven Gerüche. Die Wohnung hatte Doppelglasscheiben, was bei Bauten dieser Jahrgänge nicht selbstverständlich war. Die waren immerhin ganz gut gegen Lärm, auch wenn sie eigentlich aus Energiesparerwägungen allgemeiner Standard geworden waren. Aber Branagorn war lärmempfindlich. Starke Gerüche und Lärm – diese Kombination war für ihn nur sehr schwer erträglich und deswegen ging er eigentlich auch jeglichen Menschenansammlungen aus dem Weg.

Umso mehr Überwindung hatte ihn der Besuch des Mittelalter-Marktes gekostet. Aber es hatte schließlich einen guten Grund gegeben, dort hinzugehen.

Der Traumhenker, sein alter Feind war dort gewesen. Er hatte es gespürt. Und nur deswegen hatte er sich unter all die Menschen gemischt, unter ihre schwer erträglichen Gerüche und ihr manchmal dröhnendes, manchmal schrilles Gerede, das von stampfender Musik untermalt wurde. Seine Sinne waren empfindlich. Er liebte die Stille, wie er sie manchmal in dem idyllisch gelegenen Gelände der westfälische Landesklinik für Psychiatrie im etwa vierzig Kilometer entfernten Lengerich genießen konnte.

Wenn er unter Leuten war, dann musste er sich willentlich gegen all die von außen auf ihn einströmenden Sinnesreize abschirmen. Und manchmal, so hatte er das Gefühl, überrollte ihn einfach diese Welle aus Geschrei und Gestank und er brach darunter vollkommen erschöpft zusammen.

„Ey, hörst du auch schwer?“, sprach der Typ im Kapuzen-Shirt ihn noch einmal an, obwohl Branagorn ihn zu ignorieren versucht hatte. „Redest nicht mit jedem, oder was? Guckst du echt eingebildet!“

Einige der jungen Männer lachten dröhnend. Die Mädchen kicherten. Es war nicht das erste Mal, dass Branagorn zum Ziel ihres Spottes wurde, was er für gewöhnlich mit Gleichmut ertrug.

„Ey, der ist so blass wie ein Vampir! Der sollte echt mal in die Sonne gehen!“, tönte der Kerl herum.

Branagorns Handy klingelte.

Er holte das Gerät unter seinem Wams hervor und nahm das Gespräch entgegen.

„Wer begehrt mit Hilfe des sprechenden Artefakts mit mir zu reden?“, fragte er.

„Die Zeichen auf Ihrem Display sollten es Ihnen eigentlich verraten haben, Branagorn“, sagte eine Frauenstimme. „Ich bin es, Anna van der Pütten – falls Sie meine Stimme noch immer nicht erkannt haben sollten!“

„Natürlich habe ich Eure Stimme erkannt, werte Cherenwen! Wie könnte ich sie je vergessen!“

„Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie gut nach Hause gekommen sind.“

„Ich danke Euch für Eure Sorge, holde Cherenwen.“

„Sie waren ja recht aufgebracht auf dem Mittelalter-Markt in Telgte.“

„Die Gründe dafür sind Euch bekannt, obgleich ich den Eindruck habe, dass eine besondere Form der Einfalt Eure Seele zu schützen scheint.“

„Das ist wirklich eine sehr charmante Art und Weise, mir zu sagen, dass Sie mich für eine Idiotin halten, Branagorn.“

„Der Traumhenker ist unterwegs. Er ist aus der Starre seiner Untätigkeit erwacht und er wird wieder zuschlagen. Vielleicht in anderer Gestalt, vielleicht mit der Hilfe einer anderen, ihm verwandten und ebenso hasserfüllten und zynischen Seele. Es ist nicht die Frage, ob es geschieht, werte Cherenwen. Es ist nur die Frage, wann das sein wird.“ Er machte eine Pause, erreichte gerade die Tür des Wohnblocks und trat im nächsten Augenblick ins Innere. Manche der Postfächer quollen von Reklamesendungen über, so als hätten die Austeiler sich alle Mühe gegeben, hier so viel wie möglich von ihren Sonderangebotsprospekten loszuwerden. Die Wände waren mit Graffiti verschmiert. I SHIT ON YOU stand da in großen, kunstvoll verschnörkelten Buchstaben. Der Geruch von Urin und Erbrochenem hing in der Luft. Manchmal kam es vor, dass ein Betrunkener es nicht bis zu seiner Wohnung schaffte. Vor allem dann nicht, wenn der Aufzug defekt war, was sehr häufig vorkam.

Branagorn ging den Flur entlang, während er das Gespräch mit Anna van der Pütten fortsetzte.

„Ihr seid keine Idiotin“, widersprach er ihren letzten Worten. „Vielmehr seid Ihr eine reine Seele, die zu arglos ist, um zu erkennen, welche Gefahr droht! Und im Übrigen unterhalte ich mich gerne mit Euch, denn unsere Seelen sind verwandt.“

„Dann schlage ich vor, dass wir unsere Unterhaltung bei unserer nächsten Sitzung fortsetzen.“

„Die ist erst in drei Tagen!“

„Wie gesagt, ich wollte nur sichergehen, dass es Ihnen gut geht, Branagorn. Wir sehen uns am Dienstag.“

„Ihr braucht meine Hilfe schon vorher, Cherenwen. Der Traumhenker wird erneut Blut fließen lassen. Vielleicht schon sehr bald ...“

„Bis Dienstag, Branagorn“, beharrte Anna van der Pütten.

Das Gespräch war zu Ende. „Oh sprechendes Artefakt, wie jämmerlich, dass ein Zauber nur die Worte, aber nicht die Gedanken zu übertragen vermag. Ihr habt es nicht begriffen, wovor ich Euch warnen wollte“, murmelte Branagorn, während er noch auf das Display blickte, wo ihm angezeigt wurde, dass die Verbindung nicht mehr bestand.

Er hörte Schritte hinter sich.

„Ey, du hast schönes Handy!“, hörte er die Stimme des Kerls, der ihn schon draußen angesprochen hatte.

Branagorn blickte auf. Auf dem Kapuzen-Shirt seines Gegenübers stand das Wort DELIGHT - „Freude“ - in verschnörkelten Großbuchstaben. Es wirkte in diesem Moment wie ein ironischer Kommentar auf das Erscheinen dieses Kerls.

Er war einen halben Kopf größer als Branagorn und im Gegensatz zu dessen eher hageren Gestalt wirkte er sehr kräftig. An der Rechten trug er einen Schlagring. Branagorn war das sofort aufgefallen.

Der Kerl mit dem Delight-T-Shirt streckte die geöffnete Linke aus und sagte: „Gib es mir!“

Branagorn hatte einiges aus den Gesprächen mitbekommen. Zum Beispiel, dass die anderen ihn Taliban nannten, weil er im letzten Jahr versucht hatte, sich einen Bart wachsen zu lassen, was allerdings über ein relativ bescheidenes Endergebnis nicht hinausgekommen war. Der Spitzname war allerdings geblieben. Abgesehen davon war Taliban offenbar dafür bekannt, dass er von anderen die Herausgabe von Geld, Handys, Mp3-Playern oder anderen, als wertvoll angesehenen Dingen erpresste. In der Auswahl seiner Opfer war er nicht besonders wählerisch. Meistens waren es Altersgenossen, aber er beklaute auch Rentner, wenn er zu wenig Kleingeld in der Tasche hatte, um sich seinen Haschkonsum finanzieren zu können.

Jeder redete im Haus davon. Jeder wusste Bescheid, aber bislang hatte es noch niemand gewagt, etwas gegen Taliban zu unternehmen. Es hieß, dass er ein paar ihm treu ergebene Gefolgsleute hatte, die einem auch dann noch einen ungebetenen Besuch abstatten konnten, wenn er selbst verhindert war, weil er mal wieder eine der kleineren Strafen absitzen musste, zu denen er mehr oder weniger regelmäßig verurteilt wurde, wenn ihn die Polizei mal wieder nach einer Marihuana-Einkaufstour nach Holland mit frischer Ware erwischte.

Taliban hatte Branagorn bisher – sah man mal von seinen abfälligen Bemerkungen ab – in Ruhe gelassen. Offenbar war diese Schonzeit nun zu Ende. Vielleicht hatte er auch einfach bisher noch nicht gesehen, dass der Elbenkrieger ein Handy besaß.

„Ich sehe keinen Anlass, Euch mein Eigentum zu überlassen, werter Herr!“, erklärte Branagorn ruhig und machte keinerlei Anstalten, seinem Gegenüber das Mobiltelefon auszuhändigen.

„Ey, du laberst! Kannst du nicht Deutsch oder was?“

„Ich spreche viele Sprachen und Ihr scheint Euch in der Euren ein wenig vergriffen zu haben“, erwiderte Branagorn.

Taliban kniff die Augen zusammen, sodass sie zu schmalen Schlitzen wurden. Branagorn nahm einen Geruch wahr, der eine für sein olfaktorisches Feinempfinden äußerst anstrengende Mischung aus Schweiß, Marihuana und noch ein paar anderen Komponenten war. Was Letzteres betraf, so wollte der Elbenkrieger gar nicht so genau wissen, welche Anteile da im Einzelnen noch vorhanden waren. Er spürte so schon einen kaum zu unterdrückenden Brechreiz.

Taliban hob die geöffnete Hand und deutete auf die leere und mit Elbenrunen verzierte Lederscheide, die Branagorn an dem breiten Gürtel trug, der sein Wams zusammenhielt. „Hattest du nicht immer ein Schwert bei dir?“

„Heute nicht.“

„Wer hat es dir abgezogen?“

„Die Hüter der Ordnung.“

„Bullen? Arme Sau!“

„Verzeiht mir, werter Taliban, wenn ich das Gespräch mit Euch nicht fortzusetzen gedenke.“

Branagorn wollte einfach an Taliban vorbei in Richtung des Aufzugs gehen, aber der Kerl mit dem Delight-T-Shirt stellt sich ihm erneut entgegen. „Los, Handy her!“

„Ich werde Euch mein sprechendes Artefakt nicht geben!“

Taliban drängte Branagorn mit seiner schieren Körpermasse gegen die Wand. „Komm mir nicht dumm, du bleicher Arsch!“

Branagorn befreite sich mit einem kräftigen Stoß gegen die Schulter seines Gegenübers. Taliban ließ die Faust mit dem Schlagring nach vorne schnellen – genau auf Branagorns Kopf zu. Aber dieser wich mit einer Geschwindigkeit zur Seite, die man dem zerbrechlich wirkenden, blassen Mann kaum zutraute. Die Faust mit dem Schlagring krachte in die Wand. Der Schlagring hinterließ dort einen sehr charakteristischen Abdruck. Während Branagorn sich mit einem schnellen Schritt endgültig aus der Reichweite seines Gegners brachte, schrie Taliban laut auf und hielt sich die Hand.

„Verdammte Scheiße!“, rief er.

In diesem Moment passierten einige seiner Freunde, vor denen Taliban vor Kurzem noch seine große Show abgezogen hatte, die Außentür des Wohnblocks und betraten wenig später den Flur, der zu den Aufzügen führte.

Sie blieben stehen und wirkten einen Moment lang wie erstarrt.

„Ey, was ist passiert?“, fragte einer von ihnen.

Taliban wollte etwas sagen, konnte aber kein verständliches Wort herausbringen, weil ihm der Schmerz in der Hand wohl daran hinderte.

„Hat der dünne Mann dich geschlagen, oder was?“

„Scheiße!“

„Hätte nie gedacht, dass der Irre dich schafft, Alter!“

Talibans Gesicht lief dunkelrot an.

„Ich darf Euch versichern, dass es keinen Kampf gegeben hat“, erklärte nun Branagorn.

„Bin ausgerutscht! Mit Schlagring an der Hand!“, knurrte Taliban. „Ist scheiß glatt hier! Ey, ich sach dir, verklagen sollte man die Scheiß-Putzfrau! Und das Handy von dem Typ da ist auch echt arm! Voll Scheiße und billig! Wer will so'n Teil tragen ohne schämen?“

Für einen Moment trafen sich die Blicke von Branagorn und Taliban. Dann ging der Elbenkrieger den Flur entlang bis zu den Aufzügen. Es gab insgesamt drei davon – und nur an einem davon stand ein Schild mit der Aufschrift DEFEKT. Ein ach so seltenes Zeichen der Hoffnung in einer bösen Welt!, dachte der Elbenkrieger.

*

Branagorn fuhr hinauf in den zehnten Stock und erreichte schließlich eine Wohnungstür. F'ank S'hmit' stand da an der Tür. Drei Buchstaben waren nicht mehr zu lesen. Aber das bedeutete ihm nichts und er dachte auch nicht im Traum daran, dies in Ordnung zu bringen. Frank Schmitt wirkte auf ihn manchmal wie der Name eines Fremden, mit dem ihn nichts verband, außer der Tatsache, dass er ihn auf die Formulare schreiben musste, die ihn dazu berechtigten, alle möglichen staatlichen Hilfen in Anspruch zu nehmen. Aber ansonsten hatte dieser Name nicht das Geringste mit ihm tun. Nicht mit seiner Seele und dem, was im Innersten seine Persönlichkeit ausmachte.

Er trat in die außerordentlich spärlich eingerichtete Wohnung. Eine Matratze lag auf dem Boden, ein paar Kleidungsstücke sorgfältig aufgeschichtet in einer Ecke. Außerdem gab es ein Gestell aus Gusseisen, das eigentlich wohl mal als Ständer für ein Kaminbesteck gedient hatte.

In Branagorns Wohnung allerdings diente es als Waffenständer. Mehrere Schwerter und Rapiers unterschiedlicher Größe waren dort zu finden. Und es gab ein Regal mit Büchern. Es waren fast hundert.

Branagorn schnallte den Gürtel mit der leeren Schwertscheide ab und warf beides auf die Matratze. Dann schritt er zur Balkontür und trat ins Freie. Er schnüffelte zunächst vorsichtig und mit deutlich ablesbarem Misstrauen in den Gesichtszügen, so als wollte er keinen zu kräftigen Atemzug nehmen, ehe er nicht überprüft hatte, ob die Geruchsqualität der Luft einigermaßen erträglich war. Erträglich – nicht etwa gut oder hervorragend.

Je nachdem, wie der Wind stand und welche Industrieanlage in Münster gerade welche Gerüche seinem Balkon entgegenwehte, konnte die Qualitätsbeurteilung ganz unterschiedlich ausfallen.

Branagorn wagte nun einen etwas kräftigeren Atemzug und ließ den Blick über das von Hochhausbauten geprägte Kinderhaus schweifen. Von hier aus konnte man sogar das Signal-Iduna-Hochhaus mitten in der Stadt und die Lambertikirche sehen.

Hier irgendwo, in diesen Straßen, zwischen diesen Häusern und in diesem Land bist du also, Traumhenker!, ging es ihm durch den Kopf. Du hast es darauf angelegt, dich mit mir zu messen! Nun gut, du sollst dein Duell haben! Ich, Herzog von Elbara und treuester unter den Gefolgsmännern des Königs von Elbiana, bin dazu bereit! Du wirst mir nicht entkommen, Bringer des Übels und Verderber der Seelen!

Und während Branagorns dürre Hände um die Balkonbrüstung fassten, schloss er die Augen und lauschte. Irgendwo da draußen schlug jetzt das Herz einer Mörderseele etwas schneller, weil sie genau wusste, was er getan hatte und dass es dafür keine Vergebung geben konnte.

„Du wirst mir nicht entkommen, Traumhenker“, murmelte Branagorn und es klang wie ein sehr feierliches Versprechen.

Letzte Ausfahrt Ladbergen

Haller fuhr für Annas Geschmack ziemlich schnell. Hansalinie hatte man die A1 früher genannt, und sie durchschnitt das Münsterland wie ein gebogener Dorn und hatte außer einigen tausend Unfalltoten auch ein paar kleinere Baggerseen hinterlassen, wie zum Beispiel die Buddenkuhle in Ladbergen.

Haller nahm die Ausfahrt.

„Sie haben gar nicht Ihr Navi eingeschaltet“, stellte Anna fest.

„Brauche ich nicht. Ich komme von hier.“

„Aus Ladbergen?“, fragte sie und betonte dabei das Wort auf der vorletzten Silbe.

„Nein, aus Ladbergen“, widersprach Haller und betonte die erste Silbe. „Allein an der Aussprache hört man schon, dass Sie nicht aus Ladbergen kommen.“

„Das sind eben die kleinen Unterschiede!“

„Na ja, streng genommen bin ich auch ein Zugezogener. Meine Eltern haben hier in den Siebzigern gebaut, weil das Land so billig war. Und ganz ehrlich: Zuerst haben wir auch Ladbergen gesagt!“

„Na, da bin ich ja beruhigt!“

„Im Übrigen sind die Auswärtigen schon seit langem in der Mehrheit.“

„Na ja, Ladbergen war für mich bisher immer nur eine Ausfahrt an der Autobahn, wenn ich zwischendurch mal in den westfälischen Landeskliniken in Lengerich zu tun hatte“, meinte Anna. „Ist ja vielleicht auch nicht gerade eine Weltstadt!“

„Sagen Sie so etwas nicht! Nicht über die Heimat von Neil Armstrong!“

„Wie bitte?“

„Ja, wussten Sie das nicht? Die Vorfahren von Neil Armstrong, dem ersten Menschen auf dem Mond, stammen aus Ladbergen. Ich habe in der Schule neben jemandem gesessen, der mit Armstrong verwandt war. Etwas weitläufig natürlich.“

„Dann dürft hier ja einiges los gewesen sein, als Armstrong vom kleinen Schritt für einen Menschen und vom großen für die Menschheit gesprochen hat und einen Fußabdruck hinterließ!“

„Und Sie denken, dass ich alt genug sein müsste, um das noch erlebt zu haben?“

„Haben Sie nicht?“

Haller erreichte die Kreuzung und bog von der Saerbecker Straße in die Lengericher Straße, vorbei an einer Tankstelle auf der rechten Seite.

„Ich war vier!“, sagte Haller. „Und wir sind erst ein Jahr später hierhergezogen.“

„Dann haben Sie das verpasst!“

„Nein. Mein Freund in der Schule sagte, dass gar nichts los gewesen sei, als Neil Armstrong den Mond betrat.“

„Ach!“

„Es war Schützenfest! Und das war wichtiger! Überall haben sich die Leute die Mondlandung im Fernsehen angesehen. Mein Vater hatte extra einen Bunt-Fernseher gekauft. Eine Riesenkiste! Nur in Ladbergen-Wester hat niemand hingesehen, denn was ist schon eine Mondlandung, wenn man zum Schützenfest gehen kann!“

Anna lachte. Und Haller, der sonst eher verkniffen dreinsah, lächelte zumindest kurz.

Vielleicht reden wir nur so viel, weil wir uns von der äußerst unangenehmen Aufgabe ablenken wollen, die vor uns liegt!, dachte Anna. Es war niemals Routine, den Angehörigen eines Mordopfers zu begegnen. Für keinen Polizisten und auch auch nicht für jemanden, der Psychologie studiert hatte. Es gab eben einfach Situationen, da hatte jegliches Bemühen um professionelle Distanz ihre Grenzen.

Haller bog noch mal ein und anschließend ein weiteres Mal. Anna hatte längst die Orientierung verloren. Sie befanden sich in einer Siedlung mit schmucken Einfamilienhäusern. Alle rot verklinkert mit grauweißen Fugen. Für architektonische Firlefanz boten die strengen Bauvorschriften keinen Platz.

Schließlich bemerkte Anna das Schild mit der Aufschrift 'Lerchenweg'. Vor einem der rot verklinkerten Bungalows stellte Haller den Wagen ab. „Hier ist es“, sagte er knapp.

„Tja ...“

„Zum Glück war schon ein Kollege hier und hat den Eltern von Jennifer Heinze die traurige Nachricht überbracht.“

„Das heißt keineswegs, dass für uns die Aufgabe jetzt angenehmer wird“, wandte Anna ein.

„Stimmt“, musste Haller zugeben. „Für einen Sonntag Vormittag kann ich mir wirklich Angenehmeres vorstellen, als mit den Eltern eines Mordopfers unangenehme Fragen zu erörtern.“

„Es wundert mich, dass sich bisher niemand gemeldet hat, der mit ihr zusammen auf dem Mittelalter-Markt in Telgte war“, sagte Anna. „Wir haben doch auch keinen Wagen gefunden, der zu dem Schlüssel passt, den sie bei sich trug!“

„Das mit dem Wagen wundert mich auch“, sagte Haller. „Aber wieso sollte sie nicht alleine zu dem Markt gefahren sein?“

„Weil die meisten, die ich da gesehen haben, eindeutig in Gruppen gekommen waren. Man verkleidet sich, geht zusammen über den Markt, kauft sich ein paar Sachen, die man unbedingt glaubt haben zu müssen und die das eigene Mittelalter-Feeling etwas auf Vordermann bringen ...“

„Jennifer Heinze war nicht verkleidet“, stellte Haller klar. „Sie trug ganz normale Straßensachen. Nicht wie Ihr spezieller Elbenfreund zum Beispiel!“

Sie stiegen aus.

Wenig später standen sie vor der Haustür. Haller klingelte. Ein Mann mit Halbglatze machte auf. „Haller, Kripo Münster. Dies ist unsere Psychologin, Frau ...“

„Meine Frau und ich trauern, aber wir sind nicht bekloppt und es gibt bei uns in Ladbergen nicht mal einen Kirchturm, der wirklich hoch genug, um sich mit gutem Gewissen zu Tode stürzen zu können. Also machen Sie sich keine Sorgen!“

„... ich wollte sagen, dies ist Frau van der Pütten und wir würden Ihnen gerne noch ein paar Fragen stellen. Sie sind Herr Heinze, nehme ich an.“

„Nehmen Sie richtig an.“

„Dürfen wir hereinkommen?“, fragte Anna.

Herr Heinze atmete tief durch. Es hörte sich an, als würde er unter einer Zentnerlast ächzen. Und wahrscheinlich war ihm auch genauso zumute.

„Kommen Sie“, murmelte er. „Aber dass meine Frau in der Verfassung wäre, mit Ihnen zu reden, kann ich Ihnen nicht versprechen!“

*

Herr Heinze führte sie in ein weitläufiges Wohnzimmer mit dicken, lederbezogenen Sesseln und Perserteppichen auf Parkett.

„Setzen Sie sich“, sagte er. „Ich komme gleich wieder. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

„Nein, danke“, sagte Haller.

„Mir auch nichts“, ergänzte Anna.

„Ich habe nur Kaffee da. Oder einen Korn. Den habe ich erst mal gebraucht, als Ihre Kollegen hier waren und uns gesagt haben, was mit ...“ Herr Heinze sprach nicht weiter. Er schluckte und sein Gesicht wurde dunkelrot.

„Es ist schon gut, Herr Heinze. Machen Sie sich um unser Wohl keine Gedanken“, sagte Anna. „Sie stehen jetzt im Mittelpunkt. Und Sie haben alles Recht dazu, zu trauern und eine Weile in erster Linie an sich selbst zu denken.“

Er warf Anna einen kurzen Blick zu und nickte stumm.

Herr Heinze ging hinaus, verschwand durch eine Tür in einem anderen Raum und kehrte nach ein paar Augenblicken zurück. „Entschuldigen Sie, wenn meine Frau heute nicht mit Ihnen reden möchte. Sie schafft das einfach nicht und ist völlig am Ende.“

„Vielleicht kann ich ihr helfen“, sagte Anna.

Herr Heinze schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er mit einem Tonfall, der an den Klang von klirrendem Eis erinnerte. „Das können Sie nicht!“ Er setzte sich. Sein Blick wirkte sehr nachdenklich. Er sah zwar in Hallers Richtung, schien aber durch ihn hindurchzusehen, so als wäre der Kriminalhauptkommissar gar nicht da.

„Herr Heinze, wir haben bei Ihrer Tochter einen Wagenschlüssel gefunden. Aber keines der Fahrzeuge, die wir auf dem Parkplatz an der Planwiese in Telgte gefunden haben, passte zum Schlüssel.“

„Sie hat einen Smart. Den haben wir ihr geschenkt. Ich glaube, das war nach ihrer bestandenen Prüfung, die sie zur Bankkauffrau gemacht hat. Sie war immer eher fleißig und hat alles mit Bestnoten hinter sich gebracht.“

„Farbe und Kennzeichen?“

„Gelb“, sagte Herr Heinze. „Und was das Kennzeichen angeht, schaue ich mal in meinen Unterlagen nach. Auswendig weiß ich das nicht. Wissen Sie, der Smart ist nämlich als Zweitwagen auf mich zugelassen. Wegen der Versicherung. Wenn man jung ist und ein Auto haben will, bezahlt man sich ja dumm und dämlich ...“ Er seufzte. „Sechsundzwanzig Jahre! Ist eigentlich kein Alter zum Sterben, oder?“

„Nein“, sagte Haller.

„Glauben Sie, dass Sie den Verrückten kriegen, der ihr ... so was ... angetan hat?“

„Wir tun unser Bestes, Herr Heinze. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Ihr Kollege, der hier war, um uns die Nachricht zu überbringen, hat gesagt, dass man ihr die Haare abgeschnitten hat. Stimmt das?“

„Ja.“

„Dann ist es vielleicht der Irre, der schon ein paar mal hier in der Gegend zugeschlagen hat, oder? Die Zeitungen waren doch voll davon. Der Frisör oder so ähnlich.“

„Barbier. Aber das ist nur ein anderes Wort.“

„Wie lange ist es her, dass dieser Verrückte die erste Frau umgebracht hat?“

„Sieben Jahre.“

„Und Sie haben, wenn Sie mal ehrlich sind, immer noch keine richtige Spur, hab ich recht?“

Haller schwieg. Natürlich hatte er recht. Auch wenn es schwerfiel, das einzugestehen, aber genau so war es. Haller wusste das – und Anna wusste, dass Haller sie niemals hinzugezogen hätte, wenn er in der Lage gewesen wäre, in dem Fall mit herkömmlichen polizeilichen Methoden voranzukommen. Aber bisher gab es nur Fragen. Und keine Antworten.

„Herr Heinze, ich weiß, dass das fast zu viel verlangt ist, aber wir brauchen Ihre Hilfe“, mischte sich Anna nun ein. „Je mehr wir über Ihre Tochter wissen, desto eher finden wir vielleicht irgendeinen Ansatzpunkt für unsere Ermittlungen.“

„Fragen Sie“, sagte Heinze. „Ich halte das schon aus. Es hat ja keinen Sinn. Irgendwie muss es ja weitergehen, auch wenn ich mir im Moment nicht so richtig vorstellen kann, wie. Wissen Sie, in dem Alter, in dem meine Tochter war, habe ich längst nicht mehr zu Hause gewohnt, und ich habe mich schon gefragt, ob irgendwas mit ihr nicht in Ordnung wäre. Sechsundzwanzig und noch zu Hause! Aber das scheint heute ganz normal zu sein. Ist ja auch am bequemsten. Ich habe immer mal wieder versucht, Jennifer dazu zu bringen, sich langsam ein eigenes Nest zu bauen. Schließlich hat sie einen guten Job und auch wenn ich von ihrem Freund nicht gerade besonders viel halte ... Na ja, wie auch immer. Jetzt würde ich mir wünschen, sie würde noch jahrelang bei uns wohnen!“

„Sie erwähnten einen Freund ...“, hakte Anna ein.

„Ja. Timothy.“

„Und wie weiter?“

„Timothy Winkelströter. Läuft immer herum wie so eine finstere Nachtgestalt oder so. Bleich geschminkt und an den Fingern trägt er so Ringe mit Totenschädeln und so ein Zeug.“

„Trägt er zufälligerweise auch ein Schwert?“, fragte Haller.

Herr Heinze hob die Augenbrauen.

„Manchmal. Kennen Sie ihn etwa?“

„Nein.“

„Hätte mich nicht gewundert, wenn der einschlägig wegen irgendwas vorbestraft wäre!“

„Am besten Sie geben uns einfach die Adresse“, sagte Haller.

„Ich weiß nur, dass er in Kattenvenne wohnt. Ehrlich gesagt habe ich immer gehofft, dass es mit dem Typen möglichst schnell aus ist und vor einer Woche schien es tatsächlich so zu sein. Die beiden hatte anscheinend Schluss gemacht. Nur schien unsere Jennifer darüber alles andere als glücklich zu sein.“

„Wir werden dieser Spur mal nachgehen“, versprach Haller. „Wir müssen von Ihnen jetzt noch ein paar Einzelheiten wissen. Wann genau ist Jennifer am Samstag nach Telgte gefahren? Und mit wem?“

„Das war gegen elf am Morgen. Sie ist in den Smart gestiegen und losgefahren. Sonst war da nichts. Tschüss Papa - und das war's.“

„Sie war also allein?“

„Ja.“

„Kann es sein, dass sie sich mit Freunden getroffen hat, dort den Wagen abstellte und sie dann gemeinsam weitergefahren sind?“

„Wäre möglich. Aber dazu kann ich ehrlich gesagt nichts sagen.“

„Wir würden uns gerne das Zimmer ihrer Tochter ansehen.“

„Zimmer?“ Herr Heinze hob die Augenbrauen. „Es sind insgesamt drei Zimmer, die sie bewohnt hat. Natürlich können Sie sich dort umsehen, wenn Sie meinen, dass Ihnen das irgendwie weiterhilft.“

*

Herr Heinze brachte brachte Sven Haller und Anna van der Pütten ins Dachgeschoss, das wohl komplett von Jennifer Heinze bewohnt worden war. Die Dachneigung ließ einen Ausbau gerade noch zu. Licht fiel durch große Dachfenster. Man konnte dem Zug der Wolken zusehen.

Herr Heinze stand erst etwas verlegen herum und meinte dann, er wollte mal nach seiner Frau sehen.

„Tun Sie das ruhig, wir kommen schon zurecht“, ermutigte ihn Anna.

„Gut“, sagte er so knapp und hölzern, wie es wohl ohnehin seiner Art entsprach. Aber diese etwas knorrige Fassade half ihm vielleicht im wahrsten Sinn des Wortes das Gesicht zu wahren.

Anna sah sich um. Zu den ersten Dingen, die ihr auffielen, gehörte ein Plakat. Es warb für ein Konzert der Mittelalter-Rockband Schandmaul, das vor sieben Jahren in der Jovel Music Hall in Münster stattgefunden hatte.

„Sie war dort“, murmelte Anna.

„Was?“, fragte Haller und sah zu ihr herüber, während er in Jennifer Heinzes Kleiderschrank sah, in dem es einige Gewänder gab, die gut auf den Markt in Telgte gepasst hätten.

„Jennifer Heinze war auf dem Schandmaul-Konzert vor sieben Jahren. Wurde nicht in der Damentoilette der alten Jovel Music Hall an der Grevener Straße damals das zweite Opfer des Barbiers gefunden – oder habe ich das falsch in Erinnerung?“

„Nein, das stimmt. Opfer Nummer eins ist ein halbes Jahr vorher durch ein Jagdgewehr umgekommen. Die Tote im Jovel war Nummer zwei, dann hat sich der Täter erst mal eine Pause von zwei Jahren gegönnt, ehe er wieder zuschlug ...“

Haller runzelte die Stirn und sah sich das Plakat interessiert an. Das Plakat war sogar von den Musikern mit Autogrammen versehen worden. „Stimmt, sie ist zur Tatzeit am Tatort Nummer zwei gewesen, das verbindet sie mit Franka Schröerlücke, dem zweiten Opfer. Es sei denn, Jennifer hat dieses Plakat auf einem Flohmarkt gekauft.“

„Glaube ich nicht.“

„Ich auch nicht, Frau van der Pütten. Seltsam ist auch Folgendes: Jennifer hatte den Schrank voller 'Gewandungen für die Maid', wie man sie in diversen und einschlägigen Internet-Shops kaufen kann, wenn man das Bedürfnis hat, als Erwachsene noch Burgfräulein zu spielen ...“

„Ah, ich merke, Sie haben inzwischen zum Thema recherchiert!“

„Ein paar Klicks im Netz nenne ich noch keine Recherche.“

„Besser als nichts!“

„Was ich sagen wollte, ist: Wieso hat Sie von dem Plunder nichts angezogen, als sie nach Telgte fuhr? Ich meine, wenn es einen passenden Ort gegeben hätte, um die Sachen zu tragen, dann doch wohl dort, oder irre ich mich?“

Anna zuckte mit den Schultern. „Das Plakat ist sieben Jahre alt. Sie war offenbar schon damals mit der Mittelalter-Szene verbunden. Aber manchmal ändert sich der Geschmack oder das Leben oder beides.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Na ja, inzwischen wurde Jennifer Bankkauffrau, lief wahrscheinlich in gediegener Businesskleidung herum und trug Faltenrock und Bluse anstatt 'Gewandung'. Manchmal versucht man, sich von der Allgemeinheit erst abzuheben und findet das dann später mehr und mehr überflüssig, kann sich aber von den Accessoires der Protestphase trotzdem nicht trennen.“

„So wie die alten Opas in ihren Easy-Rider-Lederjacken, die man manchmal sieht“

„Genau. Das ist natürlich alles nur Spekulation. Wir können Jennifer Heinze ja leider nicht mehr fragen.“

Haller wühlte etwas in dem Kleiderschrank herum, räumte mit einer weit ausholenden Bewegung einen Großteil der langen, bis zum Boden reichenden Kleider und Mäntel zur Seite und was dann zum Vorschein kam, ließ sie beide staunen.

Haller bückte sich und hob eine Maske nach Art eines mittelalterlichen Pest-Arztes hoch.

„Der Schwarze Tod scheint uns wirklich zu verfolgen“, stellte Haller mit galligem Unterton fest.

Der Freak aus Kattenvenne

Als Anna van der Pütten und Sven Haller bei den Heinzes in Ladbergen fertig waren, fuhren sie nach Kattenvenne, um mit Timothy Winkelströter zu sprechen. Die Adresse herauszufinden, war nicht allzu schwierig. Haller brauchte dazu noch nicht einmal im Polizeipräsidium in Münster anzurufen, um seine Kollegen zu bitten, das zu ermitteln. Er hatte sein Laptop dabei, ging damit über einen Stick ins Internet und hatte die Adresse wenig später ermittelt.

Timothy Winkelströter wohnte in einer Einliegerwohnung, die in einem zweistöckigen Haus mit Walmdach lag. Das Haus schätzte Haller auf gut hundert Jahre, auch wenn es gut in Schuss war. Es hatte einige kleine Erker und die Wände waren von wildem Wein überwuchert. Im Zeitalter der roten Verklinkerung hätte der Bauherr wohl niemals die Genehmigung für den Bau dieses Hauses bekommen, insofern verdankte es seine Errichtung der Gnade des frühen Baubeginns.

Winkelströter war allerdings offenbar nicht zu Hause. Auf das Klingeln an seinem Schild reagierte auch nach dem fünfzehnten Mal niemand.

Stattdessen öffnete der im Haus wohnende Vermieter die Tür.

„Der ist nicht da“, sagte er.

„Kripo Münster. Wir wollen zu Herrn Winkelströter.“

„Hab ich kapiert!“, sagte der Mann. Er war von mittlerem Alter und trug ein kariertes Hemd, das ihm vielleicht vor zwanzig Jahren mal gepasst hatte, dessen Knöpfe jetzt aber zum zerreißen gespannt waren. „Iss abba nich da!“

„Ist das Ihr Haus?“

„Jooo.“

„Wann kommt Herr Winkelströter denn zurück?“

„Weiß nich.“

„Heute noch?“

„Kann sein. Kann auch nich sein. Immer unterwegs. Hatten Geländewagen – fallse ihn verfolgen wollen.“

„So dringend ist es auch nicht. Aber vielleicht rufen Sie uns an, sobald er auftaucht – oder noch besser: Sie sagen ihm, dass er sich dringend bei uns melden soll!“

Haller gab ihm seine Karte.

Der sah mit einem Stirnrunzeln darauf.

„Kannnixsehen“, sagte er, so als würde der ganze Satz nur aus einem einzigen Wort bestehen. „Keine Brille.“

„Schon gut“ murmelte Haller resignierend. Er warf Anna einen Blick zu, der zu sagen schien: Ja, so steht es wirklich mit der berühmt-berüchtigten Mithilfe der Bevölkerung.

„Sachihmabbabescheid“, versprach der Hauseigentümer, dessen Name dem Schild an der Tür zufolge Möller war.

„Danke, sehr nett von Ihnen“, meinte Haller.

Als sie zum Wagen zurückgingen verdrehte er die Augen.

*

Anna van der Pütten gähnte. Es war Sonntagabend. Sie befand sich in einem der Konferenzräume des Münsteraner Polizeipräsidiums, der zum Lagezentrum umfunktioniert worden war.

„Will jemand noch Kaffee. Sonst nehme ich den Rest!“, meldete sich Raaben zu Wort. Haller antwortet nicht. Er schien in seine Gedanken vertieft zu sein. Schon seit einer ganzen Weile starrte er auf die zahllosen Fotos, die am Tatort gemacht worden waren. Auf dem Großbildschirm waren sie in aller Deutlichkeit und mit vielen Details zu sehen, die man ohne die vorliegende immense Vergrößerung gar nicht bemerkt hätte.

Das Telefon klingelte. Eine Kollegin, deren Namen Anna bisher nicht kannte, ging dran. „Wenden Sie sich doch bitte an die Pressestelle“, sagte sie freundlich aber bestimmt. „Nein, ich kann Ihnen leider keine Auskünfte geben.“ Es folgte noch eine Bekräftigung in Form eines „Wirklich nicht!“ und ein ziemlich gereiztes „Bitte!“. Sie wandte sich an Haller.

„Ich frage mich, woher die diese Nummer haben!“

„Ich habe es aufgegeben, mich noch über irgendetwas zu wundern“, meinte Haller. „Auf der Leitung, die frei bleiben soll, ruft die Presse an und die Nummern, auf denen Hinweise eingehen sollten, kommt jede Menge Müll, aber nichts Brauchbares!“

Die Tür ging auf. Markus Friedrichs von der Spurensicherung trat ein. Anna kannte ihn. Er war an dem Tatort auf der Planwiese gewesen und hatte sich auch bereits an den Ermittlungen bei den vorangegangenen Morden des sogenannten Barbiers beteiligt. Dunkles Haar, glattes Gesicht und eine Brille, die irgendwie nie wirklich dort zu sitzen schien, wo sie hingehörte. Vielleicht lag das daran, dass die wenig markante Nase dafür einfach nicht den rechten Halt bot. Man konnte Friedrichs für Mitte zwanzig halten, wenn man übersah, dass sich an den Schläfen und im Nacken bereits erste graue Strähnen zeigten. Jemand, der mit vierzig immer noch so aussah, als hätte Mutti ihm die Sachen zum Anziehen rausgelegt und für den es kein höheres Ziel gab, als mit größtmöglicher Akribie seine Arbeit zu machen.

Während sich unter den Polizisten alle anderen duzten, war Friedrichs der Einzige, der alle siezte und auch von allen gesiezt wurde. In diesem Sinn gehörte er nicht wirklich dazu, dachte Anna – und das hatte Friedrichs mit ihr gemeinsam. Aber der Unterschied war, dass sie wirklich nicht dazugehörte – Friedrichs aber eigentlich längst hätte dazugehören müssen, es aber offenbar nicht wollte.

„Ich muss Ihnen was zeigen“, sagte Friedrichs und legte den vergrößerten Computerausdruck eines Tatortfotos auf Hallers Tisch.

Anna erkannte sofort, worum es ging. Es zeigte die Flecken am Anhänger-Aufbau, die nach Branagorns Ansicht zusammengenommen einen Handabdruck ergaben.

„Was soll das?“, fragte Haller.

„Sehen Sie sich das hier an!“ Friedrich legte einen weiteren Ausdruck vor Haller auf den Tisch. „Es handelt sich um einen ähnlichen Abdruck. Der Fotoausschnitt ist sieben Jahre alt und stammt aus der Damentoilette der alten Jovel Music Hall an der Grevener Straße vom Tag des Schandmaul-Konzerts!“

„Dort wurde Franka Schröerlücke, das zweite Opfer des Barbiers, gefunden!“, entfuhr es Haller.

„Es ist ein Ausschnitt eines Tatortfotos, allerdings hat man diese Spur damals nicht zuordnen können und auch nicht richtig gesichert. Die Ausdrucke entsprechen übrigens dem Maßstab eins zu eins. Ich habe jetzt genaue Messungen durchgeführt und mit einer neuen Vergleichssoftware für isometrische Daten gearbeitet.“

„Und mit welche Ergebnis?“, fragte Haller.

„Also, wenn es eine Hand ist, dann vermutlich dieselbe. Und es dürfte auch derselbe Handschuh gewesen sein. Sehen Sie die Linien hier? Ich kann Ihnen das noch auf einer anderen Vergrößerung zeigen.“

„Nicht nötig!“

„Das dürften sehr charakteristische Nähte sein. Ich habe den Abdruck außerdem fachgerecht gesichert. Es sind Strukturen erkennbar, die auf stark strukturiertes Leder schließen lassen.“

„Eigenartig“, meinte Haller stirnrunzelnd. „Dieser Spinner scheint das sogar erkannt zu haben.“

„Sie meinen Branagorn?“, echote Anna.

„Ich meine Frank Schmitt. Dass Sie diesen Firlefanz mit dem Fantasy-Namen mitmachen, ist meiner Meinung nach selbst für eine Therapeutin etwas zu viel der Einfühlung. Oder ist es kein Therapieziel mehr, sich der Realität zu stellen?“

Anna ging darauf nicht weiter ein. Stattdessen wandte sie sich an Friedrichs. „Das heißt, unser Täter trägt bei seinen Taten immer dieselben Lederhandschuhe!“

„Ja“, bestätigte Friedrichs. „Und vermutlich gibt es irgendein orthopädisches Problem bei ihm.“

„Wieso das?“, fragte Haller.

Friedrichs atmete tief durch, so als wäre er genervt davon, seinen vergleichsweise unwissenden Mitmenschen etwas erklären zu müssen und als verstünde er nicht wirklich, weshalb die anderen nicht selbst darauf kamen. „Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie diese Abdrücke zustande gekommen sind. Es lastete jeden Fall sehr viel Gewicht auf der Hand. Da ist nicht einfach nur mal so an die Wand gepatscht worden! In dem Fall auf der Planwiese ist außerdem vorher auf die feuchte, grasbewachsene Erde gefasst worden. Das ist sicher! Ich denke Folgendes: Der Täter hat sowohl in der alten Jovel Music Hall vor sieben Jahren als auch auf der Telgter Planwiese das Opfer zuerst getötet und dann in eine sitzende Haltung gebracht. Anschließend rasierte er es und dabei musste er in die Knie gehen oder hocken. Anschließend kam er aber offenbar nicht hoch, ohne sich abzustützen.“

„Also irgendein Problem mit dem Bewegungsapparat – im weitesten Sinne!“, zog Anna ein Resümee.

Friedrichs nickte. „Ja, ich bin gerade mit einem Orthopäden in Kontakt, der mir da vielleicht ein paar Hinweise geben kann. Also wenn wir ganz konservativ argumentieren, könnte man so sagen: Der Barbier hat die Angewohnheit, sich beim Aufstehen abzustützen und irgendwo Halt zu suchen.“

„Und die Spuren können nicht während eines Kampfes entstanden sein?“, fragte Haller.

„Die beiden Toten selbst geben keine Hinweise, die in diese Richtung deuten, Herr Haller. Ich halte das für unwahrscheinlich.“

Haller seufzte. „Also müssen wir jetzt alle humpelnden Handschuhträger im Münsterland überprüfen – oder wie sehe ich das?“

„Lässt sich was zur Größe der Täterhand sagen?“, fragte Raaben dazwischen.

Friedrichs nickte. „Größe 7 mit einem geschätzten Handumfang von 19,6 Zentimetern würde ich sagen. Das entspricht der Größe S bei Männern, der Größe M bei Frauen und der Größe XL bei Kindern.“

„Mit anderen Worten: Der Handschuh passt jedem!“, resümierte Haller.

„Ich möchte die Bilder gerne jemandem zeigen“, kündigte Anna an. „Auch das aus dem alten Jovel.“

„Aber nicht Ihrem Elbenkrieger!“, verlangte Haller.

„Doch - - genau dem.“

„Aber ...“

„Herr Haller, er wusste es! Er hat auf einen Blick im Grunde dasselbe gesehen, was Ihr Kollege mit Hilfe seiner aufwändigen Methodik schließlich auch herausbekommen hat! Bitte!“

Haller seufzte. „Ende der Diskussion! Das kommt nicht in Frage! Und verlangen Sie nicht von mir, dass ich in Zukunft an Magie glaube!“

„Ganz sicher nicht! Aber das Branagorn das Haar auf dem Boden gesehen hat, dass er diesen Abdruck und die Struktur erkannt hat ... Das ist alles nicht so verwunderlich, wie Sie vielleicht denken!“

„Es reicht mir völlig, wenn die Psychologie mir erklärt, warum jemand Vater oder Mutter hasst oder jemanden umbringt. Ich brauche nicht auch noch wissenschaftliche Erklärungen für Dinge, die es nicht gibt!“, erwiderte Haller jetzt schroff.

Friedrich ergriff jetzt noch einmal das Wort, nachdem er sich schon zum Gehen gewandt hatte. „Ach ja, Herr Haller – da sitzt draußen noch jemand, der Sie gerne sprechen würde“, meinte Friedrichs beiläufig. „Er sagt, er würde das letzte Opfer kennen!“

Haller hob die Augenbrauen.

„Und das sagen Sie mir erst jetzt?“

Friedrichs zuckte mit den Schultern. „Es hat mich ja niemand gefragt!“

„Der Zeuge soll schon mal ins Zimmer 2 gehen!“

„Ich werde es ihm sagen“, versprach Friedrichs.

*

Zimmer 2 war ein spartanisch eingerichteter Besprechungsraum mit unbequemen Mobiliar. Dieses Mobiliar entsprach nicht einer besonderen Verhörtaktik, die die Folter durch unbequemes Sitzen und schmerzende Druckstellen im Gesäß sowie Rückenschmerzen bei längerer Dauer des Gesprächs schleichend wieder einführen wollte. Es war schlicht eine Frage fehlender finanzieller Mittel. Anna war das schon unangenehm aufgefallen, als sie zum allerersten Mal ein längeres Gespräch mit einem Verdächtigen in diesen Räumlichkeiten hatte führen müssen und sich hinterher gefragt hatte, ob dessen Aggressivität nun wirklich Ausfluss einer soziopathischen Persönlichkeit oder vielleicht doch nur das unweigerliche Resultat schlechten Sitzmobiliars war.

Der Zeuge hatte schon Platz genommen.

„Ich bin Timothy Winkelströter“, sagte er. „Herr Möller hat mir gesagt, dass ich mich bei Ihnen melden soll.“

„Das ist richtig“, bestätigte Haller und setzte sich. Er stellte seine Kaffeetasse ab und plemperte dabei. „Wollen Sie auch einen Kaffee?“

„Nein. Es geht um Jennifer, nehme ich an.“

„Ja. Sie waren Ihr Freund?“

„Also, wie soll ich sagen ...?“

„Ja oder nein. Das ist doch nicht allzu schwierig!“

Timothy Winkelströter beugte sich vor. Anna musterte ihn dabei. Er trug einen langen Ledermantel, der fast bis zu den Knöcheln reichte. Seine Finger waren von Ringen besetzt. Um den Hals hing ein Amulett mit verschnörkelten Schriftzeichen, die Anna entfernt an die magischen Runen erinnerten, die auf Branagorns Schwertscheide zu sehen waren. Seine Haare reichten bis weit über die Schultern und waren ziemlich strähnig.

„Die Sache ist die: Wir hatten eigentlich Schluss gemacht. Oder noch genauer gesagt: Ich hatte mit ihr Schluss gemacht, weil sie genervt hat.“

„Hm“, meinte Haller. „Wann war das?“

„Das war am Freitag vor acht Tagen. Wir haben uns dann einige Zeit nicht gesehen und als ich dann am Samstag zum Mittelalter-Markt nach Telgte gefahren bin ...“

„Sie waren also dort?“, unterbrach ihn Haller.

„Ja sicher!“

„Fahren Sie bitte einfach fort“, ermutigte ihn Anna, denn sie hatte das Gefühl, dass sich Haller nicht gerade einen günstigen Augenblick ausgesucht hatte, um den Gesprächsfluss seines Gegenübers zu stören.

Timothy Winkelströter schluckte. „Einen leckeren Met haben Sie nicht zufällig, oder?“

„Tut mir leid“, meinte Haller. „Kaffee oder Wasser, mehr gibt's hier nicht.“

„Dann lassen Sie es besser. Ich will mich ja nicht vergiften.“

„Wie kam es, dass Sie doch mit Jennifer Heinze zum Markt gefahren sind?“, ging Anna nun dazwischen und wunderte sich selbst über ihre Ungeduld, die eigentlich jeglichen Konventionen ihres Berufsstandes widersprach.

„Das habe ich doch noch gar nicht gesagt!“, wunderte sich Timothy.

„Nein, aber ich habe es angenommen, weil alles andere keinen Sinn machen würde!“

Timothy seufzte. „Wie gesagt, ich war auf dem Weg nach Telgte, sie hat mich auf dem Handy angerufen und gesagt, sie sei auch auf dem Weg dorthin. Und ob wir nicht noch mal über alles reden könnten und so. Na ja, ich bin ja kein Unmensch. Wir hatten ja auch schöne Zeiten. Also haben wir einen Treffpunkt an einem Parkplatz vereinbart, sie ist in meinen Wagen eingestiegen und wir sind dann zum Markt gefahren.“

„Wie ging es dann weiter?“, fragte Anna. Ihr fiel eine Tätowierung am Unterarm auf, als der Ärmel seines Mantels etwas hochrutschte. Es war ein Stierkopf auf einem Kreuz. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon einmal gesehen, konnte es aber im Moment nicht recht einordnen. Aber kultische Geheimlehren waren ebenso wenig ihr Spezialgebiet wie die alchemistischen Geheimzeichen des Mittelalters oder was auch immer Timothy Winkelströter sonst als Vorlage für diesen leider ziemlich dauerhaften Körperschmuck gewählt hatte.

„Tja, ich will nicht drumrum reden“, sagte Timothy.

Drumrum – dieses eine Wort wies ihn als jemanden aus, der in dieser Gegend geboren und aufgewachsen war. Anna war das erst während ihres Studiums in Köln aufgefallen, dass man daran münsterländische Landsleute in der Fremde erkennen konnte. Drumrum und drumzu – zwei akustische Erkennungszeichen, die jeden Münsterländer so eindeutig identifizierten, wie das 'Woll' den Sauerländer. Anna hatte sich bis dahin immer eingebildet, reines Hochdeutsch zu sprechen, und es war ihr erst in dem Moment klar geworden, als sie einen Kommilitonen, der wie sich herausstellte, aus Emsdetten kam, diese beiden Worte benutzen hörte, die sie bis dahin ebenfalls bedenkenlos gebraucht und sich danach mühsam abgewöhnt hatte.

Nach seiner verheißungsvollen Ankündigung 'nicht drumrum' zu reden, schwieg Timothy Winkelströter allerdings erst einmal eine Weile. Er wirkte plötzlich in sich gekehrt und seine Hand umfasste das Amulett mit den Runen, so als würde er sich davon irgendeine Art von Schutz oder Stärkung erhoffen. Der Stierkopf auf dem Kreuz an seinem Arm wurde dadurch sehr gut sichtbar, sodass Anna jede Einzelheit daran erkennen konnte.

„Wann haben Sie Jennifer denn zuletzt gesehen?“, fragte Anna jetzt behutsam. Ihre Stimme hatte einen samtweichen Klang. Sie hatte sich diesen Tonfall für schwierige Therapiesituationen angewöhnt. Er half besser als jeder Trick, den man in einem Seminar für Gesprächsführung erlernen konnte.

„Das war an einem der Stände. Ich wollte ein Trinkhorn aussuchen und Jennifer hat mich so vollgequatscht, da sind wir dann etwas aneinandergeraten. Mir war dann klar, dass es keine gute Idee gewesen ist, sich noch mal zu treffen, obwohl wir früher immer gerne zusammen auf den Markt auf der Planwiese gegangen sind. Sie werden das vielleicht kennen. Da gibt dann ein Wort das andere und schließlich ist sie ziemlich wutentbrannt abgedampft. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Und von ihrem Tod habe ich erst später erfahren, als da dieser große Tumult entstand und Ihre Kollegen mit Megafonen ihre Durchsage machten. Aber da waren so viele Menschen, ich konnte nichts sehen.“

„Wann war Ihnen klar, was geschehen ist?“

„Lutz Brackenhorst hat es mir gesagt. Der hat den Stand ganz in der Nähe, wo Jennifer gefunden wurde. Ich kenne Lutz gut, weil ich ihn über meinen Internet-Shop mit Amuletten beliefere.“ Timothy schüttelte den Kopf. „Furchtbar, was dieser Irre ihr angetan hat.“

„Aber Sie fanden es nicht nötig, sich bei unseren Beamten zu melden“, stellte Haller fest. „Wieso nicht?“

„Ich hätte doch gar nichts dazu sagen können“, verteidigte sich Timothy Winkelströter. „War ich vielleicht dabei, als Jennifer starb? Nein!“

„Jede Information, die wir bekommen, kann uns weiterhelfen, den Täter zu fassen“, widersprach Haller. „Oder wollten Sie nur nicht selbst verdächtig erscheinen?“

„Ich?“

Er ist wirklich überrascht!, erkannte Anna. Allerdings erschien es ihr letztlich doch ziemlich verwunderlich, wie unbeteiligt er den Tod seiner Ex-Freundin hinnahm. Ob das nur eine coole Maske war oder ob da noch etwas anderes dahintersteckte, hatte Anna für sich selbst noch nicht entschieden. Jedenfalls stimmte da irgendetwas nicht. Er verschwieg etwas.

„Sie haben sich mit Ihrer Freundin oder Ex-Freundin, oder was immer sie in dem Moment auch gerade für Sie gewesen ist, heftig gestritten, wie Sie selbst erklärt haben“, stellte Haller fest. „Und wenig später ist sie tot! Haben Sie für die Zeit nach Ihrem Streit ein Alibi?“

„Sehe ich etwa aus, als wäre ich irre und würde Frauen erst umbringen und dann einer Radikalrasur unterziehen? Sehe ich wirklich so aus.“

„Wenn wir Tätern ihre Schuld ansehen könnten, dann wäre unser Job etwas leichter, Herr Winkelströter. Leider ist das nicht der Fall und so sind wir auf solche Sachen wie Alibis und dergleichen angewiesen, um den Täterkreis einzugrenzen oder jemanden auszuschließen.“

„Ich habe ein paar Kumpels getroffen und bin mit denen über den Markt gezogen. Und abgesehen davon hatte ich noch eine Auseinandersetzung mit einem der Händler.“

„Weswegen?“

„Deswegen!“

Timothy Winkelströter erhob sich urplötzlich, und riss seinen Mantel auseinander, als würde er einen Exhibitionisten parodieren wollen.

„Sehe nichts“, sagte Haller.

„Die Elbenrunen an der Gürtelschnalle. Die habe ich designt! Solche Schnallen biete ich auch über meinen Shop an und dieser Sack hat einfach das Design geklaut! Das ist ein Verstoß gegen das Urheberrecht, falls Ihnen das was sagt!“

„Namen und Adressen der Personen, die Ihre Geschichte bestätigen können, bitte“, verlangte Haller. „Dann dürfte sich das doch rasch klären lassen, oder?“

Timothy Winkelströter zögerte aus irgendeinem Grund. Warum?, fragte sich Anna unwillkürlich und das Gefühl, dass da etwas faul war, verstärkte sich. War es die Tatsache, dass sein Lächeln maskenhaft war und ohne Beteiligung der Schläfenmuskulatur zustande kam? War es die sehr eindringliche Sprechweise, dieser Tonfall, der besonders überzeugend wirken sollte und es genau deswegen nicht war?

„Okay“, sagte Timothy Winkelströter schließlich und lehnte sich zurück. Er wich Annas Blick aus. Haller schrieb sich eine Reihe von Namen auf, die der Zeuge ihm sagte. Bei manchen Adressen wusste Timothy die Straßennummer nicht, aber dafür die Handynummer, was die ganze Angelegenheit wohl erheblich vereinfachen würde. Außerdem wollte Haller noch genau wissen, wo Jennifer Heinzes Wagen abgestellt worden war.

„War es das?“, fragte er.

„Ja, das war's“, nickte Haller. „Zumindest fürs Erste. Haben Sie ein Handy? Für den sehr wahrscheinlichen Fall, das wir an Sie noch Rückfragen haben.“

„Oder Sie mich orten wollen!“, grinste Timothy.

„Na, da wir doch beide davon ausgehen, dass die von Ihnen benannten Zeugen Ihr Alibi bestätigen können und Sie uns auch sonst die Wahrheit gesagt haben, wird das ja wohl kaum nötig sein!“

Timothy nannte Haller seine Handy-Nummer.

„Einen Moment. Der Kuli funktioniert nicht mehr“, stellte Haller nach dem ersten Strich fest. „Tja, das Zeitalter der Schriftlichkeit scheint unwiderruflich zu Ende zu gehen.“ Haller nahm sein Handy hervor. „Ich tippe die Zahlen direkt ins Menü ein, wenn Sie sie mir sagen.“

„Falls Sie sich vertan haben sollten, können Sie ja die Audio-Aufzeichnung abhören, die Sie von meine Aussage gemacht haben.“

*

Bevor Timothy Winkelströter wenig später die Tür erreichte, fragte Anna ihn noch: „Herr Winkelströter, zwei Fragen noch ...“

Timothy grinste. „Die psychologische Masche, was? Harmlos tun und hintenrum kommen! Bitte, ich habe nichts zu verbergen und auch wenn Jennifer und ich uns nicht im Guten getrennt haben, will ich genauso wie Sie, dass der Verrückte Killer-Frisör endlich das Handwerk gelegt bekommt!“

„Frage Nummer eins: Waren Sie eigentlich auf dem Schandmaul-Konzert vor sieben Jahren?“

Er sah Anna irritiert an. „Häh?“

„Jovel Music Hall, Grevener Straße!“

„Ja, richtig, die ist doch abgerissen worden und die sind dann in so ein Pleite gegangenes ehemaliges Autohaus umgezogen.“

„Waren Sie dort?“

Er zeigte ihr seine Ringe, strich dann mit den Händen an seinem Ledermantel herab. „Jeder im Umkreis von hundert Kilometern, der so aussieht wie ich oder sich auch nur ansatzweise für Mittelalter-Rock interessiert, war an dem Tag dort! Eigentlich jedenfalls.“

„Was heißt das?“

„Ja, ich leider nicht! Ein Kumpel von mir wollte Karten besorgen und ich habe mich auf ihn verlassen. Tja, der hat es leider verpennt und deswegen musste ich dann draußen bleiben. Leider.“ Er runzelte die Stirn. „Was ist das für eine Frage? Ah, ich verstehe schon die Frage ... Damals ist auch was passiert, nicht wahr? Ist doch richtig!“

„Frage Nummer zwei: Welche Handschuhgröße haben Sie eigentlich?“

Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Dann sah er auf seine Hände. Zierliche Hände mit den schlanken Fingern eines Pianisten. Die Ringe mit den Geisterfratzen, Totenköpfen und magischen Runen ließen sie noch zarter erscheinen. Eine Mischung aus Grufti-Design und der beringten Schrumpelfinger-Tarnung eines Karl Lagerfeld, wie Anna fand. „Bin ich ein Mädchen und friere?“, fragte Timothy. „Ich trage nie Handschuhe. Da passen auch meine Ringe nicht drunter.“

„Mag ja sein“, sagte Anna. „Aber ...“

„Ist Ihnen außerdem aufgefallen, dass Sommer ist?“

„Hätten Sie was dagegen, wenn wir Ihre Hände einfach vermessen?“, ließ sich Anna nicht beirren.

Er zuckte mit den Schultern. „Kein Problem!“

*

„Handumfang 16,6 Zentimeter – das passt doch in Größe 7 hinein“, meinte Anna – später. Da saßen Anna und Haller in einem Restaurant in der Nähe des Friesenrings. Anna knurrte gewaltig der Magen. Genau wie Haller war sie den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen, sondern hatte sich mehr oder weniger nur von einem Schokoriegel und einigen Tassen des dünnen Kaffees ernährt, den es im Polizeipräsidium gab. Auch eine Art von Diät, dachte sie. Aber auf die Dauer wohl nicht sehr empfehlenswert.

„Herr Friedrichs hat die Hände von Timothy Winkelströter gescannt, aber er sagt, dass man daraus überhaupt keine Aussage schließen könne! Der Täter hat Handschuhe getragen und wahrscheinlich sind nicht mal die erkennbaren Teile der Lederstruktur beweiskräftig genug, um am Ende die Handschuhe eindeutig zu identifizieren – vorausgesetzt, sie fallen in unsere Hände.“

„Er könnte es gewesen sein“, stellte Anna klar. „Wir können ihn nicht einfach ausschließen, was möglich wäre, wenn er jetzt riesengroße Ork-Pranken hätte.“

Haller kaute auf seinem Bissen herum und verzog das Gesicht. „Entweder, Sie waren zu oft im 'Herr der Ringe' oder Sie sind zu häufig mit diesem Spinner befasst – Frank Schmitt alias Branagorn.“

„Vielleicht trifft ja beides zu“, meinte Anna.

„Dann sollten Sie auf die notwendige professionelle Distanz achten.“

„Dazu gibt es für unsereins sogenannte Supervisionen. Da kann man dann mit einer ausgebildeten Fachkraft über die eigene persönliche Verstrickung in einen Fall oder das Bearbeitungsthema eines Patienten sprechen, um zu vermeiden, dass man blinde Flecken hat, wenn man seinen Job zu machen versucht.“

„Und?“

„Was und?“

„Gehen die blinden Flecken davon weg?“

„Nein, das nicht ...“

„Warum spart man sich diesen Mist dann nicht? Das ernährt doch nur eine aufgeblähte Therapeutenkaste.“

„Die blinden Flecken gehen nicht weg, aber man sieht sie besser und ist sich ihrer bewusst. Man weiß dann, wie sehr sie das eigene Urteilsvermögen trüben.“

„Na ja, jedenfalls gab es bei weitem keinen Grund, Timothy Winkelströter festzuhalten, Anna.“

Nur beiläufig registrierte Anna, dass Haller sie beim Vornamen genannt hatte. Es fiel ihr erst ein paar Augenblicke später auf, nachdem sie zuvor für einige Momente nur das unbestimmte Gefühl gespürt hatte, dass sich irgendetwas verändert hatte.

„Mag sein.“

„Und seine Motivlage spricht auch gegen ihn als Täter. Schließlich hat er mit Jennifer Heinze Schluss gemacht und nicht umgekehrt.“

„Vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit.“

„Eins zu null für Sie, Anna, äh, Frau ...“ Er sah sie an. „Es wäre praktisch, wenn wir uns langsam duzen könnten.“

„Praktisch?“, echote Anna.

„Tun wir alle in der Abteilung.“

„Alle, außer Herrn Friedrichs.“

„Das ist ein eigenes Kapitel. Den duzt niemand, er selbst umgekehrt auch niemanden. Ich glaube, es ist für alle Beteiligten auch das Beste, wenn das so bleibt. Aber bei Ihnen ... Sie sind im Moment so oft bei uns, dass Sie quasi dazugehören.“

„Wenn Sie das so sehen ...“

„Also in Ordnung? Ich heiße Sven, wie Sie inzwischen ja mitgekriegt haben.“

„In Ordnung.“

Hallers Telefon klingelte. Er nahm es aus der Innentasche seines Jacketts. „Ja, bitte? Hier Haller.“ Er sagte eine ganze Weile gar nichts und schließlich brachte er dreimal hintereinander ein langgezogenes „Hmmm ...“ heraus, bevor er das Gespräch schließlich mit einem „Na, das ist ja wenigstens etwas!“, beendete.

„Gibt's was Neues, was mit unserem Fall zu tun hat?“

„Ja. Das war mein Kollege Raaben. Er hat den Wagen von Jennifer Heinze gefunden.“

„Und?“

„Ihr Handy war noch dort. Ich hatte mich schon gewundert, eine junge Frau unter neunzig im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert ohne Handy. Friedrichs glaubte schon, dass es eventuell vom Täter mitgenommen wurde, weil vielleicht Daten – Telefonnummern oder SMS – darauf waren, die den Täter betrafen. Aber das war wohl ein Irrtum.“

Anna runzelte die Stirn. „Jennifer hat sich mit diesem Timothy auf einem Parkplatz getroffen und ihr Handy im Wagen gelassen? Das ist aber auch sehr eigenartig!“

„Nein, nicht unbedingt“, widersprach Haller. „Das Handy steckte noch in der Freisprechanlage. Es war sogar noch eingeschaltet und Raaben hat festgestellt, dass sie tatsächlich vorher mit Timothy Winkelströter telefoniert hat. Das spricht dafür, dass dessen Aussage der Wahrheit entspricht. Ich nehme an, dass sie das Handy einfach in der Freisprechanlage vergessen hat. Das ist mir auch schon passiert, weshalb ich in der Regel auch die Freisprechanlage nicht benutze.“

„Obwohl es Vorschrift ist?“

„Welcher Schaden ist größer? Wenn mich ein wichtiger Anruf nicht erreicht, oder wenn ich nur mit einer Hand lenken kann, was ich sowieso überwiegend tue!“

„Eigenartige Einstellung, Herr ... Sven!“

„Wieso?“

„Sind Gesetze nicht für alle da? Auch für die Polizei?“

„Jetzt wollen wir mal nicht päpstlicher als der Papst oder meinetwegen pedantischer als Herr Friedrichs sein“, wehrte Haller ab. „Jedenfalls sagt mein Kollege, dass das Menü des Handy voller Nummern von Bekannten ist. Das hilft uns auf jeden Fall weiter.“ Haller blickte in sein Glas mit Mineralwasser und Anna hatte auf einmal den Eindruck, dass er ziemlich niedergeschlagen war.

„Ich habe in den nächsten Tagen einige Termine, aber ich werde versuchen, dir zur Verfügung zu stehen, wenn du meine Hilfe brauchst“, sagte Anna.

„Wir haben nichts“, stellte Haller fest. „Keine einzigen brauchbaren Zeugen, keine Spuren, die etwas taugen, kein Motiv, das sich aufdrängt und weswegen wohl der Schluss naheliegt, dass wir es tatsächlich mit einem Verrückten zu tun haben. Die Opfer haben, außer dass sie jung und weiblich waren, wenig gemeinsam. Es scheinen einfach noch wesentliche Informationen in diesem Puzzle zu fehlen – und wenn der Mörder sich diesmal wieder so lange Zeit lässt, bis die ganze Fahndungsmaschinerie, die ihn jagt, wieder eingeschlafen ist, dann hat er auch dieses Mal leider sehr gute Chancen, vollkommen unerkannt davonzukommen. Es ergibt sich nicht einmal ein vages Bild!“

„Das trifft leider zu. Aber ich bin trotzdem zuversichtlich.“

„Schön. Wenigstens eine.“

Haller bezahlte und ließ sich eine Quittung für die Spesenabrechnung ausstellen.

Ein Elbenkrieger in der Achtermannstraße

Anna van der Pütten hatte ihre Praxis im zweiten Stock eines insgesamt dreistöckigen Hauses in der Achtermannstraße, nahe dem Münsteraner Hauptbahnhof, in direkter Nachbarschaft zu Amnesty International und einer Kulturinitiative, untergebracht. Ihre Privatwohnung lag ein Stückwerk höher und war deutlich kleiner. Aber momentan reichte sie, denn angesichts der vielen Arbeit, die sie zu bewältigen hatte, war nicht im Traum daran zu denken, dass sich an ihrem Single-Status etwas änderte. Aber vielleicht war die Arbeit auch nur ein Vorwand, und der eigentliche Grund lag darin, dass sie das Chaos fürchtete, das eine Beziehung in ihr Leben hätte bringen können. Aber diesen Gedanken hatte sie nie wirklich bis in alle seine verästelte Konsequenzen hinein verfolgt.

Branagorn kam überpünktlich zu seinem Termin.

Anna bat ihn in ihr Besprechungszimmer. „Setzen Sie sich doch!“

„Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Cherenwen“, erwiderte er. Diesmal trug er ein anderes Schwert an der Seite. Zwar benutzte er dieselbe Lederscheide und die Klingen hatten offenbar ähnliche Ausmaße, aber der Griff war sehr viel höher und darüber hinaus oben mit einem elfenbeinfarbenen Totenkopf ausgestattet. Vermutlich ist es kein Elfenbein, sondern nur irgendein Kunststoff, dachte Anna.

Die Tatsache, dass Branagorn offenbar über mehrere Klingen verfügte und es für unbedingt erforderlich hielt, eine davon auch zu tragen, erweckte ein deutliches Unbehagen bei ihr. Das wird ein Punkt sein, den wir gewiss noch zusammen aufarbeiten müssen!, nahm sie sich vor. Waffen und das Gefühl von Sicherheit und Macht, das sie vermitteln konnten – offenbar schien das für Branagorn eine ganz besondere Bedeutung zu haben.

„Ist Euch der Traumhenker heute Nacht begegnet, werte Cherenwen?“, fragte er.

„Nein – aber, was genau meinen Sie damit?“

„Wen es nicht der Fall war, dann wird es zweifellos noch geschehen. Sie werden ihn im Traum vor sich sehen. Eine Gestalt in dunkler Kutte mit einer monströsen Henkersaxt in der Hand, auf deren Griff er sich zu stützen pflegt. Zumindest ist das die häufigste Gestalt, die er verwendet und in der er sich in Eure Träume zu stehlen beginnt. Es wird geschehen, glaubt es mir, Cherenwen. Und dann müsst Ihr stark ein, um nicht zu seinem willfährigen Werkzeug des Bösen zu werden!“

„Sie sind heute hier, damit wir über Sie sprechen, Branagorn – nicht über mich“, stellte Anna klar.

„So darf ich Euren Worten entnehmen, dass es Euch gut geht und Ihr noch nicht vom Traumhenker bedrängt werdet?“

„Wenn Sie so wollen ...“

„Das beruhigt mich, werte Cherenwen, auch wenn ich weiß, dass dies nur bedeuten kann, dass die Gefahr Euch noch bevorsteht. Aber ich verspreche Euch, dann zugegen zu sein und Euch im Kampf gegen den Traumhenker zur Seite zu stehen.“

Anna war etwas verunsichert, was weniger an Branagorns Worten, als vielmehr an seinem Blick lag. Der Blick, mit dem er sie bedachte, war von einer ganz eigenartigen Intensität. Dem Wahnsinn nahe, so hätte vielleicht früher ihr Urteil gelautet. Aber inzwischen hatte sie durch Studium und Ausbildung gelernt, das erste Urteil etwas zurückzuhalten und sich etwas länger den offenen Blick für das Ungewöhnliche zu bewahren, ohne gleich deswegen ein Urteil abgeben zu müssen. Zuerst kam das Verstehen, dann erst die Beurteilung. An diese eherne Regel versuchte sie sich nach Möglichkeit zu halten. Mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg.

„Fangen wir vielleicht mit Folgendem an. Warum nennen Sie mich andauernd Cherenwen?“

„Habe ich Euch das nicht erklärt?“

„Sie haben mir erklärt, dass sie mich deshalb so nennen, weil sie in mir eine verwandte Seele zu erkennen glauben.“

„Nun, das ist die Begründung!“

„Aber das Wort haben sie mir nicht erklärt. Seine Bedeutung. Sie verwenden es fast wie einen Eigennamen. Davon abgesehen empfinde ich es als etwas eigenartig, dass Sie von mir erwarten, ich solle Sie Branagorn von Elbara nennen, während in Ihrem Pass und in den Unterlagen, die ich über Sie habe, Frank Schmitt steht. Umgekehrt finden Sie aber nichts dabei, mir eigenmächtig gewissermaßen auch einen anderen Namen zu geben, obwohl ich ehrlich gesagt viel lieber mit meinen wirklichen Namen angesprochen werde.“

„Das ist der springende Punkt“, sagte Branagorn. „Cherenwen ist Euer wirklicher Name!“

*

Anna hatte spätestens jetzt das dumpfe Gefühl, diese Sitzung könnte ihr völlig aus den Händen gleiten.

Ein Fall von Übertragung, dachte sie. Eindeutig wie im Lehrbuch. Aber das war alles eingebettet in dieses Geflecht aus Wahnvorstellungen und einer Fantasiewelt, in die sich Frank Schmitt vollkommen zurückgezogen zu haben schien. Ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, wo ich ihn einfach mal mit den Fakten konfrontieren sollte – so wie sie in meinen Unterlagen stehen, wie sie dokumentiert sind und wie ich sie inzwischen selbst nachgeforscht habe?

„Ich muss Euch einiges erklären“, sagte Branagorn. „Euren holden Zügen ist die Verwirrung unschwer anzusehen. Und im Übrigen haben wir Elben die Fähigkeit, uns mit verwandten Seelen zu verbinden, sodass wir empfinden können, was sie empfinden, gleichgültig, wie weit man auch voneinander entfernt sein mag. Selbst wenn es der Abgrund zwischen den Welten ist, der einen von dieser Seele trennt.“

„Also ich schlage vor, Sie erklären mir einfach, was Sie erklären möchten. Wir nennen das auch eine freie Assoziation und auf diese Weise erhalten wir in der Regel Material, mit dem wir arbeiten können.“

„Eine seltsame Zeit, in der man Gedanken, die doch aus dem Element des Geistes und nicht der Materie kommen, als Material bezeichnet ... Aber nicht untypisch, auch wenn es mich zugegebenermaßen ein wenig amüsiert.“

„Bleiben wir bei Cherenwen. Erklären Sie mir dieses Wort und was es für Sie bedeutet.“

„Es bedeutet alles für mich. Sehen Sie, ich habe Euch gegenüber ja mein Schicksal ausführlich geschildert. Einst lebte ich in einer anderen Welt, wo ich meinem König als Herzog von Elbara diente. Wir Elben sind sehr langlebig – fast unsterblich, gemessen an den Zeitbegriffen des Menschenvolkes. Dieser Umstand brachte es mit sich, dass eine Seuche grassierte, die man den Lebensüberdruss nannte und der auch meine Geliebte erlag. Ihr Name war Cherenwen ...“

„Sie nahm sich das Leben?“

„Ja. Und nachdem mein König mich aus seinen Diensten entließ, wollte ich ihrer Seele ins Land der Geister folgen, wo die Eldran existieren – die Seelen der verklärten Toten.“

Ich werde mich auf seine Gedankenwelt einlassen müssen, wenn ich überhaupt etwas erreichen will, ging es Anna durch den Kopf. Bisher war er immer der Frage ausgewichen, weshalb er auf dem Signal-Iduna-Hochhaus gestanden hatte, um sich in die Tiefe zu stürzen. Im Grunde hatte er sich noch immer kaum geöffnet, aber vielleicht war es so, dass er sich der Realität nur in jener Verkleidung stellen konnte, die seiner Fantasiewelt entstammte. Und Anna entschied, dass sie diesen Weg vielleicht einfach fürs Erste akzeptieren musste. Reden wir also in Metaphern aus der Elbenwelt und nähern uns so der Wahrheit, dachte Anna. Auch das konnte einen therapeutischen Effekt haben – ähnlich wie Träume, die die Realität ja auch in verfremdeter Form widerspiegelten.

„Interessiert Euch meine Erzählung überhaupt – oder haltet Ihr sie vielmehr für eine Ausgeburt einer im besten Fall ausufernden und im schlimmsten Fall krankhaften Fantasie?“, unterbrach Branagorn den Gedankengang der Psychologin.

„Fahren Sie einfach fort“, forderte Anna ihn auf. „Es interessiert mich sehr, was Sie zu sagen haben. Glauben Sie mir!“

„Wie gesagt, ich folgte nach vielen Zeitaltern meiner geliebten Cherenwen ins Land der Geister.“

„Haben Sie Ihre ... Cherenwen ... gefunden?“

„Ja, das habe ich. Und zuerst war ich glücklich dort. Doch mit der Zeit wurde mir quälend bewusst, dass jene Cherenwen, die mir dort begegnete, nicht mehr als ein Gespenst der Vergangenheit war. Eine geisterhafte Erscheinung, nicht viel realer als ein Trugbild. Mir wurde klar, dass sich meine Hoffnungen, dieser geliebten Seele nahe zu sein, sich so nicht erfüllen konnten. Ich weiß, dass für meine Zeitgenossen in dieser Welt eigenartig klingen muss, was ich Euch nun erzähle. Und ich weiß auch, dass unter Euresgleichen die Zweifel an der Wirksamkeit der Magie weit verbreitet und das Wissen um sie fast vollständig verschüttet sind.“

„Ich höre Ihnen einfach zu, Branagorn. Und ich verspreche Ihnen, dass ich versuchen werde, Sie zu verstehen, so gut mir das trotz unserer zugegebenermaßen in manchen Punkten etwas unterschiedlichen Sichtweise möglich ist.“

Ein mattes Lächeln glitt über Branagorns Gesicht. Er nickte leicht und strich sich das Haar etwas zurück. Für einen Moment blitzte dabei sein deformiertes Ohr hindurch. Er hatte angegeben, dass es ein spitzes Elbenohr und typisch für sein Volk sei. Anna nahm eher an, dass es das Ergebnis eines chirurgischen Eingriffs oder einer tätlichen Auseinandersetzung war. Vielleicht sogar ein Akt der Selbstverstümmlung. In ihren Unterlagen konnte sie dazu jedoch nichts finden und es war ihr bisher auch nicht gelungen, in diesem Punkt Klarheit zu erlangen.

„Ich versuchte mit Hilfe von Magie in die Sphäre der Eldran zu gelangen, sodass ich mit meiner geliebten Cherenwen in ein und derselben Existenzebene hätte sein können“, fuhr Branagorn fort. „Aber dies misslang und ich geriet stattdessen in eine furchtbare Welt voller Drachen, die ich hernach gesehen nur als eine Hölle betrachten kann. Von dort gelangte ich dann – ebenfalls durch Magie – auf diese Welt. Das ist viele Zeitalter her. Ich lebte als Unsterblicher unter den kurzlebigen Bewohnern dieser Erde, trug viele Namen und wurde Zeuge Eurer Geschichte. Als Branagorn von Corvey, auch bekannt als Fra Branaguorno d'Elbara, war ich der Berater von Kaiser Otto III. Und später war ich der Gesandte des Königs von Aragon in Konstantinopel, kurz bevor es an die Türken fiel. Als Branagorn Alvarsson lebte ich eine Weile auf Island in der letztlich vergeblichen Hoffnung, dort ein Tor in meine Herkunftswelt zu finden. Ich nannte mich Branagh Orn, verdingte mich als ein walisischer Bogenschütze unter dem Namen Bran ab-Gorn oder trat unter dem Namen Branagornus als Heiler auf. In letzterer Funktion kann ich durchaus sagen, dass ich es zu einiger Berühmtheit habe bringen können, denn die Heilkunst der Elben ist der Euren hier üblichen noch heute weit überlegen.“ Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. „Wenn ich zu Euch in dieses Haus komme, muss ich oft daran denken, denn die Straße, an der dieses Gebäude liegt, wurde von einer anderen Straße gekreuzt, die sich Herwarthstraße nennt und nach einem gewissen Herwarth von Bittenfeld benannt wurde, geboren am 4. September 1794. Ich weiß dieses Datum so genau, weil es bei der Anwendung des Heilzaubers von immenser Bedeutung war, unter welchen kosmischen Zeichen seine Geburt stattgefunden hatte und es zunächst Unsicherheiten darüber gab, ob er nun wirklich am 4. September oder vielleicht einen Tag früher geboren worden war. Jedenfalls bat mich Feldmarschall von Bittenfeld darum, angesichts einer sehr ernsten Erkrankung einen elbischen Heilzauber durchzuführen. Um ehrlich zu sein, war das wohl so etwas wie ein verzweifelter Griff nach dem letzten Strohhalm, wenn Ihr versteht, was ich meine! Aber Herwarth von Bittenfeld starb erst 1884 und wurde damit für seine Zeit und die Verhältnisse Eures Volkes sehr alt. Also war ich erfolgreich! Bei den Verhandlungen, die ich allerdings seinerzeit zwischen den Wiedertäufern und dem Bischof von Münster zu vermitteln versuchte, als dieser mit seinen Truppen die Stadt belagerte, habe ich allerdings kläglich versagt, wie die Schädelkäfige an der Lamberti-Kirche mir jedes Mal vor Augen führen, wenn ich dort vorbeikomme. Um ehrlich zu sein, meide ich die Gegend deswegen auch immer noch.“

Wie traurig musste es um das Selbstwertgefühl eines Menschen bestellt sein, der sich großartige Taten in dieser und in anderen Welten als Elbenkrieger, Heiler, Diplomat und Vertrauter von großen historischen Persönlichkeiten ausdenken musste, um seiner Psyche Stabilität zu geben!, ging es Anna durch den Kopf. Nichts anderes als die Kompensation einer zweifellos bedrückenden Realität war das.

„Eigentlich wollten Sie mir von Cherenwen erzählen“, sagte Anna.

„Verzeiht mir, wenn ich abschweife. Aber ich vergesse immer wieder, dass mir ganze Zeitalter zur Verfügung stehen, während meine kurzlebige Umgebung zur Eile verdammt ist. Ja, ich wollte über meine geliebte Cherenwen sprechen. Denn von dem Augenblick an, da mich meine eigene Magie aus meiner Welt herauskatapultierte, tat ich nichts anderes, als meine Suche nach ihr fortzusetzen. Denn manchmal geschieht es, dass Seelen, die in einer Welt des Polyversums nichts weiter als ein Gespenst sind, in einer anderen real erscheinen. Denn die Grenzen zwischen den Welten sind durchlässig, und nicht immer braucht es magischer Tore oder großartige Zauberkunst, um den Abgrund zwischen ihnen zu überbrücken. So kommt es vor, dass jemand träumt, er sei in einer anderen Welt, aber in Wahrheit dieser Traum wirklicher ist und größere Auswirkungen auf andere hat als das, was er für das wirkliche Leben hält. Manchmal reicht ein intensiver Gedanke, um von einer in die andere Welt zu wechseln und in jedem Augenblick unserer Existenz spalten sich neue Welten und Existenzebenen vom Hauptstrom der Zeit ab und bilden eigene Kosmen. Was ich damit nur sagen will ist: Auch wenn es Euch unerklärlich erscheint und selbst ich, der ich mich einst in solchen Fragen für bewandert hielt, die Ursachen nicht völlig verstehe, so bin ich doch überzeugt davon, in Euch jene Seele wiedergefunden zu haben, die mir einst durch jene heimtückische Krankheit namens Lebensüberdruss genommen wurde.“

„Branagorn, ich würde sagen ...“

„Ihr seid Cherenwen! Ihr tragt ihre Seele in Euch.“

Anna schluckte. Die Intensität, mit der er gesprochen hatte, berührte sie, erweckte aber auch ein deutliches Unbehagen. War das vielleicht schon zu viel an Übertragung, dass er ihr entgegenbrachte? Vielleicht war das der Punkt, an dem man eine weitere Behandlung am besten durch jemanden fortsetzen ließ, dem Frank Schmitt mit mehr Neutralität gegenüberstand. Andererseits ergab sich durch diese besondere Form der Bindung, die er zu empfinden schien, vielleicht auch die Möglichkeit, ihn an jenen Punkt zu führen, an dem er sich der Realität stellen musste. Der Realität eines den Unterlagen zu Folge hochbegabten Menschen, der über ein paar sehr seltene und höchst erstaunliche Talente verfügte und doch nicht in der Lage war, sein eigenes Leben wirklich in den Griff zu bekommen.

„Müsste ich mich nicht an das Leben von Cherenwen erinnern, wenn ich wirklich ihre Seele in mir tragen würde?“, fragte Anna.

„Oh, Ihr tragt diese Erinnerungen zweifellos in Euch“, erklärte Branagorn. „Und es wäre nichts Ungewöhnliches, wenn Ihr Euch diesem Wissen verweigern würdet, denn manchmal ist die Wahrheit so beängstigend, dass man sich ihr nicht zu stellen vermag.“

Wie wahr!, dachte Anna.

„Ich habe lange gezögert, Euch damit zu konfrontieren, Cherenwen“, fuhr Branagorn fort. „Ich kann fühlen, wie sehr ich Euch damit ängstige, und ganz gewiss läge mir nichts ferner, als die Verkörperung jener Seele zu ängstigen, die ich so sehr geliebt habe. Aber es hat sich eine neue Situation ergeben und dadurch ist alles verändert worden. Und vor allem ist mir klar geworden, dass ich die Schuld an der Bedrohung trage, die auch Euch gefährlich werden könnte.“

„Es tut mir leid, aber im Moment sprechen Sie in Rätseln, Branagorn.“

Er sah Anna auf eine Weise an, die bei ihr einen eigenartigen Cocktail an Emotionen hervorrief. Da war Verwirrung, die sich mit einem tiefen Mitempfinden für jene tiefe Melancholie verband, die dieser Mann empfinden musste. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas viel Stärkeres. Etwas, das im Untergrund brodelte und noch keineswegs seine volle Macht entfaltet hatte und von dem Anna trotz ihres in seelischen Dingen berufsbedingt recht weit aufgefächerten Vokabulars nicht wirklich wusste, wie sie es bezeichnen sollte. Auf jeden Fall spürte sie bei ihrem Gegenüber eine Art unbedingter Entschlossenheit. Einen Willen, der keinen Widerspruch zu akzeptieren schien und nicht einmal die ihn umgebende Wirklichkeit selbst als Maßstab anerkannte. Ich hoffe nur, dass ich es früh genug erkenne, wenn er Dummheiten begehen will!, überlegte sie und für eine Moment stand ihr wieder die Szene vor Augen, als man sie gerufen hatte, um einen lebensmüden Mann in der Verkleidung eines Elbenkriegers daran zu hindern, sich vom Dach des Signal-Iduna-Hochhauses zu stürzen. Ich werde es ihm nicht ersparen können, dass wir über diesen Punkt noch einmal reden!, erkannte sie. Lebensüberdruss ... was für ein passendes Wort für das, was man sonst unter so klinisch-steril klingenden Begriffen wie 'klinische Depression' oder 'Suizidneigung' zusammenfasste.

Branagorn sprach nicht weiter.

Er saß da und schien ins Nichts zu blicken.

Lichtjahreweit schienen eine Gedanken sich vom Hier und Jetzt entfernt zu haben.

Anna entschied sich dafür, diese Stille einfach eine Weile auszuhalten. Das konnte manchmal sehr wichtig für den Patienten sein. Vielleicht werde ich gerade Zeuge, wie sich die Selbstheilungskräfte einer kranken Seele wieder zu regen beginnen!, dachte Anna. Es war zumindest zu hoffen.

„Ich will mich der Wahrheit stellen und darum hat es keinen Sinn, etwas verschweigen zu wollen“, sagte Branagorn schließlich.

Anna war überrascht. Welche Wahrheit meinte Branagorn? Doch nicht etwa die eines vom Amt zugewiesenen Ein-Zimmer-Apartments in Münster-Kinderhaus, in der ein zweiwöchiger Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung der Westfälischen Kliniken in Lengerich zu den Highlights des Jahres gehörten so wie für andere Leute ein Urlaub auf Mallorca?

Als Branagorn dann nach einer quälend langen Pause wieder das Wort ergriff, wurde Anna klar, dass ihr Gegenüber mit dem Ausdruck 'sich der Wahrheit stellen' offenbar etwas völlig anderes meinte, als sie selbst diesbezüglich im Sinn hatte.

„In Wahrheit bin daran schuld, dass der Traumhenker in diese Welt kam. Dieses Wesen, das die Morde beging. Das ist die Wahrheit, der ich mich stellen muss, Cherenwen.“

„Schuld ist ein interessantes Stichwort“, sagte Anna hölzern und kam sich dabei selbst wie die Parodie ihres Berufsstandes vor, der doch mit Vorliebe von Schuldgefühlen und Verdrängung und solchen Dingen sprach. „Wieso glauben Sie, dass Sie dafür verantwortlich sind?“

„Weil der Traumhenker aus jener Höllenwelt der Drachen, von er ich Euch soeben berichtete, mit mir in diese Welt gewechselt sein muss! Eine andere Erklärung erscheint mir undenkbar. Wenn ich es also auf mich genommen hätte, dort, in jener Drachenhölle, zu bleiben, anstatt auf gut Glück und in Wahrheit ohne große Erfolgsaussichten abermals den Abgrund zwischen den Welten zu überspringen, dann wäre der Traumhenker niemals hierhergelangt! Aber seit jener Zeit wandelt er über die Erde und vollbringt sein furchtbares Werk. Er fährt in den einen oder anderen und macht sie zu Werkzeugen des Bösen, weil er sich am Leiden und am Hass erfreut ... Und jetzt ist er hier ... So nahe wie selten!“ Branagorn erhob sich. „Ihr seid in Gefahr, Cherenwen. Achtet auf Eure Träume. Es sind die Träume, durch die er Einfluss auf Eure Gedanken gewinnt. Und auch wenn Ihr mich nicht als der zu erkennen vermögt, der ich in einem anderen Leben und in einer anderen Welt für Euch gewesen bin, so seid Euch gewiss, dass ich versuchen werde, Euch zu schützen.“

„Branagorn, Sie sprachen vor ein paar Minuten davon, dass man sich der Wahrheit stellen müsse und ihr nicht ausweichen dürfe.“

„Ja, da sprecht Ihr wohl, werte Cherenwen!“

„Und die erste Wahrheit, der Sie sich stellen sollten, ist, dass ich nicht Cherenwen bin - sondern Anna van der Pütten, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin.“

„Wie ich schon sagte, es ist ...“

„Es mag noch angehen, dass ich Sie Branagorn anstatt Frank Schmitt nenne, aber ich möchte Sie bitten, mich nicht mehr Cherenwen zu nennen – es sei denn, ich erlaube es Ihnen ausdrücklich im Rahmen einer entsprechenden Gesprächsübung, bei der es vielleicht um die Übertragung von Gefühlen geht. Aber normalerweise bin ich für Sie Frau van der Pütten.“

Branagorn nickte. „Ich bin gerne bereit, mich Euren Wünschen zu beugen, werte Frau van der Pütten“, erklärte er dann. „Aber Ihr müsst mir auch etwas versprechen! Lasst es zu, dass ich bei der Entlarvung dieses Mördergeistes helfe!“

„Branagorn, wie stellen Sie sich das vor!“

„Ihr kennt meine Fähigkeiten! Ihr wisst, dass ich ganz nach Art der Elben Dinge zu sehen vermag, die sonst niemand sieht! Meine Sinne sind stärker als die jedes Menschen, und ich kann es kaum ertragen, wenn ich die sogenannten Hüter der Ordnung bei ihrer Arbeit sehe, die sie so langsam und mit so wenig Erkenntnisgewinn verrichten! Das Offensichtliche sehen sie nicht! Sei dies nun das Böse in Gestalt eines Pest-Arztes oder die Spur einer Hand oder ein Haar. Wurden diese Spuren inzwischen untersucht? Ich wette, diese Narren haben sich kaum darum gekümmert und inzwischen noch nicht einmal herausgefunden, dass die Tote anderthalb Schritt weit über den Boden gezogen wurde, bevor man sie aufsetzte und gegen den Anhänger lehnte ...“

Woher weiß er das?, ging es Anna durch den Kopf. Sie hatte in den Unterlagen, die sie über ihn hatte, von der Diagnose eines Savant-Syndroms gelesen, auch Inselbegabung genannt. Branagorn war offenbar bereits mehrfach psychiatrisch und in jeder anderen Hinsicht untersucht worden – mit zum Teil sehr erstaunlichen Ergebnissen. Aber sie selbst hatte noch keine Gelegenheit dazu gehabt, dies im Einzelnen zu überprüfen. Davon abgesehen hatte es natürlich auch während ihrer Sitzungen immer wieder Momente gegeben, in denen seine außergewöhnlichen Fähigkeiten aufblitzten. Es gab Savants, die Dutzende von Sprachen innerhalb kürzester Zeit erlernten, die in der Lage waren mit jedem Auge unabhängig eine Buchseite zu erfassen und anschließend jedes Wort zu wiederholen oder virtuos Klavier zu spielen vermochten, ohne jemals Unterricht gehabt zu haben. Niemand kannte die Ursache dafür, aber sehr viele der Betroffenen waren trotz ihrer überragenden Fähigkeiten im täglichen Leben auf Hilfe angewiesen.

In den Unterlagen, die Anna über Frank Schmitt vorliegen hatte, war unter anderem auch von einer Kopfverletzung die Rede, deren Ursache vermutlich eine Gewalteinwirkung gewesen und die aus unerfindlichen Gründen unbehandelt geblieben war. Zumindest gab es nirgends einen Beleg für einen Klinikaufenthalt oder dergleichen.

Auch das passte ins Bild, denn manche Forscher brachten das Savant-Syndrom mit Verletzungen bestimmter Hirnregionen in Verbindung.

Letztlich war es nicht auszuschließen, dass Frank Schmitts Behauptung, Branagorn der Elbenkrieger zu sein, nicht nur psychische Ursachen hatte, sondern vielleicht eine organisch basierte Wahnvorstellung. Diese Möglichkeit durfte man zumindest nicht vorzeitig ausschließen.

Aber ganz gleich, welche Art der Wahn dieses Mannes auch sein mochte – er hatte offensichtlich häufig recht.

Und das wiederum war auch eine Realität, der man sich stellen musste, wie Anna van der Pütten fand.

„Wie stellen Sie sich das vor, Branagorn?“, fragte Anna. „Die Hüter der Ordnung, wie Sie Kommissar Haller und seine Leute nennen, werden Ihre Hilfe nicht annehmen wollen.“

„Dann überzeugt diese Narren! Ich beschwöre Euch, Cherenwen – Verzeihung: Frau van der Pütten! Die Hüter der Ordnung werden es ohne mich nicht schaffen, den Traumhenker zu finden! Sie brauchen mich!“

„Sollten wir sie nicht einfach ihren Job machen lassen?“, schlug Anna vor.

„Fünf Opfer hat es gegeben. Fünf Opfer in siebeneinhalb Jahren. Und Ihr sprecht davon, dass nichts weiter zu geschehen habe und man den unfähigen Helfern der Gerichtsbarkeit weiter bei ihrem Narrenspiel zusehen soll? Ich kenne den Traumhenker zur Genüge. Ich war ihm im Laufe der Jahrhunderte immer wieder auf den Fersen und verlor wieder seine Spur. Er ist ein Spieler des Bösen, versteht Ihr? Und er wird dieses Spiel so lange fortsetzen, wie man es ihm gestattet!“

Eine dicke Ader an Branagorns Hals pulsierte. Er drehte ruckartig den Kopf und machte ein paar Schritte zum Fenster. Dieser Ausbruch an Emotionen war neu bei ihm. In den bisherigen Sitzungen hatte Anna so etwas nicht bei ihm erlebt. Nicht einmal ansatzweise.

Ganz im Gegenteil. Er hatte immer einen sehr beherrschten Eindruck gemacht. Aber Anna war sich stets sicher gewesen, dass es noch etwas anderes, Abgründigeres in ihm sein musste. Schließlich hatte er auf einem Hochhaus gestanden, um sich in die Tiefe zu stürzen. So etwas geschah schließlich nicht aus heiterem Himmel. Da musste sich schon einiges aufgestaut haben.

Branagorn ballte die Hände zu Fäusten.

„Diese erbärmlichen Hüter der Ordnung hätten doch nur zu tun brauchen, was ich ihnen sagte und den Schwarzen Tod in Gewahrsam nehmen.“

„Sie meinen den Kerl in der Pest-Arzt-Verkleidung?“ vergewisserte sich Anna.

Eine Antwort darauf blieb Branagorn ihr schuldig. Zu sehr war er offenbar in seinem Ärger gefangen. „Hören Sie zu, Branagorn, ich kann Sven – also Herrn Haller – unmöglich vorschlagen, dass er Sie in den Fall einbinden soll. Das wird er nicht tun. Und ich werde mich auch nicht dafür einsetzen.“

„Warum nicht?“

„Weil es jeglichen Regeln meines und seines Berufes widersprechen würde!“

„Regeln! Sinnlose Regeln sind das, die nur dem Traumhenker nützen und seine Mörderseele schützen!“, ereiferte sich Branagorn.

„Das mögen Sie so sehen. Aber ich habe keine andere Wahl. Und Sie sollten das nicht als einen Angriff meinerseits auf Sie sehen oder als ein Zeichen von Geringschätzung oder Missachtung, sondern ...“

Sie machte eine Pause, stockte.

Branagorn drehte sich zu ihr um. Seine Augen hatten sich verengt. Er sah sie mit einem sehr durchdringenden Blick an. In seinen Zügen spiegelte sich eine Qual wider, wie Anna sie selten zuvor je in irgendeinem Gesicht gesehen hatte.

„... ein Zeichen von Narrentum?“, fragte Branagorn in einem Tonfall, der an klirrendes Eis erinnerte. Er murmelte ein paar Worte in einer Sprache, die fremdartiger war als alles, was Anna je gehört hatte. Vielleicht waren es aber auch nur willkürlich aneinandergereihte Silben. In diesem Punkt war sie sich nicht sicher. Dr. Arndt Vogels, ein Psychiater, der Frank Schmitt vor wenigen Jahren einer Begutachtung zugeführt hatte, verzeichnete nicht weniger als 23 Sprachen, die dieser Mann erwiesenermaßen beherrschen sollte. Darunter sehr exotische Idiome wie mittelalterliches Persisch und Althochdeutsch.

„Setzen Sie sich doch wieder, Branagorn“, forderte Anna ihn auf. „Und dann beruhigen Sie sich etwas. Ich kann verstehen, dass Sie durch die Ereignisse auf der Planwiese in Telgte sehr aufgewühlt wurden. Das ging mir genauso.“

„Es hat keinen Sinn, dass wir heute unsere Unterhaltung fortsetzen“, erklärte Branagorn. „Es ist bedauerlich, dass Ihr mir nicht beizustehen gedenkt. Ich hatte sehr gehofft, Ihr würdet die Dringlichkeit unserer Aufgabe erkennen. Aber vielleicht habe ich da zu viel von Euch erwartet. Meine Warnung allerdings, was Eure Träume angeht, erhalte ich aufrecht!“

Wortlos ging er mit ausholenden Schritten zur Tür.

„Warten Sie!“

Er blieb stehen, nachdem er die Tür des Besprechungszimmers halb geöffnet hatte und drehte sich herum. „Ihr habt es Euch doch noch überlegt?“

„Nein, in dem Punkt habe ich keine andere Wahl.“

„Mir ergeht es ähnlich. Ich habe auch keine andere Wahl.“

„Was haben Sie denn jetzt vor?“

„Ich werde tun, was die Hüter der Ordnung nicht zu vollbringen vermögen.“

„Branagorn, mischen Sie sich da nicht ein. Sie handeln sich jede Menge Ärger ein!“

„Mir dünkt, dass ich Ärger nicht zu scheuen brauche! Und im Kampf gegen das Böse sollte man nicht angstvoll zurückstehen, werte Cherenwen – und diesmal nenne ich Euch bewusst und gegen Euren erklärten Willen so, auch wenn Ihr dies vordergründig als einen Akt der Unhöflichkeit empfinden mögt! Aber vielleicht erinnert Ihr Euch des verborgenen Wissens über Eure wahre Herkunft, das in den Tiefen Eurer Seele verborgen liegt.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ sie stehen.

Anna stand ziemlich konsterniert da und war für einige Augenblicke völlig unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

„Was für ein Spinner!“, sagte sie dann laut, so als müsste sie sich dessen erst dadurch vergewissern.

Aber ihre eigenen Worte hatten für sie in diesem Augenblick einen sehr fremden Klang.

Dafür ging ihr ein einziges Wort einfach nicht aus den Gedanken.

Ein Name.

Ihr Name, wie Branagorn behauptet hatte.

Cherenwen!

Traumhenker und Schwarzer Tod

Am Abend telefonierte Anna van der Pütten noch kurz mit Sven Haller, um sich über den Fortgang der Ermittlungen zu erkundigen. Allerdings gab es derzeit nichts Neues.

„Es wäre schön, wenn du morgen früh hier am Friesenring sein könntest“, meinte Haller.

„Ja, selbstverständlich“, sagte Anna. „Das lässt sich machen.“

„Bis dahin liegt der endgültige Obduktionsbericht vor und Herr Friedrichs hat außerdem einiges an vergleichendem Datenmaterial über die bisherigen Morde des Barbiers zusammengetragen. Wir werden dann sehen, ob uns das ein Stück weiterbringt. Bis dahin sind auch die Kollegen schon ein Stück weiter mit der Auswertung der zahlreichen Zeugenaussagen von der Planwiese in Telgte.“

„Wollen es hoffen“, erwiderte Anna. Aber das klang nicht sehr zuversichtlich. Branagorns Worte über den Traumhenker klangen ihr noch in den Ohren. Sie versuchte das auszublenden. Schließlich war das nicht mehr als die neurotische Wahnvorstellung eines Patienten. Ausgeburt der Fantasie und nicht die Wirklichkeit. Dennoch musste sie zugeben, dass dieses Bild eines düsteren Axtschwingers in dunkler Kutte großen Eindruck auf sie hinterlassen hatte.

„Hast du heute noch was vor?“, fragte Haller.

„Was meinst du damit?“

„Essen zum Beispiel.“

„Nein. Ich habe schon gegessen.“

„Schade.“

„Wieso?“

„Ich hätte dich sonst in eine Pommes-Bude eingeladen, Anna.“

„Na, da bin ich ja dem Krebstod durch angebranntes Fett noch mal knapp entkommen.“

„Bis morgen.

„Bis morgen, Herr ... Sven.“

Dass Anna schon gegessen hatte, war gelogen. Sie wollte einfach nichts mehr essen und schon gar nicht etwas, was so kalorienreich und ungesund war. Anna hatte gerne die Kontrolle und sie fühlte sich immer dann unwohl, wenn das aus irgendwelchen Gründen nicht möglich war. Also kontrollierte sie auch ihr Gewicht. Und da hatte sie im Moment einfach zwei Kilo zu viel auf den Rippen. Zu viel war vielleicht, wie sie selbst einräumen musste, nicht ganz der passende Eindruck, denn das lag durchaus noch innerhalb der Spanne, die für ihr Alter und ihre Größe angemessen war. Ihr Bodymaßindex lag bei 23. Da konnte man nicht wirklich von einem Diätbedarf sprechen. Aber sie wollte die Dinge einfach nicht schleifen lassen.

Das bedeutete, für heute gestattete ihr der selbsterstellte Ernährungsplan nur noch einen Apfel. Mehr nicht.

Während sie den aß, setzte sie sich noch an ihren Computer, um die Abrechnungen für die Krankenkasse und den Landschaftsverband fertig zu machen. Die Bürokratie hatte in ihrem Beruf immer mehr zugenommen. Da waren Psychologen innerhalb der Branche, die man zusammenfassend als Helfer bezeichnen konnte, keine Ausnahme. Jemanden, der das für sie erledigte, konnte sie sich nicht leisten. Ihre Praxis ging ganz gut, aber in erster Linie verdiente sie ihr Geld ohnehin mit Gerichtsgutachten und die Arbeit für Polizei und Justiz. Die zogen sie immer wieder zurate. Forensik war ihr Spezialgebiet. Reguläre Patienten hatte sie nur wenige und das war auch gut so.

Zwischenzeitlich unterdrückte Anna ein Gähnen. Schließlich sah sie ein, dass sie wohl einfach inzwischen zu müde war, um jetzt noch eine Arbeit zu machen, bei der es auf höchste Sorgfalt ankam. Einer plötzlichen Eingebung folgend gab sie dann den Namen Timothy Winkelströter ein und suchte nach ihm im Internet.

Der Internet-Shop, von dem der Grufti aus Kattenvenne gesprochen hatte, war schnell zu finden. Mittelalter-Kleidung wurde dort ebenso angeboten wie Schwerter und Dolche. Branagorn hätte seine Freude an dem Sortiment!, dachte Anna. Das Schwergewicht des Angebots lag jedoch auf okkulten Amuletten, die zum Teil auch in Auftragsarbeit erstellt wurden. Zauberrunen nach Wunsch des Kunden, bemalte Glückssteine an allergiefreien Halsketten und außerdem ein großes Sortiment an Ringen mit zum Teil recht martialischen Motiven. Totenschädel und Geisterfratzen in dunklem Metall oder in Silber dominierten.

Aus irgendeiner instinktiven Regung heraus ging sie im Seitenmenü noch einmal zurück zur Kleidung. In einem der Untermenuü fand sie dann etwas, das sie förmlich erstarren ließ. Schnabelmasken für Pest-Ärzte nebst Zubehör.

Anna wählte Sven Hallers Nummer. Aber der ging nicht an sein Handy und sie wurde an die Mailbox verwiesen.

„Bitte sprechen Sie nach dem Signal“, säuselte ihr eine Maschinenstimme mit dem Charme eines preiswerten Navigationsgerätes ins Ohr.

„Hallo Sven. Du solltest dir unbedingt die Homepage von Timothy Winkelströters Online-Shop ansehen! Da gibt es Schnabelmasken, die genauso aussehen wie die, die wir in Jennifer Heinzes Schrank gefunden haben – und wie sie auch der Typ auf dem Mittelalter-Markt trug, mit dem unser Elbenkrieger sich duelliert hat! Ich weiß nicht, ob das irgendeine Bedeutung hat, aber auffällig ist es schon. Ansonsten – bis morgen.“

*

Es war sehr spät, als Anna endlich ihre Praxis verließ und in ihre Wohnung ein Stockwerk höher ging. Genau genommen schlief sie hier eigentlich nur. Selbst das Frühstück nahm sie schon unten in der Praxis ein. Die Küche, die zur Wohnung gehörte, war so gut wie nie benutzt worden und sie musste immer darauf achten, dass sich dort keine Staubschicht bildete.

Es war drei Uhr nachts, als Anna van der Pütten die Schuhe und ihre Kleidung sehr sorgfältig in den Kleiderschrank hängte und wenig später völlig erschöpft ins Bett sank. In diesem Zustand sollte es eigentlich keine Träume mehr geben. Man schlief einfach ein und der Körper nahm sich sein Recht auf Erholung. So stellte sich Anna das vor. Früher hatte sie oft unter Albträumen zu leiden gehabt. Im Grunde war sie die gesamte Schul- und Ausbildungszeit davon gepeinigt worden und hatte zeitweilig sogar Schlafmittel genommen, um dem ein Ende zu setzen. Es waren Träume gewesen, in denen sie verfolgt und gehetzt wurde oder in denen sie an einem Wettbewerb im Marathonlauf teilnehmen sollte, ihr aber plötzlich die Beine versagten, weil sie von einem zum anderen Moment vollkommen ihrer Kräfte beraubt und wie gelähmt gewesen waren.

Das waren die Träume einer sehr ehrgeizigen, perfektionistischen Person, die von massiven Versagensängsten heimgesucht wurde. Es hatte Jahre gedauert, bis sie das verstanden hatte und sich selbst gegenüber etwas großzügiger geworden war. Vielleicht war das sogar die Triebfeder für sie gewesen, Psychologie zu studieren. Das Chaos im Selbst verstehen, das Unbeherrschbare beherrschbar machen und unangenehme Überraschungen dadurch vermeiden, dass man die möglichen oder wahrscheinlichen Verhaltensweisen seines Gegenübers gedanklich vorwegnahm. Antizipation als Selbstschutz. Ordnung im Inneren wie im Äußeren als ein Schutz vor unliebsamen Überraschungen. Manchmal kam es dann trotzdem vor, dass sie überrumpelt wurde. Zum Beispiel in dem Moment, als Sven Haller ihr das Du angeboten hatte. Sie hatte ja gesagt und es eigentlich schon im selben Moment bereut. Aber das Problem mit einem Du war, dass es sich nicht zurücknehmen ließ, ohne einen irreparablen Schaden auf der Beziehungsebene in Kauf nehmen zu müssen. Jetzt würde sie damit leben müssen und sich stets Mühe geben, Sven anstatt Herr Haller zu sagen, obwohl sie eigentlich nicht fand, dass das dem Stand der Beziehung entsprach.

All diese Gedanken vermischten sich, als Anna sich ins Bett legte. Sie vermischten sich zu einem großen Strudel, der direkt in die Dunkelheit eines traumlosen Schlafs führte.

*

Schweißgebadet und von einer inneren Unruhe erfüllt erwachte sie. Kerzengerade saß sie im Bett und sah etwas Dunkles auf der Decke. Sie schrie laut auf, als sie erkannte, was es war.

Mein Haar!

Sie fasste sich an den kahl rasierten Kopf und verstummte dann, als sie die Gestalt in dunkler Kutte vor sich sah – gestützt auf eine monströs große Axt. Der Traumhenker! Er sah genau so aus, wie Branagorn ihn ihr beschrieben hatte. Die Axt war eigentlich viel zu schwer, als dass man sich hätte vorstellen können, dass ein gewöhnlicher Mensch sie hätte führen können.

Die Kapuze der Kutte war tief ins Gesicht gezogen, aber eigenartigerweise herrschte darunter keine Dunkelheit. Stattdessen leuchtete es gespenstisch. Der Kopf hob sich, sodass sie eigentlich einen freien Blick auf das Gesicht hätte haben müssen. Doch dort war kein Gesicht, sondern eine fahle, sandfarben leuchtende Fläche mit zwei dunklen Punkten - einer größer, der andere etwas kleiner, die wie Augen in einem geisterhaften Gesicht wirkten. Deine Seele gehört mir! Und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst!, flüsterte eine leise Gedankenstimme. Du kannst die Bleistifte auf deinem Schreibtisch noch so oft anspitzen und geordnet nebeneinanderlegen, du kannst die Büroklammern täglich durchzählen, um sicher zu gehen, dass du nicht plötzlich auch nur eine einzige zu wenig davon hast, du kannst deine Kalorien zählen und dich noch so sehr an die Methodik deiner Therapieschule halten ... Das mag den Chaosdämon in dir selbst notdürftig bändigen, aber es wird dich nicht dagegen schützen, dass ich die Herrschaft über deinen Geist erringe ...

Ein dröhnendes Gelächter folgte und ließ Anna van der Pütten ein zweites Mal schweißgebadet emporschnellen. Sie saß erneut – und diesmal wirklich und nicht nur in ihrer Traumfantasie - aufrecht im Bett und fühlte, wie ihr der Puls bis zum Hals schlug.

Der erste Albtraum seit langer Zeit!, ging es ihr durch den Kopf, während ihr Herz noch immer raste.

*

Es war früher Morgen, als Timothy Winkelströter nach Hause kam. Er stellte den Wagen ab, gähnte und stieg aus. Dann sah er auf die Uhr an seinem Handgelenk. Gerade mal fünf Uhr. Morgendämmerung in Kattenvenne – das hatte doch was. Er sah kurz auf den Rücksitz. Da lagen ein Zierdolch und eine Schnabelmaske, wie sie die Pest-Ärzte des Mittelalters getragen hatten, dazu ein Umhang mit Kapuze. Gehörte beides zum Angebot seines Shops. Man konnte auch noch ein Lederwams, Handschuhe und Stiefel dazu bekommen, wenn man wollte. Nur den Karren, auf den die Toten aufgeladen wurden, den hatte Timothy Winkelströter nicht im Angebot. Einen Augenblick überlegte er, ob er die Schnabelmaske nicht mit ins Haus nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Nur einen Teil der Ware, die er über das Internet verkaufte, lagerte er in seiner Einliegerwohnung. Und dabei handelte es sich vor allem um die Dinge, die wenig Platz einnahmen. Amulette zum Beispiel. Für den Rest – vor allem für die Kleidung hatte Timothy Winkelströter einen Lagerraum angemietet. So viel warf sein Geschäft inzwischen ab.

„Müssen Sie die Türen so schlagen?“, fragte eine schnarrende Frauenstimme, die Timothy herumfahren ließ.

Frau Möller, die hochbetagte Mutter seines Vermieters. Wer sonst? Aus verschiedenen Gründen wäre niemand anderes für eine solche Begegnung im Morgengrauen in Frage gekommen. Sie war eine Frühaufsteherin und leider hatten mit den Jahren nicht ihr Sehvermögen oder das Gehör, sondern nur ihre Toleranz deutlich nachgelassen. „Ich hab Ihnen doch schon hundertmal gesagt, dass Sie die Türen nicht schlagen sollen, wenn Sie spät nach Hause kommen. Wegen meinem Friedhelm. Der schläft dann doch!“

Friedhelm Möller, Timothy Winkelströters Vermieter, hatte die Angewohnheit lange zu schlafen, und seitdem er als Rentner nicht mehr aus dem Haus musste, außer zum Schützenfest oder zum Kegeln, machte er von dieser Möglichkeit auch ausgiebig Gebrauch. Seine Mutter hingegen, inzwischen wohl schon um die neunzig, schien so etwas wie Schlaf gar nicht mehr zu kennen. Wenn Timothy spät nach Hause kam, brannte im Zimmer von Margarethe Möller immer noch Licht. Oder sie geisterte in dem ausgedehnten Garten herum, um ihren Anpflanzungen beim wachsen zuzusehen. Ihr Friedhelm hatte nie geheiratet, was niemanden wundern konnte. „Wozu braucht mein Friedhelm eine Frau? Ich mach ihm doch alles“, hatte Timothy einen markanten Satz der alten Dame noch im Ohr.

Margarethe Möller kam ein paar Schritte auf Timothy zu. Sie hatte den Mann in den dunklen Ledersachen von Anfang an mit Misstrauen betrachtet. Das lag wohl vor allem an den zahllosen heidnischen Symbolen, die Timothy zur Schau trug, angefangen von den Totenköpfen und Geisterfratzen an den Metallringen bis hin zu den undefinierbaren magischen Zeichen auf den Amuletten oder der Tätowierung am Unterarm, die ein Kreuz in Kombination mit einem Stierkopf zeigte. Das Kreuz zu verunstalten und in einem ihrer Meinung nach etwas anrüchigen Zusammenhang zu bringen, war vermutlich die schlimmste Sünde. Margarethe Möller war nämlich eifrige Kirchgängerin. Da sie selbst nie das Autofahren gelernt hatte, musste ihr Friedhelm zumindest einmal die Woche früh aus den Federn und seine Mutter zum Gottesdienst bringen. Und so sehr sie im Moment auch den Schlaf ihres Kleinen, wie sie ihren Friedhelm gelegentlich auch nannte, schützte – am heiligen Sonntagmorgen war ihr der Schlaf anderer Leute (zum Beispiel hart arbeitender Internet-Händler wie Timothy Winkelströter), einschließlich der Nachtruhe von ihrem Friedhelm, plötzlich nicht mehr so wichtig. Oft genug war Timothy dadurch geweckt worden, dass Margarethe Möller ihren Sohn dann lautstark zur Eile antrieb. „Nee, nee, nee, Junge, der Pastor wartet nich auf uns!“, pflegte sie dann mit ihrer durchdringenden, schnarrenden Stimme zu sagen und wenn sie dann in den Wagen einstieg, fand sie auch nichts dabei, die Tür heftig zu schlagen. Manchmal auch zwei oder dreimal, denn Margarethe Möller hatte die Angewohnheit, die Wagentür dann noch einmal zu öffnen, weil sie sich nicht sicher war, ob sie sie auch richtig geschlossen hatte.

Aber dieses Recht galt natürlich nicht für Mieter.

Und warum hätte sie auch mit jemandem gnädig sein sollen, der schon durch ein zur Schau gestelltes Heidentum auf die Gnade Gottes verzichtet hatte?

„Wo waren Sie denn heute die ganze Nacht?“, fragte Margarethe Möller jetzt mit vor der Brust verschränkten Armen und Augen, die so schmal geworden waren, dass man kaum noch das Weiße darin sehen konnte.

„Frau Möller, das spielt doch wohl keine Rolle, oder?“

„Sie wissen ja, dass ich jemanden wie Sie nie hier hätte einziehen lassen ...“

„Danke, das war deutlich.“

„Aber ich habe hier ja nichts zu sagen. Und mein Friedhelm meint, dass wir auf Ihre Miete angewiesen wären, deswegen will ich auch gar nichts gesagt haben.“

„Frau Möller, ich will ja nicht unhöflich sein, aber ...“

„... aber bis jetzt ist noch nie die Polizei hier gewesen! Das habe ich meinem Friedhelm auch gesagt: Junge, wir hatten nie die Polizei hier! Bis gestern! Wir waren gerade von der Kirche zurückgekommen, als sie hier waren ... Oben von meinem Zimmer aus konnte ich alles mitbekommen.“

„Frau Möller, Ihr Friedhelm hat mir gestern schon gesagt, dass die Polizei hier war! War's das?“

„Haben Sie sich im Präsidium gemeldet, so wie die Beamten es wollten?“

„Ja. Zufrieden?“

„Und haben Sie denen auch gesagt, dass Sie die junge Frau kannten, die in Telgte umgebracht hat?“

„Noch einen schönen Tag, Frau Möller.“ Timothy Winkelströter ließ sie einfach stehen. Er hatte nach dem Verhör am Vorabend durch die Polizei keine Lust, sich auch noch von dieser Frau ausfragen zu lassen. In diesem Punkt war ihr Friedhelm wirklich sehr viel angenehmer zu ertragen. Friedhelm Möller redete nämlich nur das Allernötigste und das auch oft nur in verkürzten Ein- oder Zweiwortsätzen. Effektive Kommunikation anstatt ausuferndem Gelaber voller Fallstricke.

Timothy war nur fünf Schritte gegangen.

Sein Handy klingelte. Timothy sah auf das Display.

Nadine Schmalsti ruft an, stand da. Eigentlich hätte es Nadine Schmalstieg heißen müssen, aber mehr Buchstaben wurden nicht angezeigt – und nur den Vornamen ins Menü einzugeben, wäre angesichts der Häufigkeit von Nadine etwas zu riskant gewesen. Allein privat kannte er schon drei Nadines und eine Kim-Nadine.

Timothy nahm das Gespräch entgegen.

„Ja?“

„Ich muss gleich zum Job. Wollte dir nur sagen, dass du deine Brieftasche hier vergessen hast.“

Timothy griff sich ans Gesäß.

„Scheiße.“

„Macht doch nichts. Komm nachher einfach vorbei. Das wolltest du doch sowieso.“

„Ja, klar“, bestätigte Timothy.

„Und wegen der anderen Sache – vielleicht sollte ich deswegen doch besser zur Polizei gehen.“

„Ich dachte, das hätten wir besprochen, Nadine.“

„Aber ...“

„Lass es! Das bringt nichts als Ärger. Hör zu, tu nichts Unüberlegtes. Wenn ich nachher bei dir bin, können wir noch mal darüber sprechen, wenn du willst!“

Ein einziger seufzender Atem, dann einen Moment Stille.

„Nadine, bist du noch dran?“

„Bis nachher, Timothy.“

Als das Gespräch beendet war, spürte Timothy Winkelströter förmlich den auf ihn gerichteten Blick von Margarethe Möller. Er drehte sich um. „Ist noch was?“

Mit den Augen eines Elben

Anna van der Pütten fühlte sich wie gerädert, als sie im Polizeipräsidium am Friesenring eintraf. Der Albtraum der vergangenen Nacht ging ihr ebenso wenig aus dem Kopf wie das Gespräch mit Branagorn.

Als sie das Lagezentrum betrat, fielen ihr als Erstes die Stellwände mit den Flipcharts auf. Listen von Namen und Adressen, Fotos von Personen und Tatorten waren dort zu sehen und Pfeildiagramme verbanden einiges davon zu einer komplizierten Mischung aus Notiz und Grafik.

Kevin Raaben heftete noch ein paar weitere Zettel an.

„Tja, wir haben versucht, den ganze Fragenkomplex zu dem Fall mal ein bisschen zu systematisieren“, meinte er, als er Anna bemerkte.

„Ich sehe es“, murmelte Anna, die kaum in der Lage war zu verbergen, wie sehr sie das Chaos schockierte.

Sven Haller kam durch eine Tür herein, die zu einem Nebenraum führte. Er trug ein anderes Jackett, wirkte ausgeruht und schien guter Laune zu sein. „Schön, dass du da bist, Anna!“, sagte er und wandte sich an Raaben. „Sie hat nichts dagegen, wenn du sie duzt, wie wir das alle hier machen. Stimmt doch, oder?“

„Also ...“

„Das ist der Kevin. Und schau mal hier, Anna, wir haben alle Fakten zusammengetragen, die bis jetzt in dieser Mordserie eine Rolle gespielt haben und uns relevant erschienen.“

„Und das ist wahrscheinlich einer der Knackpunkte“, sagte Anna.

Haller runzelte die Stirn. „Was?“

„... und uns relevant erschienen“, zitierte Anna den Kriminalhauptkommissar. Dass der ihr eigenmächtig und selbstherrlich einfach die Duzfreundschaft mit Kevin Raaben aufgezwungen hatte, war von ihr noch gar nicht richtig verdaut worden. Sie fühlte Ärger in sich aufkeimen, aber ihr war auch klar, dass sie wohl fürs Erste keine Gelegenheit bekommen würde, dem Luft zu machen. Schließlich gab es im Moment wirklich Wichtigeres als solche Kleinigkeiten. Was war schon die Suche nach einem Mörder gegen ihre Empfindlichkeiten? Das lag so sehr auf der Hand, dass selbst ihr kein Argument dagegen einfiel. Nur ihrem Magen. Und der meldete sich auch prompt mit einem drückenden Gefühl des Unwohlseins. Anna fühlte sich wie ein Dampfkessel, in dem der Druck langsam stieg. Vergiss es!, dachte sie. Es geht jetzt um die Sache und darum, dass eine böse Seele, wie Branagorn es wohl ausgedrückt hätte, nicht noch mehr Opfer forderte.

„Nicht doof“, lautete Kevin Raabens Kommentar. „Wer sagt uns, dass wir aus der Masse der Fakten wirklich die relevanten herausgesucht haben?“

„Eben“, meinte Anna. „Außerdem sieht das Ganze für mich etwas chaotisch aus. Was sind das zum Beispiel da alles für Namen?“

„Das sind die Bekannten, Telefonkontakte, befragten Zeugen und so weiter“, erklärte Haller. „Hier sind zum Beispiel alle Telefonkontakte, die wir in dem Handy-Menü von Jennifer Heinze gefunden haben. Tja, und es gibt eine Übereinstimmung.“

„Und die wäre?“

„Timothy Winkelströter. Er war mit dem Opfer Nummer eins bekannt – Jana Buddemeier aus Borghorst. Seine Adresse fand sich im Telefonregister des Opfers. Aber er wurde nie vernommen, weil es keinen Zusammenhang mit dem Fall zu geben schien. Opfer Nummer zwei kannte er auch.“

„Gibt es da etwa auch ein Adressverzeichnis?“

„Im Handy der Toten. Er wurde auch damals nicht vernommen, weil er den Aussagen anderer Zeugen zufolge keine Karte mehr für das Schandmaul-Konzert bekommen hatte und man deshalb annahm, dass er nicht am Tatort war.“

„Das entspricht doch genau seiner Aussage, die er auch uns gegenüber gemacht hat“, meinte Anna.

„Das heißt aber nicht, dass sie stimmen muss. Er könnte sich doch noch eine Karte besorgt haben oder vielleicht kannte er einen der Türsteher, die ihn so reingelassen haben“, ergänzte Raaben. „Das überprüfen wir gerade.“

„Was die anderen Opfer angeht, kannte Timothy Winkelströter sie offenbar ebenfalls“, ergänzte Haller. „Wir haben zwar keine Nachweise von Handykontakten, aber dafür das hier!“ Haller deutete auf eines der Fotos. Es war die Vergrößerung eines Computerausdrucks. Zu sehen war eine Gruppe von jungen Leuten, alle in mittelalterlicher bis fantastischer Gewandung. Timothy Winkelströters düstere Phase hatte zu dieser Zeit offenbar noch nicht begonnen, denn anstatt als Finsterling im Ledermantel mit Totenkopfringen stand er als edler Recke da, mit Schwert und Kettenhemd. Das Foto war eindeutig schon ein paar Jahre älter und Timothys Haarpracht damit deutlich kürzer. Lange Pfeile verbanden die Namen und Adressen von Opfern und Zeugen mit den Personen auf dem Bild. „Jana Buddemeier, Franka Schröerlücke, Elvira Mahnecke, Chantal Schmedt zur Heide und Jennifer Heinze – alle fünf Opfer des Barbiers sind auf dem Foto. Dazu Timothy Winkelströter, eine junge Frau, die Sarah heißt, ein junger Mann, der als Vampir herumläuft und den wir bisher nicht identifizieren konnten, zwei weitere Männer, von denen wir nur wissen, dass sie Björni und Olli genannt werden und diese beiden Gestalten dort, deren Gesichter wohl kaum identifizierbar sein dürften.“ Haller deutete auf die finstere Gestalt eines Pest-Arztes mit Schnabelmaske und einen Ritter mit Eisenharnisch und heruntergelassenem Helm-Visier.

„Woher haben Sie das?“, fragte Anna.

„Von der Facebook-Seite einer gewissen Nadine Schmalstieg.“

„Und die ist da nicht drauf?“

„Sie wird das Foto gemacht haben, wie soll sie dann mit drauf sein? Das Bild muss vor siebeneinhalb Jahren aufgenommen worden sein. Facebook gibt es in seiner deutschen Version erst seit 2008. Dieses Bild wurde letztes Jahr hochgeladen, und von Björni und Olli wissen wir nur durch die Kommentare, die drunterstehen.“

„Haben Sie schon mit dieser Nadine Schmalstieg Kontakt aufgenommen?“, fragte Anna.

„Versucht. Wir haben die Kontaktfunktion auf Facebook genutzt. Eine Adresse oder Telefonnummer steht da natürlich nicht. Aber als Wohnort ist Steinfurt-Borghorst angegeben und dort gibt es insgesamt drei Nadine Schmalstiegs. Eine konnten wir telefonisch erreichen. Sie gab an, keinen Facebook-Account zu haben. Nummer zwei ist nach Rückfrage beim Einwohnermeldeamt inzwischen unbekannt verzogen – was aber nichts heißen muss, denn schließlich ist das Bild schon vor einiger Zeit hochgeladen worden und die letzte Aktualisierung im Profil ist fast ein Jahr alt. Und Nummer drei hat keinen Festnetzanschluss. Wir überprüfen derzeit, ob sie mit einer gewissen Naddi in den Telefoneinträgen in Jennifer Heinzes Handymenü identisch ist. Da ist eine Handynummer angegeben, über die wir derzeit aber nur auf eine Mailbox geleitet werden.“

„Siebeneinhalb Jahre ist diese Aufnahme alt ...“ murmelte Anna.

„Ja, schließlich lebt das erste Opfer des Barbiers da ja noch!“

„Dann waren alle, die da zu sehen sind Anfang zwanzig – jetzt sind sie Ende zwanzig bis Anfang dreißig, oder?“

„So ungefähr. Ist schon seltsam, was? Ich meine, wir haben uns doch alle früher mal als Cowboy, Indianer, Ritter oder Superheld verkleidet und in einer Spielwelt gelebt. Aber in meiner Generation war man da vielleicht zehn – und nicht siebenundzwanzig!“

Anna ging auf Hallers Bemerkung nicht weiter ein. Sie atmete tief durch. „Wieder der Schwarze Tod“, murmelte sie und deutete auf den Pest-Arzt. Sie murmelte diese Worte mehr zu sich selbst als zu Haller.

„Ist irgendetwas?“ fragte Haller.

„Nein, nur wenig geschlafen. Apropos Mailbox. Haben Sie meine Nachricht eigentlich bekommen?“

„Welche Nachricht denn?“ Haller runzelte die Stirn.

„Na, die ich Ihnen – also dir - auf die Mailbox gesprochen habe! Gestern habe ich nämlich noch versucht, dich anzurufen, aber da war leider niemand zu erreichen.“

„Dann hatte ich das Handy wohl abgeschaltet“, meinte Haller. „Oder ich war unter der Dusche oder auf dem Klo. Mehr Privatleben habe ich ja nicht, aber das bisschen verteidige ich mit Klauen und Zähnen.“ Er grinste, sah aber gleich, dass Anna das nicht so lustig fand. „Tut mir leid, worum ging's denn? Ich höre meine Mailbox normalerweise nie ab. Wenn's wichtig ist, dann meldet derjenige sich noch mal oder schreibt eine SMS.“

„Timothy Winkelströter verkauft diese Schnabelmasken in seinem Shop!“ Anna deutete auf den Pest-Arzt auf dem Bild. „Genau solche! Und der Typ, mit dem ...“

„Fangen Sie nicht mit diesem Elbenspinner an, der eine Fantasywelt mit der Wirklichkeit verwechselt!“

*

In diesem Augenblick ging die Tür auf und Branagorn trat ein. Er trug diesmal sein Schwert über dem Rücken gegürtet und einen dunklen Umhang über dem Wams. Die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Am Gürtel hingen verschiedene kleine Taschen und Lederbeutel. Und diesmal zierte ihn ein großes, gusseisernes Amulett in Form einer Elbenrune, das Anna zuvor noch nicht bei ihm gesehen hatte.

Eine Beamtin in Uniform folgte ihm auf den Fuß. „So geht das nicht!“, rief sie.

„Wie kommt dieser Kerl hier herein!“, ereiferte sich Haller.

„Tut mir leid, der ist so ... durchgerutscht ...“, stotterte die Beamtin in Ermangelung eines besseren Ausdrucks.

„Was soll das denn heißen? Hier kann doch nicht jeder hereinplatzen, wie er lustig ist!“

So emotional hatte Anna den Kriminalhauptkommissar noch nicht erlebt. Aber dass höhere Säugetiere aller Art – und dazu gehörte letztlich wohl auch der Mensch, auch wenn er das gerne verdrängte – aggressiv reagierten, wenn jemand in ihr Revier eindrang, war eigentlich eine bekannte Tatsache. Und so ähnlich musste man wohl auch Hallers Reaktion verstehen. Ein Irrer drang in die Einsatzzentrale der deduktiven Logik vor und behauptete wahrscheinlich im nächsten Moment auch noch, alles zu wissen, alles zu kennen und am schlimmsten: alles vorhersagen zu können, was sich noch in der Zukunft ereignen würde. Welch gravierendere Gegensätze konnte man sich vorstellen?

„Sorry, ich war auf'm Klo!“, gab die Beamtin zu.

Branagorn achtete nicht weiter auf sie. Er ging zu den Plakatwänden. Sein Blick wanderte sie systematisch entlang. Er tastet sie ab wie ein Scanner!, dachte Anna. Diese Assoziation drängte sich ihr zumindest unwillkürlich auf.

„Dieser Kerl soll hier verschwinden! Er hat hier nichts zu suchen!“, rief Haller.

„Lass nur, ich werde mit ihm reden“, schlug Anna vor. Sie wandte sich an die Polizistin in Uniform. „Ich glaube, wir kommen ohne Sie klar.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Dann sollte er vielleicht seine Bewaffnung ablegen“, schlug die Beamtin vor.

„Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage“, erklärte Branagorn. „Ein Schwert ist keine Waffe und ich bedrohe niemanden.“ Er wandte den Kopf und hob seine dürren, feingliedrigen Hände, deren Fingerspitzen er auf die Beamtin richtete. Dann murmelte er einige Worte in einer Sprache, bei der Anna sicher war, dass sie noch nie ein Wort davon gehört hatte. Vielleicht waren es auch einfach nur aneinandergereihte Silben ohne jeden Sinn. Sie klangen wie eine magische Formel. Branagorns Stimme hatte jetzt einen sehr dunklen, sonoren Klang. Die Beamtin sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und es war schwer zu sagen, was in diesem Moment in ihrem Kopf vor sich ging. Jedenfalls öffnete sie den Mund, so als wollte sie etwas sagen und vergaß, ihn dann für eine ganze Weile wieder zu schließen. Sie hatte schätzungsweise etwa zehn Dienstjahre hinter sich – aber mit so etwas war sie ganz sicher bisher noch nie konfrontiert worden. „Euer Geist hat mich verstanden, edle Wächterin und Ihr könnt getrost Eures Weges gehen, denn an meiner Friedensliebe und Sanftmut werdet Ihr nun nicht mehr zweifeln.“

„Tja, ich weiß nicht ...“, murmelte die Beamtin. Sie wandte sich dann an Haller. „Wenn Sie meinen, dass Sie hier alles unter Kontrolle haben!“

Branagorn ballte die Hände zu Fäusten und hielt die Handgelenke dabei dicht aneinander. „An Eurem Gürtel sehe ich Fesseln! So legt mich also in Ketten, wenn es hier jemanden geben sollte, der mich fürchtet! Ich fürchte die Ketten nicht, denn die Kraft meines Geistes ist stärker!“

„Ist schon gut“, knurrte Haller und nickte dabei der Beamtin zu, die daraufhin mit einem ziemlich ratlosen Gesicht den Raum verließ.

„Der Glaube an Magie ist in dieser Welt fast verschwunden – paradoxerweise aber ist die Furcht vor dieser Macht geblieben“, stellte der Elbenkrieger fest. „Das ist eine der eigenartigen Dinge, die ich an dieser Welt bemerkte, seit die Maschinen hier die Herrschaft zu erringen begannen. Schon die Grausamkeit, mit der man einst vermeintliche Hexen verfolgte, lässt sich wohl nur angesichts dieser Erkenntnis wirklich verstehen, obgleich ich zugeben muss, dass selbst so große Geister wie Leonardo da Vinci oder Martin Luther für diesen Gedanken wenig Verständnis hegten, als ich mit diesen großen Geistern darüber sprach.“

„Sie sprechen öfter mit Personen aus der Geschichte?“, fragte Haller und konnte dabei einen gewissen Spott im Tonfall nicht unterdrücken. Er wandte sich an Anna. „Tut mir leid, dass war jetzt sicher unsensibel und wenig einfühlsam. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du deinem Patienten klar machen könntest, dass er hier unerwünscht ist!“

Branagorn sah sich auch die restlichen Stellwände kurz an. Dann wandte er sich an Haller. „Die edle Frau van der Pütten hat nichts mit meinem Erscheinen hier in der Burg der Ordnungshüter zu tun“, erklärte er. „Ich bin aus freiem Willen hier und habe nicht viel Zeit.“

„Das trifft sich gut“, erwiderte Haller. „Ich nämlich auch nicht.“

„Ich bin hier, um Euch zwei Anliegen vorzutragen, werter Hüter der Ordnung.“

„Dann schlage ich vor, wir bringen das hinter uns und Sie verschwinden dann!“

„Was ist mit meinem Schwert Nachtmahrtöter, das mir wider alles Recht genommen und dessen baldige Rückgabe mir in Aussicht gestellt wurde?“, fragte Branagorn.

„Sie geben Ihren Schwertern Namen?“, fragte Haller und wandte sich kurz an Anna. „Das sollten Sie aber dringend mit ihm aufarbeiten.“

„Keine Sorge!“, gab Anna zurück.

„Das wäre ja ähnlich, als würde ich meine Dienstpistole in Zukunft Heinz nennen!“

„Seelen sind in allen Dingen – im Guten, wie im Schlechten“, erklärte Branagorn. „Und den Dingen ihren Namen zu geben, heißt, ihr innerstes Wesen zu erkennen und Macht über sie zu gewinnen. Und ich glaube kaum, dass es Euch schlecht anstünde, das Wesen Eurer Waffe zu erkennen und die Macht über sie zu behalten, auf dass Ihr sie nicht leichtfertig einsetzt.“

Haller runzelte die Stirn. „Amen“, sagte er.

„Ihr seid meiner Frage bisher ausgewichen. Wo ist der Nachtmahrtöter? Wie lange gedenkt Ihr, den Nachtmahrtöter noch von mir zu trennen?“

„Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Und wie ich sehe, sind Sie doch ganz gut mit Ersatz ausgestattet, Herr Branagorn oder meinetwegen auch hochwohlgeborene Durchlaucht.“

„Der Nachtmahrtöter ist unersetzbar und einzigartig – so wie jedes andere Stück Materie im Polyversum.“

„Bitte jetzt nicht dieses Waldorfschulen-Gequatsche“, meinte Haller relativ barsch. „Was war Ihr zweites Anliegen?“

„Ich habe Euch etwas zum Fall mitzuteilen. Mir war es so selbstverständlich, dass ich nicht daran gedacht habe, dass es vielleicht für Euch wichtig sein kann. Zudem ist meine Magie geschwächt, da mir mein gewohntes Schwert Nachtmahrtöter nicht zur Verfügung steht und ich mit einem nicht ganz gleichwertigen Ersatz vorliebnehmen muss. Eigentlich wäre das nicht weiter schlimm, denn die Macht des Geistes ist der Trägheit der Materie immer weit überlegen, sodass ein Artefakt niemals die Entscheidung bringt, sondern immer nur die innere Kraft ...“

„Na, wenn das so ist, verstehe ich Ihre Aufregung nicht!“

„Aber in dieser Welt ist die Magie sehr schwach. Und es bedarf des jeweils mächtigsten Artefakts, um den Geist ausreichend zu konzentrieren. Und das wird schon sehr bald nötig sein ...“

„Was reden Sie da eigentlich?“

„... wenn ich dem Traumhenker gegenüberstehe, um mich ihm zu stellen.“

„Wer soll das sein?“

„Der Traumhenker, der mit mir zusammen aus einer anderen Welt hierhergelangte, ist in jene Mörderseele gefahren, die Ihr sucht, Hüter der Ordnung. Und das, was ich Euch mitzuteilen habe, ist Folgendes: Mir begegnete diese Mörderseele bereits in den Westfälischen Kliniken von Lengerich.“

„Was?“

Hallers Kinn fiel herab.

Das ging ihm nun wohl endgültig zu weit. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, griff Anna ein. Krisenintervention – so hieß dafür wohl der therapeutische Oberbegriff. „Fahren Sie fort, Branagorn. Sagen Sie mir genau, wo und wann Sie der Mörderseele begegneten!“

Ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Ich wusste, Ihr würdet mich verstehen, Cherenwen. Und verzeiht mir, dass ich mich abermals erdreistet habe, Euch so zu nennen, aber die seelische Verwandtschaft zwischen uns könnt auch Ihr in diesem Augenblick wohl kaum leugnen.“

Anna begegnete einem Blick.

Ein Gedanke schoss ihr den Kopf. Eine Frage. Soll ich mich diesmal auf das Spiel so weit einlassen, dass ich es ihm erlaube, mich Cherenwen zu nennen oder ist das der Moment, an dem ich die Distanz unter allen Umständen aufrechterhalten muss? Er ist sensibel genug, um genau die Schwachstellen seines Gegenübers zu erfassen, überlegte Anna. Und auch wenn er so tut, als würde er nur in einer Welt der Fantasie leben, und das, was man gemeinhin Realität nennt, nur ganz am Rande und in sehr verzerrter Weise zur Kenntnis nehmen, so heißt das nicht, dass er nicht in der Lage wäre, sein Gegenüber zu manipulieren.

Branagorn wäre nicht der erste Patient gewesen, der genau dies versuchte.

Aber hier ging es um mehr!, entschied Anna schließlich. Es ging darum, einen Mörder zu fassen, der offenbar einem sehr dunklen Trieb folgte und nicht damit aufhören würde zu töten. Es sei denn, es gelang ihnen, ihn in absehbarer Zeit zu entlarven. Was war dagegen schon das Risiko einer letztlich doch recht harmlosen Grenzüberschreitung im Patient-Therapeuten-Verhältnis. Schließlich hatte sie ja nicht vor, mit Branagorn von Elbara alias Frank Schmitt eine sexuelle Beziehung einzugehen, sondern sie begab sich lediglich mit ihm zusammen auf die Ebene eines Fantasie-Spiels.

Fast so, als würden wir uns online zum Word-of-Warcraft-Spielen treffen oder zu einem dieser Mittelalter- und Fantasy-Festivals gehen, auf denen die Kämpfe zwischen Elben und Orks oder historische Schlachten des Mittelalters nachgespielt wurden. Wahlweise natürlich auch solche aus der Römerzeit oder aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Die Spiellaune der Erwachsenen schien da keine Grenzen zu kennen. In diesem einen Punkt konnte Anna im Übrigen Hallers Verwunderung darüber gut nachvollziehen. Allerdings hatte sie selbst sich auch als Zehnjährige nicht verkleidet, um in eine Spielrolle zu schlüpfen. Auch nicht als Fünfjährige – und dass über Zwanzigjährige sich damit die Freizeit vertrieben, erschien ihr ohnehin vollkommen absurd. Sie konnte das nur als psychosoziales Phänomen zur Kenntnis nehmen und versuchen, mithilfe einer wissenschaftliche Methodik zu verstehen. Aber nachempfinden konnte sie das nicht. Sie selbst hingegen hatte manchmal das Gefühl, schon kontrolliert, vernünftig und erwachsen auf die Welt gekommen zu sein. Jedenfalls konnte sie sich an nichts anderes erinnern. Und da es schon schwierig genug war, die Ordnung in der realen Welt aufrechtzuerhalten, hatte sie kein Bedürfnis verspürt, diese Ordnung dadurch ins Wanken zu bringen, dass sie in die Gefilde ihrer Fantasie abdriftete. Das Ergebnis mochte dann am Ende ein Wahn sein, wie er Branagorn befallen hatte. Es war nur ein einziger, verhängnisvoller Schritt und man spielte nicht mehr den Elbenkrieger, sondern man war einer. Aber das war etwas, was Anna niemals passieren konnte. Glaubte sie. Hoffte sie. Aber um eine solche Bedrohung ihres innersten Selbst rechtzeitig erkennen zu können, hatte sie ja eigentlich lange genug studiert, wie sie fand.

„Nennen Sie mich Cherenwen – wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Sie Cherenwen leichter das anvertrauen können, was Sie offensichtlich entdeckt haben.“

„Es war ein Blick in die Augen. Kennt Ihr das, werte Cherenwen? In einem einzigen Augenblick – und damit meine ich den figürlichen Sinn dieses Wortes! - kann einem alles klar werden!“

„Von welchem Augenblick sprechen Sie?“

„Es war auf der Planwiese in Telgte, als ich der Mörderseele hinter der Schnabelmaske gegenüberstand. Da habe ich diese Seele an ihren Augen erkannt! Denn die waren in den dafür ausgeschnittenen Löchern gut zu sehen. Dieselben Augen sind mir begegnet, als ich vor ein paar Jahren einen längeren Aufenthalt in der Psychiatrie in Lengerich hatte.“

„Sie meinen, Sie können allein anhand der Augen jemanden wiedererkennen?“

„Was ist so ungewöhnlich daran? Kein Auge gleicht dem anderen und an den Mustern der Iris sehen die Heilkundigen, an welchen Krankheiten jemand leidet ...“ Branagorn wandte sich an Haller. „Ich kann Euch leider nicht mit einem Namen dienen, Hüter der Ordnung. Und auch zu dem Gesicht kann ich Euch keine nähere Beschreibung geben. Denn das Augenpaar, das mich damals anstarrte, blickte durch das gläserne kleine Fenster einer Tür, die die Eigenschaft hatte, den Klang von Schreien zu dämpfen. Das Gesicht sah ich bis hier!“, und dabei hielt er die Hand in die Höhe der Nasenwurzel. „Es kann keine große Person gewesen ein, sonst wäre das Gesicht zur Gänze sichtbar gewesen.“

„Ja, das hilft uns sehr weiter, Herr Branagorn“, sagte Haller.

„Eines solltet Ihr noch wissen: Der Schädel war kahl. Es war kein einziges Haar darauf zu sehen.“

„Wie bei den Opfern“, stellte Anna fest.

„Ich sagte Euch doch: Der Traumhenker ist in diese Mörderseele gefahren und lässt sie an anderen Dinge tun, die ihr vielleicht selbst widerfahren sind. Und nun entschuldigt mich – denn ich bin in Eile, auch wenn dies für einen Unsterblichen wie mich ein eher seltener Zustand ist und ich ansonsten nichts dagegen einzuwenden hätte, die Unterhaltung noch ein halbes Leben lang fortzusetzen.“

Er wandte sich zur Tür und schien von einem plötzlichen Impuls getrieben zu sein. Nicht einmal auf sein Schwert, den Nachtmahrtöter, kam er jetzt noch einmal zurück, obwohl ihm das eben noch so unendlich wichtig gewesen war. Anna spürte, dass sich in Branagorns Psyche irgendetwas verändert hatte. So als ob ein Schalter umgelegt worden war. Aber ihr fiel kein vernünftiger Grund ein, ihn davon abzuhalten, jetzt das Präsidium zu verlassen.

„Branagorn, warten Sie!“, rief sie.

Er drehte sich um.

„Werte Cherenwen. Gebt auf Euch Acht, denn der Traumhenker kennt keine Gnade!“

In Annas Hirn arbeitete etwas fieberhaft. Dutzende von Gedanken schienen dort gleichzeitig herumzurasen. Sie hasste Chaos. Sie hasste Situationen wie diese, in denen nicht von vornherein feststand, wie sie ausgingen, was bei einer therapeutischen Situation normalerweise immer der Fall war. Da hielten sich die Überraschungen in engen Grenzen. Aber dies war ein Spiel, in dem sie nicht die Regeln bestimmte und dass ihr deswegen vielleicht auch so viel Unbehagen bereitete. Sie ging zur Stellwand und deutete auf das Facebook-Gruppenfoto. Auf einem daneben angehefteten Ausdruck waren die Kommentare dazu abgedruckt.

Annas Zeigefinger berührte das Foto genau dort, wo sich der Pest-Arzt befand. „Ist es dieser hier?“, fragte sie.

„Das weiß ich nicht“, bekannte Branagorn. „Ich habe dieses Bild angesehen, aber die Augen sind nicht gut genug zu erkennen. Aber eins ist gewiss: Wenn ich der Mörderseele gegenüberstehe und ihren Blick erwidere, werde ich ihr wahres Wesen erkennen!“

Mit diesen Worten verließ Branagorn den Raum.

*

Anna lief ihm nach. Auf dem Flur war er nicht zu sehen. Die Geschwindigkeit, mit der er sich entfernt hatte, überraschte sie. Sie lief mit schnellen Schritten bis zur nächsten Biegung und dann sah sie ihn ganz am Ende des Korridors.

„Branagorn!“, rief sie. Er blieb nicht stehen und drehte sich auch nicht um, obwohl Anna sich eigentlich sicher war, dass er sie bemerkt haben musste.

Erst am Ausgang holte sie ihn endlich ein, stellte sich vor ihn in den Weg. Sie war ziemlich außer Atem.

„Branagorn, was haben Sie denn jetzt vor?“

„Ich habe dem Hüter der Ordnung gesagt, was ich weiß, und mein Schwert Nachtmahrtöter werde ich offenbar so schnell nicht zurückerhalten, weil es mir offenbar unter fadenscheinigen Vorwänden weiterhin vorenthalten werden soll. So bleibt mir nichts anderes, als mich auf die Kräfte meines Geistes zu verlassen. Nehmt Euren Platz an der Seite der Ordnungshüter ein, werte Cherenwen. Dass mein Platz dort nicht sein kann, wurde mir eindringlich deutlich gemacht.“

„Ich möchte wissen, wo Sie jetzt hingehen?“

„Es besteht kein Anlass, dass Ihr Euch beunruhigt, Cherenwen. Achtet auf den Traumhenker. Das ist alles, was ich Euch raten kann.“

„Versprechen Sie mir, jetzt zurück nach Münster-Kinderhaus zu fahren?“

„Wovor fürchtet Ihr Euch?“

„Dass Sie etwas Unbedachtes tun, Branagorn. Und dass Sie sich in die Ermittlungen einmischen.“

„Wie sollte das denn möglich sein?“

„Vertrauen Sie den Hütern der Ordnung, Branagorn!“

„Natürlich. Im Übrigen seid unbesorgt. Mir geht es so gut wie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr und der Gedanke, dem Lebensüberdruss nachzugeben, liegt mir zurzeit ferner denn je. Das liegt auch daran, dass Ihr nun doch endlich erkannt habt, wer Ihr im Innersten Eurer Seele seid, werte Cherenwen. Dass Ihr Euch selbst und damit auch mich in dieser Weise erkannt habt, bedeutet für mich eine Form des Glücks, die zu erleben ich kaum noch zu hoffen gewagt habe. Insofern sind all Eure Sorgen unberechtigt. Auf dem Dach eines Hochhauses werdet Ihr mich so schnell nicht wieder antreffen. Und ansonsten könnt Ihr über das sprechende Artefakt mit mir in Verbindung bleiben, sollte die Kraft Eures Geistes allein dafür nicht ausreichen!“

*

Mit einem Gefühl der Verwirrung kehrte Anna van der Pütten in den zum Lagezentrum umfunktionierten Konferenzraum zurück. Haller hatte gerade den Bericht des Gerichtsmediziners bekommen und blätterte darin herum.

„Ich hoffe, wir sehen deinen Patienten so schnell nicht wieder“, meinte Haller.

„Sven, er könnte Recht haben!“, sagte Anna und ihre eigene Stimme klang dabei wie die eines Fremden.

„Das meinst du nicht ernst!“

„Wir sollten zumindest die Personen, die wir bisher mit den Opfern in Verbindung bringen konnten, daraufhin überprüfen, ob von denen jemand in Lengerich zu dem Zeitpunkt in der Psychiatrie war, in der auch Branagorn – also Frank Schmitt dort gewesen ist!“

„Du überraschst mich!“, stellte Haller fest und schloss den Obduktionsbericht wieder. „Was soll das? Bist du jetzt auch schon geistig in einer anderen Welt oder muss ich befürchten, dass du in Zukunft als Burgfräulein oder sonst was verkleidet ins Präsidium kommst?“

„Wir haben bisher nicht viel an Anhaltspunkten. Aber einer ist doch, dass alle Opfer offenbar eine Vorliebe für mittelalterliche Verkleidungen hatten! Das Foto beweist es!“

„Die werden sich dabei vermutlich kennengelernt haben“, vermutete Haller.

„Und ein anderer Anhaltspunkt ist diese Pestmaske. Sie ist auf dem Foto und Branagorn war überzeugt, den Täter auf der Planwiese darunter erkannt zu haben und Timothy Winkelströter vertreibt diese Verkleidungen – der Mann, der als Einziger bisher so etwas wie ein Verdächtiger ist!“

„Was schon reichlich übertrieben ist!“

„Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder und die Opfer sich kannten – denn die Opfer kannten sich auch untereinander.“

„Und dieser Herzog Schmitt soll ihm in einer Klapsmühle begegnet sein?“

„Ergibt das denn keinen Sinn? Außer, dass der Täter dem erweiterten Bekanntenkreis dieser jungen Leute entstammen muss, wäre es nicht überraschend, wenn er zuvor schon mal wegen psychischer Auffälligkeiten in Behandlung gewesen ist! Er hat dauernd davon geredet, dass dieser Traumhenker mit ihm aus seiner Welt in die unsere gekommen ist. Aber mittlerweile glaube ich, dass man diese Aussagen vielleicht nicht als Spinnerei, sondern als eine metaphorische Ausdrucksweise verstehen sollte. Seine Welt – das ist vielleicht nur ein anderer Ausdruck für die Psychiatrie in Lengerich. Dort fühlt er sich wohl. Und vielleicht wollte er mit dieser Redeweise einfach nur ausdrücken, dass er davon überzeugt ist, dass der Mörder auch dort war – und jetzt wieder in unser aller Welt herumzieht und tötet!“

„Da gibt es nur ein Problem, Anna!“

„Und das wäre?“

„Ich glaube einfach nicht, dass es möglich ist, jemanden anhand seiner Augen zu identifizieren! Das ist doch an den Haaren herbeigezogen!“

„Du irrst dich Sven. Bei jemandem wie Frank Schmitt ist das durchaus möglich.“

„So?“

„Er hat ein fotografisches Gedächtnis. Das ist nichts Ungewöhnliches für Savants.“

„Savants - die Wissenden. Ein bisschen Französisch habe ich auch gehabt. Ein schönes Wort macht mir das Ganze noch nicht plausibel!“

„Das Savant-Syndrom, das bei Branagorn diagnostiziert wurde, ist auch von der Wissenschaft noch längst nicht völlig verstanden, Sven. Aber mit Frank Schmitt sind eine Reihe eingehender Untersuchungen durchgeführt worden. Die Testergebnisse sind beeindruckend. Weißt du, womit er sich normalerweise die Zeit vertreibt? Er geht in die Uni-Bibliothek Münster und liest systematisch die Bücher. Nein, er liest sie nicht, er prägt sie sich ein. Dazu braucht er sich die entsprechenden Seiten nur einmal angesehen zu haben. Mir erzählt er natürlich, dass das immenses Wissen daher rührt, dass er schon vor vielen Zeitaltern in unsere Welt gelangte und schon die Bibliotheken von Alexandria, Konstantinopel und Bagdad durchstöbert hätte.“

„Ach, so weit geht dein Glaube dann doch nicht“

„Das ist kein Glaube, Sven! Sieh bei Gelegenheit mal im Internet nach unter Stephen Wiltshire, genannt die lebende Kamera! Dann werden dir Branagorns Fähigkeiten kaum noch fantastisch vorkommen!“ Anna atmete tief durch. Ihr war durchaus klar, auf welch dünnem Eis sie argumentierte. Nicht etwa, weil es an den Savants und ihren Fähigkeiten Zweifel gab oder weil es ihr zweifelhaft erschien, dass Branagorn tatsächlich jemanden allein an den Augen wiederzuerkennen vermochte. Es gab genügend gut dokumentierte Fälle in der Fachliteratur, die noch weit erstaunlichere Fähigkeiten gezeigt hatten. Aber was nützte es, wenn Branagorn tatsächlich bei einer Gegenüberstellung auf jemanden zeigte und behauptete, er sei der Pest-Arzt von der Planwiese? Damit war noch lange kein Mord bewiesen, geschweige denn ein Zusammenhang zwischen der so identifizierten Person und den Taten des Barbier hergestellt. Aber vielleicht war es ein Anfang. „Also, wenn du da nichts machen willst, werde ich mich mal in Lengerich melden, um herauszufinden, ob irgendjemand von den Personen, die die da inzwischen an den Stellwänden hängen, vielleicht zur passenden Zeit einen Aufenthalt dort hatten! Leichter wäre es natürlich, wenn ihr das machen würdet – von wegen Schweigepflicht und so.“

„Nein, das sollte schon seinen regelgerechten juristischen Gang gehen“, meinte Haller. „Ich kümmere mich darum.“

Anna deutete auf den Obduktionsbericht. „Steht da noch irgendetwas Interessantes drin?“, hakte sie nach.

„Wie man's nimmt.“

„Was soll das heißen?“

„Verschiedene Spuren an der Leiche weisen darauf hin, dass der Täter eher klein gewesen sein könnte. Aber das wussten wir ja eigentlich auch schon vorher. Es ist nur eine Bestätigung.“

„Das passt doch zu Branagorns Aussage!“

„Anna, das war keine Aussage, sondern wirres Zeug!“

In diesem Moment betrat ein übergewichtiger Mann in einem viel zu engen kobaltblauen Anzug den Raum. Der größte Teil des Kopfes war kahl, aber es gab einen Haarkranz in Höhe der Ohren, der aus ungebändigten Locken bestand, was seiner gesamten Erscheinung eine etwas skurrile Note gab. Anna hatte ihn schon des Öfteren bemerkt, wusste aber bisher nur, dass er von den anderen Wolli genannt wurde. Außerdem war er offenbar im Innendienst tätig. Sein Rang, seine genaue Funktion innerhalb des Teams und sein vollständiger Name waren ihr jedoch bisher verborgen geblieben, was für Anna die Schwierigkeit mit sich brachte, dass sie nicht wusste, wie sie ihn ansprechen sollte. Die Zahl ihrer durch Umstände oder die selbstherrliche Anordnung von Sven Haller gestifteten Duzfreundschaften wollte sie keineswegs noch vergrößern.

„Was gibt’s, Wolli?“, fragte Haller.

„Du hast doch gesagt, ich sollte mal diesen Timothy Winkelströter genauer unter die Lupe nehmen.“

„Und? Ist dabei was herausgekommen?“

„Er scheint eine nicht unwesentliche Rolle in einer sehr dubiosen Sekte zu spielen, die sich die 'Neuen Templer' nennt und eine Art Heidentum der Moderne propagiert.“

„Von mir aus soll jeder glauben, an was er will“, erwiderte Haller wenig interessiert. „Hat irgendetwas davon mit unserem Fall zu tun?“

„Schwer zu sagen“, meinte Wolli. „Also erstens ist diese Sekte mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Es ging dabei zumeist um Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz, Anzeigen wegen Betruges und Steuerhinterziehung. Es gab sogar ein Verfahren wegen Verdachts der Geldwäsche, das aber nicht zu einer Verurteilung geführt hat. Der springende Punkt ist wohl, dass die 'Neuen Templer' recht zweifelhafte spirituelle Heilmethoden für alle möglichen Krankheiten und Gebrechen anbieten. Auch Hilfe für psychische Leiden kann man dort bekommen, wenn ich den Internet-Auftritt richtig verstanden habe. Allerdings werden dafür Summen verlangt, die alle regulären Ärzte und Psychiater vermutlich vor Neid erblassen ließen ...“ Wolli wandte sich an Anna. „Dieser Timothy Winkelströter ist gewissermaßen ein Kollege von Ihnen. Er gibt Kurse in „positiver Ich-Findung“ - was immer das auch sein mag!“

„Ich habe von den 'Neuen Templern' schon mal etwas gehört“, sagte Anna.

„Inwiefern?“, fragte Haller.

„Vor etwa anderthalb Jahren hatte ich eine Patientin, die über mehrere Jahre dort Mitglied war und durch okkulte Praktiken einer Art Hirnwäsche unterzogen und zutiefst traumatisiert worden war. Unter anderem wurden mir Rituale geschildert, bei denen Sektenmitgliedern die Haare abgeschnitten wurden. Insbesondere dann, wenn sie sich der Macht Baphomets verschlossen.“

„Auf der Homepage stand aber nur was von Heilsteinen und so“, warf Wolli ein.

„Natürlich!“, erwiderte Anna. „Die 'Neuen Templer' betrachten sich ja als Nachfolger der Tempelritter, denen man die Verehrung eines stierköpfigen Dämons namens Baphomet vorwarf, um den Orden auflösen und dessen Vermögen konfiszieren zu können. Der Baphomet-Kult gehört zum geheimen Teil dieses Glaubens – falls man ihn so bezeichnen möchte.“

„Und wie würdest du es bezeichnen?“, fragte Haller.

„Psychoterror und Ausbeutung. Letztere geschieht sowohl psychisch als auch finanziell. Dieses Ritual, von dem ich gerade sprach, ist eine Art negativer Exorzismus. Der Dämon wird nicht ausgetrieben, wie es früher in der katholischen Kirche üblich war, sondern umgekehrt: Die Seele soll für Baphomet geöffnet werden, damit er in sie hineinfahren kann ...“ Anna stockte bei den letzten Worten. Sie hatte lange nicht mehr an Linda Meyer-Braksiek gedacht, die seinerzeit bei ihr Hilfe gesucht hatte. Letztlich allerdings erfolglos, denn sie wurde schließlich mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrer Badewanne gefunden. Anna erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie davon erfahren hatte. Ein knochentrockener Polizeiobermeister hatte ihr die schlechte Nachricht übermittelt. Auch die sonore, warme Stimme hatte dabei nicht irgendetwas abzumildern vermocht. Anna hatte ernsthaft darüber nachgedacht, den Beruf aufzugeben. Schließlich war sie doch offensichtlich gescheitert! Sie hatte Linda Meyer-Braksiek nicht so weit psychisch stabilisieren können, dass sie die Fähigkeit erlangte, unabhängig von den 'Neuen Templern' ihr Leben zu fristen. Dass die Sekte die junge Frau nach ihrem Weggang mit einer Flut von Klagen überzogen hatte und damit sicherlich auch ihren Beitrag zum völligen seelischen Zusammenbruch geleistet hatte, stand auf einem anderen Blatt. Erst durch eine intensive Supervision durch einen erfahreneren Kollegen, gelang es schließlich, Anna davon zu überzeugen, dass dieser Fall für sie kein Grund sein durfte, den Beruf, für den sie doch alles gegeben und alles eingesetzt hatte, aufzugeben. Nicht alles, was man tat, konnte gelingen!, hielt sich Anna seitdem jeden Tag mindestens einmal vor Augen.

Haller wandte sich unterdessen an Wolli. „Wo hat denn diese Sekte ihr Hauptquartier oder wie immer man das nennen will?“

„Die Zentrale ist in Osnabrück. Dort haben sie auch eine alte Villa angemietet, in der sie ihr Schulungs- und Therapiezentrum eingerichtet haben“, sagte Wolli und ließ suchend den Blick schweifen. „Habt ihr zufälligerweise noch Kaffee, der nicht kalt und auch nicht zu dünn ist?“

Haller ging darauf nicht weiter ein. „Dass die Rituale, die diese sogenannten 'Neuen Templer' praktizieren, was mit kahlen Schädeln zu tun haben, ist schon eine sehr auffällige Parallele zu dem, was dieser irre Mörder macht“, stellte er fest und war dabei sehr nachdenklich geworden. „Vielleicht sollten wir uns doch mal genauer ansehen, was die so treiben.“

„Fragen wir doch einfach Timothy Winkelströter“, schlug Anna vor. „Der muss es doch eigentlich wissen!“

Elbenmagie in Borghorst

„Lange ist es her“, murmelte Branagorn, während er mit der Regionalbahn von Münster nach Steinfurt fuhrt. Ein älterer Mann in einem Jackett, das dem völlig unmodischen Schnitt nach uralt sein musste, aber offenbar selten getragen und gut gepflegt war, saß ihm gegenüber. Dazu trug er eine Baseballmütze. Schon die ganze Zeit hatte der alte Herr Branagorn misstrauisch gemustert. Ein Elbenkrieger, der auch noch im Sommer einen relativ warmen Umhang trug, unter dem dann auch noch ein Schwertgriff hervorschaute - das war für ihn einfach nicht so richtig einzuordnen.

Noch viel mehr wunderte sich der alte Herr, als sein Gegenüber plötzlich anfing, eigenartige Silben aneinanderzureihen. Für Branagorn war das eine elbische Stärkungsformel. Denn Stärke, so glaubte der Elbenkrieger, konnte er jetzt dringender als je zuvor gebrauchen, zumal ihm ja auch sein bevorzugtes Schwert Nachtmahrtöter nach wie vor nicht zur Verfügung stand.

Jener Klinge auf seinem Rücken hatte er inzwischen den Namen Feind des Traumhenkers gegeben. Einer Klinge einen Namen zu geben, verlieh ihr zusätzlich Macht. Dies erst im Hinblick auf eine ganz bestimmte Aufgabe zu tun, in der die Waffe sich zu bewähren hatte, bedeutete erst recht, dass zusätzliche Kräfte wachgerufen wurden. Reserven, von denen der Betreffende vielleicht nicht einmal geahnt hatte, dass es sie überhaupt gab.

„Sagen Sie, Sie sind aber nicht von hier, oder?“, fragte der alte Mann.

Branagorn sah ihn etwas irritiert an. Sollte er diesem Mann erwidern, dass er vor tausend Jahren schon einmal hier gewesen war und für Kaiser Otto III die Urkunde angefertigt hatte, mit der dieser die Gründung des Stiftes Borghorst bestätigte? Nein, besser nicht, entschied er. Es war nicht immer ratsam, die Wahrheit allzu unverblümt zu sagen. Das hatte er inzwischen gelernt. Man musste es vermeiden, seinem Gegenüber vor den Kopf zu stoßen, wobei Branagorn zugeben musste, dass ihm das keineswegs immer gelang. Schließlich wirkte schon seine Kleidung, sein Auftreten und seine Ausdrucksweise auf mache Zeitgenossen wie die pure Provokation.

„Ich war schon einmal hier, aber es ist lange her“, sagte Branagorn.

„Ich meine ja nur, wenn ich Sie so ansehe.“

„Was meint Ihr damit?“

„Na ja – wir im Münsterland gelten ja als stur und dickfellig – aber dat wir nich mitkriegen täten, dat man man im Sommer oder meinetwegen sogar Frühherbst kein Karneval mehr mehr feiert – dat halte ich für'n Gerücht!“

„Mir dünkt, dass ich niemals Karneval gefeiert habe“, erwiderte Branagorn. „Der Auflauf der Massen und ihr schrilles Geschrei sind mir zuwider.“

„Sie reden eigenartig. Kommen Sie aus den neuen Bundesländern? Oder sind Sie ein Türke mit gefärbten Haaren? Heute sieht ja nichts mehr so aus, wie es eigentlich ist.“

„Ihr müsst verzeihen, aber Eure Sprache ändert sich so schnell, dass manchmal nur Augenblicke zu vergehen scheinen, ehe sie sich so gewandelt hat, dass man Gefahr läuft missverstanden zu werden.“

„Ja, dat ist wohl wahr“, stimmte der Mann zu. „Was die heute so für Ausdrücke benutzen, da kommt unsereins nich mit!“

„Ich nehme an, dass Ihr das Marienkrankenhaus in Borghorst kennt – angesichts der deutlichen Zeichen des Alters, die Euer Leib trägt, nehme ich an, dass Ihr es hin und wieder aufsuchen müsst.“

Der alte Herr runzelte die Stirn. „Wie kommen Sie mir denn? Ich bin fit wie ein Turnschuh, auch wenn meine Treter schon etwas abgelaufen sind. Aber für neue Schuhe bin ich zu geizig, die könnte ich ja nicht mehr richtig ablaufen, das sag ich immer auch, wenn meine Frau sagt: Schmeiß die alten, schief gelaufenen Dinger weg, da fällst du nur mit.“ Er beugte sich etwas vor. „Wie kommen Sie denn jetzt auf dat Krankenhaus?“

„Ich bin unterwegs dorthin.“

„Wat Ernstes? Na, ich will nich indiskret sein. Ich bin nur ab und zu da, um die Blutwerte überprüfen zu lassen und wegen Rücken. Ich hab nämlich Rücken, aber nix Ernstes. Wie gesagt: Fit wie'n Turnschuh, nur dürfen Sie sich meine Turnschuh nich ansehen, die usseligen Dinger.“

„Wenn Ihr öfter in diesem Hospital weilt, dann kennt Ihr gewiss auch eine Krankenschwester namens Nadine Schmalstieg!“

Eine tiefe Furche erschien nun auf der Stirn des alten Herrn und teilte sie mehr oder minder exakt in zwei gleich große Hälften. „Also ich bin ja schon froh, wenn ich den Namen vom Arzt behalten kann. Die Schwestern kann ich mir nicht auch noch merken! Das überfordert meine kleinen grauen Zellen. Außerdem: Wenn die sich alle erst vorstellen würden, bevor sie einem Blut abzapfen oder sowat, da bräuchte die Ambulanz ja wohl ein doppelt so großes Wartezimmer!“

„Häufig tragen die mildtätigen Helfer im Hospital Schilder mit ihrem Namen an der Kleidung. Ich könnte mir denken, dass dies hier in Borghorst auch so sein könnte.“

„Ja schon – aber die soll ich mit meinen Matschaugen erkennen? Ich bin nämlich kurz- und weitsichtig. Und das heißt, wenn ich eine Brille aufsetze, habe ich immer die falsche auf – und von Gleitsicht wird mir schwindelig. Darum setze ich besser gar keine Brille auf, was dazu führt, dass ich nur das richtig lesen kann, was exakt im richtigen Abstand ist. Die Schnörkelbuchstaben auf dem Amulett um ihren Hals kann ich zum Beispiel klar erkennen. Das heißt Coca Cola, vermute ich mal. Aber wenn ich mich jetzt etwas zurücklehne oder Sie das tun, dann passt dat schon wieder nich.“ Er kratzte sich am Kinn und schüttelte den Kopf. „Also eine Schwester Nadine Schmalstieg ist mir nicht begegnet. Ich glaube, das hätte ich mir auch gemerkt, denn meine falsche Enkelin heißt auch Nadine. Also – falsch deswegen, weil die eigentlich nur durch die Patchworkfamilie meines Schwiegersohnes gewissermaßen importiert worden ist, aber trotzdem Opa zu mir sagt.“

„Ja, die Zeiten sind verworren und schwierig“, erwiderte Branagorn.

„Aber einen Tipp kann ich Sie noch geben, wenn Sie ins Marienhospital kommen!“

„Jeder Ratschlag ist mir willkommen - und ganz besonders der Eure, edler Herr.“

„Wenn Sie Probleme mit der Verdauung haben – dann gehen Sie nicht zu Dr. Freckenbrede!“ Der alte Herr verzog das Gesicht, als gäbe es da unaussprechbare Grausamkeiten, die er auf keinen Fall über die Lippen bringen konnte. Er sagte nur dreimal stoßgebetsartig: „Ne! Ne! Ne!“ - jeweils mit einem abgehackten, kurzen, aber hell gesprochenen 'e' am Ende des Wortes, das eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Hecheln eines Hundes hatte.

*

Später betrat Branagorn das Marienhospital von Borghorst. Borghorst hatte gegenüber Burgsteinfurt, dem anderen, größeren und wichtigeren Stadtteil von Steinfurt, in nahezu jeder Hinsicht den Kürzeren gezogen. Die Vereinigung der beiden Städte war im Grunde eine Eingemeindung von Borghorst nach Burgsteinfurt gewesen. Burgsteinfurt war auch vorher schon Kreisstadt gewesen, nur dass der Kreis anschließend etwas größer geworden war. Nicht mal die Reformation hatte es bis Borghorst geschafft, denn im Gegensatz zu Burgsteinfurt war Borghorst so etwas wie eine katholische Insel, wo es Prozessionen mit Weihrauch, Karneval und all die anderen Dinge gab, die die reformierten Spaßbremsen, für die das Leben ein Jammertal war, abgeschafft hatten. Aber immerhin gab es in Borghorst das Marienhospital – und das war mit seinen 500 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber der Stadt.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt die Stimme im Glaskasten an der Pforte des Marienhospitals. Sie gehörte einer beleibten Mittdreißigerin mit gelockten blonden Haaren und freundliche Augen.

„Ich suche eine Krankenschwester“, sagte Branagorn.

„Nun, davon gibt es bei uns viele. Haben Sie Beschwerden und wollen Sie zur Notaufnahme? Oder sind Sie hier, um jemanden zu besuchen.“

„Ich suche Nadine Schmalstieg. Sie arbeitet hier als Krankenschwester.“

„Also hier arbeiten so viele Menschen, die kenne ich nicht alle persönlich und mit Namen“, sagte die Frau mit den Locken.

„Ich muss Nadine Schmalstieg dringend sprechen und wäre Euch sehr dankbar, wenn Ihr mir in dieser Angelegenheit helfen würdet!“

„Sind Sie ein Verwandter oder ein Freund? Ich meine, Sie kommen hier einfach her ...“

„Ich bin ein wohlmeinender Freund und es geht um Leben und Tod, werte Frau Kemper!“

Sie trug ein gut lesbares Namensschild an ihrer Kleidung – Ilona Kemper.

Sie beugte sich vor und musterte Branagorn nun stirnrunzelnd von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Von den spitz zulaufenden und leicht nach oben gebogenen Spitzen der Wildlederstiefel bis zu dem Schwertgriff, der über seiner rechten Schulter unter dem Umhang hervorragte. Anschließend blieb ihr Blick einige Augenblicke an dem gusseisernen Elbenrunen-Amulett hängen. Nachdem sie es wohl aufgegeben hatte, darin irgendeine für sie unmittelbar erfassbare Bedeutung erkennen zu wollen, lehnte sie sich wieder zurück, sodass sie nun nicht mehr Gefahr lief, mit der Stirn gegen das Glas zu stoßen, das sie beide voneinander trennte.

„Gehören Sie zu der Laienspieltruppe, die die kranken Kinder unterhalten soll? Dafür ist aber jemand anders zuständig als ...“

„Nein, nein, Ihr missversteht mich! Ich bin keineswegs ein Gaukler zur Belustigung der Genesenden.“

Ilona Kemper blätterte in ihren Unterlagen herum und wirkte auf einmal etwas hektisch. „Ach, Entschuldigung! Nicht Laienspieltruppe, sondern Kasperletheater! Ich habe mich wohl vertan. Allerdings frage ich mich, was Ihre Verkleidung dann soll.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber es ist für die Kinder ja vielleicht ganz lustig, wenn die Puppenspieler verkleidet sind. Ich darf Sie dann an meine Kollegin verweisen. Einen Augenblick bitte!“

„Ich darf Euch höflichst mitteilen, dass Ihr mich offenbar vollkommen missverstanden habt!“, erklärte Branagorn dann in einem Tonfall, der an Bestimmtheit nichts zu wünschen übrig ließ. „Bitte sagt mir, wo ich Nadine Schmalstieg finde. Für den Fall, dass Ihr nicht willens oder in der Lage seid, mir in dieser Angelegenheit zu helfen, werde ich mich selbst auf die Suche machen.“

„Hören Sie, Herr ...“

„Anscheinend habe ich mich getäuscht und Eure Kenntnisse und Fähigkeiten überschätzt. Das mögt Ihr mir verzeihen.“ Branagorn deutete eine Verbeugung an und ging dann mit weiten Schritten voran. Eine transparente Tür öffnete sich selbsttätig.

„Warten Sie!“, rief Ilona Kemper. „Sie können da nicht einfach hinein! Das geht nicht!“

Aber der Elbenkrieger nahm sie gar nicht weiter zur Kenntnis. Die Frau mit den gelockte Haaren beeilte sich, aus ihrem Glaskasten herauszukommen. „Vielleicht kann ich Ihnen ja doch helfen“, behauptete sie. Branagorn blieb stehen. Ilona Kemper holte ihn ächzend ein. Sie musste erst einmal wieder zu Atem kommen und rang nach Luft.

„Sie können hier nicht einfach herumlaufen, wie Sie wollen, Herr ...“

„Mein Name ist Branagorn, Herzog von Elbara.“

„Ich meine, Ihren echten Namen!“

„Nun, man nennt mich bisweilen auch Schmitt.“

„Gut, Herr Schmitt. Und Sie haben ein privates Anliegen an Schwester Nadine?“

„So ist es. Ich habe eine sehr persönliche Botschaft zu überbringen.“

„Sind Sie so etwas wie eine Geburtstagsüberraschung oder so? Ich meine, da hört man ja viel von diesen Agenturen, wo man von der Stripperin, die aus der Torte springt, bis zum Nikolaus, der ein Gedicht aufsagt, alles buchen kann, wovon man glaubt, dass jemand Freude daran hat.“

„Die Zeit drängt. Wie kann ich Nadine Schmalstieg finden?“

Ilona Kemper schnippte mit den Fingern. „Ich wette, es waren die Kollegen von der Station. Aber ich finde, das nimmt langsam Überhand! Für den alten Chefarzt ist neulich der ganze Kirchenchor gekommen! 50 Personen! Und nur, um ein Ständchen zu bringen! Ich habe das ja nicht zu entscheiden und wenn so was an der Spitze erlaubt wird, dann nehmen sich das irgendwann alle raus! Während der Arbeitszeit sollte so etwas tabu sein, wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen. Aber leider hört ja niemand auf mich.“

„Ich höre durchaus Eure Worte. Aber die Zeit drängt. Ich will nicht ungeduldig erscheinen, doch meine Botschaft ist wirklich von höchster Dringlichkeit!“

Ilona Kemper zwinkerte Branagorn zu und sagte in verschwörerischem Tonfall: „So folgt mir, edler Herr, damit ich Euch Hilfe angedeihen lassen kann!“

„Ich stelle fest, wir sprechen eine Sprache, werte Frau Kemper!“

„Na, wenn Sie jetzt noch anfangen würden, die Laute zu zücken und Minnelieder zu singen, dann könnte Ihrem Charme wahrscheinlich niemand widerstehen!“

Branagorn folgte Ilona Kemper zurück zum Eingang. Sie passierte die Tür zu dem gläsernen Kubus, in dem sich ihr Büro befand und begann in ein paar Listen nachzusehen, die sie anscheinend griffbereit zur Hand hatte.

„Ah ja. Nadine Schmalstieg arbeitet auf der 6. Ich ruf da einfach mal an. Dann sehen wir weiter.“

Sie griff zum Hörer. Branagorn sah ihr ungerührt dabei zu. Sein Blick wirkte abwesend. Er schien in seine eigene Gedankenwelt versunken zu sein.

„Ja, ich verstehe“, sagte Ilona Kemper inzwischen schon zum zweiten Mal mit einer immer deutlicher hervortretenden Falte auf der Stirn. Dann legte sie auf und wandte sich an Branagorn. „Herr Schmitt, Schwester Nadine hat heute etwas früher Schluss gemacht und ein paar Überstunden abgefeiert. Es tut mir leid. Sie ist nicht im Haus.“

„Mir dünkt, dass Ihr dafür nichts könnt, werte Frau Kemper!“

„Tja, ich kann Ihnen leider wohl doch nicht weiterhelfen, werter Herzog von Schmitt oder wie Sie sich nennen.“

„Könnt Ihr mir den Weg zu ihrem Heim beschreiben? Ich kenne nur die Adresse, war aber viele Zeitalter nicht mehr hier in der Stadt.“

„Nein, tut mir leid, dass kann ich nicht“, erklärte Ilona Kemper nun mit einem veränderten Gesichtsausdruck. Sie schien misstrauisch geworden zu sein. „Und um ehrlich zu sein, weiß ich auch nicht so ganz, was ich davon nun halten soll.“

„Falls meine Bitte ungebührlich war, so verzeiht mir und habt Dank für die Hilfe, die Ihr mir trotz alledem habt angedeihen lassen.“

*

Branagorn verließ mit langen Schritten das Marienhospital. In unmittelbarer Nachbarschaft befanden sich ein großer Parkplatz und das Café Mauritius. Branagorn blieb einen Moment lang stehen und ließ den Blick schweifen. Sein Handy klingelte. Nein, ich werde dem sprechenden Artefakt jetzt keine Bedeutung zumessen!, nahm er sich vor. Er war auf das Höchste konzentriert und konnte jetzt keinerlei Ablenkung gebrauchen. Darüber hinaus gab es nur eine einzige Person, die seine gegenwärtige Handynummer kannte – und das war Anna van der Pütten, die er als Seelenträgerin seiner geliebten Cherenwen zu erkennen glaubte. Nur sie konnte es sein, aber wenn er jetzt mit der Frau sprach, deren Seele ihm schon in einer anderen Welt so sehr verbunden gewesen war, so konnte er gewiss seine Konzentration nicht mehr aufrechterhalten. Zu aufwühlend wäre das gewesen. In diesem Punkt hegte er keinerlei Zweifel. Also ließ er das sprechende Artefakt klingeln, bis es von selbst aufhörte. Er war unschlüssig darüber, was er tun sollte. Nadine Schmalstiegs Privatadresse aufsuchen? Er bemerkte einen großformatigen Stadtplan in einem Schaukasten, ganz in der Nähe des Cafés Mauritius. Das wird mir helfen!, ging es ihm durch den Kopf.

Dann, als er den Blick auch über den Parkplatz schweifen ließ, bemerkte er etwas, was ihn stutzen ließ. Eine Frau und ein Mann. Die Frau wollte offenbar in einen Wagen steigen, denn dessen Tür war offen. Ihr Gesicht konnte Branagorn nicht sehen, denn sie wandte ihm den Rücken zu. Aber den Mann konnte er dafür umso besser erkennen. Er war nicht viel größer als sie und anhand des Größenverhältnisses zu den Dächern der benachbarten Kleinwagen schätzte er ihn auf ungefähr ein Meter siebzig. Die langen, dunklen Haare, der Ledermantel und die Ringe, die man sehen konnte, wenn er die Hand hob – nein, Branagorn hatte selbst auf die Entfernung hin nicht den kleinsten Zweifel, dass er niemand anderen als Timothy Winkelströter sah, dessen Gesicht er zuletzt in einer noch sehr viel jugendlicheren und weniger haarigen Version auf der Stellwand im Polizeipräsidium gesehen hatte.

Timothy Winkelströter hob sehr häufig seine Hände, denn er gestikulierte wild herum. So hoch ausholend, dass oft genug sogar der Ärmel seines Ledermantels hervorschaute, unter dem er nur ein schwarzes T-Shirt trug, dessen Aufdruck der Tätowierung in allen wesentlichen Details entsprach. Ein Stierkopf auf einem Kreuz. Und dieses Kreuz hatte acht Spitzen wie das Kreuz der Tempelritter! Dieses Detail entging Branagorn natürlich nicht. Manche Zeichen wurden eben immer wieder in wechselnden Zusammenhängen und in verschiedenen Zeitaltern benutzt. Man durfte sich nicht täuschen lassen!, wusste Branagorn. Die Bedeutung blieb keineswegs konstant. Sie verkehrte sich manchmal sogar in ihr Gegenteil. Dann drehte sich die Frau um. Branagorn konnte jetzt mehr sehen, als nur die Rückseite eines kecken Pagenschnitts. Er war sich nun vollkommen sicher, dies war Nadine Schmalstieg – auch wenn sie seit ihrer ersten Begegnung die Haarfarbe geändert hatte. Ihr Haar war nun rotbraun und nicht mehr dunkelbraun.

Nadine stieg in den Wagen. Sie knallte die Tür.

Timothy Winkelströter wischte sich mit der Hand über die Stirn und schüttelte den Kopf. Dann zog er seinen Ledermantel aus, öffnete ebenfalls die Tür seines Wagens und warf den Mantel auf den Rücksitz. Dann stieg er ein.

Jetzt, dachte Branagorn, werde ich Eile walten lassen müssen!

*

Nadine Schmalstieg trat mit aller Kraft auf die Bremse. Ihr Wagen rutschte noch einen halben Meter über den Asphalt und ein quietschender Laut ertönte. Ein Laut, wie Branagorns empfindliche Ohren ihn hassten.

Urplötzlich war der Elbenkrieger auf die Ausfahrt des Parkplatzes zugelaufen, hatte sich mitten in den Weg gestellt und dabei die Arme ausgebreitet.

Nadine Schmalstieg öffnete die Tür.

„Sagen Sie mal, sind Sie wahnsinnig?“

Branagorn stand da, murmelte eine magische Formel und ließ den Klang seiner Stimme dröhnend anschwellen.

„Mann, ich rede mit Ihnen! Sie sind wohl lebensmüde – oder was?“

Ein zweiter Wagen stoppte. An dessen Steuer saß Timothy Winkelströter. Die Seitenscheibe glitt herab und er streckte den Kopf heraus. „Was ist los?“

„Werte Schwester Nadine! Ich muss mit Euch sprechen!“, sagte Branagorn. „Es ist dringend!“

„Was ist das für ein Spinner?“, rief Timothy Winkelströter.

Branagorn ging auf Nadine Schmalstieg zu.

„Lassen Sie mich zufrieden!“, sagte sie.

„Erkennt Ihr mich denn nicht? Erinnert Ihr Euch nicht der schönen Tage, da wir durch die Gärten zu Lengerich wandelten?“

Nadine Schmalstiegs Kinn klappte herunter. Ihre Augen wurden groß. Dann musste sie unwillkürlich schlucken und schüttelte fassungslos den Kopf. „Sie sind das, Herr Schmitt?“

„Auch wenn Ihr mich mit einem Namen ansprecht, dessen Klang das Ohr beleidigt, der aber in dieser Welt als gewöhnlich gilt, so sei den vergessenen namenlosen Göttern des Elbenvolkes dafür Dank, dass Ihr mich erkannt habt!“

Nadine kam jetzt etwas näher. „Herr Schmitt, bitte lassen Sie mich jetzt durchfahren. Sie können da nicht einfach stehen bleiben und den Verkehr aufhalten!“

„Kennst du den Spinner etwa, Nadine?“, fragte Timothy Winkelströter.

Nadine drehte sich kurz um, während Timothy jetzt erst den Motor abgestellt hatte und sich bequemte auszusteigen.

„Der ist harmlos, Timmi!“

„Das ist doch ein Irrer!“

„Timmi! Ich kenne den Mann. Als ich Schwesternschülerin in Lengerich war, da war er für 'ne Weile in der Psychiatrie, um wieder besser klarzukommen. Der ist liebenswert und harmlos, wenn auch ein bisschen ...“

„Plemplem!“, vollendete Timothy ihren Satz. Er stellte sich neben sie. „Also sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen und irgendwo anders Ihre Show abziehen!“

„Soweit ich sehe, sind wir uns von der Gewandung her gar nicht so unähnlich!“, erwiderte Branagorn. „Denn auch Ihr bevorzugt doch das Gebaren und die Kleidung einer vergangenen Epoche – wobei ich immerhin sagen kann, dass ich sie erlebt habe und es mir darum schwerfällt, mich innerhalb eines Jahrtausends an so viele modische Änderungen zu gewöhnen. Für Euch hingegen wären die Gewohnheiten Eurer eigenen Zeit vertrauter, und doch zieht Ihr es vor, ein Trinkhorn anstatt eines Glases zu heben! Mich bezeichnet Ihr als verrückt, doch gibt es für mein Verhalten eine logische Erklärung – für Eures doch keine andere als den Spieltrieb oder die Verweigerung gegenüber der Realität!“

„Dass müssen Sie gerade sagen!“, giftete Timothy.

„Jennifer Heinze war Euer beider Gefährtin – und der Traumhenker hat sie getötet! Darüber muss ich mit Euch reden! Das ist die Realität, der Ihr Euch stellen müsst! Ihr, holde Schwester Nadine – aber auch Ihr, Herr Timothy!“

„Herr Schmitt, woher wissen Sie das alles?“

„Die Sinne des Elbenvolks verleihen mir manchen Wissensvorsprung“, erwiderte Branagorn. Er wandte sich an Timothy. „Ihr wart doch dort, auf dem Markt zu Telgte, als es geschah! Ich habe Euch in der Menge gesehen. Feige verdrückt habt Ihr Euch dann, anstatt Euch den Hütern der Ordnung zu stellen!“

„So, jetzt reicht's, du Spinner!“, sagte Timothy und ging mit geballter Faust auf den regungslos dastehenden Branagorn zu. Es war nicht ganz eindeutig, ob nun der Anblick des unter dem Umhang hervorragenden Schwertgriffes oder aber Nadines beherzter Griff an seine Schulter ihn davon abhielten, noch einen Schritt weiter zu gehen und die Auseinandersetzung handfest fortzusetzen.

„Timmi, stimmt das? Du warst mit Jennifer auf dem Mittelalter-Markt in Telgte?“

„Hörst du diesem Typen zu, oder was?“

„Ist es wahr oder nicht?“

„Was spielt das denn für eine Rolle?“

„Mir hast du erzählt, du hättest mit ihr Schluss gemacht - und dann triffst du dich doch mit ihr auf der Planwiese!“

„Du hättest ja mitkommen können!“

„Ich hatte Dienst! Und außerdem wäre ich ja wohl definitiv übrig gewesen, drei sind sind eine zu viel! Ich hätte nur nicht gedacht, dass ich das bin!“

„Nadine, das ist nicht so, wie du denkst!“

„Doch, das ist genau so, wie ich es befürchtet habe! Schon als wir das erste Mal zusammen waren! Aber jetzt ist Schluss, ich mach das nicht mehr mit!“

„Bist du jetzt eifersüchtig auf eine Tote, oder was?“

„Das ist geschmacklos ... Timothy!“ - und dabei sprach sie seinen Namen auf eine Weise aus, dass dessen vollständige und sehr deutliche Nennung wie eine einzige große Anklage klang.

*

Jemand hupte. Inzwischen stand ein drittes Fahrzeug in der Ausfahrt. Es war ein silbergrauer Mercedes. Zur akustischen Unterstützung des Hupsignals ließ der Fahrer den Motor kurz aufheulen. „Geht's da irgendwann auch noch weiter?“, rief ein Rentner mit hochrotem Kopf. „Ich habe keine Lust, hier elendig lange zu warten!“

Nadine wandte sich an Branagorn. „Herr Schmitt, ich kann mich jetzt nicht um Sie kümmern, aber ...“

„Wir müssen miteinander reden, werte Heilschwester! Denn der Traumhenker wird in seiner Raserei nicht nachlassen! Er wird weiter töten und wer mag schon wissen, in wen er als nächstes fährt, um ihn zum Werkzeug des Bösen zu machen.“

„Nadine, wach auf, dieser Spinner ist bestimmt der Kerl, der dich dauernd anruft und verfolgt!“, meinte Timothy Winkelströter. „Du hast mich doch gefragt, ob es nicht langsam Zeit wäre, die Polizei anzurufen. Vielleicht wäre das der richtige Moment! Dann können die den Kerl mitnehmen und dahin zurückschaffen, wo er hingehört. Zu den Türmchen in Lengerich nämlich, damit man ihn wegsperren und in eine Zwangsjacke einschnüren kann, wie sich das gehört!“

„Wird das endlich was? Sonst hole ich die Polizei!“, rief jetzt der Rentner.

„Halt die Klappe, Alter!“, rief Timothy zurück, woraufhin der Rentner eine eindeutige Geste mit seiner flachen Handkante an seiner Gurgel entlangführte.

„Ich darf Euch alle um Mäßigung bitten, werte Herren und edle Dame!“, mischte sich Branagorn ein. Er begann eine Formel vor sich hin zu murmeln. Falls es der Sinn dieser Form von Magie gewesen war, die Situation zu entschärfen und die Beteiligten zu beruhigen, so wurde diese Absicht grundlegend verfehlt.

„Ist ja nicht zu fassen! Auch noch besoffen, der Kerl!“, rief der Rentner. „Lallt vor sich hin und blockiert den Verkehr!“

Nadine wandte sich nun an Branagorn. Sie nahm ihn an den Händen. „Herr Schmitt, ich kann mich jetzt nicht mit Ihnen unterhalten, das sehen Sie doch!“

Branagorn brach seine elbische Beschwörungsformel ab. „Eure Stimme ist klar und fein, aber das Böse lauert in Eurer Nähe. Ihr müsst mit mir sprechen! Über die Maske des Schwarzen Todes, die auch Euer Freund Timothy gesehen haben muss!“

„Nicht jetzt, Herr Schmitt!“

Nadine Schmalstieg schob Branagorn ein Stück zur Seite. „Ich muss jetzt dringend nach Hause. Aber eine Frage noch ...!“

Der Rentner hatte inzwischen sein Handy am Ohr. „Ich ruf jetzt die Polizei an. Das ist Nötigung!“, rief er und fluchte gleich darauf leise vor sich hin, weil er sich mit seinen dicken Fingern wohl mit dem Eintippen der Nummer vertan hatte.

„Fragt mich, was immer Ihr wollt, und ich werde Euch Rede und Antwort stehen – in der Hoffnung, dass auch Ihr mir meine Fragen beantworten werdet, Nadine!“, sagte Branagorn.

„Haben Sie mich in letzter Zeit angerufen?“

„Ich hätte niemals über das sprechende Artefakt Kontakt zu Euch gesucht, ohne Euch um Erlaubnis zu fragen, edle Nadine!“

„Das war war jemand mit Rufnummernunterdrückung!“

„Sein Zeichen zu verbergen ist ein Akt tiefster Niedertracht! Dass Ihr so etwas von mir erwartet, verletzt mich!“

„Tut mir leid, war nicht so gemeint. Es ist nur so, dass ich in gewisser Weise erleichtert gewesen wäre, wenn Sie ...“ Sie sprach nicht weiter. Es war unschwer zu erkennen, dass Furcht in ihr Aufstieg. „Sie würden mir nie etwas tun, das weiß ich, Herr Schmitt!“

„Nennt mich bei meinem eigentlichen Namen, werte Heilschwester! Nennt mich Branagorn!“

„Meinetwegen, Branagorn, aber Sie sehen doch, dass ich jetzt keine Zeit für Sie habe! Timmi und ich haben einiges zu klären und ....“

„Sagt mir nicht, dass es Euch nicht interessiert, dass bereits mehrere Frauen, die Euch gute Gefährtinnen gewesen sind und mit Euch die Leidenschaft für alte Gewandungen aus dem Zeitalter des Schwertes und der Magie teilten, von der Mörderseele hinweggerafft wurden, die vom Traumhenker zu einem Werkzeug gemacht worden ist! Ihr ahnt doch längst, dass das Töten weitergehen wird, und ich denke, dass Euch dies mindestens so nahegeht wie mir, der ich mit keinem der Opfer bekannt gewesen bin.“

„Und was, wenn ich fragen darf, haben Sie dann mit der Sache zu tun?“

„Ich kenne den Täter – und Ihr kennt Ihn auch! Wir haben die Augen der Mörderseele gesehen! Ihr müsst Euch erinnern, denn ich sah nichts anderes als die Augen, Ihr aber müsstet auch den dazugehörigen Namen kennen!“

„Sie kennen ... den Täter?“

„Ihr versteht mich anscheinend nicht!“

„Wundert Sie das? Herr Schmitt, ich meine Branagorn, so geht das nicht!“

„Ihr könnt mir nicht weismachen, dass Ihr an den Hintergründen nicht interessiert seid! Als Heilschwester seid Ihr es doch gewöhnt, dem Tod und dem Wahnsinn ins Gesicht zu blicken. Was sollte Euch also schrecken!“

In dem hochroten Gesicht des Rentners zeigte sich jetzt ein triumphierender Gesichtsausdruck. „Polizei kommt!“, rief er, während sich ein weiteres Fahrzeug einreihte, dessen Fahrer sich durch Hupen und Vogelzeigen bemerkbar machte.

Timothy fasste Nadine am Arm. „Los, wir machen jetzt die Bahn hier frei und fahren zu dir nach Hause! Da sprechen wir dann über alles – und dieser Verrückte hier sieht zu, dass er Land gewinnt!“

„Nein!“, sagte Nadine Schmalstieg nun mit großer Bestimmtheit und entwand sich Timothys Griff. „Lass mich los!“

„Nadine!“

„Ich will jetzt alles wissen – du hast mich offensichtlich angelogen! Jetzt will ich erst mal hören, was Herr Schmitt mir zu sagen hat!“ Nadine wandte sich an Branagorn. „Ich fahre durch die Einfahrt wieder auf den Parkplatz zurück und dann treffen wir uns hier im Café Mauritius!“

„Das ist mir sehr recht“, nickte Branagorn.

„Ich mach diesen Mist nicht mit!“, schimpfte Timothy.

„Das brauchst du ja auch nicht“, versetzte Nadine spitz.

„Du lässt dich doch jetzt nicht von dem Bekloppten da beeinflussen! Hallo! Das ist ein Patient! Jemand, den du offenbar aus der Klapse kennst und niemand, auf dessen Rat du hören solltest!“

„Ich weiß schon, was ich tue, Timmi. Aber du anscheinend nicht, denn sonst hättest du dich nicht noch mit Jennifer getroffen!“

„Du ist doch hysterisch!“

„Ja, kann sein! Dann bin ich eben hysterisch und drehe durch! Aber dafür bin ich wenigstens ehrlich!“

„Wie du willst!“

Timothy ging zu seinem Wagen, zeigte dem Rentner einen Stinkefinger, stieg ein und schlug die Tür so heftig zu, dass man befürchten musste, dass sie im nächsten Moment aus ihren Scharnieren fiel. Branagorn wich zur Seite. Nadine stieg ebenfalls in ihren Wagen, fuhr los und bog nach rechts ab, sodass sie gleich wieder zurück auf den Parkplatz gelangen konnte. Timothy Winkelströter hingegen brauste mit quietschenden Reifen und aufheulendem Motor nach rechts. Er trat das Gaspedal voll durch. Die ganze Wut, die er in sich hatte, schien er jetzt durch den Auspuff seines Wagens entladen zu wollen. Branagorn ging indessen zum Café Mauritius, denn er hatte keinerlei Zweifel daran, dass Nadine Schmalstieg wenig später dort eintreffen würde, und war schon wenige Augenblicke später von der Parkplatzausfahrt aus nicht mehr zu sehen.

Der Rentner mit roten Gesicht setzte seine Fahrt ebenfalls sehr aggressiv fort. Allerdings hatte er nicht die Gnade der Poole-Position, sondern den Fluch des späten Starts und das bedeutete, dass er beinahe dem anrückenden Dienstfahrzeug der Polizei in die Motorhaube fuhr.

Ein Beamter stieg aus.

Der Rentner ließ die Seitenscheibe herunter und ein chaotischer Wortschwall sprudelte dann nur so aus ihm heraus. Sein Kopf wurde dabei so dunkelrot, dass man sich Sorgen um die Gesundheit des Mannes machen musste. Aber zur Not war ja eine Klinik in unmittelbarer Nachbarschaft.

„Nun beruhigen Sie sich doch bitte“, sagte der Beamte. „Ich habe nichts verstanden. Sind Sie der Herr, der angerufen hat? Was sagen Sie? Ein Krieger mit einem Schwert? Der hat den Weg versperrt? Ah, ja ... Dann fahren Sie doch mal bitte dort auf den Bürgersteig ... Haben Sie heute schon was getrunken? Oder nehmen Sie Medikamente?“

Als der Mercedes sich dann langsam in Bewegung setzte und so auf dem Bürgersteig zu stehen kam, dass das nachfolgende Fahrzeug vorbeikonnte, griff der Polizist zu seinem Funkgerät. „Hallo Zentrale? Könnt Ihr mir mal jemanden vom sozial-psychologischen Dienst schicken?“

*

Branagorn betrat das Café und setzte sich an einen der Tische. Nadine folgte ihm wenig später und setzte sich zu ihm. Sie bestellte eine Latte Macchiato. Branagorn hingegen nahm nur ein Wasser ohne Kohlensäure. „Es gab Zeiten, da hatte kein Wirt es gewagt, für ein Glas Wasser eine Münze zu verlangen“, meinte der Elbenkrieger. Dann musterte er Nadine eingehend und auf eine Weise, die ihr schon fast unangenehm war. Diesem sehr intensiven und fokussierten Blick schien keine Unreinheit und kein Mitesser zu entgehen. „Es ist schon eine ganze Weile her, dass wir uns zuletzt begegnet sind, werte Heilschwester“, sagte er.

„Ja, das ist vor mindestens sieben Jahren gewesen. Eher acht. Irgendwas dazwischen.“

„Ihr habt mir damals freudestrahlend mitgeteilt, dass Ihr eine Stelle am Marienhospital zu Borghorst bekommen habt, nachdem Eure Ausbildung abgeschlossen und die Prüfung bestanden war.“

„Und daran haben Sie sich erinnert?“

„Ich wäre sonst nicht hier. Nein, das ist nicht ganz richtig. Es gibt noch einen anderen Grund, denn ich sah Euch zuerst auf einer Stellwand wieder, die in einem Gebäude steht, dass sich Polizeipräsidium nennt und wo die Hüter der Ordnung ihr Heim haben. Man weiß um Euch. Man kennt Euren Namen, aber es gibt offensichtlich mehrere Personen, die diesen Namen tragen. Ich hingegen wusste sofort, dass Ihr es seid!“

„Sagen Sie mir, was Sie wissen, Branagorn – und was Sie mit der ganzen Sache zu tun haben“, verlangte Nadine.

„Ich – herzlich wenig, wenn Ihr mal von der Tatsache abseht, dass ich Morde verhindern und einem üblen Geist, der unglücklicherweise mich zu seiner Gesellschaft erkor, das Handwerk legen will.“

„Tja, ich weiß ehrlich gesagt nicht so recht, was ich dazu sagen soll ...“

„Es gibt ein Bild, dessen Urheber Ihr sein sollt und das im Audienzsaal der Ordnungshüter neben vielen anderen hängt. Es zeigt Eure Freunde in der Gewandung aus der Zeit des Schwertes. Der werte Herr Timothy ist darunter. Aber auch Jennifer Heinze, Chantal Schmedt zur Heide, Elvira Mahneke, Franka Schröerlücke und Jana Buddemeier – all jene Jungfrauen, die in den letzten siebeneinhalb Jahren der Mordlust des Traumhenkers zum Opfer gefallen sind!“

„Ein Bild?“

„Es stammt aus dem Buch der Gesichter.“

„Buch der Gesichter? Ach, meinen Sie Facebook? Da bin ich schon lange nicht mehr gewesen. Ich hab mein Passwort vergessen und ehrlich gesagt, habe ich mich schon eine ganze Weile nicht mehr um meinen Account gekümmert.“

„Wer ist Sarah?“, fragte Branagorn.

„Wie?“

„Es ist eine unbekannte Person zu sehen, die Sarah heißt. Wie ist ihr zweiter Name, sodass man sie unterscheiden und Ihren Wohnort erfahren kann?“

„Ich verstehe nicht, was das mit den Morden zu tun hat?“

„Macht es Euch keine Angst, werte Nadine, dass Menschen, die Euch bekannt sind, der Reihe nach dahingerafft werden, als würde eine Seuche sie zu ihren Opfern machen? Aber es ist ein böser Geist, der dies tut – und keine Gewalt der Natur!“

„Es wäre einfacher, wenn Sie sich normal ausdrücken würden. Tut mir leid, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber damals in Lengerich war ich besser an dieses Gerede gewöhnt, das ...“ Sie stockte und entschied sich offenbar dagegen, den Rest des Gedankens laut auszusprechen.

„Der Maßstab dessen, was Wahnsinn ist und was einer besonderen Gabe entspricht, ist der Zeit und der Welt geschuldet, in der man lebt“, sagte Branagorn. „Ihr solltet mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich nur das Beste für Euch will und dass der einzige Beweggrund für mich, mit Euch in Kontakt zu treten, die echte Sorge um Euch ist.“

„Sie sind niemand, vor dem ich Angst hätte“, stimmte Nadine ihm zu. „Davon abgesehen, scheinen Sie sich seit damals auch überhaupt nicht verändert zu haben!“

„Das liegt an meiner Natur. Wir Unsterblichen ändern uns nicht, während man Euch die Spuren der letzten Jahre durchaus ansieht.“

Nadine seufzte. „Ich hatte wirklich heute schon genug Stress, da habe ich das gerade nicht gebraucht!“, meinte sie. „Offenbar hat auch der Mittelalter-Charme eines Elbenkriegers seine Grenzren ...“

„Wer ist Sarah?“, kehrte Branagorn nun noch einmal. „Eine Person auf dem Bild trägt den Namen Sarah.“

Nadine zuckte die Schultern. „Das kann nur Sarah Aufderhaar gewesen sein. Eine andere Sarah kenne ich nicht.“

„Was könnt Ihr mir über Sarah Aufderhaar sagen?“

„Sie wohnt hier in Borghorst in der Nordwalder Straße. Hausnummer habe ich vergessen. Ich glaube, sie arbeitet immer noch in der Kreisverwaltung in Burgsteinfurt. Da ist man ja unkündbar und ich glaube, sie überarbeitet sich da auch nicht gerade. Ehrlich gesagt, habe ich sie schon länger nicht gesehen. Meinen Sie, dass der Täter es auch auf sie abgesehen haben könnte?“

„In diesem Punkt versagen meine Elbensinne leider“, erklärte Branagorn.

Nadine lächelte. Zum ersten Mal während ihres Gesprächs lächelte sie. „Wieso? Haben Sie mir damals nicht gesagt, dass ein Elbenkrieger mitunter sogar die Gedanken anderer lesen könnte?“

„Nur die Gedanken von Personen, die einem sehr nahestehen und deren Seelen einem verwandt sind.“

„Dann ist das eigentlich keine echte Magie!“, meinte Nadine.

„Doch, es ist Magie!“, widersprach Branagorn. „Was sollte es sonst sein?“

„Also wenn das Magie ist, dann kenne ich aber viele Leute mit magischer Begabung. Zum Beispiel diese Sarah ...“

„Sie ist eine Zauberin? Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, in dieser Welt jemanden zu treffen, auf den sich dieser Begriff mit Fug und Recht anwenden ließen.“

„Nein, nein, sie ist keine Zauberin, so sehr sie sich das vielleicht auch gewünscht hätte. Schließlich haben wir ja alle früher viel an Fantasy- und Mittelalter-Rollenspielen teilgenommen und uns entsprechend verkleidet. Wenn Sie ihr Bild gesehen haben, wissen Sie ja, was ich meine.“

„Worin besteht die Magie dieser Sarah?“

„Sie hat eine Zwillingsschwester. Und manchmal, dann hat eine von den beiden einen Satz angefangen und der andere hat ihn beendet. Verstehen Sie, was ich meine? Es ist ganz normal, sich in die Gedankenwelt eines anderen hineinzuversetzen. Dazu braucht es keine Magie!“

„Das ist ein Paradox in Eurer Welt und speziell in dieser Zeit: Ihr glaubt einerseits an die Wirksamkeit von Magie, leugnet aber gleichzeitig ihre Existenz und versucht sie, durch weniger naheliegende Erklärungsversuche wegzuargumentieren, weil Euch ihre Macht unheimlich ist und ihr sie einfach nicht als das zu sehen vermögt, was sie eigentlich ist.“

„Und das wäre?“

„Eine natürliche Kraft unter anderen natürlichen Kräften, die man ausnutzen kann wie den Wind zum Segeln oder die Sonne, um sich zu wärmen und Feuer zu entzünden.“

Nadine runzelte die Stirn. „So habe ich ehrlich gesagt noch niemanden darüber reden hören – obwohl, es erinnert mich ein bisschen an das, was Timmi manchmal sagt.“

„Ihr sprecht von Herrn Timothy.“

„Ja, diesem Schuft, auf den ich insgesamt zweimal hereingefallen bin.“

„Was hat dieser Schurke denn mit Magie zu tun? Ich glaube nämlich nicht, dass er über solche Kräfte verfügt, sondern dass es sich bei ihm vermutlich nur um ganz gewöhnliche Überredungskunst handelt.“

Nadine lachte auf. „Sie drehen das immer so, wie es Ihnen passt, oder?“

„Nein. Das ist der Unterschied zwischen wahrer Magie und ihrem Anschein, werte Nadine.“

„Wenn Sie das sagen.“

„Versucht Euch an die Zeit erinnern, als im Angesicht der Türme zu Lengerich wir einander kennenlernten ...“

„Gerne. War 'ne tolle Zeit – wenn man mal davon absieht, dass ich damals zum ersten Mal mit Timothy zusammen war und er mich zum ersten Mal verarscht hat mit dieser ... Elvira. Und dabei hatte ich sogar noch für ihn gelogen!“

„Gelogen?“, fragte Branagorn. „Was offenbart Ihr mir da an Abgründen Eurer Seele?“

Sie beugte sich etwas vor. „Gelogen ist nicht das richtige Wort. Aber auf dem Schandmaul-Konzert im Jovel ist doch Franka Schröerlücke umgekommen. Wurde mit Draht erwürgt und dann hat der Täter ihr die Haare abgeschnitten. Wir waren alle dort. Unsere ganze Clique. Damals gab es noch nicht so viele LARP-Fans wie heute und wir hatten uns ja alle über das Rollenspiel und die Mittelalter-Szene kennengelernt.“

„Timothy war auch dort?“, merkte Branagorn auf.

„Oh ja! Eigentlich hatte er ja keine Eintrittskarte und das haben auch alle bestätigt, die dazu befragt wurden. Allerdings weiß ich genau, dass er doch dort war! Es gab da einen Hintereingang, der normalerweise abgeschlossen war. Aber jemand hat für ihn die Tür aufgelassen.“

„Und wer?“

„Er gehört zu dieser Vereinigung der 'Neuen Templer', der Timothy angehört. Ich kenne ihn nicht.“

„Könnt Ihr ihn beschreiben?“

„Bart, lange Haare, aber oben alles kahl. Wie ein Klingone bei Star Trek, nur ohne Knochenwulst! Der Typ stand später am Eingang und hat mir einen Stempel auf die Hand gegeben. Jedenfalls dachte ich zu dem Zeitpunkt noch, ich wäre mit Timothy zusammen, aber Timothy dachte das offenbar nicht mehr und fuhr ganz dreist zweigleisig!“

Sie atmete tief durch und schien sich jetzt noch ziemlich darüber aufregen zu können.

„Ich glaube nicht, dass Timothys Seele vom Traumhenker erfüllt ist und zu einer Mörderseele wurde“, erklärte Branagorn.

„Glauben Sie, ich wäre mit ihm zusammen, wenn ich das denken würde?“

„Für die Zukunft solltet Ihr Euch nicht zu sicher sein, denn der Traumhenker kann in jeden fahren, der es zulässt, dass dieser böse Geist von im Besitz ergreift. Und versucht Euch zu erinnern! Denn damals in Lengerich sind wir ihm begegnet!“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, sagte Nadine und machte dabei ein ziemlich ratlos wirkendes Gesicht. „Ich meine, da waren damals einige ziemlich durchgeknallte Typen auf der Station. Also, entschuldigen Sie, ich meine natürlich nicht Sie und eigentlich wollte ich das so auch gar nicht sagen.“

„Es ist jetzt keine Zeit der Schmeichelei, sondern der mannhaften, ehrlichen Worte!“, erkläre Branagorn. „Die Lage ist zu ernst, die Gefahr zu groß!“

„Sie glauben wirklich, dass damals der Mörder, der seine Opfer kahl rasiert, dieser sogenannte Barbier, in Lengerich auf der Station war?“

„Ich sah ein Augenpaar und einen kahl rasierten Schädel – mehr nicht. Der untere Teil des Kopfes war verdeckt. Ich hörte Schreie des Wahnsinns und mir begegnete dieser Blick, den ich nicht vergessen werde. Der Traumhenker hatte ein Gefäß gefunden, in dass er gefahren war. Ein Lebewesen, dessen Seele ihm als Wirt diente! Ihr wart doch auf Seiten der Heiler! Und daher hatte ich die Hoffnung, Ihr wüsstet vielleicht, wem diese Augen gehört haben! Ihre Farbe war braun. Aber die Wärme ihrer Färbung stand in einem geradezu grotesken Gegensatz zur eisigen Grausamkeit diese Blickes! Und der rasierte Schädel – er hatte Wunden. Die Haut war auf eine krankhafte Weise verändert.“

Nadine atmete tief durch. Ihr Blick wirkte nach innen gekehrt und es schien Branagorn, als würde sie in ihrer Erinnerung nach jenen Bildern suchen, die seine Worte zu beschwören versucht hatten. Sie musste sich doch erinnern! Sie hatte doch dasselbe gesehen wie er, denn sie war bei ihm auf dem Flur gewesen, als hinter jener besonderen Tür der entfesselte Wahnsinn getobt hatte.

„Da waren so viele, Herr Schmitt“, sagte sie. „An Sie habe ich mich erinnert, weil Sie nett waren. Und ich erinnere mich auch an andere, aber ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist lange her und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, wie Sie darauf kommen, dass die Person, die Ihnen damals offenbar so einen Schrecken eingejagt hat, ein Mörder sein soll!“

„Ich bin der Mörderseele ein zweites Mal begegnet“, eröffnete Branagorn. „Auf der Planwiese in Telgte. Und wieder konnte ich nur die Augen sehen, denn alles andere wurde durch die Maske des Schwarzen Todes verdeck. Und so gut die Sinne von uns Elben auch sein mögen, so vermag ich doch nicht durch Masken zu sehen!“

„Meinen Sie diese Schnabelmasken, wie sie die Pest-Ärzte früher hatten?“

„Gewiss – auch wenn ich sie nicht in jedem Detail dem historischen Vorbild entsprechen, das ich noch aus eigener Anschauung kenne.“

„Das ist seltsam.“

„Was meint Ihr mit dieser Bemerkung?“

„Ich hatte auch mal so eine Maske. Timmi vertreibt die doch über seinen Shop. Und früher, als ich noch aktiver in der LARP-Szene war, sind wir damit im Partnerlook herumgelaufen. Allerdings habe ich die Maske dann vor Wut zerstört, als Timmi und ich das erste Mal Schluss gemacht haben.“

Branagorn schien ihren Bemerkungen nicht besonders viel Bedeutung beizumessen. Ihm war ein anderer Punkt offenbar sehr viel wichtiger. „Versucht Euch an das Gesicht von damals zu erinnern! Und vielleicht auch an den Namen! Ihr seid doch auf Seiten der Heiler gewesen.“

„Ich kann Ihnen da nicht helfen“, stellte Nadine jetzt erstmals in aller Eindeutigkeit klar. „Tut mir leid. Weder weiß ich, welchen Patienten von damals Sie meinen, noch hätte irgendwelchen Zugang zu den Unterlagen, sodass ich den Namen herausfinden könnte.“

„Das ist bedauerlich.“

„Ja, das mag sein. Aber ich frage mich auch, ob Sie die Ermittlungen nicht der Polizei überlassen sollten. Wieso mischen Sie sich da ein?“

„Das versteht Ihr nicht? Dabei traut Ihr offenbar doch selbst den Hütern der Ordnung nicht, denn andernfalls hättet Ihr Euch doch längst an sie gewandt und sie wären nicht gezwungen, mühsam die Merkmale Eures Wesens mit denen namensgleicher Frauen abzugleichen.“

Nadine schluckte. Eine sanfte Röte überzog ihr Gesicht. Sie rief die Kellnerin herbei, um zu bezahlen. „Ich lade Sie ein“, sagte sie. „Schließlich weiß ich, dass Sie nicht viel Geld haben. Aber jetzt muss ich gehen. Kommen Sie allein klar oder soll ich irgendwen verständigen, der Sie betreut?“

„Mich betreut niemand“, erklärte Branagorn. „Ich bin seit sehr langer Zeit auf mich allein gestellt. Also macht Euch um mich keine Sorgen. Um Euch selbst aber solltet Ihr durchaus besorgt sein. Überlegt Euch daher, ob Ihr Euch nicht doch lieber den Hütern der Ordnung anvertrauen wollt!“

„Auf Wiedersehen, Herr Schmitt.“

Nachdem sie bezahlt hatte, ging sie davon.

Branagorn sah ihr nach.

Eine Warnung in Tecklenburg

Sven Haller ließ den Motor seines Volvo aufheulen und überholte dann ungeduldig das landwirtschaftliche Nutzfahrzeug auf der Straße zwischen Lengerich und Tecklenburg. Anna van der Pütten saß auf dem Beifahrersitz und dachte: Nirgendwo scheint der Mensch ursprünglicher mit seinen ureigensten und niedrigsten Instinkten verbunden zu ein als im Straßenverkehr.

Der Anruf von Pamela Strothmann aus Tecklenburg hatte dafür gesorgt, dass sich Haller auch auf den Weg hierher gemacht hatte. Pamela Strothmann war nämlich einer der Telefontakte in Jennifer Heinzes Handy-Menü. Allerdings ein Kontakt, der nur in diesem Handy-Menü vorkam. Sie hatte keinerlei Verbindungen zu den anderen Opfern – zumindest keine, von denen man bisher wusste.

Am Telefon hatte Pamela Strothmann angegeben, einen konkreten Verdacht zu haben, wer Jennifer Heinze auf dem Gewissen hatte. Näheres hatte sie am Telefon nicht sagen wollen und ins Präsidium nach Münster zu kommen, sei für sie auch nicht möglich, da sie arbeiten müsste und außerdem ihr Wagen in der Werkstatt sei.

Pamela Strothmann hatte das Gespräch ziemlich abrupt abgebrochen. So zumindest hatte es Ilse Rakowski berichtet - die Kollegin, die das Gespräch angenommen hatte.

„Ich will ja nichts gegen Frau Rakowski sagen, aber ich glaube, wenn ich eine Zeugin wäre und sie am Telefon hätte, würde ich mich auch erschrecken und auflegen“, meinte Anna van der Pütten.

„Na ja, ich gebe zu, dass Frau Rakowski nicht unbedingt die sensibelste Kollegin ist, die bei uns Dienst tut“, gab Haller zu. „Allerdings wurden wir in der ersten Zeit durch Anrufe geradezu überschwemmt. Da konnte wir nicht nur die netten und freundlichen Kollegen an die Leitungen setzen. Oder gar psychologisch geschultes Personal, so wie Sie!“

„Ganz normale geschäftsmäßige Freundlichkeit wäre doch schon genug“, meinte Anna.

Ilse Rakowski war zwar eine sehr zarte Frau, der selbst die kleinste Uniformgröße noch locker zu sitzen schien. Allerdings hatte sie eine Stimme, die so rau war, dass viele Männerstimmen dagegen mädchenhaft wirkten. Darüber hinaus schien sie vollkommen unfähig zu sein, leise zu sprechen, was sie darauf schob, dass sie zusammen mit fünf lauten Brüdern aufgewachsen sei, wo wohl immer der lauteste letztlich Recht bekommen hätte. Diese Geschichte fand Anna insofern plausibel, als Ilse Rakowski tatsächlich einem der letzten geburtenstarken Jahrgänge angehörte. Inzwischen hatte Anna lange genug mit der Münsteraner Polizei zu tun, um zu wissen, dass dort über die Herkunft von Ilse Rakowskis Stimme noch ein paar andere Legenden kursierten. Dazu gehörten übermäßiger Konsum harter Alkoholika, eine Schilddrüsenoperation, ihre fanatische Unterstützung der ersten Fußballmannschaft von Preußen Münster durch laute und entsprechend stimmbandfeindliche Anfeuerungsgesänge im Stadion bis hin zum zeitweiligen Anabolika-Missbrauch während ihrer Zeit als deutsche Polizeimeisterin im Kugelstoßen. Ihre Schwierigkeiten als Verantwortliche für die Fahrradausbildung und Verkehrserziehung an den Grundschulen und in Kindergärten, die in zahlreichen Beschwerden durch Eltern völlig verängstigter Kinder gegipfelt und schließlich zu ihrer Abberufung geführt hatten, lagen Annas Einschätzung nach aber weniger an Ilse Rakowskis Stimme als an ihrer rustikalen Wortwahl.

„Vielleicht hat es ja sein Gutes“, meinte Anna.

„Inwiefern?“

„Wenn das nicht nur heiße Luft ist, kommen wir vielleicht endlich mal einen Schritt weiter.“

Sie erreichten inzwischen das für die flache Topographie des Münsterlandes recht hoch gelegene Tecklenburg, den ehemaligen Sitz der Grafen von Tecklenburg, die im schmalkaldischen Krieg auf der falschen Seite gestanden und ihre Selbstständigkeit verloren hatten. Dem Kreis Tecklenburg war es nach der Gebietsreform der Siebziger nicht anders ergangen. Man hatte ihn dem Kreis Steinfurt eingegliedert. Sehr selten konnte man noch Aufkleber mit dem Schriftzug 'TE muss bleiben' sehen, aber die Zahl aufrechter Tecklenburger Lokalpatrioten musste innerhalb der letzten vier Jahrzehnte inzwischen wohl auf eine Zahl im einstelligen Bereich zusammengeschmolzen sein. Haller hatte sich einen dieser Aufkleber noch aus seiner eigenen Grundschulzeit in Ladbergen aufbewahrt, als sie von Heimatkundelehrern gerne verteilt wurden. Er hatte immer schon mal darüber nachgedacht, ihn aufzukleben, fand aber letztlich, dass er dazu zu schade war. Es handelte sich schließlich um ein quasi historisches Stück und aufkleben konnte man es nur einmal – vorausgesetzt der Klebstoff unter der Schutzfolie klebte überhaupt noch nach all diesen Jahren. Es wäre auf einen Versuch angekommen, den Haller aber angesichts des immer schnelleren technischen Verfallsdatums moderner Blechkarossen wohl so schnell nicht wagen würde.

Haller parkte auf einem Parkplatz, von dem aus man eine hervorragende Fernsicht hatte.

„Den Rest müssen wir leider zu Fuß gehen“, meinte er an Anna gerichtet.

„Macht nichts, ein bisschen Bewegung tut gut“, meinte sie. „Und die Luft scheint hier auch recht frisch zu sein.“

„Luftkurort“, sagte Haller, als wäre das eine Erklärung für irgendetwas. „Bei gutem Wetter kann man fast bis Münster sehen.“

„Und bei nicht so gutem?“

„Bis zu der Staubwolke aus den Schornsteinen des Zementwerks in Lengerich“, meinte Haller. „Na ja, das ist vielleicht etwas übertrieben.“

„Tja ...“

„Woran liegt das, dass du mit meinem Humor nicht klarkommst, Anna?“

„Vielleicht aus demselben Grund, weil manche Grundschulkinder oder Zeugen sich vor deiner Kollegin Ilse Rakowski fürchten.“

„Wie das?“

„Das Stichwort heißt Unangemessenheit der Äußerung.“

„Aber das ist doch gerade der Witz.“

„Siehst du! Da liegt das Problem!“

„Ich wette, du hattest früher nicht viele Freunde und hast dir überlegt, wieso das bei anderen nicht so ist. Und daraus ist dann dein Interesse für Psychologie erwachsen.“

„Ich glaube, hier liegt ein Rollenirrtum vor“, erklärte Anna sehr ernst, während sie eine Steintreppe mit sehr langen Stufen emporstiegen, die zudem ziemlich rutschig waren. Haller trug Turnschuhe zu seiner Jeans und seinem ausgebeulten Jackett, dem man ansah, dass er darin viel gesessen hatte, denn es wies die dafür charakteristischen Falten auf. Anna van der Pütten hingegen trug flache, glatte Schuhe. Schuhe mit Absätzen mochte sie nicht, denn darauf stand man zu unsicher. Sicher auf festem Grund stehen, das war sehr wichtig für sie. Aber ihre Schuhe erlaubten das nur innerhalb geschlossener Räume oder auf ebenen, asphaltierten Flächen, nicht auf einem so rutschigen Pflaster wie jenes, das sie im Moment unter den Füßen hatte.

Haller musste also schon nach kurzer Zeit auf sie warten, nachdem sie um ein paarmal fast ausgerutscht wäre, als sie versuchte, mit seinem Tempo mitzuhalten.

„Alles in Ordnung, Anna?“

„Ja!“, ächzte sie.

„Und wie war das mit dem Rollenirrtum.“

„Na ja, du solltest nicht versuchen, mich zu analysieren.“

„Aber umgekehrt ist das in Ordnung?“

„Umgekehrt entspräche das unserem unterschiedlichen professionellen Profil.“

„Das heißt also, dass es stimmt.“

„Was?“

„Das, was ich eine Vermutung nennen würde und was jemand wie du dann etwas hochtrabend zu einer Analyse hochstilisiert. Wäre es anders, würdest du nicht so empfindlich reagieren!“

Anna holte ihn ein. „Hauptsache, es macht dich zufrieden, mich jetzt durchschaut zu haben und zu wissen, was mich zum Studium der Psychologie motiviert hat!“

„Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, ich würde verstehen, was den sogenannten Barbier zu seinen Handlungen motiviert.“

„Das schaffst du auch noch, Sven! Ganz bestimmt!“

„Diese Art der Ermutigung erinnert mich an die Art und Weise, wie manche Lehrer, die ich erlebt habe, schwache Schüler zu ermutigen versuchten, von denen sie insgeheim schon längst wussten, dass sie es niemals schaffen und mit Sicherheit sitzen bleiben werden!“

„Und weshalb bist du zur Polizei gegangen?“, fragte Anna. „Da du nun den innersten Kern meiner Persönlichkeit durchschaut hast, wäre es doch nur fair, wenn du mir umgekehrt zu diesem Punkt etwas offenbaren würdest.“

„Ja“, sagte Haller. „Das wäre sicherlich fair.“

„Na, und? Worauf wartest du?“

„Ich habe mir noch nicht zu Ende überlegt, ob ich überhaupt fair sein soll!“

„Ach, so einer bist du!“

„Reden wir später darüber. Der Aufstieg ist einfach zu anstrengend und dann sage ich vielleicht Sachen, die mehr über meinen mangelnden Sauerstoffgehalt im Gehirn als über meinen Charakter sagen!“

*

Etwas später erreichten sie das Café Rabbel. Hier arbeitete Pamela Strothmann. Draußen standen viele Tische und Stühle, an denen sich die Kurgäste bei Kaffee und Kuchen drängten. Anna folgte Haller ins Innere, dessen Einrichtung an ein Wiener Kaffeehaus erinnerte.

Haller zeigte der Frau hinter dem Tresen seinen Ausweis.

„Hallo, Kripo Münster. Wir hätten gerne mit Frau Pamela Strothmann gesprochen.“

„Ah, ja. Pamela hat uns gesagt, dass Sie hier auftauchen würden.“

„Wo können wir sie finden?“

„Einen Moment. Ich sage ihr Bescheid. Es wäre nett, wenn Sie einigermaßen diskret vorgehen würden.“

„Selbstverständlich.“

Die Frau hinter dem Tresen verschwand kurz hinter einer Tür. Wenig später trat eine Endzwanzigerin mit brünetter Prinz-Eisenherz-Frisur aus der Tür. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht und war groß und schlank. Sie überragte Anna um einen ganzen Kopf und war immerhin noch einen einen halben Kopf größer als Haller, obwohl sie sehr flache Schuhe trug.

„Haben Sie uns angerufen?“, fragte Haller.

„Ja“, nickte sie. „Ich bin Pamela Strothmann. Und ehrlich gesagt, bereue ich auch schon, dass ich es getan habe.“

„Es wird sicher einen guten Grund dafür geben“, war Haller überzeugt.

„Kommen Sie, wir suchen uns einen Tisch, wo wir reden können.“

„In Ordnung.“

„Möchten Sie etwas zu trinken? Kuchen?“

„Das Frühstücksbuffet soll hier besonders gut sein.“

„Wir haben inzwischen Nachmittag.“

„In meinem Beruf verliert man das Gefühl für die richtige Tageszeit schon mal etwas“, verteidigte sich Haller.

Pamela Strothmann führte ihn und Anna zu einem der Tische im hinteren Bereich des Cafés. Haller nahm einen Kaffee, Anna einen grünen Tee.

„Was haben Sie uns zu sagen, Frau Strothmann?“, fragte Haller. „Die Kollegin, die mit Ihnen gesprochen hat ...“

„Das war eine Frau? Unmöglich!“

„... erwähnte, dass Sie behaupten, den Täter zu kennen!“

„Na ja, ich habe vielleicht ein bisschen dick aufgetragen.“

„Am besten Sie sagen uns den Namen und die Adresse und dann können wir die Angelegenheit überprüfen.“

Sie strich sich das Haar zurück. „Der Name lautet Jürgen Tornhöven. Ein Typ mit Bart und langen Haaren, hat aber oberhalb der Ohren alles kahl und dürfte so um die Ende vierzig sein. Man nennt ihn auch den Prior der 'Neuen Templer', das ist diese Sekte, die er anführt. Im geheimen Kreis lässt er sich angeblich mit Hochmeister Asmodis anreden – aber allein dafür, dass ich Ihnen das verraten habe, könnte mich diese Sekte schon furchtbar bestrafen wollen. Da kennen die nämlich gar nichts.“

„Nun mal der Reihe nach“, verlangte Haller. „Wie kommen Sie darauf, dass dieser Jürgen Tornhöven Jennifer Heinze umgebracht haben könnte!“

„Weil es genau passt!“ Pamela Strothmann war ziemlich ungeduldig. Sie wirkte wie jemand, der unter einem außerordentlich hohen Druck stand.

„Gibt es irgendwelche konkreten Anhaltspunkte? Wurde Jennifer von Mitgliedern der Sekte oder diesem Tornhöven etwa konkret bedroht?“

„Ja, das wurde sie.“

„Und Sie selbst haben das mitbekommen, oder hat das nur jemand anderes Ihnen erzählt?“

„Jennifer hat mir das gesagt. Und ich hatte keinen Grund an ihren Worten zu zweifeln. Am besten erzähle ich Ihnen alles mal der Reihe nach.“

„Jennifer Heinze und Sie waren Freundinnen“, stellte jetzt Anna fest und mischte sich damit erstmalig in das Gespräch mit Pamela Strothmann ein.

Pamela nickte. „Ja, seit der Schule schon. Wir sind beide hier auf das Graf-Adolf-Gymnasium in Tecklenburg gegangen. Und auch wenn sich unsere Wege später etwas in verschiedene Richtungen entwickelt haben, so haben wir doch nie den Kontakt zueinander verloren.“

„Was meinen Sie genau mit der Entwicklung in verschiedene Richtungen“, hakte Anna nach.

„Na ja, Jennifer ist nach der Schule zur Bank gegangen und ich habe in Osnabrück studiert. Philosophie, Kunstgeschichte, Theologie. Ich gebe zu, das war bei mir alles etwas planlos und deswegen bin ich jetzt fast dreißig und habe auch noch immer keinen Abschluss. Wahrscheinlich wird das auch so schnell nichts werden, denn inzwischen bin ich schwanger und mit meinem Freund zusammengezogen, der gerade in Münster seinen Doktor in Kunstgeschichte macht, und meine Stelle hier im Café ist derzeit die einzige Einnahmequelle, die wir haben. Klingt für Sie vielleicht alles ein bisschen verworren, Frau ... irgendwie hatte ich Ihren Namen nicht mitbekommen!“

„Anna van der Pütten. Ich bin Kriminalpsychologin.“

„Ah ja, verstehe.“

Wenn Anna jemandem sagte, dass sie Psychologin war, dann sorgte das zumeist für eine entspannte Gesprächssituation. Vor allem dann, wenn die Lage gerade zu eskalieren drohte und die Beteiligten auf die Polizei nicht gut zu sprechen waren. Psychologen waren eben keine Polizisten und das allein adelte sie dann anscheinend schon. Mit einem Psychologen konnte man reden, mit einem Polizisten nicht, denn der hielt einem im Zweifelsfall nur irgendeinen Paragraphen mit irgendeiner schwer verständlichen Rechtsnorm entgegen, an die man sich doch bitteschön zu halten hätte. Aber bei Pamela Strothman war das anders. Bei ihr schien die Berufsbezeichnung Psychologe aus irgendeinem Grund Widerstände zu offenbaren. Widerstände, die Anna sehr genau wahrnahm und für die es verschiedene Erklärungen geben konnte. Unter anderem die, dass Pamela Strothmann vielleicht mal in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung gewesen war und dieses Erlebnis mit unangenehmen Erlebnissen assoziierte.

„Meine Aufgabe ist es, mir ein möglichst klares Bild des Täters zu machen“, erklärte Anna daher.

Pamela Strothmann lächelte schwach. „Dann analysieren sie also nicht die Zeugen, die befragt werden? Es gibt doch da so eine Fernsehsehserie, wo einer den Menschen anhand kleinster Regungen und Muskelbewegungen im Gesicht ansehen kann, ob sie lügen.“

„Nein. So jemand bin ich nicht“, versicherte Anna. „Was nicht heißt, dass es nicht am besten wäre, wenn das, was Sie uns sagen, absolut der Wahrheit entspricht, Sie nichts hinzufügen und nichts weglassen. Aber ich nehme nicht an, dass Sie das vorhaben, denn dann würden Sie unsere Zeit verschwenden und damit demjenigen helfen, der Ihre Freundin auf dem Gewissen hat.“

„Natürlich“, murmelte Pamela. „Aber eigentlich wollte ich Ihnen ja was anderes erzählen ...“

„Dann tun Sie das“, forderte Anna sie auf.

Pamela blickte auf einen bestimmten Punkt auf der Tischdecke, die vor ihr lag. So als wollte sie sich dadurch besser konzentrieren. „Jennifer hat sich seit den letzten Jahren auf der Schule für dieses Mittelalter-Zeug interessiert. Sie ist da durch ihren damaligen Freund hineingeraten – na ja das hört sich an, als wäre es was Schlimmes. Meiner Ansicht nach ist es einfach nur kindisch. Sie hat mich auch mal zu einem dieser Festivals mitgenommen, aber ehrlich gesagt habe ich weder zu ihren Freunden aus dieser Szene noch der Szene selbst Zugang gefunden. Aber Jennifer ist eine ganze Weile dabei geblieben. Ich meine, vielleicht ist das auch einfach nur eine Art Ausgleich gewesen. Sie war ja bei der Bank und da muss man natürlich total konform sein, ein schickes Kostüm tragen, frisiert sein, darf nirgendwo anecken und muss den Kunden irgendwas versprechen, damit sie ihr Geld bei einem anlegen. Vielleicht ist da einfach mal ein Ausgleich wichtig, in irgendwelchen Fantasiekostümen herumzulaufen und eine ganz andere Rolle zu spielen – sei es nun als holdes Burgfräulein oder als Schwarzer Tod.“

„Wie kommen Sie auf den Schwarzen Tod?“, hakte Anna nach.

„Na ja, sie hatte ein Kostüm, das hatte irgendwie etwas mit dem Schwarzen Tod zu tun.“

„Sie meinen die Schnabelmaske eines Pest-Arztes?“

„Ja, genau!“

„Die haben wir unter ihren Sachen gefunden.“

„Sie ist mit ihrem Freund im Partnerlook damit herumgelaufen. Und ich glaube, es hat ihr Freude gemacht, damit andere zu erschrecken, ohne dass man sie erkennen konnte. Eine Spießerin, die im Geheimen ihre andere Seite zeigt, so könnte man es sagen.“ Pamela zuckte die Schultern. „Kann man ja niemandem verdenken, oder?“

„Nein, sicher nicht“, sagte Anna. „Der Freund ...“

„Timothy Winkelströter. Komischer Typ. Das war übrigens nicht der Freund, der sie in diese Szene hineingebracht hat. Der hieß anders. Aber das ist schon so lange her.“

„Hieß der erste Freund zufällig Olli oder Björni?“, mischte sich Haller ein.

„Sie nannte ihn Björni, das stimmt! Woher wissen Sie das?“

Haller holte einen Ausdruck des Facebook-Fotos hervor und legte ihn vor Pamela Strothmann auf den Tisch. „Ist dieser Björni hier drauf?“

„Ja sicher! Der links! Der gehörte zu dieser Ritter- und Schreckgestalten-Clique, von der auch Jennifer ein Teil war.“

„Den vollständigen Namen wissen Sie nicht zufällig?“

„Björn ... Björn irgendwas ... Horstkotte, glaube ich! Jawohl, Björn Horstkotte, denn Jennifer hat mir mal erzählt, dass ein neuer Lehrer erst geglaubt hätte, er hieße Björn-Horst Kotte anstatt Björn Horstkotte, weswegen ihn dann viele nur noch 'du Horst' genannt hätten. Fand ich lustig.“

Pamela Strothmanns Blick wechselte von Haller zu Anna und wieder zurück und stellte fest, dass sie offenbar bei keinem der beide den Humornerv auch nur leicht berührt hatte.

„Wissen Sie zufällig auch, wer Olli ist?“

„Olli?“

„Einer der Personen auf dem Bild soll Olli heißen.“

„Da gab es einen Oliver. Oliver Holthaus. Das ist der Kerl, der neben Björn steht. Aber ich glaube, der ist schon lange nicht mehr in der Gegend. Ich habe gehört, er soll irgendeinen tollen Job in New York oder London haben. Keine Ahnung, hat mich nicht so interessiert.“

„Was ist mit diesem Jürgen Tornhöven? So wie Sie ihn schildern, passt der doch altersmäßig gar nicht in diese Gruppe hinein.“

„Natürlich nicht! Der Kontakt kam durch Timothy Winkelströter. Der war bei dieser Sekte oder wie immer man das bezeichnen soll. Ich persönlich glaube ja, dass es denen nur ums Geld geht.“

„Wieso?“

„Weil bei denen alles ein Schweinegeld kostet. Die behaupten, dass psychische Probleme, Burn-out, Energielosigkeit und weiß der Geier was noch, darauf basiert, dass man von den falschen Dämonen besessen ist. Also reden die einem ein, man sollte sich durch eine Art Exorzismus davon befreien.“

„Hat Jennifer Heinze so etwas auch mitgemacht?“

„Ja, hat sie. Sie hatte Probleme in ihrem Job. Hohe Erwartungen an sich selbst, übertriebener Ehrgeiz ... Das läuft so ähnlich ab, wie in diesen Exorzismus-Ritualen, die man aus Horror-Filmen kennt. Soweit ich weiß, gibt es in der katholischen Kirche immer noch Exorzisten, die Teufelsaustreibungen vornehmen. Aber bei diesen sogenannten 'Neuen Templern' ist das nur die erste Stufe.“

„Und was ist die zweite?“

„Eine Art umgekehrter Exorzismus. Nennen Sie es In-Zorzismus, wenn Sie wollen. Man soll den Geist Baphomets in sich aufnehmen. Das ist so ein Stierdämon. Die geweihten Mitglieder der 'Neuen Templer' tragen eine entsprechende Tätowierung am Arm. Daran kann man sie erkennen.“

„Ja, das haben wir schon bei Timothy Winkelströter gesehen“, murmelte Haller.

„Jennifer hat sogar Stufe zwei mitgemacht.“

„Das heißt, sie hat den Geist Baphomets oder wie die das nennen, in sich aufgenommen?“, vergewisserte sich Haller.

„Ja – und dafür noch dreitausend Euro bezahlt.“

„Hat sie sich denn danach wenigstens besser gefühlt?“, fragte nun Anna. „Ich meine, Sie erwähnten doch ihren Ehrgeiz und die Ansprüche an sich selbst, die offenbar in Konflikt mit der Realität geraten waren.“

„Das war doch schon alles nach der Dämonenaustreibung besser geworden! Diese zweite Stufe hat sie glaube ich nur wegen ihrem Freund gemacht.“

„Sie sprechen jetzt von Timothy Winkelströter“, stellte Anna fest.

Pamela Strothmann nickte. „Ja – ich kenne den ja nicht so gut, aber nach Jennifers Schilderungen muss das einer sein, der einfach jedem Rock hinterherläuft und zwar eine feste Beziehung in alle Ewigkeit verspricht, aber in Wahrheit kaum eine Woche treu sein kann! Er hat was mit einer Krankenschwester namens Nadine Schmalstieg aus Borghorst angefangen und deswegen hat Jennifer mit ihm Schluss gemacht, konnte sich dann aber doch nicht von ihm trennen und so ging das eine Weile als On-Off-Beziehung weiter.“

„Und was hat Jürgen Tornhöven nun damit zu tun?“, wollte Haller wissen.

„Na, der hat die zweite und ziemlich ekelige Stufe dieses Rituals durchgeführt, die dem Empfang von Baphomet dient. Ich bin überzeugt davon, dass Jennifer das nur deswegen mitgemacht hat, weil sie glaubte, sie könnte Timothy dadurch doch noch an sich binden.“

„Was ist so ekelig daran?“, fragte Anna.

„Nachdem, was Jennifer mir erzählt hat, muss man dabei Tierblut trinken und wird am ganzen Körper damit eingerieben, sodass dann die Schmeißfliegen kommen ... Außerdem wird man mit einem Dolch geritzt – nicht so, dass man stirbt, aber so, dass man es glaubt, weil Baphomet nur in die Seele eindringen kann, wenn man Todesangst spürt. Es ist wirklich total widerlich! Völlig pervers. Sie hat mich noch gefragt, ob sie das mitmachen soll. Ich habe ihr dringend abgeraten! Dieser Timothy war das doch wirklich nicht wert – zumal dem das doch inzwischen völlig egal war! Schließlich hatte der doch längst eine andere, und wenn Sie mich fragen, dann ging ihm Jennifer längst auf die Nerven. Zumindest habe ich die Fakten so gedeutet – aber Jennifer war da völlig blind. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben.“

„Wann war das genau?“, fragte Haller.

„Das ist sicher schon zwei Monate her. Danach schien es so, als hätten sich dieser Timothy und Jennifer noch mal zusammengerauft. Aber nur bis zur nächsten Krise ... Er hat mit ihr Schluss gemacht. Trotzdem hat er sich breitschlagen lassen, sich mit ihr auf dem Mittelalter-Markt zu treffen.“

„Woher wissen Sie das?“

„Sie hat mir eine SMS geschrieben. Und ich denke, sie war der Meinung, dass nun wieder alles eingerenkt werden könnte. Aber das war meiner Ansicht nach eine Illusion.“

„Haben Sie auf die SMS geantwortet?“

„Nein, ich habe Jennifers Nachricht erst gefunden, als es schon in der Zeitung stand, was mit ihr passiert ist. Ich hatte nämlich zwischendurch mein Handy verlegt.“

„Werden einem bei diesem Baphomet-Ritual, von dem Sie sprachen, auch die Haare abrasiert?“, hakte Anna nach. „Hat Jennifer davon irgendwann mal etwas erwähnt?“

„Nein – das gehört zu den Strafen für diejenigen, die Geheimnisse aus dem Innenleben dieser Sekte nach außen tragen. Und zu den wichtigsten Geheimnissen gehört der Ablauf der Rituale. Und deswegen glaube ich ja, dass dieser Jürgen Tornhöven Jennifer umgebracht hat! Es war am Mittwoch oder Donnerstag vor dem Markt auf der Planwiese ... Jennifer und ich haben uns abends getroffen und mal wieder über alles Mögliche geredet. Ich habe mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten und ihr klipp und klar gesagt, was ich von diesen Sektenspinnern und diesem ganzen Mist halte!“

„Aber sie hat Ihnen trotzdem in aller Ausführlichkeit davon berichtet – obwohl sie doch Angst haben musste, dass sie dafür bestraft wird, wie Sie gesagt haben“, gab Haller zu bedenken.

„Ja, aber sie musste sich offenbar irgendjemandem anvertrauen! Und ich gebe zu, dass ich auch etwas nachgebohrt habe! Jedenfalls saßen wir bei ihr zu Hause im Wohnzimmer ihrer Eltern. Es war schon ziemlich spät geworden. Da klingelte jemand an der Tür. Jennifers Eltern waren nicht zu Hause, also ging Jennifer hin und schaute durch den Spion. Sie kam schreckensbleich zurück und meinte, es wäre der Prior – Jürgen Tornhöven.“

„Was haben Sie beide getan?“, fragte Haller.

„Nur abgewartet. Wir dachten, wenn er ein paarmal klingelt, wird er irgendwann verschwinden.“

„Und?“

„Stattdessen tauchte er vor dem Wohnzimmerfenster auf. Ich habe ihn gesehen – und er uns auch! Er schrie dann irgendetwas, dass sie eine Abtrünnige sei und außerdem einige Sachen, die ich nicht verstanden habe. Irgendwas Lateinisches oder so. Ich habe nur Französisch in der Schule gehabt, müssen Sie wissen. Dann ist er abgezogen, und ein paar Tage später ist Jennifer tot. Ihr wurde der Kopf rasiert – genau, wie Jennifer es mir beschrieben hatte! Und davon abgesehen hat dieser Tornhöven eine ganz eindeutige Geste hier am Hals gemacht, die man nur als blanke Drohung deuten konnte! Genau das ist dann doch auch mit Jennifer geschehen! Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten!“

„Warum haben Sie sich nicht früher bei uns gemeldet?“, fragte Haller und versuchte dabei gar nicht erst zu verbergen, wie ärgerlich er darüber war, diese Hintergründe erst jetzt zu erfahren.

Pamela Strothmann schluckte.

„Ich denke, Sie hatten Angst“, antwortete Anna van der Pütten an ihrer Stelle. „Nicht wahr?“

Sie nickte stumm. Dann öffnete sie halb den Mund, so als wollte sie noch etwas sagen, aber es kam kein einziger Ton über ihre Lippen. Sie starrte wieder vor sich auf das Tischdeckenmuster.

Der Würger von Osnabrück

„Wir hätten besser was bei Rabbel essen sollen“, meinte Anna, als sie bereits wieder die fünf Kilometer zwischen Tecklenburg und Lengerich zurückgelegt hatten und jetzt in einer der zahlreichen Döner-Imbisse in der Innenstadt saßen. Haller aß mit großem Appetit einen Döner Kebab. Anna nahm nichts. Das Essen war ihrer Ansicht nach alles zu kalorienhaltig und außerdem hatte sie eine tiefe Abneigung gegen Knoblauch. Dessen Genuss erschien ihr unvereinbar mit der Ausübung sozialer Berufe. Haller schien da keinerlei Skrupel zu haben. Er aß einfach, was ihm schmeckte.

„Schon mal davon gehört: Wer Knoblauch zu sich nimmt, ist fit, aber einsam!“, konnte sie sich schließlich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen.

„Ich habe nichts gegen Fitness und nichts gegen Einsamkeit“, sagte Haller. „Passt also.“ Er unterdrückte ein Rülpsen und trank den starken Kaffee aus. „Aber zu was Wichtigerem: Was hältst du von Pamela Strothmann und ihrer Aussage? Du hast auf der Fahrt noch nichts gesagt.“

„Wir wissen jetzt, wer Olli und Björni auf dem Facebook-Foto sind. Das ist ja auch schon mal was. Und ansonsten sind die Parallelen zwischen den Ritualen dieser 'Neuen Templer' und der Art und Weise, wie der Barbier seine Opfer umbringt, schon recht auffällig.“

„Zumindest, was den Aspekt der Kopfrasur angeht“, stimmte Haller zu. „Was hältst du davon, wenn wir mal einen kleinen Abstecher nach Osnabrück machen? Sind von hier aus keine zwanzig Kilometer – und da wir schon mal fast dort sind, könnten wir uns diesen Tornhöven und seine Templer doch mal vorknöpfen.“

„Gut.“

Haller nahm sein Laptop aus seiner Umhängetasche, die er bis dahin gegen ein Stuhlbein gelehnt hatte. Es dauerte nicht lange und er war online und ließ sich die Webseite der 'Neuen Templer' anzeigen. „Im Impressum steht ein Verein“, meinte er dann etwas verwundert.

„Wir sind in Deutschland“, sagte Anna. „Auch Exorzisten oder Anti-Exorzisten, Dämonenjünger und Geheimsekten treten als Vereine auf.“

„Immerhin haben die anscheinend Geld genug, eine schöne Stadtvilla in Osnabrück anzumieten“, meinte Haller.

„Vielleicht gehört sie den 'Neuen Templern' sogar“, gab Anna zurück.

Haller blickte auf und hob die Augenbrauen. „Wie kommst du darauf?“

„Spirituelle Erfüllung kombiniert mit Lebenshilfe und Übertragung mentaler Ressourcen durch Teilhabe an einer verschworenen Gemeinschaft, wozu letztlich auch diese Ekelrituale dienen. Das ist eine unschlagbare Kombination – vor allem, wenn man auf den Trichter gekommen ist, dafür ordentlich viel Geld zu verlangen. Was gut ist, sollte schließlich auch teuer sein und wenn man für etwas viel bezahlt hat, wird man kaum wahrhaben wollen, dass das alles nur fauler Zauber war!“

„Wenn du das alles weißt, weshalb schlägst du dich dann immer noch als Psychologin mit irgendwelchen Krankenkassen oder unserer Zahlungsstelle herum und gründest nicht einfach eine Religion?“

„Ich bin nicht Psychologin geworden, um Menschen zu betrügen. Dann wäre ich vielleicht in die Werbung gegangen und hätte keine Praxis.“

„Ach, nein? Spielt der Aspekt des falschen Trostes denn nicht immer dabei mit?“

„Trost ja, aber kein falscher, Sven.“

„Dann bist du tatsächlich Psychologin, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen?“

„Nein, um zu wissen, wie man die Wahrheit ertragen kann.“

„Das klingt ehrlich gesagt deprimierend.“

„Findest du?“

„Allerdings.“

„Hast du denn eine weniger deprimierende Erklärung dafür, weshalb du Polizist geworden bist? Die Aussicht auf eine gute Pension kann es ja wohl nicht gewesen sein, denn dass diese den Beamten deines Jahrgangs niemand mehr zahlen wird, weiß doch jeder, der die vier Grundrechenarten beherrscht und die aktuelle Diskussion um Demographie und Alterspyramide verfolgt.“

Haller verzog das Gesicht. „Du kommst – wenn auch auf Umwegen - immer wieder auf denselben Punkt zurück.“

„Ist das tatsächlich so auffällig?“

„Ja. Aber da ich weiß, dass du mich deswegen immer wieder löchern wirst, weil du es anscheinend nicht ertragen kannst, wenn du die Beweggründe der dich umgebenden Personen nicht restlos durchschaust und berechnen kannst, werde ich dir eine Antwort geben.“

„Ich bin gespannt!“

Haller lehnte sich etwas zurück. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, weil es so simpel klingt und so genau in deine Analyse-Schemata passt, dass es eigentlich schon wieder nicht wahr sein kann.“

„So ist manchmal das Leben. Und wenn das, was du Schemata nennst, nicht auch ab und zu mal zutreffen würde, dann wären es keine Schemata!“

„Eins zu null.“

„Und?“

Haller beugte sich vor und sprach in gedämpftem Tonfall. „Als ich acht war, dachte mein Vater, es sei eine gute Idee, die klamme Familienkasse aufzufüllen, indem er die Zweigstelle einer Bank überfiel. Das hat unser ganzes Familienleben danach etwas auf den Kopf gestellt, wie man sich vorstellen kann.“

„Und jetzt soll der Kriminalhauptkommissar Haller das irgendwie wieder in Ordnung bringen“, schloss Anna.

„Ja, so könnte man das wohl zusammenfassen.“

Haller griff zu seinem Mobiltelefon und rief im Präsidium an. Er hatte Raaben am Apparat. „Ich möchte alles über die 'Neuen Templer' wissen. Vor allen Dingen, ob es da in der Vergangenheit irgendwelche strafrechtlich relevante Sachen gab. Körperverletzung, finanzielle Unregelmäßigkeiten, was auch immer. Und außerdem wüsste ich gerne, ob irgendein anderes unserer Opfer etwas mit dieser Sekte zu tun hat ... Wie bitte? Da sitzt schon ein Kollege dran? Dann setz dich zu ihm, damit es schneller geht. Danke.“

„Einen kooperativen Führungsstil nennt man das nicht gerade“, meinte Anna.

„Vollkommen richtig. Davon halte ich auch nicht viel“, sagte Haller. „Und davon abgesehen, wird Klarheit häufig mit Autorität verwechselt. Das ist in Wahrheit aber was ganz anderes.“

„Na dann ... Es sollte sich noch mal jemand über den Obduktionsbericht hermachen, Sven.“

„Wieso? Wir wissen, woran Jennifer Heinze gestorben ist.“

„Aber es könnte sein, dass die Rituale, von denen Pamela Strothmann gesprochen hat, Spuren hinterlassen haben. Spuren, die vielleicht nicht beachtet wurden, weil niemand sich vorstellen konnte, wonach eigentlich gesucht wird. Wir wüssten dann zumindest, ob Pamela Strothmann nur viel redet, oder ob an ihrer Aussage tatsächlich etwas dran ist!“

„Ich werde einfach direkt in der Gerichtsmedizin anrufen“, kündigte Haller an. „Um in dem Bericht noch mal nachzusehen, bin ich schlicht zu faul.“

„Ich glaube nicht, dass man sich dort darüber freuen wird, dass du die Berichte nur überfliegst.“

Haller klappte sein Laptop zusammen. „Ich erledige das während der Fahrt“, kündigte er an.

*

Wenig später saßen sie wieder im Volvo und Haller bog an einer Aral-Tankstelle in die Osnabrücker Straße ab, die ihren Namen schließlich in Osnabrücker Landstraße änderte.

„Keine Autobahn?“, fragte Anna.

„Nein. Die Zeitersparnis ist nicht der Rede wert. Und wenn wir direkt in die Stadt fahren, nehme ich lieber die Landstraße.“

Sie hatten den Teutoburger Wald überquert, der hier nicht mehr als eine kleine Steigung war – was die Anwohner keineswegs davon abhielt, von 'Berg' zu sprechen. Anna hatte das oft genug mitbekommen, wie Pfleger und Ärzte der westfälischen Kliniken darüber sprachen, von denen einige in Osnabrück und Umgebung ihren Wohnsitz hatten. Osnabrück und Niedersachsen lagen 'hinter dem Berg' und niemand hätte gesagt: 'Ich fahre über den kleinen Hügel.' Alles war eben relativ. Und wenn man als Lastwagenfahrer dumm genug war, bei Schnee und Eis ohne Winterreifen unterwegs zu sein, dann reichte selbst dieser kleine Hügel in Kombination mit der für die hiesigen Verhältnisse typischen Schneetiefe zwischen einem und maximal zwei Zentimetern vollkommen aus, um die Reifen eines Sattelschleppers durchdrehen zu lassen und die Osnabrücker Landstraße an der ersten kleinen Steigung zu blockieren.

Haller telefonierte während der Fahrt mit Dr. Eugen Wittefeld, dem Chef des gerichtsmedizinischen Instituts. Wie üblich benutzte er dabei nicht die Freisprechanlage und Anna überlegte schon, ob Haller vielleicht deswegen die Landstraße fuhr, weil er dort mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf Kollegen traf, die dort Streife fuhren.

Das Gespräch mit Dr. Wittefeld war etwas zäh. Er schien wenig Verständnis dafür zu haben, dass er Haller seinen Bericht erklären musste, an dem es nach Meinung des Gerichtsmediziners offenbar nichts zu erläutern gab. Eine alte Mediziner-Krankheit, dachte Anna.

Aber schließlich konnte Haller in Erfahrung bringen, was ihn interessierte. „Es gibt Spuren von Fesselungen an Hand- und Fußgelenken“, sagte er dann. „Allerdings schienen die bisher nicht im Zusammenhang mit dem Fall zu stehen und auch Dr. Wittefeld hat sie eindeutig als tat-irrelevante Merkmale definiert.“

„Das übliche Problem also.“

„Wie?“

„Zu frühe Festlegung“, erläuterte Anna. „Der häufigste Ermittlungsfehler. Man schließt bestimmte Beweise von vornherein aus, weil man schon glaubt, zu wissen, was sich ereignet hat. Wenn man erkennt, dass man falsch lag, ist es dann häufig schon zu spät.“

„Sag bloß, da gibt es sogar eine empirische Untersuchung darüber!“

„Die gibt es bestimmt, auch wenn ich jetzt nicht auswendig die Stelle in der Fachliteratur zitieren könnte.“

*

Anna nutzte die Fahrt ebenfalls für ein Telefongespräch. Sie rief die Handynummer von Frank Schmitt an. Na komm schon, melde dich!, ging es ihr etwas ungeduldig durch den Kopf, ehe sie schließlich auf eine Mailbox weitergeleitet wurde. „Branagorn? Ich hoffe, Sie hören sich diese Meldung auch irgendwann einmal an. Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es Ihnen gut geht und Sie bis zur nächsten Sitzung mit allem klarkommen ...“ Anna machte eine Pause. „Denken Sie nicht, dass ich Sie kontrollieren möchte, Branagorn. Ich will Ihnen nur helfen. Und wenn Sie genauer darüber nachdenken, werden Sie zugeben müssen, dass dies der Wahrheit entspricht. Also melden Sie sich ruhig bei mir, falls Sie mir ein Feedback über die letzten Tage geben wollen. Machen Sie es gut.“ Anna beendete das Gespräch.

„Der Spinner scheint den festen therapeutischen Händen entglitten zu sein!“, stellte Haller mit deutlich heraushörbarem Sarkasmus fest. „Sollte es möglich sein, dass er dich vielleicht einfach nicht mehr braucht!“

Anna seufzte. „Ja, das könnte natürlich sein.“

„Wäre die Loslösung aus dem übermäßig engen Therapeuten-Patienten-Verhältnis nicht eigentlich ein wünschenswerter Zustand?“

„Natürlich!“, erwiderte sie. „Aber ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn.“

„Vielleicht sollte man sich mehr Sorgen um die Therapeutin machen.“

„Weil ich die Distanz nicht wahre?“

„Zum Beispiel.“

„Entschuldigung, aber das können Sie nicht beurteilen.“

Ein Satz wie ein Fallbeil.

„Sie?“, echote Haller.

„Ich meinte du.“

„Nein, du meinst Sie, denn es ist viel leichter jemanden mit 'Sie' abzukanzeln als beim 'Du'. Du könntest mich stattdessen auch einfach beschimpfen – denn das ist beim 'Du' leichter.“

Anna seufzte. „Wir sollten uns auf den Mörder konzentrieren, den wir den Barbier nennen.“

„Richtig. Und nicht auf Herrn Schmitt.“

„Herr Schmitt steht ihm aus irgendeinem Grund nahe. Es tut mir leid, aber was er über den Barbier gesagt hat, ist zwar auf den ersten Blick sehr verworren, aber seltsamerweise liegt er doch so nahe an der Wahrheit. Er scheint einfach einen sehr guten Instinkt zu haben.“

„Magie ist ein verbotenes Wort für Leute mit Hochschulstudium. Aber genau das ist doch gemeint.“

„Nein, das ist nicht gemeint“, widersprach Anna. „Für die Fähigkeiten von Frank Schmitt gibt es nachvollziehbare Erklärungen – und wenn er sagt, dass er dem Täter schon mal begegnet ist und ihn an den Augen zu erkennen vermag, dann halte ich das nicht grundsätzlich für ausgeschlossen.“

„Ich möchte nicht sehen, was für Gesichter in der Staatsanwaltschaft gemacht werden, wenn ich mit einem Verdächtigen ankomme, den ich nur deshalb verhaftet habe, weil sich ein offensichtlich psychisch kranker Mensch einbildet, anhand der Augen erkennen zu können, wer der Täter ist!“

„Er ist nicht in dem Sinne krank“, widersprach Anna. „Schon der Begriff Patient ist eigentlich irreführend, denn das setzt eigentlich voraus, dass jemand leidet. Aber Branagorn leidet nicht. Er ist einfach nur anders und alles, was ihm an Schwierigkeiten widerfährt, hat in erster Linie mit seiner Andersartigkeit zu tun.“

„Nicht eher damit, dass er die Realität nicht zur Kenntnis nehmen kann?“

„Von was für einer Realität sprechen wir? In unserer Welt nehmen wir Dinge wahr und vergessen den größten Teil gleich wieder. Das müssen wir, um das Wesentliche behalten zu können. Und das, was wesentlich ist, kann sehr verschieden sein. Darum gibt es so viele unzuverlässige Zeugenaussagen, bei denen sich Menschen einbilden, einen bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gesehen zu haben, obwohl das eigentlich gar nicht sein kann – ein Phänomen, das einem Kripo-Beamten doch geläufig sein sollte!“

„Sicher.“

„Aber bei Frank Schmitt und anderen Savants funktionieren diese Filter des Bewusstseins nicht wie bei uns. Sie registrieren unter Umständen jedes Detail und behalten es ewig.“

„Klingt nach einem überlasteten und absturzgefährdeten Hirncomputer.“

„Ja, die Gefahr besteht tatsächlich. Aber man sollte niemals vergessen, dass das, was jemand wie Frank Schmitt registriert hat, immer abrufbar bliebt – und zwar mit einer Präzision, von der unsereins nicht einmal zu träumen wagt!“

„Wenn das ein Versuch gewesen sein sollte, diesen Verrückten wieder in irgendeiner Form in unsere Ermittlungen zu integrieren, dann kann ich nur noch mal mein Veto dagegen wiederholen, Anna! Oder aus welchem Grund kommst du immer wieder auf diesen komischen Krieger zurück?“

„Ich dachte eigentlich, dass das nur eine ungezwungene Plauderei war.“

„Ungezwungene Plauderei!“, echote Haller und lachte kurz auf. „Wenn du das sagst, klingt das irgendwie so ähnlich wie Nachrichtensprecher im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, die sich gegenseitig duzen, um eine Lockerheit zu demonstrieren, die sie einfach nicht haben.“

„Danke. Du weißt genau, was deine Gesprächspartner nicht hören wollen.“

„Tut mir leid, ist wohl eine Berufskrankheit“, meinte Haller.

*

Sie hatten inzwischen Osnabrück erreicht, fuhren auf der grünen Welle durch die Stadt, vorbei am gelb gestrichenen Schloss, in dem ein Großteil der Universitätsverwaltung untergebracht war.

Das Parkleitsystem zeigte an, wo wie viele freie Einstellplätze zu finden waren. Anna war nicht oft in Osnabrück, darum kannte sie sich hier nicht sonderlich gut aus und hatte ziemlich bald die Orientierung verloren, nachdem Haller ein paarmal abgebogen war.

Schließlich erreichten sie eine von Bäumen umsäumte Allee, die zu beiden Seiten mit mehr oder minder gut erhaltenen Villen im Jugendstil bebaut war. Umgeben wurden die Grundstücke oft von hohen Mauern, auf die gusseiserne Gitter aufgesetzt waren. Hohe Bäume und Sträucher verdeckten häufig die Sicht.

Haller fand einen Parkplatz am Straßenrand.

„Ein paar Schritte, dann müssten wir dort sein.“

„Schöne Gegend“, meinte Anna.

„Schöne Stadt“, ergänzte Haller. „Aber wohnen möchte ich hier trotzdem nicht.“

„Wieso nicht?“

„Wegen den Fliegerbomben. Immer wieder kommt von dem Zeug noch was ans Tageslicht und dann werden ganze Straßenzüge evakuiert.“ Er schüttelte den Kopf. „Den Stress täte ich mir nicht an.“

Anna stieg aus und streckte sich etwas. Sie führte die Bewegung aber nicht richtig zu Ende, denn irgendwie war es ihr peinlich, sich so hemmungslos zu zeigen. Und im Grunde war es ihr sogar schon peinlich, überhaupt mit dem Ausstrecken der Arme begonnen zu haben.

Haller hingegen schien gar nichts peinlich zu sein. Er pupste einfach. Besser hier als im Auto, schien er zu denken und tat dann so, als hätte es diese fast unabwendbare Folge des Döner-Verzehrs gar nicht gegeben.

Sie gingen ein Stück die Straße entlang. Die meisten Villen schienen gar nicht in Privatbesitz zu sein und wenn man hier und da mal einen etwas genaueren Blick durch die gusseisernen Gitterstäbe erhaschen konnte, dann war sehr deutlich, dass viele der Grundstücke nicht gut gepflegt waren. Schierer Wildwuchs schien da zu herrschen – oder aber Ebbe in der Kasse derer, die für die Pflege zuständig gewesen wären. Das wäre unter anderem die Universität Osnabrück gewesen, die einige dieser Häuser angemietet hatte, um Fachbereiche oder Verwaltungsabteilungen auszulagern, zusätzliche Seminarräume zur Verfügung zu haben oder Forschungsinstitute unterbringen zu können. So wirkten einige dieser Anwesen wie ziemlich verwunschene Hexenhäuschen.

Dann fanden sie schließlich an einer Einfahrt ein Schild, an dem >Kirche und Orden der Neuen Templer/Verein für angewandte Spiritualität und Lebenshilfe e.V.< stand.

„Das klingt ja fast so seriös wie <Institut für sozialhistorische und religionsgeschichtliche Studien des alten Orients<“, meinte Haller grinsend.

„Vielleicht steckt im Kriminalhauptkommissar Sven Haller ja auch ein verkappter Savant mit fotografischem Gedächtnis und dem ein oder anderen zwanghaften Verhaltenszug“, meinte Anna.

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast immerhin wortwörtlich behalten, was auf dem Schild drei Häuser hinter uns gestanden hat!“

„Nein, das war nur das trainierte Gedächtnis eines Polizisten. Tut mir leid. Aber falls ich jetzt plötzlich versuchen sollte, diese Eisengittertür mit Magie zu öffnen, dann hätte ich auf jeden Fall eine Entschuldigung für mein Verhalten, von dem ich wüsste, dass eine gewisse Diplom-Psychologin namens Anna van der Pütten sie akzeptieren würde!“

„Da sei dir mal nicht zu sicher!“

„Wieso? Genießt für dich nur Frank Schmitt alias Branagorn den ausgedehnten Artenschutz eines Irren?“

„Am Anfang steht immer eine sorgfältige Diagnose. Und die fällt in diesem Fall vollkommen anders aus.“

Am gusseisernen Tor gab es eine Klingel und eine Sprechanlage. Haller betätigte die Klingel. Aber es erfolgte keine Reaktion. Also klingelte er noch einmal und wartete.

Wieder nichts.

„Scheint, als würden auch Freizeit-Templer pünktlich Feierabend machen“, meinte Anna. „Der Gewerkschaftsgedanke scheint sich selbst bei der Mission, die Welt erst von falschen Dämonen zu befreien und sie anschließend mit den richtigen zu infizieren, irgendwie durchgesetzt zu haben.“

Haller versuchte es ein letztes Mal, ohne zu glauben, dass ihnen tatsächlich noch jemand öffnen würde. Eine rechtliche Befugnis, die Tür aufzubrechen oder die Mauer zu überklettern gab es nicht. Schließlich war keine Gefahr im Verzug und gegen Jürgen Tornhöven lag abgesehen von den Verdächtigungen durch Pamela Strothmann nichts vor. Und ob die wirklich stichhaltig waren, musste sich erst noch herausstellen.

„Ich glaube, wir sollten bei Tornhövens Privatadresse vorbeischauen“, schlug Anna vor. „Das dürfte deutlich ergiebiger sein, als darauf zu warten, dass sich hier noch irgendetwas tut.“

Haller umfasste einen der gusseisernen Gitterstäbe des Tors und stellte fest, dass es sich öffnen ließ. Es war ganz offensichtlich nicht abgeschlossen. Mühelos bewegte es sich und stand wenig später einen etwa einen Meter breiten Spalt weit offen. „Ich würde sagen, das ist so etwas wie eine Einladung“, fand Haller und machte die ersten Schritte nach vorn.

Die Scharniere des Tors quietschten, als Haller es so weit öffnete, dass er hindurchgehen konnte. Er war schon ein Dutzend Schritt weit auf das zur Villa der 'Neuen Templer' gehörende Grundstück getreten, als er sich umdrehte. Anna stand noch immer am Tor und war ihm bisher nicht gefolgt.

„Was ist los?“

„Ist das denn alles rechtens so?“

„Interessiert es dich nicht, was hier los ist? Komm schon, ich mache nur das, was auch der Postbote tun würde, wenn die Klingel kaputt ist.“

„Die Klingel ist nicht kaputt.“

„Also, ich hatte schon das Gefühl.“

Anna überwand schließlich ihre Bedenken und folgte Haller, der allerdings nicht auf sie wartete. Er ging auf die Haustür zu. Auch dort gab es eine Klingel, die der Kriminalhauptkommissar betätigte. Anna holte ihn ein.

„Hier ist zurzeit niemand“, gab Anna ihrer Überzeugung Ausdruck.

Haller sah auf seine Armbanduhr. „Und ich dachte immer, die Zeit kurz nach Feierabend wäre genau das Richtige für Hobby-Okkultisten und Geheimtreffen von Sektierern, weil dann niemand mehr arbeiten muss! Aber vielleicht brauchen die einfachen Ritualteilnehmer ja sogar einen Zweitjob, um sich den Spaß leisten zu können und haben dann erst gegen Mitternacht Zeit, sich den dämonischen Mächten zu widmen.“

„He, Sie!“, rief eine heisere Stimme, der ein Husten folgte. Raucherhusten!, glaubte Anna sofort zu erkennen. Sie hatte ein untrügliches Ohr dafür. Ihr Vater hatte jahrzehntelang geraucht, bis es ihm der Arzt nach dem ersten Herzinfarkt verboten hatte. Anna hatte lange Zeit unter der Vorstellung gelitten, wegen des jahrelangen Passiv-Rauchens irgendwann an Lungenkrebs oder einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zu sterben und war deswegen auch regelmäßig zum Arzt gegangen. Inzwischen hatte sie diese Check-ups auf ein Mal im Vierteljahr reduziert, was sie allerdings nicht davor bewahrte, von ihren Hausärzten regelmäßig für eine Hypochonderin gehalten zu werden, was dazu führte, dass sie relativ häufig den Arzt wechselte. Aber es war ja ohnehin vernünftig, auch andere Meinungen hinzuzuziehen.

Ein dicker Mann mit hochrotem Kopf und krausem grauen Haar kam hinter der Hausecke auf die beiden Besucher zu und der erste Gedanke, der Anna nach der zielsicheren Raucherhusten-Diagnose kam, war der, dass sie illegal hier waren und es jetzt auf jeden Fall Ärger geben würde. Wenn etwas schiefging, dann in der Regel richtig. Aber das sollte Haller ausbaden. Sollte sich der Kripo-Mann doch eine gute Ausrede ausdenken. Sie würde so tun, als hätte sie das nicht gehört. Eigentlich war das Kopf-in-den-Sand-Stecken beim Auftauchen von Schwierigkeiten etwas, was sie ihren Patienten niemals empfohlen hätte. Irgendwann während des Studiums hatte einer ihrer Professoren sie mit einem zynischen Statement sehr erbost, wonach ein Hinweisschild niemals in die Richtung laufen würde, in die es wies. Warum hätte man also von einem Ratgeber erwarten sollen, dass er unbedingt seine eigenen Ratschläge auch selbst befolgte? In diesem Moment verstand Anna zum ersten Mal, die Wahrheit, die darin lag.

Der Mann näherte sich langsam, aber bemüht. Und er rang dabei nach Luft, hustete noch einmal und brauchte erst ein paar Augenblicke, um wieder sprechen zu können. Dass das nur in zweiter Linie an dem zum Asthma ausgewachsenen Raucherhusten und seinem Übergewicht lag, war bereits zu ahnen, denn in seinem Gesicht stand blankes Entsetzen.

Er trug eine braune Cordhose und ein kariertes Hemd, dessen ersten drei Knöpfe offen waren, was ihm offenbar trotzdem nicht genug Luft zum Atmen verschaffte. In der Brusttasche des Hemdes steckte eine Packung Zigaretten. Er ist also einer von den Unverbesserlichen, die von ihren Sargnägeln einfach nicht lassen können!, ging es Anna durch den Kopf. Aber die Furcht, die in seinen auffallend unruhigen, flackernden Augen zu sehen war, irritierte sie zunehmend.

Haller nutzte den sprachlosen Moment und hielt dem Raucher seinen Ausweis hin. „Haller, Kripo Münster.“

„Na, Gott sei Dank, Sie sind schon da.“

Auf Hallers Stirn bildete sich eine tiefe Falte. „Schon da?“, echote er.

„Ja, ich hab Sie doch gerufen. Mit dem Handy.“

„Gerufen?“

„Sie müssen sich das ansehen!“

„Was?“

„Na, kommen Sie einfach ...“, er atmete noch mal heftig und rasselnd, bevor er dann den Satz zu Ende brachte, obwohl man sowieso wusste, was noch kommen würde, „... mit!“

Haller zuckte mit den Schultern, sah kurz zu Anna herüber und sagte dann: „Bitte nach Ihnen, Herr ...“

„Driemeyer. Ich heiße Driemeyer und mir gehört das Haus hier.“

Er drehte sich um und ging voran. Haller und Anna folgten ihm.

„Dann haben Sie es an diese sogenannten 'Neuen Templer' vermietet?“

„Genau.“ Er ächzte. „Großer Fehler. Aber das weiß man ja nie im Voraus. Andererseits haben die bisher immer ihre Miete gezahlt, was heutzutage auch nicht unbedingt ...“ - Er ächzte wieder und vollendete den Satz dann auch nicht mehr. „In einem anderen Haus, das mir gehört, hatte ich Mietnomaden. Hat mich fast ruiniert.“

Das Gras war knöchelhoch und von zahllosen Blumen und Moos durchsetzt. Mehr eine Wildwiese als ein Rasen. Anna kam sich vor wie ein Storch, weil sie das Gefühl hatte, genau darauf achten zu müssen, wo sie ihren Fuß hinsetzte. Sie wollte schließlich in nichts hineintreten. Was auch immer das auch sein mochte. Schnecken, Hundekot, Dornengewächse oder einfach nur eine Stelle, an der sich seit dem letzten Regen noch etwas Feuchtigkeit gehalten hatte, sodass ihre Socken nass wurden. Haller trampelte einfach drauflos. Auch, als das Gras noch etwas höher wurde und ihm fast bis zum Knie reichte.

„Ja, ist nicht gerade gut gepflegt hier, ich weiß“, sagte Driemeyer.

„Na ja, Sie wollen ja auch nicht am Wettbewerb 'Unser Dorf soll schöner werden' teilnehmen, oder?“, meinte Haller wenig sensibel, denn dieser Mann hatte nun wirklich im Moment für flapsige Bemerkungen keinen Sinn. Dass er schwitzte, musste ja an der Kombination warmes Wetter plus Übergewicht liegen. Aber sein Gesicht war so aschfahl wie Anna das bisher nur bei Menschen gesehen hatte, denen soeben etwas widerfahren war, das sie zutiefst schockiert hatte.

Sie gelangten schließlich an ein Kellerfenster, das in einen etwa anderthalb Meter tiefen Schacht eingelassen war. Es war abgeklappt. Ein gusseisernes Gitter verhinderte, dass eventuelle Einbrecher sich das hätten zunutze machen können. Und außerdem gab es noch ein Rost, das den Schacht abdeckte, damit niemand hineinfiel.

Ein übler Gestank schlug Anna entgegen.

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen vergleichbaren Geruch in der Nase gehabt zu haben. Zumindest nicht in gleicher Intensität. Sie hielt unwillkürlich den Atem an. Myriaden von glänzenden Fliegen umschwirrten das Fenster. Sie drangen aus dem Fenster heraus und surrten unruhig durcheinander. Ihre Panzer glänzten im Licht der inzwischen schon tiefer stehenden Sonne.

Haller scheuchte einige von ihnen mit wedelnden Bewegungen davon.

„Da habe ich doch recht, oder?“, meinte Driemeyer. „Da ist doch was nicht in Ordnung!“

„Das sind Totenfliegen“, sagte Haller tonlos.

*

Martinshörner waren in diesem Moment zu hören. Einsatzwagen der Polizei fuhren offenbar auf das Grundstück, als Anna das Haus bereits wieder umrundet und die Vorderfront erreicht hatte.

Haller und Driemeyer folgten ihr etwas später. Einen Moment länger und ich hätte mich übergeben müssen!, durchfuhr es Anna und auch jetzt hatte das Ringen mit den Reflexen ihres Magen-Darm-Traktes kein Ende. Ihr war ziemlich flau. Der Geruch hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit dem, den sie in einer Leichenhalle mal erlebt hatte. Nur dass darin auch eine deutliche Note irgendwelcher Desinfizierungsmittel herauszuriechen gewesen war, was die Sache dann doch um einiges erträglicher machte. Im Hintergrund hörte sie, wie Haller und Driemeyer sich unterhielten.

„Also das war so: Vom Nachbargrundstück sind Kinder hierhergekommen, um einen Ball wiederzuholen, der hier rübergeflogen ist.“

„Kinder?“, wunderte sich Haller. „Das sah mir nicht so aus wie eine Gegend, in der viele Kinder wohnen.“

„Sie wohnen auch nicht hier. Aber an der Rückfront grenzt dieses Grundstück an eine Ganztagsschule. Ab und zu fliegt da schon mal was rüber und der Krach ist ja auch nicht ohne. Ein Nachbar hat früher immer vergeblich dagegen geklagt, aber das ist dann wohl im Sande verlaufen. Jedenfalls haben die Kinder ihrem Lehrer Bescheid gesagt und von ganz vielen Fliegen berichtet, die aus einem Fenster kommen und der Lehrer hat es dem Schulleiter gesagt und der hat mich dann angerufen.“

„Und was ist mit Ihren Mietern?“

„Ja, von denen war ja keiner erreichbar. Ich habe natürlich versucht, von diesem Templer-Verein jemanden an die Leitung zu bekommen, aber es ist niemand drangegangen. Also habe ich mich selbst hierherbemüht, um die Sache mal nachzuprüfen. Ich dachte erst, da spinnt jemand herum.“ Driemeyer machte eine kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen, was aber erst mal in einem Hustenanfall endete. „Furchtbarer Geruch!“, meinte er. „Ich glaube, den werde ich nie vergessen. Ist ja schlimmer, als in einer Kläranlage. Ich glaube, da brauche ich erst mal eine Zigarette!“

„Habe Sie denn einen Schlüssel zum Haus?“

„Ja, habe ich. Aber ich wollte auch nichts verkehrt machen und einfach hineingehen, zumal ich ja auch nicht wusste, was mich da erwartet. Ich meine, man hört doch immer so viel davon, dass man an einem Tatort keine Spuren verwischen soll und so was.“

Driemeyer steckte sich jetzt tatsächlich eine Zigarette in den Mund, suchte dann in den tiefen Taschen seiner für das Wetter viel zu warmen Cordhose nach einem Feuerzeug und fand es schließlich.

Dann blieb er stehen und versuchte, sich die Zigarette anzuzünden, was schwierig zu sein schien, denn das Feuerzeug schien ziemlich leer gebrannt zu sein. Funken sprühten, aber der Glimmstängel wollte einfach nicht glimmen, was Driemeyer schließlich so aufregte, dass er falsch atmete und einen Hustenanfall bekam – den schlimmsten bisher.

Haller ging unterdessen den uniformierten Beamten entgegen.

„Haller, Kripo Münster.“

„Oelrich, Polizei Osnabrück. Wundert mich, dass Sie aus Münster schneller hier sind als wir!“

„Nein, das ist reiner Zufall!“

„Wir haben hier einen Verdacht auf einen Leichenfund, richtig?“

„Ja.“

„Ist der Hausbesitzer erreichbar?“

„Das Haus wurde von einem Verein gemietet. Aber der Eigentümer ist hier und hat einen Schlüssel.“ Haller beschrieb Oelrich kurz die Lage, wie er sie vorgefunden hatte. „Ich würde sagen: Nichts wie rein. Sie können natürlich auch gerne noch selbst eine Nase von diesem Duft nehmen und sich etwas von den Fliegen umschwirren lassen.“

„Nein, danke“, sagte Oelrich.

Wenig später öffnete Driemeyer die Tür. Haller folgte ihm auf dem Fuß. Dann folgten Oelrich und zwei seiner Beamten und ganz zum Schluss erst Anna.

Innen war die Villa nichts Besonderes. Ein hoher Flur, eine uralte Tapete und Lampen, die man schon als Zeugen der Geschichte bezeichnen konnte. Die letzten Renovierungsarbeiten mussten schon sehr lange zurückliegen. Ein schwarzes Brett gab Auskunft über Termine und Veranstaltungen der Neuen Templer.

Driemeyer hatte auch den Schlüssel für den Keller parat. Den Plan, sich eine Zigarette anzuzünden, hatte er inzwischen wohl wieder aufgegeben.

Haller folgte dem Hausbesitzer eine schmale Treppe hinab, dann folgten Oelrich und ein weiterer Beamte. Der Beamte Nummer drei blieb hingegen im Erdgeschoss und sah sich das schwarze Brett an.

„Wer sind'n Sie eigentlich?“, fragte er an Anna gerichtet.

„Anna van der Pütten.“

„Neu in Münster?“

„Nein, weshalb?“

„Weil ich die Kollegen dort ganz gut kenne. Da habe ich nämlich angefangen, aber Sie sind mir nicht aufgefallen.“

„Ich bin Kriminalpsychologin. Wir bearbeiten den Barbier-Fall.“

„Ah, ja. Habe ich von gehört. Und Sie denken, das hier hat damit zu tun?“

„Ich weiß es nicht.“

Anna hatte keine Lust, sich weiter zu unterhalten. Sie folgten den anderen die Treppe hinunter. Im Keller brannten nur einfache Glühbirnen, die wohl zu den letzten ihrer Art gehören mussten, denn inzwischen war diese Art der Beleuchtung ein Opfer der Regulierungswut der Europäischen Union geworden.

Anna folgte den anderen einen Flur entlang in einen großen, kahlen Raum, dessen Einrichtung entfernt an das Studio einer Domina erinnerte.

So gab es unter anderem ein Andreas-Kreuz, das offensichtlich dazu diente, jemanden daran zu fesseln. Die Wände waren mit okkulten Zeichen bemalt und es gab ein Standbild, das einen Stierkopf zeigte. Dies war offenbar ein Raum, in dem die 'Neuen Templer' ihre Kulthandlungen durchführten.

Ein furchtbarer, fauliger Geruch lag in der Luft und Myriaden von Fliegen umschwirrten einen Krug. Todesverachtend warf Haller einen Blick hinein, wobei er gleichzeitig durch wedelnde Bewegungen versuchte, sich die Fliegen vom Leib zu halten.

„Scheiße, was ist das denn?“

„Sieht aus wie abgeschnittene Ohren“, meinte Oelrich, der mit einer kleinen Taschenlampe hineinleuchtete. „Ist ja echt ekelig!“

„Für mich sieht das aus wie Pilze“, kommentierte Driemeyer. „Stinkmorcheln. Und vor allen Dingen riecht es auch so!“

Oelrich runzelte die Stirn. „Keine Ohren?“

Driemeyer nahm eine Nase voll von dem intensiven Verwesungsgeruch, hustete erbärmlich und schüttelte den Kopf.

„Nee!“, sagte er entschieden. „Stinkmorcheln! Echt! Und die haben auch die ganzen Fliegen angelockt! Aber 'ne Sauerei ist es trotzdem!“

In diesem Moment klingelte Driemeyers Handy. Er ging an den Apparat. „Ja schön, dass Sie jetzt doch noch zurückrufen, Herr Tornhöven! Ich hatte Ihnen ja auch dreimal auf den AB gesprochen“, sagte er und musste dann erst mal husten und spucken, denn anscheinend war ihm eine der glitzernden Fliegen in den Mund geraten. „Sagen Sie mal, was ist das für eine Sauerei hier! Wir dachten schon, Sie haben eine Leiche im Keller! Was? Ja, kommen Sie schnell her! Und zwar sehr schnell!“

Das Gespräch war offenbar beendet, denn Driemeyer steckte sein Handy wieder in die ausgebeulte Hosentasche.

Inzwischen war Anna auf einige Gegenstände aufmerksam geworden, die in einer Glasvitrine zu sehen waren. Ein Sortiment verschiedenster Messer und Dolche war darunter. Die Klingen allesamt mit seltsamen runenartigen Zeichen versehen, die Anna stark an die Accessoires erinnerte, die Branagorn benutzte.

Und dann waren da auch Drahtschlingen, gute zwanzig Zentimeter lang, an deren Enden sich jeweils Holzgriffe für die Hände befanden.

„Sven, ich glaube, du solltest dir dies hier mal ansehen“, sagte Anna tonlos. „Ist das nicht genau die Art von Tatwaffen, die wir suchen?“

Haller trat neben sie. Er nickte leicht.

„Wenn jetzt noch irgendwo ein Jagdgewehr auftaucht, dann bin ich vollkommen zufrieden“, sagte er. „Auf jeden Fall wird uns dieser selbsternannte Neue Templer einiges zu erklären haben, wenn er hier auftaucht.“ Haller nahm sein Handy ans Ohr und telefonierte mit dem Präsidium in Münster. Offensichtlich hatte er Kevin Raaben am Apparat, wie Anna aus dem Verlauf des Gesprächs schloss. Unter anderem forderte er ein Team der Spurensicherung und Verstärkung an. „Nichts anfassen!“, wandte er sich an Driemeyer und Oelrich. „Ich will, dass hier alles auf den Kopf gestellt wird. Den Durchsuchungsbeschluss wird mein Kollege dabei haben, sobald er hier ist!“

Um ein Haar in Borghorst

Branagorn ging die Nordwalder Straße in Borghorst entlang. Er hatte noch eine ganze Weile nach seinem Gespräch mit Nadine Schmalstieg im Café Mauritius vor seinem Glas Mineralwasser gesessen und nachgedacht. Eigenartigerweise hatten solche Phasen etwas längerer innerer Versenkung immer die Folge, dass irgendjemand fragte, ob denn alles in Ordnung sei oder man noch etwas wünschte.

Branagorn hatte sich danach verabschiedet und war durch die Straßen gegangen. Sich den Stadtplan noch einmal anzusehen, war nicht nötig. Ein Blick reichte völlig aus, um alles Notwendige zu erfassen.

So gelangte er schließlich in die Nordwalder Straße. Hier suchte er nun systematisch nach der Adresse von Sarah Aufderhaar. Aufderhaar war nicht gerade ein besonders seltener Name im Münsterland und auch Sarah hatte nicht gerade Seltenheitswert, aber Branagorn hoffte, dass diese Kombination nicht gerade in dieser Straße mehrfach auftrat.

Branagorn ging in jede Einfahrt, in jede Hausnische und sah sich jedes Namensschild an, denn leider hatte sich Nadine Schmalstieg ja nicht an die Hausnummer erinnert, wo Sarah Aufderhaar wohnte.

Als der Elbenkrieger gerade von einer der Haustüren zurück zur Straße kam, wartete dort der Postbote in seiner gelb-blauen Kombination – ein Mann in den Fünfzigern, breit, mit rundem Gesicht und grauem, kurzgeschnittenen Haarkranz und dunklem Knebelbart sowie sehr kräftigen Augenbrauen, die in der Mitte zusammenwuchsen und eine geschlängelte Linie bildeten, sobald sich die Stirn in Falten zog.

„Sagen Sie mal, was machen Sie da eigentlich?“, fragte der Mann in Gelb und Blau, während er sich auf sein vollgepacktes Dienstfahrrad stützte. „Ich beobachte Sie nämlich schon eine ganze Weile.“

„Ich bin auf der Suche, werter Herold in Gelb und Blau“, sagte Branagorn und verneigte sich höflich.

„Tja, sind wir das nicht alle in gewisser Weise? Fragt sich immer nur wonach!“

„Ihr sprecht weise Worte“, erwiderte Branagorn.

„Aber ein Sternsinger sind Sie nicht zufällig, oder? Dafür wären Sie nämlich ein bisschen zu spät ...“ Der Postbote grinste und wurde dann aber sofort wieder ernst. „Sie kennen sich hier nicht aus?“

„Die Veränderung ist allgegenwärtig. Es ist schon sehr lange her, dass ich dieses Lande zuletzt besucht habe.“

Der Postbote seufzte. „Ja, da sagen Sie was Wahres“, gestand er zu. „Grade diese Straße hat sich stark verändert. Da vorne, über die Straße, da war zum Beispiel früher eine Volksschule, da war ich Schüler. Ist alles abgerissen. Und hier war ein Geschäft. Terres hieß das.“

„Ihr scheint Euch gut in diesem Lande auszukennen. Bei mir ist es schon länger her, dass ich hier war. Damals war hier nichts außer einem Feldweg, auf dem ein Fuhrwerk steckenblieb, wenn es geregnet hatte.“

Der Blick des Postboten wurde jetzt sehr skeptisch. „Dass muss aber wirklich schon sehr lange her sein. Was weiß ich! Kaiser Wilhelm oder so was.“

„Kaiser Otto“, korrigierte Branagorn. „Aber Ihr habt recht – was bedeuten schon tausend Jahre im Angesicht der Ewigkeit?“

„So, so“, murmelte der Postbote. „Muss ich mir irgendwie Sorgen um Sie machen?“

„Nein, gewiss nicht.“

„Ist schon eigenartig.“

„Was?“

„Na, Sie haben gesagt, Sie würden eine Adresse suchen.“

„Das trifft zu, werter Herold.“

„Aber Sie stehen hier vor einem Postboten und kommen nicht auf die Idee, ihn danach zu fragen!“

„Warum sollte ich Euch fragen?“, gab Branagorn zurück und sein sonst sehr gleichmütig wirkendes Gesicht drückte jetzt deutlich seine Verwunderung aus.

„Weil es Stunden dauern könnte, bis Sie den richtigen Namen an einer Tür entdeckt habt – vorausgesetzt er steht überhaupt dort!“

„Ich habe Zeit genug“, sagte Branagorn.

„Wie schön für Sie“, gab der Postbote dünnlippig zurück. „Aber falls Sie nur von Tür zu Tür gehen sollten, um herauszufinden, wer vielleicht im Moment gerade im Urlaub ist und wo sich ein Einbruch lohnen könnte, dann sollten Sie wissen ...“

„Ich versichere Euch, dass dies mitnichten meine Absicht ist!“, unterbrach Branagorn seinen Gesprächspartner. „Andererseits ist mir natürlich durchaus bewusst, dass man in dieser Welt durch abweichendes Verhalten sich dem Verdacht aussetzt, eine böse Absicht zu verfolgen.“

„Sie haben eine etwas eigenartige Weise, das auszudrücken, aber Sie bringen es auf den Punkt, Herr ...“

„Herzog Branagorn von Elbara werde ich genannt.“

„Herr Herzog, soll ich vielleicht irgendwen für Sie anrufen, der sich um Sie kümmert?“

„Nein, habt Dank für Euer Angebot, aber ein sprechendes Artefakt besitze ich selbst.“

„Ich meine ja nur ...“

„Lebt wohl, werter Herold!“

Branagorn zog weiter seines Weges. Der Postbote war auf der Nordwalder Straße in entgegengesetzter Richtung unterwegs und sah aber dem Elbenkrieger noch eine Weile nach. Als Branagorn zwei weitere Häuser vergeblich nach einem Schild mit dem Namen Aufderhaar aufgesucht hatte, bemerkte er aus den Augenwinkeln heraus, dass der Postbote zu seinem Handy gegriffen hatte. Vielleicht, so dachte Branagorn, ist es gar nicht schlecht, wenn der Herold nun die Hüter der Ordnung herbeiruft, auf dass sie im Kampf gegen den Traumhenker zu Hilfe eilen mochten!

*

Zwei weitere Eingänge wurden von Branagorn erfolglos nach einem Aufderhaar-Namensschild abgesucht, dann wurde er fündig.

Es war ein zweistöckiges Haus. Im Erdgeschoss wohnte ein gewisser oder eine gewisse A. Gross, während an der zur oberen Wohnung gehörenden Klingel Aufderhaar stand.

Kein Vorname, kein akademischer Grad oder irgendein weiterer Zusatz – einfach nur Aufderhaar.

Branagorn klingelte.

„Ja bitte?“, meldete sich eine Frauenstimme.

„Spreche ich mit Sarah Aufderhaar?“, vergewisserte sich Branagorn.

Eine Pause entstand. „Wer sind Sie denn und was ist Ihr Anliegen?“

„Es geht um Eure toten Freunde und um die Gefahr, dass Ihr selbst das Opfer einer Mörderseele werdet!“, sagte Branagorn. „Mein Name ist Branagorn von Elbara und ich bin ein Bekannter der ehrenwerten Nadine Schmalstieg, mit der ich über die schrecklichen Morde in Eurem Bekanntenkreis gesprochen habe. Jennifer Heinze war das letzte Opfer und ich möchte die Mörderseele entlarven, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet ...“

„Einen Moment“, kam es durch die Sprechanlage.

Ein Surren ertönte. Die Tür ließ sich jetzt öffnen. Branagorn trat ein. Offenbar habe ich die richtige Form der Ansprache gefunden!, ging es ihm durch den Kopf, während er in den Flur trat.

Dieser Flur führte geradewegs zum Hinteraufgang und war ziemlich breit. Rechts gab es die Wohnungstür von A. Gross. Ein altes Damenrad stand gegen die Wand gelehnt. Wozu der Raum auf der rechten Seite diente, vermochte Branagorn nicht zu erraten. Auf jeden Fall gab es dort weder ein Schild noch eine Klingel oder irgendein anderes Zeichen, das einen Hinweis darauf hätte geben können.

„Hallo?“, fragte eine Stimme von oben. Und gleichzeitig öffnete sich die Tür von A. Gross ein Stück. Aber nur einen einen Spalt, der kaum breiter war als ein Daumen. Jemand beobachtete Branagorn von dort aus. „Hallo?“, ertönte nun noch einmal die Stimme von oben. Es war zweifellos jene Stimme, mit der Branagorn sich über die Sprechanlage unterhalten hatte.

„Ja, ich bin hier“, sagte Branagorn laut.

Sein Blick wurde von etwas gefangen genommen, das er am Boden entdeckt hatte. Es handelte sich um ein Haar. Auf dem glatten, hellen Boden war es gut erkennbar, denn es hob sich dunkel dagegen ab. Zumindest hatte Branagorn diesen Eindruck.

Zwei Schritte war es von ihm entfernt. Er trat hinzu, bückte sich und hob es auf. Dann hielt er es ins Licht.

Anschließend steckte er es in einen Beutel, den er an seinem Gürtel trug und ging die Treppe hoch. Eine Frau von Ende zwanzig kam ihm entgegen. „Aufderhaar“, sagte sie. Es klang knapp und streng. Ihre dunklen Augen musterten Branagorn aufmerksam.

„Wenn Euch mein Aufzug wundert, so möchte ich dem entgegenhalten, dass auch Ihr bisweilen in Gewandung aufgetreten seid und dies unter Euresgleichen doch eigentlich nichts Ungewöhnliches ist.“

„Ja, das ist schon richtig“, sagte sie. „Oder besser: Das war mal richtig.“

„Wenn Ihr mir diese Bemerkung bitte erläutern würdet, werte Frau Aufderhaar?“

„Irgendwann wird jeder mal erwachsen.“ Nach einem weiteren abschätzigen Blick fügte sie dann noch hinzu: „Na ja – fast jeder!“

„Nun, wie dem auch sei – eine Bemerkung möge mir gestattet sein. Euch steht die Gewandung einer Maid ganz gewiss außerordentlich gut, um nicht zu sagen: besser, als die fantasielose Kleidung dieses Zeitalters, die reinem Zweckdenken verpflichtet ist, weil die Schneider es verlernt haben, ihr Handwerk so auszuüben, wie man es früher von ihnen gewohnt war. Aber vielleicht fehlt ihnen ja auch nur die Magie ...“

„Sie sind ein seltsamer Kerl, und mir ist ehrlich gesagt noch nicht so ganz klar, was Sie eigentlich von mir wollen“, stellte sie betont kühl fest.

„Doch, das ist Euch durchaus klar, denn nur aus diesem Grund habt Ihr mir überhaupt geöffnet. Allerdings weiß ich nicht, ob es wirklich ratsam ist, wenn wir uns hier im Treppenhaus unterhalten. Mir dünkt, dass die aufmerksamen Ohren von Spionen allgegenwärtig sind.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor ihr Mund wieder zu einer geraden Linie wurde und sie so beherrscht und kühl wie zuvor wirkte. „Herr Gross ...“, murmelte sie. Sie blickte kurz über das Treppengeländer in die Tiefe. Für ein paar Augenblicke herrschte Stille. Dann waren unten Schritte zu hören. „Kommen Sie herein, Herr ... Herzog oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen mögen.“

*

Branagorn folgte ihr in die Wohnung. Die Räume waren sehr hoch. Die meisten Wände waren mit Bücherregalen vollgestellt. Bei den Büchern schien es keinen thematischen Schwerpunkt zu geben. Branagorn sah Romane neben Bänden, die sich mit mittelalterlichem Leben und Gepflogenheiten beschäftigten, und Kochbüchern. Dazwischen waren immer wieder Porzellan-Puppen zu sehen. Manche trugen bunte Gaukler-Kostüme, andere kunstvoll gefertigte Kleider, die Branagorn ebenso wie die Frisuren an die Mode der Renaissance erinnerten.

„So, jetzt sagen Sie mir bitte, was Sie wollen.“

„Jennifer Heinze, Jana Buddemeier, Franka Schröerlücke, Elvira Mahnecke und Chantal Schmedt zur Heide – das sind die bisherigen Opfer, die das Wirken des Traumhenkers gekostet hat. Aber es wird dabei nicht bleiben. Die Mörderseele, in die er hineingefahren ist, wird mit dem Töten fortfahren. Aber ich habe mich entschlossen, den Kampf aufzunehmen.“

„Das ist ja schön für Sie und ich war selbst lange Jahre begeisterte LARP-Spielerin, aber jetzt und hier hätte ich mich gerne vernünftig mit Ihnen unterhalten. Also lassen Sie dieses Fantasy-Gequatsche weg und führen Sie hier kein Mysterienspiel auf! Es geht hier um eine ernste Sache!“

„Oh, dem will ich nicht widersprechen“, erwiderte Branagorn. „Und ich verstehe durchaus Eure Gereiztheit. Der Atem des Todes ist Euch im Nacken, das spüre ich deutlich. Ihr seid dem Traumhenker vielleicht näher als Euch lieb ist und es ist nur allzu leicht nachvollziehbar, dass Euch dies sehr belastet. Denn auch Euch ist zweifellos bewusst, dass es keine Möglichkeit gibt, sich vor den Mächten der Finsternis, von denen ich künde, zu verbergen. Selbst die Mittel der Magie versagen da zumeist, wie ich leider eingestehen muss!“

„Wissen Sie was? Ich habe keine Ahnung, was für ein Spinner Sie sind, aber ich glaube nicht, dass Sie sich ernsthaft mit diesem Fall beschäftigen, geschweige denn, dass Sie etwas wissen.“

„Oh, da irrt Ihr gewaltig, werte Frau Aufderhaar!“

„Am besten Sie gehen jetzt wieder! Was immer Sie da für ein Spiel abziehen, ich gehe Ihnen nicht auf den Leim – nur weil Sie ein paar Namen aus dem Hut zaubern, die Sie wahrscheinlich aus der Presse haben!“

„Ihr irrt!“

„Guten Tag, Herr Herzog von irgendwas!“

„Ich habe ein Haar im Flur gefunden – und es ähnelt sehr stark jenem Haar, das ich auf der Planwiese in Telgte fand! Ein Haar, das Jennifer Heinze wohl zuzuordnen ist, auch wenn die Untersuchung der Ordnungshüter und ihrer Alchemisten in diesem Punkt wohl noch nicht abgeschlossen ist.“

„Raus!“

„Beantwortet mir erst eine Frage! Wie kann es sein, dass dieses Haar in Eurem Flur zu finden war?“

„Ich habe keine Ahnung von irgendeinem Haar!!“

„Haar, das der Toten abgeschnitten wurde, so wie jene Mörderseele, die von den Hütern der Ordnung als Barbier bezeichnet wird, es bei all ihren Opfern vollzogen hat! Tut nicht, als wüsstet Ihr das nicht – denn die Opfer waren Euch gut bekannt: Mit einigen von ihnen sah ich Euch auf einem Bild im Buch der Gesichter ...“

„Sie reden anscheinend nur wirres Zeug. Ich hatte angenommen, dass Sie vielleicht einem der Opfer nahestehen würden oder tatsächlich irgendetwas wüssten. Aber das scheint nicht der Fall zu ein. Gehen Sie jetzt – sonst muss ich die Polizei rufen.“

„Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr die Hüter der Ordnung ruft. Auch wenn wir die eine oder andere Meinungsverschiedenheit haben, so kann ich doch sagen, dass ich ein gutes Verhältnis zu ihnen pflege.“

„Was Sie nicht sagen ...“

„Neben der Wohnung des Aufmerksam-Vieläugigen ...“

„Herr Gross?“

„... gibt es noch eine andere Tür, die aber kein Schild trägt. Was ist dahinter zu finden?“

„Das ist eine Abstellkammer.“

„Das Haar, das ich gefunden habe, hat jemand verloren, der entweder zu Herrn Gross wollte, oder in diese unbekannte Kammer.“

„Herr Gross wohnt hier schon genauso lange wie wir, und Sie können mir glauben, ich kenne ihn sehr gut. Er mag etwas eigenartig sein und es kann manchmal auch etwas nerven, dass er versucht alles mitzubekommen, was im Haus vor sich geht, aber er ist ganz sicher kein Mörder. Mal davon abgesehen ist es ist es wirklich ziemlich absurd, von einem einzigen Haar solche Rückschlüsse zu ziehen.“

„Ihr sagtet gerade wir“, stellte Branagorn fest.

„Wie bitte?“

„Ihr sagtet wir – nicht ich. Diese andere Person, mit der Ihr diese Wohnung teilt, ist Eure Zwillingsschwester, nicht wahr?“

Ihr Gesicht veränderte sich und wurde starr. „Was wissen Sie über Melanie?“

„Nur, dass Ihr in magischer Weise mit ihr verbunden seid. So schilderte es mir die werte Heilschwester Nadine und ich habe nicht den geringsten Grund, an ihren Worten zu zweifeln.“

„Magie?“ Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Ich habe fast den Eindruck, Sie glauben den Schwachsinn wirklich, den Sie da erzählen. Ich meine, es gibt in der Rollenspieler-Szene schon eine ganze Menge durchgeknallte Typen, aber ich muss sagen, Sie sind wirklich irre! Denn im Gegensatz zu Ihnen, spielen Sie das nicht, sondern sie glauben tatsächlich daran!“ Sie schien ziemlich fassungslos zu sein.

Branagorns Blick blieb an einer der Puppen hängen.

„Wer von Euch widmet sich denn diesem Kunsthandwerk?“, fragte er. „Seid Ihr das – oder Eure geschätzte Schwester, mit der Ihr durch die Magie des Gedankenaustausches verbunden seid, wie mir berichtet wurde.“

„Ich habe keine Ahnung, was man Ihnen für einen Unsinn berichtet hat“, murmelte Branagorns Gesprächspartnerin, wobei sich ihr Mund kaum bewegte und auch nur soweit seine Form veränderte, wie es unbedingt notwendig war, um die Worte verständlich aussprechen zu können. Branagorn entging die plötzliche Feindseligkeit, die ihm nun entgegenschlug, nicht. Gleichwohl wusste er sie nicht zu deuten und schon gar nicht hätte er ihre Ursachen benennen können. Er war vielmehr sehr verwirrt und fragte sich, inwieweit es wohl sinnvoll sein würde, dieses Gefühl der Verwirrung zu offenbaren.

Aber es wurde schnell klar, dass er dazu ohnehin nicht mehr genügend Zeit haben würde, geschweige denn, dass er noch daran denken durfte, kurzfristig zu einer einigermaßen schlüssigen Hypothese zu kommen, was wohl so plötzlich mit ihr los sein mochte.

„Entschuldigt, wenn ich Euch Fragen gestellt habe, die zu intim gewesen sind und deren Beantwortung Euch vielleicht peinlich gewesen sein mag.“

„Gehen Sie jetzt!“, wurde Branagorn nun schon zum wiederholten Mal aufgefordert.

Er passierte die Wohnungstür, ging hinaus ins Treppenhaus und blieb dann aber auf dem Absatz stehen.

Er drehte sich noch einmal um. „Ich spüre, dass Ihr in unmittelbarem Angesicht der Gefahr lebt, werte Frau Aufderhaar! Nehmt dies nicht auf die leichte Schulter. Andere haben es womöglich schon vor Euch getan und sind heute nicht mehr unter den Lebenden!“

„Die einzige Gefahr steckt in Ihrem Kopf. Und den sollten Sie bei Gelegenheit vielleicht einmal untersuchen lassen!“

„Ihr verkennt die Wahrheit!“

„Leben Sie wohl, Herzog irgendwer oder wie immer Sie auch in Wirklichkeit heißen mögen!“

Die Tür fiel ins Schloss.

Branagorn stand einen Augenblick lang vollkommen still da. Er atmete nicht einmal. Stattdessen nahm er angestrengt auch die noch feinsten Geräusche in sich auf und ordnete sie einzelnen Vorgängen zu. Da waren die Motorengeräusche von Fahrzeugen, die von der Straße her zu hören waren, die Klingel eines Radfahrers, der aber nicht der Postbote sein konnte, denn an dessen Fahrrad hatte Branagorn keine Klingel bemerkt und außerdem ...

Schritte.

Füße, die versuchten geräuschlos durch den Flur zu schleichen. Branagorn blickte in die Tiefe.

Unten sah ihm das Gesicht eines hageren Mannes entgegen. Er war hohlwangig und schätzungsweise fünfzig Jahre alt. Sein Haar war voll, aber grau durchwirkt. Es war sehr dicht und drahtig und bildete auf Grund seiner Ausbildung von Naturlocken eine nestartige Frisur, die sein ohnehin sehr langes, schmales Gesicht mit dem v-förmigen Kinn und der schlanken, leicht nach oben gerichteten Nase noch länger und schlanker erscheinen ließ, als es ohnehin schon war.

Er trug einen Oberlippenbart, der an den Seiten schwarz und in der Mitte grauweiß war.

Filzpantoffeln, die durch eine etwas zu lange Hose mit Aufschlag fast verdeckt wurden, ein kariertes Hemd, das bis zum obersten Knopf geschlossen war, komplettierten das Bild. Die Kombination von Gürtel und Hosenträgern wären von jemandem wie Cherenwen in ihrer Erscheinung als Anna van der Pütten bestimmt als ein Zeichen für erhöhtes Sicherheitsbedürfnis interpretiert worden, ging es Branagorn durch den Kopf. Er selbst hatte zwar im Verlauf unterschiedlichster Therapien und Behandlungen einiges an beliebten psychologischen und psychiatrische Deutungsmustern kennengelernt, hielt sich selbst aber lieber an das, wovon er glaubte, dass seine Elbensinne es ihm zeigten.

Zwei wässrig-blaue Augen starrten Branagorn an. Sie schienen schreckgeweitet zu sein – entsetzt darüber, dass ihr neugieriger Blick genau in dem Moment in die Höhe starrte, als Branagorn in die Tiefe sah.

„Seid gegrüßt, ehrenwerter Herr ...“, sagte Branagorn.

Der Mann mit Gürtel und Hosenträger zog sich nun blitzartig zurück. Das Schlurfen seiner Filzpantoffel auf dem glatten Boden war für Branagorn unüberhörbar.

Der Elbenkrieger lief die Treppe hinunter. Seine Füße bewegten sich sehr schnell und so erreichte er den Flur, noch ehe der Lauscher in seiner Wohnung verschwinden konnte. An Letzterem hinderte ihn unter anderem sein großes Sicherheitsbedürfnis, das ihn nicht nur Hosenträger und Gürtel tragen ließ, sondern ihn wohl auch dazu veranlasste, seine Wohnung selbst dann abzuschließen, wenn er sie nur für ein paar Schritte über den Flur verließ.

„Ist Euer Name A. Gross?“, fragte Branagorn.

Der Mann hatte einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche herausgezogen. Dieser hing an einer langen, aber fast fingerdicken Kette, die wiederum am Gürtel festgemacht war. Er stocherte mit einem der Schlüssel etwas nervös im Schoss seiner Wohnungstür herum und machte dabei offenbar irgendetwas verkehrt. Jedenfalls öffnete sich die Tür erst nach ein paar Versuchen.

Nun drehte er sich um und blickte Branagorn entgegen.

„Wollen Sie etwas von mir?“

„Mein Name ist Branagorn, Herzog von Elbara und ich bin auf der Jagd nach der Mörderseele, von der der Totenhenker Besitz ergriff ...“

„Ah ja, vollkommen klar. Ich kaufe aber nichts.“

„Ich bin auch keineswegs ein Krämer, der Euch irgendetwas aufzuschwatzen versucht!“

„Dann würde ich sagen, sehen Sie zu, dass Sie hier rauskommen, ehe ich die Polizei rufen muss!“

„Die Hüter der Ordnung sind auf meiner Seite, denn wir verfolgen dasselbe Ziel – auch wenn ich den Fähigkeiten meiner Kampfgefährten nicht besonders viel zutraue, wie ich leider gestehen muss!“

„Hören Sie ...“

„Der Tatsache zufolge, dass Ihr diese Wohnung mit einem Schlüssel betretet, entnehme ich, dass Ihr A. Gross seid.“

„Der bin ich. Und ehrlich gesagt, können Sie sich Ihr Karnevalstheater sparen. Ich habe keinen Sinn für solche Späße – und das gilt umso mehr, als sie bewaffnet hier auftauchen!“

„Ich habe ein Haar im Flur gefunden, das vielleicht von einer toten Frau stammt. Ist das nicht Grund genug, weitere Nachforschungen anzustellen? Wollt Ihr mir da wirklich widersprechen?“

„Ein Haar?“

Das Gesicht von A. Gross veränderte sich und verzog sich zu einer Grimasse.

Branagorn deutete auf die Tür auf der gegenüberliegenden Flur-Seite, neben der das alte Damenfahrrad stand.

„Was ist in diesem Raum?“

„Wüsste nicht, was Sie das angeht!“

In diesem Moment klingelte es an der Tür. A. Gross machte einen Schritt in seine Wohnung und betätigte dort den Knopf, der es erlaubte, die Haustür von außen zu öffnen.

Zwei Polizeibeamte kamen herein, dahinter der Postbote, mit dem Branagorn sich unterhalten hatte. „Das ist der Mann“, sagte dieser und zeigte auf den Elbenkrieger.

„Ja, nehmen Sie ihn fest!“, stimmte A. Gross mit ein. „Bestimmt ein Irrer! Der ist bestimmt aus irgendeiner Anstalt ausgebrochen! Man ist ja heute nicht mal mehr in seinem eigenem Hausflur sicher!“

Zwei Verhöre und der Traumhenker

„Ich war das nicht!“, sagte Jürgen Tornhöven. „Das kann ich jetzt noch hundertmal wiederholen, aber das ist die Wahrheit, auch wenn Sie das nicht hören wollen!“

Tornhöven saß in einem der Verhörräume im Polizeipräsidium Münster. Haller hatte ihn vorläufig festgenommen, aber auch wenn er seine Unschuld beteuerte, würde daraus wohl ein etwas längerfristiger Aufenthalt in Gewahrsam werden.

Haller saß ihm gegenüber, während Anna van der Pütten das Gespräch durch eine Spiegelwand verfolgte und ihr Augenmerk dabei auf den Verdächtigen wandte. „Das ist mal wieder typisch“, sagte Tornhöven. „So sieht es eben mit der Religionsfreiheit in Deutschland aus! Die gilt nur, wenn man einer der Mehrheitskonfessionen angehört, aber sobald man etwas Abweichendes für wahr hält, geht es einem, wie einst den Wiedertäufern hier in Münster! Da hat sich nichts geändert!“

„Nun übertreiben Sie mal nicht“, sagte Haller etwas ärgerlich. „Erstens hat hier niemand vor, ihren blutigen Kopf in einen Käfig zu stecken und auszustellen und zweitens hat es auch überhaupt nichts mit Glaubensfreiheit zu tun, wenn man bei Ihnen Drahtschlingen findet, an denen offenbar Reste von Blut kleben!“

„Sie wollen mir jetzt wirklich um jeden Preis was anhängen, was? Da gibt es eine Erklärung für! Ihnen müssen ja die Dinge, die wir 'Neuen Templer' praktizieren, nicht unbedingt gefallen, aber es ist nun mal so, dass nichts davon gegen die Gesetze verstößt!“

Jürgen Tornhöven hatte sich standhaft geweigert, irgendwelche genauen Auskünfte über den Ablauf der Rituale zu geben. Offenbar war seine Furcht davor, die Geheimnisse seiner Sekte zu verraten, größer als die vor einer Inhaftierung. Allerdings hatten die Durchsuchungen in der Osnabrücker Villa, die der Sekte als Hauptquartier diente, inzwischen schon ein immer klarer und unappetitlicher werdendes Bild ergeben.

„Wo steht bitteschön geschrieben, dass es verboten sein soll, Fliegen mithilfe von Stinkmorcheln anzulocken“, ereiferte sich Tornhöven.

„Es ist auf jeden Fall eine Sauerei“, meinte Haller.

„Ja, es tut mir ja auch leid, das offenbar jemand von uns das Fenster aufgelassen hat. Das vermeiden wir normalerweise natürlich, weil niemand von uns an Ärger mit den Nachbarn interessiert ist!“

„Herr Tornhöven, den Gestank werfen wir Ihnen auch nicht vor. Und die Fliegen auch nicht. Aber Sie haben laut der Aussage einer Zeugin eine gewisse Jennifer Heinze zu Hause aufgesucht und bedroht ...“

„Das ist nicht wahr!“

„... und ein paar Tage später ist sie tot, und zwar auf eine Weise, die ziemliche Ähnlichkeit mit den Ritualen hat, die Sie in Ihrem Kreis durchführen! Außerdem gibt es diverse Messer mit Verunreinigungen, die darauf hindeuten, dass sie mit Blut in Berührung gekommen sind. Mit Hilfe von Luminol ist das nachgewiesen!“

„Ja, Blut! Aber wessen Blut! Wessen, bitteschön?“

„Ich dachte eigentlich, dass Sie uns da weiterhelfen könnten. Aber bis jetzt habe ich da nichts von Ihnen gehört. Aber glücklicherweise gibt es ja Labore mit fleißigen Mitarbeitern – und die werden jetzt dafür sorgen, dass jedes dieser Messer und die Spuren daran genauestens unter die Lupe und was die moderne Kriminaltechnik noch so zu bieten hat, genommen werden. Und dasselbe gilt für diese Drahtschlingen, die nun wirklich ziemlich ungewöhnlich sind. Auch daran klebt Blut und wir können einen Zusammenhang zu den anderen Taten des Barbiers nicht ausschließen. Und was Ihre Alibis angeht, so sieht das auch sehr dürftig aus ...“

Tornhöven lehnte sich zurück. „Erstens liegen die Morde dieses Barbiers, die Sie mir unterschieben wollen, doch zum Teil schon recht lange zurück!“

„Und Sie denken, dass man dann keine DNA-Tests und andere Nachweise mehr durchführen kann? Seien Sie sich da mal nicht zu sicher!“

„Also ein Messer oder eine Drahtschlinge nach einem Ritual, das damit durchgeführt wird, nicht zu reinigen, mag auf so einen Kleingeist wie Sie ja vielleicht unhygienisch wirken ...“

„Ja, dieser Gedanke kam mir durchaus, wie ich zugegeben muss, aber nachdem ich den Stinkmorchelduft in der Nase hatte, war ich so abgehärtet, dass ich das wieder schon fast normal finde ...“, unterbrach ihn Haller ironisch.

„... aber Spuren an einer Mordwaffe zu lassen, wäre doch dumm!“, vollendete Tornhöven seinen Satz.

„Richtig. Vorausgesetzt, man glaubt nicht daran, dass Blut eine besondere magische Kraft hat. Unsere Leute haben in Ihrem Sektenhauptquartier herumgestöbert. Da waren überall Schriften, in denen so ein Unsinn behauptet wurde! Und dann macht es sehr wohl Sinn, solche Spuren nicht abzuwischen.“

„Ach, und Sie überfliegen okkulte Schriften mal eben so und haben gleich auch deren Inhalt verstanden! Bravo! Solche Idioten wie unsere Mitglieder haben natürlich bedeutend länger gebraucht, ehe wir das geschafft hatten!“

In diesem Augenblick ging die Tür des Verhörraums auf. Ein Mann in dunklem Dreiteiler trat ein. Sein Scheitel war so gerade gezogen wie die Bügelfalte an seinen Hosen und in den blitzblank geputzten Schuhen hätte man sich spiegeln können.

„Bültemann, von der Kanzlei Bültemann und Jannings in Osnabrück, ich bin der Anwalt von Herrn Tornhöven. Leider konnte ich nicht früher hier sein, weil ich im Verkehr stecken geblieben bin. Sie werden die Verhältnisse in Münster ja kennen“, wandte er sich an Haller und reichte ihm die Hand, während er gleichzeitig schon sein Diplomatenköfferchen auf dem Tisch platzierte. Haller blickte zur Tür. Da stand Kevin Raaben und zuckte nur mit den Schultern.

„Haller“, stellte sich Haller vor.

„Ja, ich habe schon gehört, dass Sie die Sache übernommen haben. Unter uns gesagt, Ihnen eilt ja ein gewisser Ruf voraus, wie man weiß.“

„Ach, ja?“

„Erfolglos und ungesetzlich. Auf diese knappe Formel kann man wohl Ihr bisheriges Wirken zusammenfassen. Ich habe das nur aus der Ferne verfolgt, aber so etwas spricht sich herum und Sie scheinen ja genau in dieser Richtung auch unbedingt weitermachen zu wollen. Gut, dies scheint man offensichtlich innerhalb der hiesigen Polizei nicht als Karrierehindernis anzusehen, aber der gute Ruf der Münsteraner Polizei und Justiz muss ja nicht unbedingt meine Sorge sein. Herr Haller, ich hoffe auf gute Zusammenarbeit und darauf, dass sich alle Fragen zu Ihrer und unserer Zufriedenheit klären lassen.“

„Na, man hat ja nicht so oft konstruktive Gesprächspartner“, erwiderte Haller. „Was soll also schon schiefgehen?“

Doch!, dachte Anna, während sie dem Gespräch weiter durch die Spiegelscheibe folgte. Das wird unter Garantie schiefgehen!

Rechtlich und psychologisch und auch in sonst jeder nur erdenklichen Hinsicht!

*

Annas Handy klingelte. Sie hatte vergessen, es auf stumm zu schalten, was sie normalerweise immer tat, wenn sie konzentriert einem Gespräch folgte. Auf dem Display sah sie, dass es Frank Schmitt war, der sie zu erreichen versuchte.

Einen Moment lang zögerte sie, aber dann nahm sie das Gespräch doch entgegen.

„Branagorn?“

„Ich bin froh, Eure angenehme Stimme zu hören und entnehme dem, dass Ihr unversehrt und wohlauf seid!“

„Ja warum sollte mir denn auch irgendetwas zustoßen?“

„Die Mächte des Bösen lauern überall. Das wisst Ihr doch besser als die meisten anderen, Cherenwen. Denn Ihr schaut doch dem Übel ins Auge und versucht, die Macht des Traumhenkers mit dem Zauber sanfter Worte zu beschwichtigen.“

„Wo sind Sie jetzt, Branagorn?“

„In Steinfurt-Borghost vor einer Polizeidienststelle in der Emsdettener Straße.“

„Was machen Sie da?“

Die schlimmsten Befürchtungen stiegen augenblicklich in Anna auf. Nicht auszudenken, welchen Unsinn der Elbenkrieger wieder verzapft hatte. Manch Leute hatten wirklich ein außerordentliches Talent, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Und Branagorn alias Frank Schmitt schien in dieser Hinsicht auf besondere Weise gesegnet zu sein.

„Nun, es gab da ein paar Missverständnisse, weil ein Postbote glaubte, ich wäre jemand, der versuchen würde, in Wohnungen einzubrechen, und ein Zeitgenosse von empfindlichem Gemüt in mir eine Gefahr zu erblicken glaubte. Es hat einige Stunden gedauert, bis ich den Polizisten erklären konnte, dass ich nichts Übles im Sinn habe und auch in letzter Zeit keineswegs den berauschenden Getränken zusprach, deren Wirkung so verhängnisvoll sein kann ...“

„Aber man hat Sie wieder auf freien Fuß gesetzt?“, vergewisserte sich Anna.

„Man hat mich lediglich befragt und überprüft, wer ich in meinem innersten Wesen sei – und nachdem ich vorgab, Frank Schmitt zu sein und ihnen die Dokumente zeigte, die dies bestätigten, konnte ich sie über meine wahre Natur hinwegtäuschen.“

„Sie Glücklicher“, murmelte Anna und atmete innerlich auf. Sie hatte schon befürchtet, sich jetzt auch noch um Branagorn kümmern zu müssen und sich vielleicht endlos mit irgendwelchen Polizisten oder dem sozialpsychologischen Dienst herumschlagen zu müssen. Komplizierte Probleme hatte sie zurGenüge am Hals, da konnte sie auf so etwas gut und gerne verzichten.

Trotzdem – die Tatsache, dass Branagorn sie anrief und vor allem, dass er sie aus Borghorst anrief, beunruhigte sie. Er hatte ihr zweifellos noch nicht alles gesagt.

„Ist inzwischen das Haar untersucht worden, das ich auf der Planwiese in Telgte gefunden habe?“, fragte Branagorn.

„Dazu kann ich Ihnen nichts weiter sagen“, erwiderte Anna.

„Eigentlich müssten die Alchemisten im Dienst der Hüter der Ordnung doch längst ihre Arbeit beendet haben – oder verlange ich zu viel von ihnen?“

„Es sind so viele Spuren zu bearbeiten, Branagorn.“

„Da seht Ihr wie der Traumhenker auch mich beeinflusst und eine üble Magie selbst aus der Distanz dazu führt, dass ich mich einer ganz und gar unelbischen Hast hingebe!“

Für einige Augenblicke war von Branagorns Seite der Verbindung her nichts zu hören und Anna befürchtete schon, dass der Kontakt vielleicht unterbrochen war oder ihr Patient aufgelegt hatte. Aber sie glaubte dann, seinen ruhigen Atem über das Telefon wahrnehmen zu können. Aber das war vielleicht auch nur eine Täuschung.

„Warum rufen Sie an?“

„Ich sprach mit der Heilschwester Nadine Schmalstieg und war dem Traumhenker auf der Spur – sowohl in meiner Erinnerung als auch jetzt und hier.“

„Branagorn, Sie sind doch nicht etwa dabei, auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen.“

„Lässt es Euch gut schlafen, dass die Mörderseele noch umgeht und tötet, werte Cherenwen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Dazu kennen sich unsere Seelen schon zu lange.“

„Sie bringen sich noch in Teufels Küche!“

„Ist das wirklich Eure tiefste Sorge? Das kann ich nicht glauben, denn Ihr werdet doch auch nicht davon lassen, die Wahrheit zu suchen. So begab ich mich in ein Haus, in dem ich ein Haar fand, das dem ähnelt, welches ich in Telgte vom Boden hob! Auch dieses Haar muss unbedingt untersucht werden! Ich hatte das Empfinden, dem Traumhenker so nahe wie selten zuvor zu sein.“

„Branagorn, fahren Sie nach Hause! Sind Sie mit dem Zug nach Borghorst gefahren?“

„Ihr habt es erraten, werte Cherenwen!“

„Dann nehmen Sie den nächsten Zug zurück nach Münster!“

„Das ist nicht möglich. Dass der nächste Zug erst im Morgengrauen fährt, wäre dabei nicht das größte Hindernis, schließlich haben Elben ja Zeit genug, um eine solche Strecke auch zu Fuß hinter sich zu bringen und wenn die Umstände anders wären, würde es mir nichts ausmachen, für diese Reise ein oder zwei Tage einzuplanen ... Aber der wahre Grund, weshalb mir das nicht möglich ist, besteht darin, dass ich hier noch eine Aufgabe zu erfüllen habe.“

„Branagorn!“

„Lebt wohl und seid in Gedanken bei mir, sodass wir uns wiedersehen! Ich werde Euch berichten, was sich ereignet hat!“

„Brana...“

Die Verbindung war unterbrochen.

Inzwischen war Haller aus dem Besprechungszimmer gekommen. Er hatte einen hochroten Kopf.

„Na großartig, diese Unterstützung hatte ich mir von der Psychologin immer erhofft!“, meinte er. „Da drinnen geht’s um die Wurst und unsere Doppel-Psycho hat nichts Besseres zu tun, als sich mit dem Lieblingsirren der Saison zu unterhalten, anstatt vielleicht mal das Augenmerk auf die Reaktionen unseres Verdächtigen zu richten!“

Anna schluckte. „Tut mir leid ... Sven!“

Das klang steif und unbeholfen. Anna wusste es selbst, was für einen katastrophalen Eindruck sie im Moment gerade hinterlassen hatte. Und die betonte Nennung des Vornamens wirkte eher wie ein Zeichen dafür, wie tief die Distanz zwischen ihnen in Wahrheit war, als dass es so etwas wie persönliche Nähe unterstrichen hätte.

Einen Moment lang überlegte Anna, ob sie Haller davon berichten sollte, dass Branagorn eigene Ermittlungen in Borghorst anstellte. Aber um das zu erwähnen, blieb Anna dann gar keine Gelegenheit.

Kevin Raaben kam auf den Kriminalhauptkommissar zu.

„Sven, hast du einen Moment Zeit?“

„Kommt drauf an. Wir sind gleich beim Staatsanwalt und wenn wir Glück haben, wird heute noch ein Haftrichter dafür sorgen, dass Jürgen Tornhöven erst mal in der Zelle bleibt!“

„Deswegen sollst du dir das hier ansehen“, hakte Raaben ein. Er hatte ein paar Vergrößerungen von Fotos in der Hand. Anna war neugierig und warf ebenfalls einen Blick auf die Bilder, als Haller ihnen zumindest für ein paar Augenblicke seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmete.

„Das ist ein Bild vom Mittelalter-Markt!“, stellte Anna fest.

Raaben bestätigte dies. „Exakt. Und in der Vergrößerung erkennt man unter all den Gaffern einen ziemlich neugierigen Kerl, auch wenn er die Lederkappe mit der Fasanenfeder ziemlich weit ins Gesicht gezogen hat.“

„Hat entfernte Ähnlichkeit mit Kevin Kostner als Robin Hood, würde ich sagen“, meinte Haller. „Obwohl ich persönlich Errol Flynn in dieser Rolle immer viel besser fand.“

„Tornhöven!“, entfuhr es Anna.

„Trotzdem, wenn wir nicht mehr finden, werden wir Tornhöven morgen freilassen müssen“, sagte Raaben.

Anna musste ihm insgeheim recht geben. Schließlich arbeitete sie inzwischen lange genug mit der Polizei zusammen, um mit den Prozeduren vertraut zu sein. Und zurzeit war Jürgen Tornhöven rein rechtlich gesehen aufgrund der Verdachtsmomente, die sich in der Villa und durch die Befragung von Pamela Strothmann in Tecklenburg ergeben hatten, nur vorläufig festgenommen. Und wenn sich dieser Verdacht nicht zu einem sogenannten dringenden Tatverdacht erhärten ließ, dann war Tornhöven im Verlauf des folgenden Tages freizulassen. Die berühmten 24 Stunden, die in Fernsehkrimis oft fälschlicherweise genannt wurden, spielten dabei keine Rolle. Die Deadline endete am folgenden Tag um 24 Uhr. Aber vielleicht konnten bis dahin weitere Hinweise gesammelt werden. Insbesondere war mit ersten Ergebnissen an den sichergestellten Dolchen und Würgeschlingen zu rechnen und davon abgesehen waren eine Reihe von Beamten sowohl in Osnabrück als auch in Münster dazu abgestellt worden, andere Mitglieder der 'Neuen Templer' zu befragen. Außerdem war ein Computer sichergestellt worden und man würde den Zahlungsverkehr auf den Konten der Sekte dahingehend überprüfen, ob vielleicht andere Opfer des Barbiers für die Durchführung von Ritualen bezahlt hatten oder in irgendeiner anderen näheren Verbindung zu dieser Vereinigung standen.

„Kann ich das Bild mal aus der Nähe sehen?“, fragte Anna.

„Ja bitte“, sagte Raaben und reichte es ihr. „Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Videoschwenk und es war gar nicht so leicht, den Kerl in der Menge zu finden.“

„Eine Moment“, sagte Anna, als Raaben schon verschwinden und ihr das Bild wieder abnehmen wollte. In der Zwischenzeit war Haller von einem anderen Beamten angesprochen worden, den Anna nicht namentlich kannte. Haller sagte ziemlich genervt: „Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee ...“ und ging dann hinaus. Der Beamte, ein blasser Mann in kariertem Hemd und – trotz der warmen Witterung – mit Strickjacke, folgte ihm.

Anna wartete bis die beiden den Raum verlassen hatten. Dann wandte sie sich wieder an Kevin Raaben.

„Können Sie mir eine Kopie des Videodrehs vom Tatort geben?“

„Was wollen Sie denn damit?“

„Mir ansehen.“

„Ja, aber ...“

„Vielleicht erkenne ich Leute, die sich irgendwie verdächtig verhalten oder so. Unter psychologischen Gesichtspunkten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Irgendetwas, was auffällig ist. Denn zu den wenigen Dingen, die wir mit Sicherheit sagen können, gehört das Faktum, dass der Täter auf der Planwiese gewesen ist.“ Anna zuckte mit den Schultern. „Es könnte zum Beispiel sei, dass er den Hang hat, die Folgen seiner Tat zu beobachten.“

„Sie sagen das so, als würden Sie gar nicht in Betracht ziehen, dass Tornhöven unser Mann sein könnte!“

„Das weiß ich nicht“, gestand Anna. „Vielleicht ergeben sich ja durch Sichtung des Originalmaterials durchaus auch noch weitere Hinweise, die auf Tornhöven deuten. Da bin ich völlig unvoreingenommen.“

Raaben musterte sie. Anna bemerkte erst jetzt die Aufschrift seines T-Shirts. Ich bin ein Killerspiel-Spieler war da in so bluttriefenden Lettern zu lesen, dass man sie kaum erkennen konnte. Auf der Rückseite des T-Shirts stand die Fortsetzung: Nein, ich plane keinen Amoklauf!

Manche müssen wohl um jeden Preis cool sein!, ging es Anna durch den Kopf. Nur ja locker wirken und nicht so, wie nun mal der Großteil derjenigen war, die das Polizeipräsidium als ihren Arbeitsplatz bezeichneten. Dann war Anna doch die offensiv demonstrierte Form der Spießigkeit lieber als diejenige, die sich hinter einer Maske aus Lockerheit, Coolness und exakt geplanter Spontaneität tarnte. Schluss jetzt mit der Daueranalysiererei!, dachte Anna dann. Warum Kevin Raaben ein dämliches T-Shirt trug, anstatt ein Hemd, an dessen zu knapper Passform man erkennen konnte, dass es vielleicht zehn Jahre alt war und seinem Träger damals vielleicht auch gepasst hatte, konnte ihr schließlich gleichgültig sein. Auch wenn Beamte mit solchen knappen Hemden eigentlich immer schon einen Vertrauensvorschuss verdient hatten, wie Anna fand, denn sie demonstrierten ja schon im persönlichen Bereich Sparsamkeit und Effektivität.

Der Grund dafür, dass es Anna im Moment doch ziemlich schwerfiel, sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, was die konstituierenden Bestandteile von Kevin Raabens Charakter waren, lag vielleicht daran, dass sie den Eindruck hatte, dass er im Moment versuchte, ihr Verhalten zu analysieren.

Und das war etwas, was sie immer höchst irritierend fand.

Es verunsicherte sie in ihrer Therapeutenrolle und ihrem Dipl.-Psych-Ego, das sie sich mit so viel Mühe und Akribie aufgebaut hatte. Dabei spielte es auch fast überhaupt keine Rolle, wer diese Rollenumkehrung versuchte.

Dann erschien etwas in Kevin Raabens Gesicht, das man für ein flüchtiges Lächeln halten konnte.

Ein sogenannter Recognition-Reflex.

Er deutete mit dem Zeigefinger auf sie, was im Moment für Anna nicht hätte bedrohlicher wirken können, als wenn es sich um den Lauf einer Pistole gehandelt hätte. „Das Video-Zeug soll dieser Elbenspinner sehen, habe ich recht?“

Es war nur eine rhetorische Frage.

Anna stotterte irgendetwas herum, was sich nicht einmal ansatzweise nach einer professionellen Stellungnahme anhörte. Nicht einmal nach einem ganzen Satz, wenn man es genau nahm. Es war einfach nur unsinniges Gestammel, das schließlich verstummte.

Kevin Raaben zwinkerte ihr zu. „Macht nichts. Ich weiß von nichts. Und Sven ja auch nicht!“

„Ja, also ...“

„Wenn Sie einen Stick da haben, ziehe ich es Ihnen drauf! Für einen E-Mail-Anhang ist die Datei etwas zu voluminös!“

„Danke“, sagte Anna und gab ihm ihren Schlüsselbund. „Wenn man auf die Metallfläche des Anhängers drückt, kommt der USB-Anschluss hervor.“

„Ein Scherzartikel, was?“

„Ein Werbegeschenk meiner Autowerkstatt. Wenn Sie mir die Datei gleich kopieren, wäre das sehr freundlich!“

„Kein Problem – aber ich dachte eigentlich, wir sagen du, Anna!“

*

Dunkelheit senkte sich über Borghorst. Branagorn war schon seit geraumer Zeit unterwegs. Nachdem ihn die Polizei als offensichtlich harmlos entlassen hatte, ging er die Straßen entlang, den Blick dabei die meiste Zeit auf den Boden gerichtet und tief in Gedanken versunken. Er war höchst konzentriert und überlegte, was zu tun sei. Noch auf dem Weg zurück in die Nordwalder Straße war Branagorn entschlossen gewesen, seine Nachforschungen unbeirrt fortzusetzen – und zwar am besten dort, wo er sie aufgehört hatte. Genau so hatte er sich auch in dem kurzen Gespräch geäußert, das er mit Hilfe des sprechenden Artefakts mit seiner geliebten Cherenwen geführt hatte, die allerdings in dieser Welt darauf bestand, dass ihr wahres Ich Anna van der Pütten war. Und vielleicht, so überlegte Branagorn nicht zum ersten Mal, war es sogar besser, dies zunächst ungeachtet der wahren Tatsachen zu akzeptieren. Man musste Anna Zeit geben. Zeit, um zu erkennen, wer sie wirklich im innersten ihrer Seele war. Die geradezu unelbische Hast, mit der Branagorn in dieser Hinsicht bisher offenbar vorgegangen war, beschämte ihn nun manchmal und er fragte sich, wie er sich dazu nur hatte hinreißen lassen können. Um so höher war es dieser Frau anzurechnen, dass sie ihn zuletzt nicht mehr brüsk zurückgewiesen hatte, wenn er sich doch erdreistete, sie bei ihrem Seelennamen zu nennen, den sie in einer anderen, durch die Abgründe von Raum und Zeit getrennten Welt bekommen hatte, die für die Menschen dieser Zeit und gedanklichen Haltung jenseits aller Vorstellungskraft war. Immerhin erfüllte Branagorn nach diesem Gespräch ein Gefühl innerer Verbundenheit. Die gedankliche Nähe, die in Annas Worten seinem Gefühl nach zum Ausdruck gekommen war, erfüllte ihn mit Zuversicht. Er glaubte jetzt nicht nur, dass er in der Lage sein würde, in ihr das wahre Ich ihrer Seele zu erwecken, sondern hatte auch neue Hoffnung gefasst, dass sich Cherenwens Seele ihm wieder ganz zuwenden würde. So wie es schon einmal gewesen ist!, dachte er.

Aber bevor er sich diesen eher ihn persönlich betreffenden Problemen widmen konnte, musste jedoch auf jeden Fall der Traumhenker unschädlich gemacht werden. Für Branagorn war dies von allerhöchster Dringlichkeit. Es dufte einfach nicht geschehen, dass dieser finstere Gegner sich erneut erdreistete, den Herrn über Leben und Tod zu geben.

Aber genau darin schien diese Wesenheit sich zu gefallen.

Er genoss es, seine Macht aus dem Verborgenen heraus zu entfalten – vielleicht auch deshalb, weil er sehr genau spürte, dass dadurch Furcht und Schrecken, die er verbreitete, viel wirkungsvoller wurde. Aber Branagorn war entschlossen, dieser Macht die Stirn zu bieten.

Während er die Nordwalder Straße entlangging, entschied er, dass es keine gute Idee wäre, jetzt noch einmal das Haus zu besuchen, in dem Sarah Aufderhaar mit ihrer Schwester und der eigenartige A. Gross wohnten. Und davon abgesehen war es vielleicht wirklich zu früh, nur einer einzigen Spur zu folgen. Einer Spur, die aus einem Haar bestand, das jenem auf der Planwiese in Telgte zwar sehr ähnlich in Farbe und Beschaffenheit war, aber von dem selbst Branagorns überaus scharfe Augen nicht mit Sicherheit zu sagen vermochten, ob es auch von derselben Person stammte. Das konnten allein die Alchemisten in den Laboratorien, die von den Hütern der Ordnung unterhalten wurden, mit letzter Sicherheit sagen. Davon abgesehen mochte es ja auch sein, dass Jennifer Heinze dieses Haar bei anderer Gelegenheit in jenem Haus verloren hatte - was Branagorn zu der Frage führte, was sie dort wohl gesucht haben mochte und ob ihr Besuch dann nicht doch mit ihrem Tod in irgendeinem Zusammenhang stand. Schließlich konnte man davon ausgehen, dass der Hausflur regelmäßig gereinigt wurde. Ging man davon aus, dass diese Reinigung wöchentlich erfolgte, hatte man ungefähr einen zeitlichen Rahmen.

Nein, ich muss zuerst mehr erfahren!, wurde es Branagorn klar. Wenn er jetzt allerdings das Haus in der Nordwalder Straße erneut aufsuchte, hatte er wohl nur mit hysterischen Reaktionen und einer Verhaftung durch die Hüter der Ordnung zu rechnen. Vielleicht auch mit einer zwangsweisen Untersuchung und Einweisung in ein Hospital für Seelenleiden. Nicht, dass Branagorn im Prinzip etwas gegen einen Aufenthalt dort gehabt hätte, denn bei den Türmen in Lengerich hatte er sich ja stets sehr wohl gefühlt. Aber im Moment wäre das seinem Ziel, den Traumhenker zu stellen, sicherlich nicht dienlich gewesen.

Er konnte schließlich froh sein, den hiesigen Hütern der Ordnung entronnen zu sein, ohne dass man ihn seines Schwertes unter fadenscheinigen Begründungen enteignet hätte, so wie es in Telgte geschehen war. Denn dem Bösen ganz ohne magisches Artefakt entgegenzutreten, das wollte Branagorn dann besser doch nicht wagen. Zumindest nicht wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Und in diesem Punkt waren die Gesetze glücklicherweise auf seiner Seite.

Ich muss mich noch einmal mit Nadine Schmalstieg unterhalten!, ging es Branagorn durch den Kopf.

Bis zu ihrer Adresse war es nicht weit. Branagorn bog in eine Straße namens Haselstiege und kam an einem Friedhof vorbei. Schließlich erreichte er die Adresse der Heilschwester. Ihr Wagen stand vor einem Haus, das etwas heruntergekommen wirkte. Der Zahn der Zeit hatte unverkennbar daran genagt und es fehlte offenbar an den nötigen Mitteln, um das Haus richtig in Stand zu halten. Ob nun magische Mittel oder finanzielle angewendet wurden, war nach Branagorns Auffassung zweitrangig, auch war es nach seiner Ansicht einfach eine Tatsache, dass Gebäude, zu deren Erhalt keine Anstrengungen unternommen wurden, langsam aber sicher verfielen. Die Fassade war grau und unansehnlich. Gewiss war der letzte Anstrich zwanzig oder dreißig Jahre her. Die Wände waren von wildem Wein überwuchert. Das Haus lag im Schein einer Straßenlaterne, deren Helligkeit die Zeichen des Verfalls selbst zu dieser späten Stunde in aller Deutlichkeit offenbarte. Hier und da waren schwarze Linien zu sehen. Branagorn war sicher, dass es sich um mäandernde Risse im Mauerwerk handelte.

Auch der Vorgarten wirkte vernachlässigt und konnte mit den gepflegten Anlagen der Nachbargrundstück in keiner Weise mithalten. Sträucher wucherten empor und so manch einer der Bäume, die auf dem Grundstück standen, waren morsch und wären durch keinen wohlmeinenden Zauber mehr zu retten gewesen. Zumindest war das Branagorns Ansicht, der sah, wie sich die Kronen schattenhaft im Wind bewegten. Er lauschte dem Knarren der Äste und war überzeugt davon, den mangelhaften Zustand der Bäume schon daran zweifelsfrei erkennen zu können. Irgendeinem der kommenden Herbststürme würden sie zweifellos nachgeben und brechen, wenn nicht in diesem, dann im Jahr darauf.

Branagorn blieb abrupt stehen.

Zwei Fahrzeuge standen in der Einfahrt des Hauses. An der Haustür befand sich eine weitere Laterne, die auch jetzt noch schonungslos offenbarte, wie die Fugen zwischen den Steinplatten in der Einfahrt und auf dem schmalen Weg zur Haustür von Moos überwuchert waren. Bei dem einen Fahrzeug handelte es sich um Nadine Schmalstiegs Wagen. Zumindest ging Branagorn davon aus, auch wenn er das Nummernschild nicht sehen konnte, dessen Kombination aus Zahlen und Buchstaben er sich selbstverständlich schon auf dem Parkplatz am Marienhospital gemerkt hatte. Das zweite Fahrzeug war der Geländewagen von Timothy Winkelströter. Dessen Nummernschild war klar und deutlich im Licht der Straßenlaterne zu erkennen und so konnte es keine Zweifel daran geben.

Offenbar hatte Timothy Winkelströter die Heilschwester also noch besucht und war jetzt wohl auch noch im Haus. Kein günstiger Moment für eine Unterredung!, überlegte Branagorn. Schließlich war das letzte Zusammentreffen mit Timothy ja nicht ganz konfliktfrei verlaufen und es war wohl nicht ratsam, die offenbar recht stark ausgeprägten Ressentiment, die dieser Mann Branagorn gegenüber zu haben schien, noch anzuheizen.

Branagorn griff zu seinem Handy, das er stets nur sein sprechendes Artefakt nannte und wählte ihre Nummer.

Nadine nahm ab.

„Ja, wer ist da?“, fragte sie.

„Wer ist das?“, hörte Branagorn im Hintergrund Timothys Stimme. „Wieder dieser Spinner? Den sollte man einsperren!“

„Ich muss mit Euch reden, werte Heilschwester“, erklärte Branagorn unterdessen. „Und zwar über die Frau aus dem Geschlecht der Aufderhaar, von der Ihr mir berichtet habt ...“

„Herr Schmitt, das geht jetzt nicht. Wirklich nicht!“

„Ihr seid in Schwierigkeiten?“

„Nicht in solchem, die ich nicht selber lösen könnte“, gab sie zur Antwort.

„Ich hatte schon befürchtet, dass es zurzeit ein unpassender Moment für eine Unterredung ist. So gehabt Euch wohl und ruht gut, sofern Euch dies das Schicksal gestattet.“

„Auf Wiederhören, Herr Schmitt.“

„... und falls Ihr Hilfe benötigt, so zögert nicht, auf dem sprechenden Artefakt die Zeichen erscheinen zu lassen, die mich rufen!“

Die Verbindung war unterbrochen.

Branagorn fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Heilschwester ihrem Schicksal überlassen zu müssen. Ein nicht näher zu begründendes Unbehagen machte ihm zu schaffen, das sich in einem drückenden Gefühl in der Magengegend äußerte. Eine dunkle Vorahnung kommenden Unheils? Eine Warnung der empfindlichen Elbensinne, für die es unter den Menschen zum Teil nicht einmal eine annähernde Entsprechung gab? Oder war das alles, zusammen mit den eigenartigen Geräuschen in seinem Bauch, letztlich doch nur der Tatsache geschuldet, dass er schon länger nichts mehr gegessen hatte?

In diesem Moment verlosch das Licht der Straßenlaternen.

Eine kommunale Sparmaßnahme, die das angeblich so finstere Mittelalter noch nicht kannte!, dachte Branagorn.

Die Nacht der Toten

Branagorn ging zurück zum Friedhof. Dort, so nahm er sich vor, wollte er die Stunde bis zum Morgengrauen verbringen. Er musste damit rechnen, dass Timothy unter Umständen die ganze Nacht bei Nadine blieb und sich dementsprechend auch in der Frühe nicht die Möglichkeit eines Gesprächs ergab. Aber wenn das der Fall war, konnte er ja abwarten, bis Timothy davongefahren war.

Branagorn betrat den Friedhof und suchte nach einer Bank. Auf vielen Friedhöfen standen auch Parkbänke und es gab keinen Grund, weshalb das in diesem Fall nicht so sein sollte. Der Mond stand inzwischen hoch am Himmel. Es waren kaum Wolken zu sehen und so schimmerten die Grabsteine im fahlen Mondlicht. Branagorn mochte die Atmosphäre von Friedhöfen und er hielt sich gerne dort auf, wenn er Ruhe und innere Einkehr suchte. Das eine oder andere Mal hatte ihm das schon Ärger eingetragen, denn aufgrund seiner ungewöhnlichen Gewandung vermutete man schnell, dass er vielleicht zu denen gehörte, die diese Stätten dazu missbrauchten, irgendwelche okkulten Rituale abzuhalten oder einfach nur durch das Umstürzen von Grabsteinen auf sich aufmerksam machen wollten.

Aufmerksam las er den einen oder anderen Spruch, der in die Grabsteine als letztes geistliches Geleit graviert worden war. Anhand der Namen und der angegebenen Geburts- und Sterbedaten versuchte Branagorn sich dann so genau wie möglich vorzustellen, wer dort wohl zu Grabe getragen worden war. Seine Vorstellungskraft war dabei so groß, dass er die Toten dann regelrecht vor sich zu sehen glaubte. Wie Geister, die für eine kurze Frist aus dem Jenseits zurückgekehrt waren.

Manchmal unterhielt er sich dann mit den Geistern der Toten. Sie waren verständnisvolle, vorurteilsfreie Zuhörer, die ihn nicht unterbrachen, sich nicht über seine Ausdrucksweise wunderten und ihn besser zu verstehen schienen, als alle lebenden Wesen dieser Welt. Vielleicht war es der Abstand zur Welt der Lebenden, der den Toten diesen klaren, toleranten Blick verlieh – so hatte Branagorn oft überlegt. Und vielleicht verstanden sie auch seine Fremdheit in dieser Welt besser als jeder andere, denn schließlich waren die Toten doch auch Fremde im Jenseits und hatten sich an die dortigen Gegebenheiten zu gewöhnen.

Branagorn erinnerte sich, einmal gegenüber einem der Therapeuten in Lengerich über seine Angewohnheit, auf Friedhöfen mit den Toten zu sprechen, geäußert zu haben, woraufhin ihn dann der Therapeut auf frühkindliche Verlustängste angesprochen hatte. Aber davon hatte Branagorn nichts hören wollen. Genau genommen hatte davon nicht einmal der Teil von ihm, der sich vielleicht doch ein bisschen durch den Namen Frank Schmitt angesprochen fühlte, etwas hören wollen.

Während ihm all das durch den Kopf ging, ließ sich Branagorn auf einer Bank nieder, nachdem er genauestens überprüft hatte, dass sie nicht durch Vogelkot oder irgendetwas anders verunreinigt war.

Er sah für einen Moment ein Augenpaar vor sich. Augen, die von einem mörderischen Wahn gezeichnet waren. Augen, die Fenster zu einer Seele waren, von der der Traumhenker Besitz ergriffen hatte ...

Nein!, dachte er. Jetzt nicht ... Nicht diese Gedanken ... Nicht in diesem Augenblick ... Branagorn spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.

Er murmelte eine Folge von Silben. Eine Formel, die ihm half, sich zu konzentrieren und die Macht des Traumhenkers abzuwehren. Du bist ihm begegnet und er wird auf ewig in deinen Gedanken sein!, rief Branagorn sich ins Gedächtnis. Und der Kampf gegen ihn wird nie vorbei sein ... Er wird in deinem Inneren ewig weitertoben, selbst wenn es dir gelingen sollte, die Mörderseele zu stellen!

Die Erkenntnis war deprimierend.

*

Schlurfende Schritte rissen Branagorn aus seinen Gedanken. Eine abgerissene Gestalt trat in den Schein des fahlen Mondlichts und schob einen Einkaufswagen vor sich her, in dem er offenbar seinen gesamten Besitz verstaut hatte.

Der Bärtige trug eine fleckige Baseballmütze und der dünne Regenmantel reichte fast bis zu den Knöcheln. Aus der Seitentasche ragte der Hals einer Bierflasche.

„He, was machst du denn hier!“, empörte sich der Mann. „Was hast du hier zu suchen, verflucht noch mal!“

„Ich ruhe aus“, erklärte Branagorn. „Und mir dünkt, dass Ihr eine ähnliche Absicht hegt.“

„Du laberst ziemlich geschwollen“, meinte der Bärtige, „aber im Prinzip hast du recht.“

„Soweit ich gesehen habe, gibt es auf diesem Friedhof noch ein paar andere Bänke, die Euch zur freien Verfügung stehen, werter Herr.“

„Werter Herr – wir wollen mal nicht übertreiben. Ich bin der Klaus.“

„Mein Name ist Branagorn.“

„Das ist aber ein seltsamer Name. Aber nicht so schlimm wie Justin-Jason oder Cheyenne. Ich sag immer, manche Eltern wissen gar nicht, was sie ihren Kindern antun, wenn sie ihnen einen eigenartigen Namen geben. Oder bist du Ausländer? Woher kommst du?“

„Von weit her.“

„Was? Osteuropa? Ich hatte eher an Skandinavien gedacht – wegen der hellen Haare. Oder sind die nur gefärbt? Na ja, ist auch egal. Jedenfalls war das immer meine Bank und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dich verziehen würdest. Ich bin nämlich ziemlich müde.“

„Ich habe gegen Eure Anwesenheit nichts einzuwenden, werde mich aber nicht dazu bereit erklären, diesen gastlichen Ort zu verlassen, nur weil Ihr meine Gesellschaft nicht zu ertragen bereit seid!“

Klaus atmete tief durch. „Meine Güte, hast du mal auf dem Amt gearbeitet oder wo hast du gelernt, so zu quatschen? Du hörst dich ja an wie so ein Sachbearbeiter, der einem erklärt, wieso man all die Dinge, auf die man ein Anrecht hat, doch nicht bekommt und einem dann das Wort im Mund umdreht!“ Klaus setzte sich nun zu Branagorn auf die Bank. „Kommst du jetzt öfter her?“

„Nein, ich hoffe nicht, dass das nötig sein wird“, erwiderte Branagorn.

„Sag mal, ist das wirklich ein Schwert, was du da auf dem Rücken trägst?“

„Ein Schwert, das als Artefakt der Magie dient! Ihr habt es erkannt.“

„Magie?“ Klaus runzelte die Stirn. „Ein bisschen durchgeknallt bist du aber schon, was? Hast du mal Drogen genommen oder so was?“

„Ich bevorzuge die Klarheit der Gedanken und des Bewusstseins – ungetrübt durch Berauschendes aller Art“, erklärte Branagorn.

„Ich muss schon sagen, aus dir werde ich nicht schlau. Aber vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, wenn du in der Nähe bist. An jemanden, der ein Schwert trägt, traut sich so schnell niemand heran. Und leider sind Leute wie wir ja nicht bei allen besonders beliebt. Oder freut sich immer jeder, wenn du irgendwo auftauchst, um dein Lager aufzuschlagen?“

„Nein, Ihr sprecht ein wahres Wort“, nickte Branagorn und war überrascht, wie sehr ihn dieser wildfremde Vagabund zu verstehen schien. „Gerade heute habe ich erst feststellen müssen, wie schnell man einer üblen Absicht bezichtigt wird, obwohl man nichts dergleichen im Sinn hat!“

„Du sagst es“, stieß Klaus hervor. „So geht es mir auch jedes Mal, wenn ich am Bahnhof herumhänge und dann die Bullen kommen, um mich zu vertreiben.“

„Ihr sprecht sehr abfällig von den Hütern der Ordnung. Aber ich gestehe, dass ihr Verstand tatsächlich manchmal nicht größer als der von Rindviechern ist“, stimmte Branagorn seinem Gesprächspartner zu und war erstaunt darüber, wie ähnlich doch auch in diesem Punkt ihrer beider Einschätzung war.

Klaus schlug Branagorn kräftig auf die Schulter, was dieser überhaupt nicht mochte. Aber Branagorn reagierte trotzdem gleichbleibend freundlich. Schließlich schien Klaus der Herrscher dieses verwunschenen Ortes zu sein, und es war gewiss klüger, ihn nicht zu verärgern.

„Ich bin müde“, sagte Branagorn. „Und Ihr seid es gewiss auch. Und da Ihr anscheinend die älteren Rechte an dieser Bank habt, so werde ich mir eine andere suchen.“

Branagorn wollte gerade aufstehen, als er Klaus' Hand auf seiner Schulter fühlte. Es war eine große, kräftige Pranke.

„Bleib doch noch!“, sagte Klaus.

„Gerade wolltet Ihr mich von der Bank vertreiben – und jetzt, da ich freiwillig gehe, versucht Ihr, mich zum Gegenteil zu überreden.“

„Ist vielleicht ganz lustig, wenn du noch etwas hierbleibst. Du scheinst mir in Ordnung zu sein. Willst du ein Bier?“

„Ich lehne den Genuss berauschender Getränke ab.“

„Bier ist einfach nur ein Nahrungsmittel, würde ich sagen. Aber ich habe auch einen Schokoriegel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum – aber noch gut.“ Er holte ihn aus der Gesäßtasche seiner Hose. Der Schokoriegel war etwas platter, als die Produzenten ihn mal designt hatten. „Ist sogar wieder hart geworden, obwohl es heute ziemlich warm war!“

„Ich danke Euch sehr für Eure Gastfreundschaft.“

„Heißt das nun, dass du ihn haben willst?“

„Nein.“

„Gut, dann werde ich ihn mir genehmigen.“

„Ihr erinnert mich an einen Trork.“

„Trork? Was ist das denn?“

„Ein Mischwesen aus Troll und Ork. Ich kann nicht unbedingt sagen, dass ich die Gesellschaft von Trorks sehr schätze – andererseits habe ich keinen Grund anzunehmen, dass Ihr mir feindlich gesonnen seid!“

„Du redest eigenartiges Zeug“, meinte Klaus. „Aber eigenartig und doof ist was anderes als eigenartig und interessant.“

„Anscheinend seid Ihr von recht vorurteilsfreiem Charakter!“

Klaus musterte Branagorn. „Ich habe eine Menge durchgemacht. Weißt du, früher war ich mal Ingenieur und hatte Familie, ein Haus und einen Mercedes in der Garage. Das ist alles nach und nach den Bach runtergegangen. Aber wenn ich mir dich so ansehe, dann denke ich: Um so durchgeknallt zu sein wie du, muss man noch viel Schlimmeres erlebt haben!“

„Welchen Sinn hat es, sich bei den höheren Mächten zu beklagen“, sagte Branagorn.

„Das sage ich mir auch immer, wenn ich im Amt eine Nummer gezogen habe und darauf warte, dass ich endlich dran bin“, meinte Klaus. „Erzähl mal was über dich! Woher kommst du und was hast du erlebt?“

„Das ist eine sehr lange und verworrene Geschichte“, erwiderte Branagorn. Dann begann er doch zu erzählen. Von den anderen Welten, in denen er gewesen war, von der Drachenhölle, die er durchlitt, und vor allem von Cherenwen, die er zuerst verloren und in dieser Welt vielleicht wiedergefunden hatte. Klaus kaute dabei auf seinem platt gesessenen Schokoriegel herum, aber diese Kaubewegungen wurden immer langsamer, je länger er zuhörte. Er vergaß sogar, mit einem Schluck aus der geöffneten Bierflasche in seiner Manteltasche, etwas nachzuspülen.

„Auf jeden Fall ist deine Erzählung besser als das Gequatsche der Heilsarmee oder der Sozialarbeiter“, meinte Klaus schließlich, als Branagorn lange nach Mitternacht geendet hatte. „Eins sag ich mal an deine Adresse: Manche Medikamente sind aber auch nicht harmlos!“

„Wie oft seid Ihr eigentlich hier, an diesem Ort der inneren Einkehr?“, fragte Branagorn.

„Auf'm Friedhof? Fast jeden Tag“, erwiderte Klaus, der etwas irritiert über den für ihn etwas plötzlichen Themenwechsel war.

„Dann beobachtet Ihr gewiss auch, welche Menschen und Fahrzeuge man in dieser Gegend findet und wie ihre Gewohnheiten beschaffen sind?“

„Man könnte sagen, ich bin ein Teil der Nachbarschaft. Allerdings ein nicht ganz so gern gesehener Teil, wie ich leider zugeben muss.“

„Ja, ich glaube, ich verstehe, was Ihr meint, werter Herr Klaus!“

„Tja, wir verstehen uns!“

„So seid auch Ihr offenbar ein Ausgestoßener und Vagabund zwischen den Welten.“

„Eine so schöne Umschreibung für das gute alte und vor allem auch sehr gebräuchliche deutsche Wort Penner habe ich ehrlich gesagt noch nie gehört“, gestand Klaus ein. „Klingt auf jeden Fall sehr viel freundlicher!“

„Im richtigen Wort steckt Magie, guter Freund. In der Formel schlummert die Kraft des Verborgenen, die im Stande ist, die Realität zu verändern!“

„Wenn du damit sagen willst, dass man sich eine Menge einreden kann, stimme ich dir voll und ganz zu.“ Klaus zuckte mit den Schultern, nahm einen Schluck Bier und sah dann auf die Flasche. „Es gibt natürlich auch die Möglichkeit sich das Leben schön zu saufen. Aber ich glaube, dein Weg ist auf jeden Fall nicht so schädlich für die Leber, Branadings!“

Der ehrenwerte Klaus legte sich schließlich auf die Bank und schnarchte. In Branagorns Anwesenheit schien er sich sicher zu fühlen, auch wenn er kurz bevor er einschlief noch scherzhaft bemerkte: „Aber schlag mir nicht im Schlaf die Rübe mit deinem langen Messer ab! So besoffen, dass ich das nicht merken würde, bin ich nämlich auch wieder nicht!“

Für Branagorn blieb nur ein kleiner Teil der Bank übrig und so schlief er im Sitzen, was ihm jedoch nicht sonderlich viel ausmachte.

Schließlich schafften es doch auch die großen Meister des Zen oder die tibetischen Lamas in allen möglichen, auch scheinbar unbequemen Körperhaltungen, vollkommene Ruhe und Erholung zu finden! Alles eine Frage der geistigen Disziplin, dachte Branagorn und murmelte vor dem Einschlafen eine magische Formel, die den ehrenwerten Klaus um ein Haar wieder aufgeweckt hätte.

*

Trotz all seiner inneren Versenkung und seiner überdurchschnittlichen Konzentrationsfähigkeit blieb Branagorns Schlaf in dieser Nacht nur sehr leicht. Das Geräusch eines aufbrausenden Motors weckte ihn. Er konnte nicht sehen, was für ein Wagen das war, aber er war sich ziemlich sicher, dass er von Nadine Schmalstiegs Adresse aus zurück in die Stadt fuhr.

Der aufbrausende Herr Timothy!, ging es Branagorn durch den Kopf. Wer anderes als Timothy Winkelströter kam dafür in Frage? Offenbar hatte er Nadine jetzt verlassen.

Es war noch völlig dunkel. Nicht einmal ein erster zaghafter Sonnenstrahl kroch im Osten über den Horizont. Ein früher Zeitpunkt, um eine Geliebte zu verlassen!, überlegte Branagorn. Selbst für die ob ihrer Kurzlebigkeit so eiligen Menschen ...

Hatte es vielleicht Streit zwischen Timothy und Nadine gegeben? Selbst ohne die Anwendung irgendeiner Form von Magie lag dieser Schluss ziemlich nahe, wie Branagorn fand.

Aber die Tatsache, dass Timothy Winkelströter jetzt vermutlich das Haus von Nadine Schmalstieg verlassen hatte, bot Branagorn endlich die Gelegenheit, sich noch einmal ungestört mit ihr zu unterhalten und ihr die Fragen zu stellen, die ihm auf der Seele lagen.

Auch wenn es jetzt noch sehr früh für einen Besuch war, so dachte Branagorn, dass er sich doch zumindest schon mal auf dem Weg zum Haus machen und dann vielleicht den Rest der Nacht vor ihrer Haustür verbringen konnte, sodass er dann auch auf keinen Fall den Moment verpasste, wenn sie morgens zur Klinik fuhr, um dort ihren Dienst anzutreten.

Branagorn drehte sich noch einmal nach Klaus um, der noch immer arglos vor sich hin schnarchte.

Eine gute Seele muss das sein, wenn er so tief in den Schlaf zu sinken vermag, dass ihn selbst das Geräusch eines so aggressiv aufheulenden Fahrzeugs nicht hatte wecken können. Der Schlaf des Gerechten eben, dachte Branagorn. Und zumindest darum beneidete er diesen Mann, denn ihm selbst war es schon lange nicht mehr möglich, diese besonders tiefe Form der Ruhe zu finden. Nicht, seit er zum ersten Mal die Anwesenheit des Traumhenkers in den Augen eines anderen Menschen gesehen hatte ...

Für den Bruchteil eines Moments drohte eine Erinnerung in ihm aufzusteigen. Eine Erinnerung, die sich um ein Augenpaar und einen kahlgeschorenen Kopf drehte. Ein flüchtiger Schatten einer Vergangenheit, die noch viel weiter zurücklag als jene Begegnung in der Lengericher Klinik, von der er seiner geliebten Cherenwen in Gestalt von Anna van der Pütten schon berichtet hatte.

Doch diese anderen Augen, von demselben Wahnsinn gezeichnet, hatte er nie erwähnt und er war sich eigentlich auch sicher, dass er das niemals tun würde. Um keinen Preis. Es war schon schlimm genug von dem Erlebnis in Lengerich zu erzählen. Und auch das hätte Branagorn nicht getan, wenn er eine Chance gesehen hätte, der Spur des Traumhenkers auf andere Weise zu folgen. Doch es dämmerte ihm, dass er es allein nicht schaffen würde. Er war auf die Hilfe der Hüter der Ordnung angewiesen, so sehr ihm dieser Umstand auch missfallen mochte, denn er hatte von deren Fähigkeiten keine allzu hohe Meinung. Und außerdem war er auf Cherenwen angewiesen. Denn nur sie schien ihn zumindest einigermaßen zu verstehen. Davon abgesehen hatte sie aber auch die Gabe, mit den Hütern der Ordnung auf eine Weise zu sprechen, dass sie sich der Wahrheit dieser grausamen Täuschungsmagie, die Branagorn entlarvt zu haben glaubte, stellten.

Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist!, ging es ihm durch den Kopf. Und auch diese Unruhe, die nun schon seit langem seine nahezu ständige Begleiterin war, trug ebenfalls dazu bei, diesen Zustand andauernder Angespanntheit aufrechtzuerhalten.

Branagorn rückte sich sein Schwert auf dem Rücken zurecht und warf den Umhang zurück.

Dann setzte er mit weiten Schritten seinen Weg fort.

An einem der Grabsteine blieb er dann stehen. Das fahle Mondlicht schien genau auf die Beschriftung, und das war wohl auch der Grund, weshalb gerade dieser Stein seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Dort stand:

Wilhelmine Auguste Schmalstieg, 2.8.1919 – 1.2.2008

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt wird leben, wenn er auch stürbe.

Branagorn verharrte einige Augenblicke vor dem Grab, dann nickte er leicht, so als wäre ihm gerade eben etwas klar geworden.

Mit etwas eiligeren Schritten als zuvor ging er weiter.

Wenig später erreichte er die Straße. Fast nirgendwo brannte jetzt Licht. Die Hauseingänge waren nun Orte fast vollkommener Finsternis und der Mond stand zu tief, um die Straße wirklich beleuchten zu können.

Branagorn ging schließlich auf das Haus von Nadine Schmalstieg am Ende der Straße zu. Es wirkte wie ein besonders dunkler Klecks schwarzer Farbe auf einem ohnehin schon sehr düsteren Gemälde.

Ein Wagen wurde jetzt gestartet. Das Motorengeräusch unterschied sich deutlich von jenem Fahrzeug, das Branagorn zuerst gehört hatte.

In der Einfahrt leuchteten Scheinwerfer grell auf und blendeten Branagorn.

Das Gaspedal wurde im Leerlauf durchgetreten. Der Motor heulte auf.

Das geht nicht mit rechten Dingen zu!, durchfuhr es Branagorn. Schweiß perlte ihm über die Stirn und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.

Das muss er sein! Der Traumhenker!

Für einen Moment stand Branagorn wie erstarrt da und schien unfähig zu sein, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Ihm war auf einmal eisig kalt und eine Schwäche fuhr ihm in Arme und Beine, wie er sie lange nicht gekannt hatte.

Seit jenem besonderen Augenblick, den er aus seiner Erinnerung verbannt hatte.

Die Zeit erschien ihm jetzt auf eigenartige Weise gedehnt zu werden, so als würde sie nur im Schneckentempo voranschreiten.

Der Wagen startete.

Nein, ich darf ihn nicht entkommen lassen! Diesmal nicht!, ging es Branagorn durch den Kopf. Er murmelte eine Formel, die ihm helfen sollte, die innere Erstarrung zu überwinden, die ihn so plötzlich befallen hatte. Die letzten magischen Worte dieser Formel gipfelten in einem lauten, durchdringenden Kampfschrei. Er riss das Schwert heraus, fasste den Griff mit beiden Händen und sprang mit ein paar schnellen Sätzen auf die Straße.

Genau in die Mitte der Fahrbahn stellte sich Branagorn dann aufrecht und breitbeinig auf.

Die Schwertspitze zeigte in Richtung des nur schattenhaft erkennbaren Fahrzeugs.

„Stell dich, Traumhenker!“, rief Branagorn.

Der Wagen beschleunigte. Der Fahrer trat das Gaspedal voll durch. Der Motor brüllte auf und Branagorn stand im gleißend hellen Lichtkegel der Scheinwerfer.

Branagorn sprang, bevor der Wagen ihm die Beine wegreißen konnte. Mit der Schulter rollte er über die Motorhaube. Und für den Bruchteil eines Augenblicks sah er ein paar weit aufgerissener Augen. Augen voller Hass, aus denen der unzähmbare Drang zu töten sprach. Branagorn riss das Schwert herum, wollte damit die Scheibe zerschlagen, aber die Fliehkräfte rissen ihn fort. Er wurde von der Motorhaube heruntergeschleudert, kam hart auf dem Boden auf, während der Wagen erst bremste und dann wieder beschleunigte. Die durchdrehenden, über den Asphalt quietschenden Räder rollten über sein Schwert, das ihm dadurch aus der Hand gerissen wurde. So sehr er es auch festzuhalten versuchte – es gelang ihm einfach nicht.

Der Wagen raste davon, bremste an der nächsten Abzweigung und bog dann ein. Danach war nichts mehr von ihm zu sehen.

Branagorn griff nach dem Schwert und stand auf. Als er die Waffe hob, sah er im Mondlicht, dass die Klinge dort verbogen war, wo das Fahrzeug sie überfahren hatte.

„Verflucht seist du, Traumhenker!“, rief er. „Auch wenn du mir heute entkommen konntest – eines Tages wirst du meine Klinge und die Macht meiner Magie zu spüren bekommen! Und wenn es noch eine Ewigkeit dauern sollte und ich dich bis in die letzte und einsamste Welt des Polyversums verfolgen müsste!“

Sein Ruf verklang und Branagorn selbst fand, dass sich der Klang seiner Stimme entsetzlich schwach anhörte.

Die Verfolgung aufzunehmen hatte wohl keinen Sinn. Sein Feind war ihm an Schnelligkeit einfach zu sehr überlegen. Dann drehte er sich um und wandte sich dem Haus von Nadine Schmalstieg zu. Eine furchtbare Ahnung beschlich ihn.

Er ging zur Tür und fand sie einen Spalt offen.

Mit dem Schwert sorgte er dafür, dass sie sich zur Gänze öffnete. Anschließend trat er in einen dunklen Flur. Namenlose Schatten waberten dort. Er lauschte. Kein Geräusch war zu hören.

„Werte Heilschwester! Nadine! Seid Ihr dort irgendwo? Branagorn von Elbara spricht hier – und er ist gekommen, um Euch seinen Schutz zu gewähren ... Ich hoffe nur, dass ich nicht zu spät eingetroffen bin!“

Branagorn fand schließlich einen Lichtschalter. Im Flur wurde es hell.

Blut war auf dem Boden zu sehen. Kleine Tropfen nur, aber für Branagorn waren sie sehr deutlich erkennbar.

Und Haare.

Nicht nur ein einzelnes, sondern ein Büschel, so dick wie Branagorns schlanker Zeigefinger. Auch dieses Haarbüschel war Blutverschmiert. Branagorn murmelte eine weitere Formel vor sich hin, dann stieß er mit dem Schwert die halb offen stehende Tür zum Wohnzimmer auf. Auch dort waren um den Griff herum blutige Spuren zu sehen.

Branagorn trat in das Halbdunkel des Wohnzimmers. Eine Stehlampe verbreitete gelbliches Licht und schien auf Nadine Schmalstiegs starres, totes Gesicht.

Sie saß mit durchschnittener Kehle in einem klobigen Ledersessel. Ihr Kopf war vollkommen kahl. Beim Rasieren waren allerdings einige Schnitte unterlaufen, die zu stark blutenden Wunden geführt hatten. Aus manchen dieser Schnitte sickerte es noch immer heraus.

„Bei den vergessenen namenlosen Göttern des elbischen Lichtvolkes“, murmelte er. „Was hast du nur getan, Traumhenker? Was hast du nur getan!“

Tränen des Zorns standen ihm in den Augen.

Ich hätte es wissen müssen!, ging es ihm durch den Kopf. Ich hätte früher hier sein müssen, um es zu verhindern! Was ist los? Hat die lähmende Magie deines Feindes schon so viel Macht über dich, dass du nicht nur wie erstarrt dastehst und ganz unelbisch anfängst zu schwitzen, als wärst du ein Mensch?

Branagorn glaubte für einen Moment, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er trat auf die Leiche vom Nadine Schmalstieg zu. Jede Heilmagie, um ihr Leben doch noch zu retten, kam zu spät.

Branagorn beugte sich etwas vor und schloss der Toten die Augen.

Morgengrauen

In dieser Nacht plagte Anna van der Pütten erneut ein Albtraum. Aber irgendwie schien es sich um einen Traum von wohl ausgewogenem Grauen zu handeln, das keineswegs ausreichte, um sie zu wecken.

Wach wurde sie dann durch das schrille Geräusch ihres Handys, das gleichzeitig schnarrte und vibrierte. Dabei bewegte es sich langsam über den Nachtisch und hatte die Kante schon fast erreicht, als Anna zum ersten Mal die Augen öffnete – oder besser gesagt nur das linke Auge, denn das rechte war noch zu verklebt. So lange sie sich erinnern konnte, litt sie unter entzündeten und verklebten Augen, wenn sie erwachte und daran hatten auch all die verschiedenen Augentropfen nichts zu ändern vermocht, die sie im Laufe der Zeit ausprobiert hatte.

Gerade als Anna zugreifen wollte, fiel das Handy auf den Boden und schnarrte dort unverdrossen weiter.

Sie erhob sich. An ihren Albtraum hatte sie diesmal nur noch sehr verschwommene, vage Erinnerungen. Aber das war vielleicht auch besser so. Sie setzte sich auf, langte dabei nach dem Handy. So ist das eben, dachte sie. Das reale Grauen verdrängt das Grauen aus dem Traumreich. Vielleicht wäre das ja auch mal ein ganz neuer Therapieansatz ...

Sie hatte im nächsten Moment das Handy am Ohr.

„Ja!“, ächzte sie. „Van der ... Pütten!“ Vor dem 'Pütten' musste sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund erst Mal Luft holen. Vielleicht war auch einfach noch nicht genug Blut in den entscheidenden Regionen des Gehirns, um sich schnell genug an die dritte und längste Komponente ihres Nachnamens erinnern zu können. Es fühlte sich an, als hätte der Rechner in ihrem Oberstübchen einen Hänger und wäre bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit damit beschäftigt, den Arbeitsspeicher so zu erweitern, dass sie ihren gegenwärtigen Status tatsächlich und guten Gewissens mit dem Wort 'wach' bezeichnen konnte.

„Anna?“, fragte eine Stimme am anderen Ende der Verbindung.

„Ja, habe ich doch gesagt“, murmelte Anna etwas unwirsch. Und die Sekunden, in denen sie das sagte, brauchte sie auch, um zu erfassen, dass es Sven Haller war, mit dem sie sprach.

„Anna, es hat einen weiteren Mord des Barbiers gegeben.“

„Was?“

„Ist irgendetwas mit der Verbindung oder was ist los oder warum verstehst du mich so schlecht?“

„Ich war wohl gerade in der Tiefschlafphase oder so.“

„Ich bin schon unterwegs. Du musst deinen eigenen Wagen nehmen.“

„Heißt das ...“

„Es wäre schön, wenn du auch dort sein könntest, um dir den Tatort anzusehen.“

„Wo ist der denn?“

„In Borghorst. Adresse gebe ich dir durch. Ach ja, vielleicht macht es dich etwas wacher, wenn ich dir sage, dass am Tatort ein gewisser Frank Schmitt aufgegriffen wurde.“

„Was?“

„Der Mord geschah im letzten Haus einer Straße, die Haselstiege heißt. Nummer habe ich hier gerade nicht und Kevin, der neben mir sitzt, weiß sie auch nicht. Aber du findest das schon. Das letzte Stück wirst du sowieso zu Fuß gehen müssen, weil vermutlich schon ein halbes Dutzend Einsatzfahrzeuge alles vollgestellt hat.“

„Warte mal ...Sven.“

„Bis nachher.“

Das Gespräch war unterbrochen.

So, dachte Anna, beginnt kein guter Morgen!

*

Als Anna ihren Renault in der Nähe eines Friedhofs parkte, war bereits die Sonne als blutroter Ballon aufgegangen. Eine Schlange von Fahrzeugen stand vor dem Grundstück am Ende der Straße. Polizeifahrzeuge waren ebenso darunter wie das Fahrzeug der Gerichtsmedizin. Sven Hallers Volvo war auch darunter. Uniformierte Kollegen standen vor dem Haus. Andere gingen bei den Nachbarn von Tür zu Tür. Die meisten Anwohner waren noch nicht zur Arbeit, sodass man sie befragen konnte. Vielleicht hatte ja jemand eine Beobachtung gemacht oder konnte einen sachdienlichen Hinweis geben.

„Sie können hier nicht weiter“, sagte ein Polizist, den Anna nicht kannte.

„Mein Name ist Anna van der Pütten, Kriminalpsychologin. Kriminalhauptkommissar Haller wartet auf mich – und ich weiß, dass er bereits hier sein muss. Sein Wagen steht nämlich da vorne.“

„Tja, ich weiß nicht. Ich kenne Sie ja schließlich nicht. Haben Sie irgendwie einen Dienstausweis oder irgendetwas anderes, womit Sie ...“

„Ist schon in Ordnung, die gehört dazu!“, hörte Anna hinter sich eine wohlbekannte Stimme sagen.

Kevin Raaben war hinter ihr aufgetaucht.

„In Ordnung“, sagte der Uniformierte.

„Los jetzt“, forderte Raaben Anna auf und führte sie ein paar Schritte weiter auf die Haustür zu. Anna bemerkte, wie ein Kollege der Spurensicherung sich gerade den in der Einfahrt stehenden Wagen vornahm. Dass Areal davor war mit Flatterband zum Teil abgesperrt. Offenbar wurde auch dort nach Spuren gesucht.

Ein Kollege, den Anna schon des Öfteren in Münster auf dem Präsidium am Friesenring gesehen hatte, von dem sie aber nicht den Namen kannte, war gerade damit beschäftigt, Fotos von den Reifenspuren zu machen, die davor selbst für einen Laien zu erkennen waren.

„Ja, da hat jemand so was wie einen Kavalierstart hingelegt“, meinte Raaben, der Annas Gedanken zu erraten schien. „Und wir wissen von einer Nachbarin, dass es wohl ein Geländewagen gewesen ist. Die Dame ist zwar schon alt, hat aber gut funktionierende Augen und sitzt oft bis spät in den frühen Morgen vor dem Fernseher, weil sie nicht schlafen kann.“

„Was ist hier genau passiert?“, fragte Anna. „Und wo ist Branagorn, als ich meine ...“

„Herr Schmitt.“

„Genau.“

Raaben kratzte sich am Hinterkopf. „Tja, der Sven hat noch nicht am Telefon darüber gesprochen?“

„Nein, das hat der Sven nicht gemacht. Und jetzt bitte Klartext! Was ist mit Herrn Schmitt?“

„Alle Achtung! Eine Psychologin, die sich mehr für ihren Patienten interessiert als für den Mord! Ich hoffe, wenn man mich mal bei einer schrecklich zugerichteten Leiche mit einem verbogenen Schwert in der Hand findet, dann setzt sich auch jemand für mich ein.“

„Wo ist er?“

„Er sitzt in der Küche und blickt etwas stumpfsinnig vor sich hin.“

„Und wo ist Sven?“

Raaben zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Muss hier irgendwo herumlaufen. Vielleicht ist er im Garten – kann aber auch sein, dass er sich mit einem der Nachbarn darüber unterhält, ob sie nicht doch etwas gesehen oder gehört haben!“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Schmitt diese Nadine Schmalstieg umgebracht hat“, gab Anna ihrer Überzeugung Ausdruck.

Kevin Raaben sah sie etwas erstaunt an. „Davon habe ich auch nie etwas gesagt. Herr Schmitt hat den Mord gemeldet und wahrscheinlich auch das eine oder andere angefasst, was unseren Kollegen von der Spurensicherung den Job sicherlich nicht gerade erleichtern wird.“

Anna atmete innerlich auf. „Es hieß erst, Herr Schmitt wäre in Gewahrsam ...“

„Ja, der örtliche Beamte, der zuerst an den Tatort gelangte, schien die Sache wohl etwas anders einzuschätzen. Und davon abgesehen wissen wir natürlich nicht, was sich noch herausstellen wird. Also aus dem Schneider ist Herr Schmitt noch nicht hundertprozentig!“

*

Wenig später gelangte Anna in die Küche, wo Branagorn am Tisch saß. Er blickte starr vor sich und schien sie zunächst gar nicht zu bemerken.

Den eigentlichen Tatort konnte Anna im Moment sowieso nicht betreten, da er noch nicht abgespurt war, wie Markus Friedrichs und seine Kollegen von der Spurensicherung das nannten. Selbst der Gerichtsmediziner Dr. Wittefeld musste zunächst warten. Er ging ungeduldig im Flur auf und ab, der von Markus Friedrichs und seinen Spusi-Kollegen als erstes abgespurt worden war, denn zu einem späteren Zeitpunkt wäre dort wohl kaum noch etwas Brauchbares zu finden gewesen.

Anna setzte sich Branagorn gegenüber.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte sie.

„Nicht gut“, sagte Branagorn. „Man hat mir zum zweiten Mal ein Schwert entwendet, um es eine Untersuchung zuzuführen. Aber alles, was daran zu finden ist, kann ein jeder mit seinen bloßen Augen erkennen! Ein Wagen ist mir über das Schwert gefahren. In ihm saß die Mörderseele, die vom Traumhenker besessen ist. Ich stellte mich ihr entgegen, aber anscheinend waren meine Kräfte nicht stark genug. Wenn ich das andere Schwert als Artefakt hätte verwenden können ...“ Branagorn zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, vielleicht hätte ich das Übel stellen und bannen können. Aber so war es mir einfach nicht möglich.“ Er sah auf und Anna erkannte sofort die schier grenzenlose Traurigkeit in den Augen ihres Patienten. „Ich habe den Tod der Heilschwester nicht verhindern können.“

„Warum nennen Sie Nadine Schmalstieg eine Heilschwester?“

„Weil das ihre Profession ist. Sie arbeitet am Marienhospital. Ich lernte sie kennen, als sie noch eine Schülerin war und ich für eine gewisse Zeit bei den Türmen zu Lengerich weilte ... Zur selben Zeit begegnete ich in Lengerich auch dem Traumhenker, wie ich Euch schon einmal berichtet habe.“

„Ja, das habe ich nicht vergessen.“

„Ich habe Nadine Schmalstieg darüber befragt, denn sie hatte ja schließlich damals Dienst und hätte dieser Mörderseele ebenfalls begegnen müssen. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Sie haben mit ihr noch gesprochen?“, wunderte sich Anna.

„Ja, am Tag zuvor an einem Ort, der sich Café Mauritius nennt. Ich erwähnte das kurz während unseres Gesprächs über das sprechende Artefakt. Aber ich sehe schon, dass ich Euch alles von Anfang an und im richtigen Zusammenhang berichten muss, sonst würdet Ihr das alles nicht verstehen ...“

„Das fürchte ich auch“, nickte Anna.

Branagorn griff an seinen Gürtel und nahm den Beutel hervor, in den er das Haar aus dem Flur des Hauses in der Nordwalder Straße getan hatte. Mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand griff er dabei mit einer Sicherheit zu, die wohl für ein gut ausgebildetes, scharfes Auge sprach, ein Elbenauge eben, wie Branagorn immer wieder betonte. Er hielt Anna das Haar hin. „Ich hoffe, Ihr habt dafür Verwendung in den Laboratorien Eurer Alchemisten.“

„Sicher. Nur habe ich im Moment nichts, worin ich dieses Beweisstück aufbewahren könnte.“

„Ich hole ein Tütchen“, sagte der Beamte, der bis dahin mit im Raum gesessen hatte. „Einen Moment.“

„Vielen Dank“, sagte Anna.

„Das ist übrigens der werte Ralf Meyer zu Gentrup, der unter den Hütern der Ordnung den Rang eines Polizeikommissars bekleidet, wenn ich mich recht erinnere. Er war der Erste von ihnen, der hier eintraf, nachdem ich mit dem sprechenden Artefakt Hilfe gerufen hatte.“ Branagorn schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich konnte den Traumhenker nicht aufhalten, obwohl es mir nicht an Mut mangelte ... Das wird sich in Zukunft als schwere Bürde für mich erweisen.“

„Es gibt Ihnen niemand die Schuld am Tod von Nadine Schmalstieg!“

„Sagt das nicht, meine werte Ratgeberin und Gefährtin“!, widersprach Branagorn. „Wenn sich im Wohnzimmer nicht ein blutiger Fußabdruck gefunden hätte, der weder vom unglückseligen Opfer dieser Gewalttat noch von mir stammen kann, dann wäre der nette Herr Meyer zu Gentrup sehr schnell zu meinem eindringlichsten Ankläger geworden – ganz zu schweigen von jenem Hüter der Ordnung, der den Namen Haller trägt und mit dem Ihr in besonders enger Weise zusammenzuarbeiten scheint. Es war so schrecklich, in der Gewissheit das Haus zu betreten, einem furchtbaren Bild des Grauens zu begegnen. Wie sie da saß, die Kehle geöffnet und das Haar auf eine so grobe Weise entfernt, dass dies nur einem unendlich großen Hass entsprungen sein kann. Einem Hass, wie er in dieser furchtbaren Intensität für mich nicht nachvollziehbar ist. Doch das liegt vielleicht an der Natur des Elbenvolkes ...“

„Jeder Mensch ist unter den geeigneten Umständen dazu fähig, die schlimmsten Instinkte in ihm an die Oberfläche kommen zu lassen“, erwiderte Anna. „Niemand von uns weiß, wo bei ihm persönlich die Grenze liegt, an der die dünne Tünche der Zivilisation und der Kultur von ihm abfallen und etwas zum Vorschein kommt, was dann für gewisse Zeit jegliche Kontrolle außer Kraft setzt.“

„Euer Lehrmeister Freud nimmt doch ohnehin an, dass das Unbewusste die meisten Entscheidungen trifft und dabei viel weniger von den ordnenden Instanzen des Ich und des Über-Ich beeinflusst wird, als die meisten Menschen glauben oder – wie in Eurem Fall – hoffen.“

„Sie kennen Freud?“, wunderte sich Anna, fand es dann aber im nächsten Moment gar nicht mehr verwunderlich. „Na ja, Sie lesen ja viel ...“

„Ich muss gestehen, dass ich nie etwas von ihm gelesen habe. Aber irgendwann in den 1890er Jahren hatte ich die Gelegenheit, in Wien persönlich einem Streitgespräch zwischen Freud und dem Okkultisten Hermann von Schlichten über die Macht des Unbewussten zu folgen. Für mich war das sehr aufschlussreich, wie ich gestehen muss.“

„Ah ja“, murmelte Anna.

Branagorn nahm mit der Rechten Annas Hand, während Daumen und Zeigefinger der Linken nach wie vor ein Haar festhielten. Ihr erster Impuls war, sie ihm zu entziehen, doch dann überwog ihre Neugier. Sie hatte das Gefühl, dass Branagorn auf diese Weise eine besondere Verbindung zu ihr herzustellen versuchte und etwas sagen wollte. Etwas, das auch für sie von großer Bedeutung sein mochte. Undeutlich stießen die Erinnerungen an ihren ersten Albtraum vom Traumhenker wieder in ihr auf, aber dann schalt sie sich eine Närrin. Müdigkeit und persönliche Verstrickung in einem Fall, das war wirklich keine gute Kombination, dachte sie. Es wurde in ihrem Fall wirklich höchste Zeit für die Supervision durch einen unbeteiligten Kollegen. Im Moment allerdings ging es erst einmal darum, einem Mörder auf die Spur zu kommen. Na ja, dachte sie, irgendeine Ausrede hat jeder!

„Wir müssen noch einmal zu diesem Haus in der Nordwalder Straße, in dem Sarah Aufderhaar lebt. Dort kommt dieses Haar her! Ich hoffe, dass die Alchemisten bereits jenes untersucht haben, das ich in Telgte fand!“

„Nun ...“

Sollte sie ihm die Wahrheit sagen? Wenn Haller das Haar von der Planwiese vielleicht auch nicht einfach in den Müll geworfen hatte, so war auf der anderen Seite auch nicht anzunehmen, dass sich wirklich jemand dieses Beweisstücks annahm. Und was dieses Haar anging, sah Anna kaum bessere Chancen.

„Ich weiß, dass mich niemand ernst nimmt, und ich weiß auch, dass die Gefahr, die den nächsten Opfern droht, die Hüter der Ordnung aus irgendeinem mir nicht nachvollziehbaren Grund trotzdem nicht dazu veranlassen, mir zu glauben, obwohl ich sicher bin, der Mörderseele näher auf der Spur zu sein als jeder andere.“

„Branagorn, ich weiß nicht, ob Sie wirklich ...“

„Nein, hört mir zu, Cherenwen, hört mir zu und erfüllt mir diese eine Bitte, um die ich niemals bei Euch anfragen würde, wenn es nicht wirklich dringlich wäre. Fahrt mit mir zu diesem Haus, wenn Ihr hier abkömmlich seid! Ich habe Euch ja meinen Ärger, der mir dort widerfuhr, über das sprechende Artefakt kurz geschildert. Wenn ich dort ein zweites Mal auftauchte, müsste ich erneut damit rechnen, unlauterer Absicht verdächtigt zu werden. Aber Ihr könntet Euch dort umsehen und mir Eure Augen und Euren Mund leihen, Cherenwen ... Würdet Ihr das tun?“

„Ich weiß nicht ...“

„Bitte! Wenn Ihr es nicht meinetwegen zu tun bereit seid, dann zumindest um der zukünftigen Opfer willen!“

Anna seufzte. Dieser Patient drohte ihr noch den letzten Nerv zu rauben. Andererseits beunruhigte sie die Tatsache ebenfalls, dass dieser unbekannte Mörder noch weiter sein grausiges Spiel fortsetzen konnte, immer mehr. Seit er sogar Stoff ihrer Albträume geworden war, hatte dieser Aspekt noch einmal eine neue Qualität bekommen. Die Jagd nach dem Barbier war für Anna inzwischen zu einer sehr persönlichen Angelegenheit geworden. Und auch wenn sie sich hundertmal sagte, dass das eigentlich niemals hätte passieren dürfen, so war es inzwischen nun einmal eine Tatsache, die sie nicht mehr leugnen konnte.

„Also gut“ versicherte sie. „Ich fahre mit Ihnen dorthin. Das verspreche ich Ihnen.“

„Danke. Und falls die Hüter der Ordnung doch noch einen Grund finden, mich festzuhalten, so ...“

„... werde ich dieses Haus alleine aufsuchen.“

In diesem Moment kehrte Polizeikommissar Meyer zu Gentrup zurück. Er hatte eine kleine, transparente Plastiktüte in der Hand, wie sie verwendet wurde, um Spuren zu sichern. „Hat einen Moment gedauert, aber die Kollegen sind sehr im Stress!“, sagte er.

„Das macht nichts“, antwortete Anna.

Meyer zu Gentrup ließ Branagorn das Haar in das geöffnete Plastiktütchen tun. Es war dem Elbenkrieger anzusehen, wie ungern er diesen Beweis abgab. Fast so, als würde es sich um eines seiner magischen Artefakte handeln!, überlegte Anna. Aber vielleicht misstraute er auch einfach nur der Polizei und glaubte nicht, dass dieses Haar jemals einem Labor zugeführt werden würde.

„Es gibt übrigens noch einen wichtigen Zeugen, der vielleicht Beobachtungen gemacht hat, die helfen könnten, den Fall aufzuklären“, ergänzte Branagorn.

„Was ist das für ein Zeuge?“, fragte Meyer zu Gentrup.

„Es ist der werte Klaus. Ich habe mit ihm zusammen auf dem Friedhof genächtigt. Er pflegt mit einem Handwagen durch die Lande zu ziehen, der offenbar seinen gesamten Besitz trägt, und war früher ein Maschinenmagier.“

„Wie bitte?“

„Ich glaube, irgendwann in den letzten zweihundert Jahren hat man angefangen, so etwas einen Ingenieur zu nennen.“

Meyer zu Gentrup grinste breit und schob sich seine dicke und ziemlich schwere Brille zurück zur Nasenwurzel. Irgendwie schien seine Brille nicht für seine relativ schmale und in einem steilen Winkel abfallende Nase geschaffen zu sein, sodass Meyer zu Gentrup ungefähr alle paar Minuten damit beschäftigt war, die Brille wieder in die Position zu bringen, die für einen klaren Durchblick passend war.

„Einen Nachnamen wissen Sie nicht zufällig?“, fragte Anna.

„Nein“, gestand Branagorn. „Aber möglicherweise weilt er sogar noch auf dem nahen Friedhof und wenn nicht, so ist damit zu rechnen, dass er bald wieder auftaucht, denn er scheint die Gesellschaft der Totengeister regelmäßig in Anspruch zu nehmen, da er sich in ihrer Gegenwart sehr wohl fühlt.“

„Wir können ja nachher mal sehen, ob der Kerl dort irgendwo ist“, mischte sich Meyer zu Gentrup ein.

„Schildern Sie mir jetzt bitte alles von Anfang an, Branagorn.“

„Wie Ihr wollt, werte Cherenwen.“

*

Sven Haller war zur selben Zeit gerade damit beschäftigt, einen Mann mit langen und leicht gewellten Haaren zu befragen. Haller tippte auf einen pensionierten Akademiker. Wahrscheinlich Studienrat, zu mehr fehlte diesem Typ einfach wohl der Ehrgeiz. Wer sich schon nicht entscheiden konnte, ob er ein richtiger Hippie oder doch nur die beamtete Version werden sollte, der war sicherlich auch nicht das Risiko eingegangen, sich bis in die vierziger mit Assistentenstellen über Wasser zu halten, bis dann die Habilitationsschrift in irgendeinem obskuren gesellschaftswissenschaftlichen Seitenzweig tatsächlich fertig wurde und der betreuende Professor bis dahin noch nicht verstorben war.

Der Mann hieß Jobst Fleischer, betonte aber, er sei von Beruf niemals Fleischer gewesen, sondern eigentlich sogar eher Vegetarier, da er sich zu neunzig Prozent von dem ernähren würde, was er eigenhändig in seine Garten angebaut hatte. „Ich sag immer: Selbst gezogen schmeckt besser und wenn man sich eigenhändig vergiftet, ist das auch in der eigenen Verantwortung.“

„Tja, so habe ich das noch nie gesehen“, sagte Haller.

Jobst Fleischer war ein hagerer Mann mit grauen Haaren und einer Strickjacke, die aussah, als wäre bei ihrer Herstellung jeder nur erdenkliche Wollrest eingestrickt worden. Eine Patchworkjacke, bei der weder auf farbliche Zusammenstellung noch auf so etwas wie eine Passform irgendeine Rücksicht genommen worden war. Vermutlich war die Jacke ein Geschenk, dachte Haller. Ein Geschenk, von dem Jobst Fleischer aus irgendeinem Grund dachte, dass er es nicht ablehnen konnte, es auch zu benutzen. So etwas kannte eigentlich jeder. Der kratzende Pullover von der Oma, den man dann zu ihrem Besuch tragen musste, egal, ob die meteorologischen Gegebenheiten das auch in angemessener Weise rechtfertigten. Aber Haller fand, dass man mit Ende fünfzig – auf dieses Alter schätzte der Kriminalhauptkommissar den Mann – aus aus dieser Phase eigentlich raus sein sollte. Aber vielleicht war das etwas anderes, wenn man mit der rücksichtslosen Schenkerin eine Beziehung hatte, in der man vielleicht unangenehmen und langwierigen Diskussionen im Interesse des Friedens eher aus dem Weg ging.

Fleischer wohnte drei Häuser weiter – bezogen auf die Adresse von Nadine Schmalstieg. Der Vorgarten unterschied sich kaum von denen anderer Häuser in der Gegend. Der Rasen war kurzgeschnitten und es gab ein paar widerstandsfähige Zierpflanzen, die nicht viel Pflege verlangten. Die Anbaugebiete von Fleischers Nutzgarten musste sich auf der Rückfront des rot verklinkerten Reiheneckhauses befinden.

Haller und Fleischer standen vor dem Haus. Fleischer stützte sich auf eine Hacke. Was er damit auf dieser Seite des Hauses eigentlich wollte, war Haller schleierhaft. Wahrscheinlich diente dieses Werkzeug einfach nur dazu, ihm ein Alibi zu verschaffen, das es ihm gestattete im Vorgarten zu stehen und ungeniert zu gaffen.

„Wollen Sie hereinkommen?“, fragte eine Frau, die wie ein weiblicher Zwilling ihres Mannes aussah. Sie hatte die gleiche hagere Figur, die gleichen gewellten grauen Haare und fleckigen Jeans, deren Schnitt noch den Schick der frühen Achtziger erkennen ließ und bewiesen, wie nachhaltig man mit mit einem Stück gewebter Baumwolle doch umgehen konnte und was Nachhaltigkeit wirklich bedeutete. Die Strickjacke, die sie trug, passte in ihrer Machart zu der ihres Mannes. Haller fühlte sich jetzt bestätigt. Die Offensiv-Strickerin, deren Werke den schmalen Grad zwischen Relativität und Chaos auszuloten versuchten, war zweifellos entlarvt. Mit der Entlarvung des Barbiers würde es so leicht nicht vorangehen, befürchtete der Kripo-Mann aus Münster.

„Ja, in Ordnung, gehen wir rein“, sagte Haller. Im Moment waren die Spusi-Leute am Tatort und da störte er ohnehin nur. Und wenn diese Leute hier den ganzen Tag nicht viel mehr zu tun hatten, als ihr Gemüse zu beobachten, dann wussten sie ja vielleicht auch ganz gut über die Verhältnisse in der Nachbarschaft Bescheid und konnten womöglich wertvolle Hinweise geben.

„Sie können grünen Tee haben“, sagte die Frau.

„Danke.“

„Danke ja oder nein?“

„Danke ja.“

Was soll's, dachte Haller. Schließlich war grüner Tee ja dafür bekannt, dass er magenfreundlich sein sollte, auch wenn er schmeckte wie gekochtes Gras und sein Geruch Haller immer an eine Scheune voller Heu nach einem Sommerregen erinnerte, wobei die Scheune allerdings kein Dach hatte und auf diese Weise alles nass geworden war.

Haller folgte den beiden.

Jobst Fleischer stellte seine Hacke neben der Tür ab. Es gab keine Klingel, nur ein Namensschild. Jobst Fleischer und Ruth Störicke-Fleischer.

Jobst Fleischer führte ihn zu einem rustikale Tisch in der Mitte des Eingangsraumes. Dort bekam er wenig später den versprochenen grünen Tee in einer Tasse beziehungsweise ihrem selbst getöpferten Äquivalent.

„Ja, das ist wirklich tragisch, was mit Nadine passiert ist“, sagte Ruth Störike-Fleischer nach einem tiefen Schluck von ihrem Tee und einem ebenso tiefen Seufzer.

„Sie kannten die Tote gut?“, fragte Haller.

„Wie man es nimmt. Sie ist vor einigen Jahren hierhergezogen. Das Haus gehörte ihrer Großtante. Die hatte selbst keine Kinder oder noch andere Angehörige. Und Nadine hat das Haus mit der Auflage gekriegt, die alte Dame zu pflegen. Sie liegt inzwischen auf dem Friedhof, an dem Sie sicher auch vorbeigekommen sind.“

„Nadine ist – war – ja Krankenschwester“, ergänzte Jobst. „Ich glaube früher hat sie in Lengerich in der Psychiatrie gearbeitet, aber das war ihr wohl auf die Dauer einfach seelisch zu belastend.“ Letzteres konnte Jobst Fleischer offenbar gut verstehen, denn in den nächsten Sätzen erfuhr Haller dann in Kurzform die Lebensgeschichte der beiden. Beide Lehrer, beide schließlich aus dem Dienst gegangen, weil sie sich diesem Stress und dem andauernden Druck nicht mehr aussetzen wollten und ein Leben ohne Zwänge zu führen versuchten. Jobst sprach dabei, und seine klaren, vieles zusammenfassenden Sätze verrieten dabei den ehemaligen Lehrer, der es wohl gar nicht so schlecht verstanden haben musste, komplizierte Dinge auf eine Weise zusammenzufassen, dass auch begriffsstutzige Pennäler und Polizisten sie schnell zu verstehen vermochten.

„Mich interessieren eigentlich mehr die Beobachtungen, die Sie gestern Abend und heute früh gemacht haben.“

„Es ist immer noch früh am Morgen“, erinnerte Jobst den Kommissar, der daraufhin ein Gähnen unterdrücken musste. Dieser Drang schien psychosomatischer Natur zu sein. Wenn ihn jemand daran erinnerte, dass er normalerweise vielleicht gerade mit dem Zähneputzen begonnen hätte, dann wünschte er sich einfach noch mal zurück ins Bett. Zumal die Wendung, die der Fall des Barbiers genommen hatte, alle bisherigen Ermittlungsergebnisse wieder massiv in Frage stellte. Wenn es sich bei dem Mörder von Nadine Schmalstieg tatsächlich um denselben Täter handelte, der auch Jennifer Heinze getötet hatte, dann konnte das unmöglich der inhaftierte Jürgen Tornhöven sein.

Andererseits waren die Spuren in Richtung der sogenannten 'Neuen Templer' so eindeutig, dass man sie nicht ignorieren konnte.

„Nadine hatte gestern einen ziemlich heftigen Streit mit ihrem Freund“, sagte jetzt Ruth Störicke-Fleischer. „Timothy heißt er. Nadine hat mir mal von ihm erzählt.“

„Du hast sie ausgefragt!“, korrigierte Jobst.

„Ja, wenn so ein seltsamer Typ mit langem Ledermantel hier herumläuft, der aussieht, als käme er irgendwie aus einem schlechten Film, dann wird man ja wohl mal fragen dürfen! Außerdem hatte er seinen Wagen so geparkt, dass ich kaum raussetzen konnte. Also zumindest ich nicht.“

„Heißt dieser Timothy zufällig Winkelströter?“, fragte Haller.

„Ja, jetzt, wo Sie es sagen, fällt es mir wieder ein“, bestätigte Ruth. „Und er fährt einen dicken Geländewagen.“

„Die Nummer habe ich mir übrigens aufgeschrieben, weil er ja unsere Ausfahrt zugeparkt hatte“, sagte Jobst. „Ich meine, zu dem Zeitpunkt war da zwar gerade eine Baustelle vor Nadines Haus, sodass er dort nicht parken konnte, aber das heißt ja nicht, dass man einfach überall seinen Protzwagen abstellen kann!“

„Ja, ja“, sagte Haller.

„Ich meine, Sie als Polizist sehen das doch wohl genauso!“

„Sicher!“

Insgeheim konnte sich Haller nur darüber wundern, wie spießig diese Ex-Hippies – ungeachtet ihres unkonventionellen Auftretens – offenbar inzwischen geworden waren. „Aber vielleicht kommen wir noch mal zurück zu diesem Streit“, meinte Haller schließlich und versuchte, den Faden seiner Ermittlungen wieder aufzunehmen. „Und wo hat Herr Winkelströter gestern geparkt? Wieder vor Ihrem Haus?“

„Nein, nein, die Baustelle ist schon in der vergangenen Woche fertig geworden. Gestern hat er in der Einfahrt zu Nadines Haus geparkt. Es war nämlich so, er kam zuerst und Nadine war erst später dort.“

„Er hat auf sie gewartet?“, hakte Haller nach.

„Richtig. Und zwar ziemlich lange. Nadine kam vom Dienst und konnte natürlich den Wagen nicht in die Einfahrt fahren. Das war sicher schon mal der erste Konfliktpunkt. Dann haben die beiden sich ganz fürchterlich angeschrien.“

„Konnten Sie mitbekommen, worum es ging?“

Ruth mischte sich jetzt ein. „Es fiel mehrfach ein Name. Jennifer. Aber mehr konnten wir hier auch nicht verstehen. Ich wollte schon hingehen.“

„So?“

„Ja, nicht aus Neugier, sondern um zu vermitteln. Aber dann ist dieser Timothy in den Wagen gestiegen und weggefahren. Er war ziemlich geladen, würde ich sagen.“

„Später kam er dann zurück, da wurde es schon dunkel“, ergänzte Jobst. „Was dann geschah, wissen wir nicht. Nadine hat ihn offenbar ins Haus gelassen.“

„Tja und ganz in der früh, also das war noch mitten in der Nacht, da sind wir beide durch Motorengeräusche wach geworden“, fügte Ruth hinzu. „Wissen Sie, wir haben keine Uhren im Haus. Diesem Diktat der Zeitmessung wollen wir uns nicht unterwerfen. Das Empfinden der Zeit wird durch die Natur bestimmt. Durch den Wechsel von Licht und Dunkelheit oder den Schlag des Herzens – aber nicht durch etwas Mechanisches, das alle Menschen gleichschaltet. Man sollte auf die innere Uhr hören und nicht auf dieses aufgezwungene Zeit-Diktat.“

„Na ja, solange man sich nicht verabreden will, ist dagegen ja auch nichts zu sagen“, meinte Haller etwas befremdet. „Genaue Zeitangaben kann ich also von Ihnen nicht erwarten“, stellte er dann noch fest und und dabei war seine Enttäuschung kaum zu überhören.

„Jedenfalls fuhr der Wagen so schnell davon, wie wenn jemand flüchten will“, erläuterte Jobst. „So wie in diesen amerikanischen Serien, wobei ich gestehen muss, dass wir da wohl nicht mehr so ganz auf dem Laufenden sind.“

„Einen Fernseher besitzen wir nämlich schon lange nicht mehr“, sagte Ruth. „Diesem Konsum- und Werbeterror wollten wir uns nicht länger aussetzen. Trotzdem kommen diese Prüfer der Gebühreneinzugszentrale immer wieder vorbei und wollen uns einfach nicht glauben, dass wir darauf verzichten. Radio haben wir nämlich auch nicht.“

Jobst nickte und die tief empfundene Zustimmung zu den Worten seiner Frau hatte ihre Entsprechung in der Tiefe der jeweiligen Nickbewegungen, die immer raumgreifender wurden.

„Ich weiß nicht, ob Sie es schon wissen. Aber demnächst wollen die in Berlin ja so eine pauschale Medienabgabe pro Haushalt einführen – egal ob man überhaupt ein Radio oder einen Fernseher besitzt!“

„Oder nur einen Computer!“, ergänzte Ruth.

„Jedenfalls ist das im Gespräch“, fügte Jobst hinzu.

„Und mein Mann bereitet schon mal eine Verfassungsklage vor, falls es tatsächlich dazu kommt, dass man diese Abgabe bei uns erheben will!“

„Da stecken doch nur die Konzerne hinter, Ruth! Die Konzerne und ihre Lobby.“

„Ich habe zum Schluss noch eine letzte Frage“, sagte Haller nun. Er holte nun einen Abzug des Facebook-Fotos heraus, dass Nadine Schmalstieg offenbar ins Internet gestellt hatte und auf dem wohl einige ihrer Freunde und Bekannten in mehr oder minder ausgeprägter mittelalterlicher Gewandung zu sehen waren. Dass die Ermordete die Nadine Schmalstieg war, die diesen Facebook-Account gehabt hatte, war inzwischen Stand der Ermittlungen. Allein schon die Verbindung zu Timothy Winkelströter ließ daran keine Zweifel – aber inzwischen war das auch dadurch bestätigt, dass man Benachrichtigungen dieses Accounts auf Nadines Handy gefunden hatte. Ihren Computer würden sich die Kollegen natürlich auch ansehen. „Wenn Sie sich das bitte mal ansehen würden“, sagte Haller. „Erkennen Sie irgendwen wieder?“

„Ja, natürlich! Das da! Da ist ist der Timothy!“, stellte Ruth fest. „Ich glaube, da hat sie sich den Falschen gegriffen. Ganz ehrlich, ich verstehe bis heute nicht, was sie an dem gefunden hat! Schon allein die Kleidung wirkt doch so ungeheuer ...“ Sie suchte nach dem richtigen Wort und fand es schließlich auch. „... aggressiv!“ Die Art und Weise, wie sie das aussprach, drückte aus, dass sie in dieser Eigenschaft so etwas wie eine Todsünde sah. Insbesondere die Schlusssilbe zog Ruth Störicke-Fleischer so in die Länge, dass dabei ein Zischlaut entstand, den Haller seinerseits wiederum als sehr aggressiv empfand.

„Darf ich mal näher sehen?“, fragte Jobst und nahm dabei das Foto an sich. Er kniff die Augen zusammen und Haller fragte sich, ob technische Seehilfen, wie zum Beispiel eine Lesebrille, wohl von den Fleischers ebenfalls abgelehnt wurden – als Machenschaften der Optikerketten zum Beispiel.

„Die da war auch schon mal hier“, sagte er und deutete auf eine Frau mit dunklen Haaren. „Aber das Bild ist schon älter, oder?“

„Mindestens siebeneinhalb Jahre alt“, bestätigte Haller.

„Ich wollte nämlich gerade sagen. Dieser Timothy sieht da ja noch richtig nett aus ...“ Dann tippte er mit dem Finger auf die junge Frau, die er zu erkennen glaubte. „Ich bin mir sicher, die da war schon hier.“

Eine der bisher Unidentifizierten!, erkannte Haller gleich. Vielleicht war es die geheimnisvolle Sarah, die in den Kommentaren erwähnt worden war.

„Wo ist das aufgenommen worden? Auf einem Maskenball?“, fragte Ruth. „Sieht ja aus wie venezianischer Karneval oder so was Ähnliches. Ich meine wegen der Pestmaske!“

Haller überlegte kurz. War diese Sarah noch wichtig? Erst hatte alles auf Tornhöven gedeutet, jetzt auf Winkelströter ... Wer konnte schon vorhersagen, welche Wendung dieser Fall noch nehmen würde? Haller folgte seinem Instinkt und der ließ ihn manchmal Dinge tun, die nicht bis ins Letzte logisch erklärbar waren. Alles nachhaken, alles wissen, ein breites Feld bei den Ermittlungen abdecken und sich nicht zu früh festlegen – damit hatte er gute Erfahrungen gemacht.

„Was war mit dieser Dunkelhaarigen?“, fragte Haller also.

„Die saß in einem Wagen“, sagte Jobst Fleischer. „Ich kenne mich mit Fahrzeugen nicht so aus, aber ich denke, es war ein Audi, viertürig, silbergrau.“

Ruth sah ihren Mann mit einem Blick an, als ob sie sich darüber wunderte, wie tief ihr Mann wohl doch klammheimlich ein Opfer des Konsumterrors geworden war. Allerdings enthielt sie sich eines Kommentars dazu. Sie sagte nur: „Also, ich habe die Frau nicht gesehen.“

„Der Wagen stand stundenlang da. Und zwar nicht nur einmal“, berichtete Jobst. „Das wirkte so, als würde die Frau jemanden beobachten oder auf jemanden warten.“

„Und wen? Ich meine, was vermuten Sie?“, hakte Haller nach.

„Keine Ahnung. Ich habe sie dann allerdings mal angesprochen.“

„Davon hast du mir ja noch gar nichts erzählt!“, stellte Ruth erstaunt fest.

„Ich habe es nicht für so wichtig gehalten.“

„Und – wie hat sie reagiert?“

„Sie hat das Seitenfenster heruntergelassen, nachdem ich dagegen geklopft habe. Dann habe ich sie gefragt, ob sie jemanden sucht oder ob ich ihr irgendwie weiterhelfen könnte. Wissen Sie, wir hatten hier in der Gegend auch eine Serie von Einbrüchen. Das ist jedes Mal in der Sommerzeit dasselbe. Viele Leute sind weggefahren und dann denken Einbrecher, sie hätten leichtes Spiel.“

So besitzfixiert?, dachte Haller spöttisch. Das muss wohl der Konsumterror mit ihm gemacht haben. Gut, dass er da frühzeitig ausgestiegen ist!

„Ja und? Was hat sie gesagt?“, fragte Haller.

„Nichts. Sie wirkte allerdings sehr erschrocken. Also, ob mein Erscheinen das ausgelöst hat, weiß ich natürlich nicht.“

„Wo stand der Wagen genau?“

„Kommen Sie!“

Jobst Fleischer stand auf und führte Haller zu einem Fenster, von dem aus man einen hervorragenden Blick auf die Straße hatte. „Sehen Sie den Van dort?“

„Ja, das sind die Kollegen vom Erkennungsdienst.“

„Genau dort stand der Wagen. Ach ja und eins war im Nachhinein sehr merkwürdig.“

„Was?“

„Auf dem Beifahrersitz lag ein Fernglas. Also, wie soll ich mich da jetzt ausdrücken? Nicht so ein gewöhnliches Fernglas, wie man das vielleicht in der Oper benutzt, aber das wäre dann ja auch ein Opernglas ...“

„Sondern?“

„Also, genau genommen sah es aus wie ein Zielfernrohr für ein Gewehr. Mein Schwiegervater ist Jäger, daher kenne ich die. Ja, Ruths Vater pflegt ganz anders mit der Natur umzugehen, als ...“

„Sind Sie sich sicher?“, hakte Haller nach.

„Ja, aber das wird ja wohl nichts zu bedeuten haben. Soweit ich weiß, ist Nadine Schmalstieg doch die Kehle durchgeschnitten worden!“

„Wo haben Sie das denn gehört?“

Er zuckte die Schultern. „Nachbarschaft ...“

„Verstehe. Wie auch immer, ich danke Ihnen für Ihre Auskünfte. Falls Ihnen noch irgendetwas einfallen sollte, melden Sie sich doch bitte hier ...“ Haller gab ihm eine Visitenkarte.

„An sich stehen wir der Polizei ja sehr kritisch gegenüber“, sagte Ruth. „Aber Mord geht ja irgendwie zu weit.“

„Ganz meine Meinung“, meinte Haller. „Ach, die Nummer dieses silbergrauen Fahrzeugs haben Sie sich nicht zufällig notiert?“

Jobst Fleischer schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Ich meine, wir sind ja jetzt auch keine spießbürgerlichen Denunzianten, die jeden Falschparker anzeigen oder so. Da gibt es ja genug von. Die Frau hat zurückgesetzt, ist rückwärts in die nächste Einfahrt gefahren und dann auf und davon Richtung Stadt. Aber es war auf jeden Fall ein hiesiges Kennzeichen, also ST, wenn Sie verstehen was ich meine.“

Haller verstand durchaus.

ST – die Buchstabenkombination des Riesenkreises Steinfurt. Das war wirklich ein Schritt weiter.

*

Wenig später war Haller wieder im Freien. Er ging zu dem Van des Gerichtsmediziners – jener Stelle, an der angeblich der silbergraue Audi gestanden hatte.

Man hatte eine ausgezeichnete Sicht auf die Vorderfront und die Einfahrt von Nadine Schmalstiegs Haus.

Haller blieb einige Augenblicke dort stehen und dachte nach. Gleichgültig, ob die dunkelhaarige Frau nun Sarah hieß oder nicht – das Facebook-Foto bewies, dass sie Nadine Schmalstieg zumindest flüchtig gekannt hatte. Wieso saß sie dann stundenlang vor ihrem Haus, anstatt einfach zu klingeln?

Ob das irgendeine Bedeutung für den Fall hatte, da mochte sich Haller nicht festlegen. Aber immerhin ließ es ihn stutzen. Vielleicht brauchte man diese geheimnisvolle Frau noch als Zeugin, dachte er.

Sein Handy klingelte.

Es war Raaben.

„Die Psychologin ist hier“, sagte er.

„Hat sie schon mit diesem durchgeknallten Elbenkrieger gesprochen?“

„Sie ist dabei. Und Markus hat mir gerade gesagt, du kannst dich jetzt mit mir am Tatort umsehen. Bevor die Leiche weggeschafft wird.“

„In Ordnung. Ich bin gleich da.“

Leichenschau

„Guten Morgen“, sagte Haller, als er die Küche in Nadine Schmalstiegs Haus betrat und dort auf Anna van der Pütten und Branagorn stieß.

„Vergesst nichts von dem, was ich Euch gesagt habe, Cherenwen. Alles davon kann wichtig sein. Ich war der Mörderseele so nahe wie niemand zuvor und ich bin vielleicht der Einzige, der sie zu erkennen vermag ...“, wandte sich unterdessen Branagorn eindringlich an die Psychologin.

„Ich würde sagen, Sie überlassen die Polizeiarbeit uns und versuchen, sich da nicht einzumischen“, sagte Haller an den Elbenkrieger gerichtet.

„Ich kannte das Opfer“, sagte Branagorn. „Und wir sind beide der Mörderseele begegnet, damals in Lengerich! Glaubt Ihr wirklich, dass das alles ein Zufall ist? Aber Ihr seht das Offensichtliche nicht und vermutlich hättet Ihr in der Zwischenzeit nicht einmal herausgefunden, wer von den verschiedenen Trägerinnen des Namens Nadine Schmalstieg jene ist, die das Bild in das Buch der Gesichter gestellt hat, so wie ich auch nicht annehme, dass Ihr auch noch immer nicht wisst, wer diese Sarah ist oder wer sich hinter der Maske des Schwarzen Todes verbirgt ...“

„Sarah?“, echote Haller verwirrt.

„Sie heißt Sarah Aufderhaar und wohnt in der Nordwalder Straße. In ihrem Flur fand ich ein Haar, das jenem von Jennifer Heinze ähnelt und dass Eure Alchemisten dringend untersuchen sollten, obgleich ich die Befürchtung habe, dass Ihr es einfach nur in den Papierkorb wandern lasst und meinen Hinweisen keinen Glauben schenkt. Und dabei kann ich noch von Glück sagen, dass Ihr zurzeit mit dem aufgebrachten Herrn Timothy noch einen anderen Verdächtigen habt, ansonsten wäre ich wohl Gefahr gelaufen, mich ebenfalls in dem verworrenen Netz Eurer Ermittlungen zu verfangen.“

Haller runzelte die Stirn. Anstatt Branagorn zu antworten, wandte er sich an Anna. „Hör mal, der Sinn deiner Gesprächsführung, sollte es sein, Informationen zu erhalten und nicht einen Zeugen oder Verdächtigen oder wen auch immer über unseren Ermittlungsstand zu informieren!“ Der Ärger, den er empfand, war ihm mehr als deutlich anzumerken.

„Sven, Ehrenwort, ich habe nichts dergleichen getan.“

„Und woher ...“, Haller atmete tief durch. „Darüber sprechen wir nachher noch.“

„Branagorn – oder Herr Schmitt – hat ein fotografisches Gedächtnis, Sven. Ich gehe davon aus, dass er sich alles merken konnte, was auf der Stellwand im Polizeipräsidium zu sehen war. Und dass er Nadine Schmalstieg aus einem Aufenthalt in der Lengericher Psychiatrie kannte, wird sich ja wohl überprüfen lassen.“

Haller nahm ein Blatt aus seiner Jacketttasche. Es war der Ausdruck des Facebook-Fotos. Er faltete es auseinander und legte es vor Branagorn auf den Tisch.

Branagorn warf einen Blick darauf und tippte dann auf jene junge Frau, die auch schon von Jobst Fleischer als Beobachterin im silbergrauen Audi identifiziert worden war.

„Sie heißt Sarah Aufderhaar und wohnt in der Nordwalder Straße“, erklärte Branagorn. „Nadine Schmalstieg hat mir während unserer äußerst angenehmen Unterhaltung im Café Mauritius erzählt, dass die werte Frau Sarah bei der Kreisverwaltung in Burgsteinfurt arbeiten würde. Durch sie habe ich zumindest die Straße erfahren, auch wenn sie mir die Nummer nicht sagen konnte.“

„Wie kommst du jetzt auf diese Frau?“, fragte Anna an Haller gerichtet.

„Ein Nachbar hat bemerkt, dass sie offenbar des Öfteren hier in der Straße in ihrem Wagen gesessen hat, so als würde sie jemanden beobachten – was natürlich schon etwas seltsam ist, wenn sie Nadine tatsächlich gekannt hat.“

„Mir dünkt, dass der Kontakt zwischen den beiden Damen über die Jahre hinweg nicht allzu eng gewesen ist“, erklärte Branagorn. „Lasst die Alchemisten das Haar untersuchen! Davon hängt alles weitere ab!“

„Das ist in der Tüte“, versicherte Anna.

„Wie auch immer. Es wäre jetzt nett, wenn du mit ins Wohnzimmer kommen würdest, Anna.“

„Natürlich.“

„Es ist nicht nötig, dass ich Euch begleite Cherenwen, denn ich habe bereits alles gesehen und erinnere mich an jede Einzelheit“, erklärte Branagorn an Anna gerichtet.

„Nur zur Information, Herr Schmitt: Sie sind auch gar nicht darum gebeten worden!“, stellte Haller klar.

„Das ist mir bewusst“, gab Branagorn vorsichtig zurück. „Dennoch sei mir ein Hinweis gestattet ...“

Haller runzelte die Stirn. „Was für ein Hinweis?“

„Seht Euch den Fleck am Kinn der Toten an und vergleicht ihn mit dem, was Euch von Jennifer Heinze in Erinnerung geblieben sein mag. Aber da Ihr ja alles auf Bilder gebannt habt, wird Euch auch Euer schlechtes Gedächtnis nicht daran hindern, die richtigen Schlüsse zu ziehen!“

Haller runzelte die Stirn und sah Anna an. „Sicher, dass er nichts Stärkeres als eventuell eine Tasse Kaffee bekommen hat?“

*

Als Anna zusammen mit Haller das Wohnzimmer betrat, waren dort auch der Gerichtsmediziner Dr. Wittefeld und Markus Friedrichs von der Spurensicherung. Alle, die das Wohnzimmer betraten, trugen Überzieher aus Plastik an den Füßen, um nach Möglichkeit auszuschließen, dass zusätzliche Spuren an den Tatort getragen wurden.

„Ursprünglich waren die Augen der Toten offen – Herr Schmitt hat angegeben, sie geschlossen zu haben“, sagte Friedrichs.

„Ja, und wer weiß, wo er noch überall seine Spuren hier hinterlassen hat.“

„Jedenfalls können die blutigen Fußabdrücke definitiv nicht von ihm gekommen sein“, erklärte Friedrichs. „Frank Schmitt trägt lange, schmale Wildlederstiefel, deren Sohle vollkommen glatt ist – Größe 44. Die Abdrücke hier sind höchstens Größe 42 und es handelt sich um Profilsohlen. Vermutlich Turnschuhe.“

„Na, das nenn ich doch schon mal eine Spur!“, meinte Haller. „Ein Meter siebzig und Schuhgröße 42 – das ist so ziemlich Mister Jedermann!“

„Man kann noch nicht mal sagen, ob es ein Mann der eine Frau war“, stimmte Friedrichs zu. „Tut mir leid, mir wären extremere Werte auch lieber. Schuhgröße 47, Sonderanfertigung oder etwas in die Richtung. Dann hätten wir es etwas leichter.“

„Haben Sie sonst noch etwas feststellen können?“, fragte Haller.

„Auf eine Sache hat mich Dr. Wittefeld gebracht.

Haller wandte sich an Wittefeld. „Worum geht es?“

Dr. Wittefeld machte einen Schritt nach vorn, nachdem er Raaben seine Arzttasche übergeben hatte, um besser balancieren zu können. Nur mit der Linken – denn da trug er noch einen Latex-Handschuh – bog er das Kinn der Toten etwas zur Seite.

Anna sah eine dunkle Stelle.

„Blauer Fleck“, murmelte sie.

„Wir nennen das ein Hämatom“, sagte Dr. Wittefeld.

„Kommt das durch eine Kampf?“, fragte Haller. „Vielleicht ein Faustschlag oder etwas in der Arzt.“

„Ein ähnliches Hämatom hat es auch bei Jennifer Heinze gegeben, wenn auch nicht ganz so stark ausgeprägt“, berichtete Dr. Wittefeld. „Ich habe dem zuerst nicht so eine große Bedeutung zugemessen, zumal ein Kampf mit Fäusten in der Situation überhaupt keinen Sinn macht.“

Haller nickte. „Stimmt. Wenn ich jemandem erst mal einen Kinnhaken versetze, habe ich das Opfer auf Distanz und wie soll ich ihm dann noch die Kehle durchschneiden.“

„Zumal Nadine Schmalstieg sicherlich versucht hätte, zur Terrassentür oder in den Nachbarraum zu flüchten“, warf Anna ein. „Der Mörder war eine vertraute Person und hat ganz plötzlich sein Messer oder was immer das gewesen sein mag, gezogen und blitzschnell angegriffen!“

Markus Friedrichs wandte sich Anna zu und nickte. „Genau in diese Richtung gingen auch die Überlegungen, die Dr. Wittefeld und ich angestellt haben“, stimmte der Erkennungsdienstler zu. „Sie scheinen sich die Situation gut vorstellen zu können.“

„Man tut, was man kann“, murmelte sie und wandte sich an Haller. „Das ist es wohl, was Branagorn mit seiner Bemerkung gemeint hat.“

„Tja ...“

Hallers Kinn fiel herab und er vergaß für ein paar Augenblicke, seinen Mund wieder zu schließen.

Dafür ergriff Markus Friedrichs wieder das Wort. „Ich habe mir zusammen mit Dr. Wittefeld eingehende Gedanken darüber gemacht, wie es zu diesem Hämatom gekommen sein könnte. Und inzwischen denke ich, dass das Hämatom bei dem Angriff entstanden ist – und zwar mit Messer oder Dolch, der ungefähr so aussieht ... Roswitha? Bringst du den Dolch mal rüber?“

„Einen Moment!“, drang eine weibliche Stimme aus dem Nachbarraum.

„Aber heute noch, wenn ich bitten darf!“

„Mit einem netten Kollegen macht die Arbeit doch gleich doppelt Spaß!“, kam es zurück.

Im nächsten Moment kam eine zierliche Frau mit dunklen gelockten Haaren aus dem Nachbarraum. Sie trug einen dünnen weißen Schutzoverall, der ihr allerdings viel zu groß war, sodass sie ihn in der Körpermitte durch einen Gürtel erheblich raffen musste. In der Hand hielt sie einen Dolch, der in Plastikfolie eingepackt war.

„Sie meinen den hier, oder?“

„Genau!“

Friedrichs nahm ihr den Dolch aus der Hand. „Ich bin bei meiner Arbeit wie selbstverständlich von den üblichen Messern und Dolchen ausgegangen, die heutzutage so in Gebrauch sind. Egal ob Springmesser, Küchenmesser oder Kampfmesser von Elitesoldaten und was es sonst noch so alles gibt: Keines davon hat das hier!“ Er tickte mit dem Finger auf die Parierstange. „So was hatten nur mittelalterliche Waffen oder solche, die entsprechend nachgemacht sind. Ich nehme an, dass man sie als Zweitwaffe im Schwertkampf benutzte und die Parierstange die Funktion hatte, die Hand zu schützen ...“

„Woher haben Sie diesen Dolch?“, wollte Haller wissen.

„Der Reihe nach, Sven! Jetzt geht es erst mal um das Hämatom!“

Haller konnte es nicht leiden, wenn er belehrt wurde. So viel hatte Anna schon von seinem Charakter mitbekommen. Und vielleicht war das sogar der tiefere Grund dafür, dass Haller mit Branagorn auf Kriegsfuß stand, denn der war ja nun wirklich so etwas wie eine gesammelte Bibliothek auf Abruf.

Friedrichs nahm den Dolch, beugte sich zu der Toten herab und führte andeutungsweise mit der rechten Hand einen Schnitt von links nach rechts und hielt in der Bewegung inne, bevor das Ende der Parierstange das Kinn traf. „So könnte es gewesen sein. Daher der Bluterguss. Ich nehme außerdem an, dass der Täter Rechtshänder war ...“

„Wie leider die meisten Leute“, maulte Haller.

„Man müsste das noch mal genau mit einem Dummie rekonstruieren, aber ich denke, die Parierstange hätte weniger gegen das Kinn gedrückt, wenn der Schnitt mit der Linken ausgeführt worden wäre. Davon abgesehen passt es auch nicht zum Schnitt.“

„Und jetzt zum Messer! Woher stammt es?“, wollte Haller nun wissen.

„Hat Kollegin Roswitha gefunden. Und zwar im Schlafzimmer in einem Schuhkarton, der mit Geschenkpapier beklebt war. Dazu ein paar nette Zeilen zum Geburtstag von einem gewissen ...“

„... Timothy!“, schloss Haller.

„Winkelströter stand auch noch drunter. Er hat Nadine diesen Dolch offenbar geschenkt.“

„Sind Spuren dran?“, wollte Anna wissen.

„Ja, einige Fingerabdrücke. Ich vermute mal, dass die von diesem Timothy Winkelströter und der Toten stammen. Das ist aber nicht verwunderlich, denn schließlich fand ja die Übergabe wohl bei einem gemütlichen Anlass statt und dabei wurde der Dolch natürlich auch angefasst. Aber die Tatwaffe kann es nicht sein. Es gibt keine Blutspuren. Und wenn die Waffe abgewischt worden wäre, dann wären ja auch die Fingerabdrücke nicht mehr drauf.“

„Ja, klingt logisch“, knurrte Haller.

„Wir haben eine Reihe ähnlicher Waffen bei diesen 'Neuen Templern' in Osnabrück sichergestellt“, fuhr Friedrichs fort. „Und dreimal dürfen Sie raten, wer so was in seinem Internet-Shop anbiete!“

„Timothy Winkelströter“, stieß Haller hervor.

„Dieses Modell und ein paar Verwandte“, ergänzte Friedrichs. „Das hatte ich gestern Abend noch recherchiert, als ich zusammen mit Kollegin Roswitha die Dolche und die Drahtschlingen sortiert habe, die wir aus Osnabrück mitgenommen hatten.“ Er unterdrückte ein Gähnen. „War ziemlich spät, aber es konnte ja auch keiner ahnen, dass wir gleich am nächsten Morgen schon zu einer so unchristlichen Zeit aus dem Bett geworfen werden!“

„Zeig das alles mal Branagorn“, meinte Anna. „Wer weiß, ob ihm vielleicht nicht noch irgendetwas auffällt, was wir alle übersehen haben.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“, gab Haller zurück, aber Anna registrierte durchaus, dass das Maß seiner üblichen Empörung bei so einem Vorschlag offenbar bereits sehr zurückgedimmt worden war.

„Doch, das ist mein Ernst!“

„Ja, warum soll der Kerl nicht mal einen Blick darauf werfen!“, meinte auch Friedrichs. „Der Täter ist er auf keinen Fall, das steht außer Zweifel. Aber ein sehr guter Zeuge. Übrigens habe ich mir das verbeulte Schwert angesehen.“

„Und?“, fragte Haller – sichtlich pikiert darüber, dass der Erkennungsdienstler offenbar in der Angelegenheit mit Branagorn Annas Partei ergriffen hatte.

„Seine Angaben sind sehr plausibel. Erstens gibt es einen Abdruck, der vermutlich von einem Reifen stammt. Das Fahrzeug, dem er sich entgegengestellt hat, ist also tatsächlich über das Schwert gefahren. Und zweitens gibt es an der Klinge etwas, das vielleicht Lackabrieb sein könnte.“

„Dieser Spinner hat sich also wirklich vor das Auto des flüchtenden Mörders gestellt und versucht, ihn mit seinem Schwert aufzuhalten“, meinte Haller.

„In anderen Fällen hat man so etwas auch schon mal Zivilcourage genannt“, meinte Anna.

Haller verzog das Gesicht, „Immer auf der Seite des Patienten, nicht wahr?“

„Ja, ist doch so!“

„Also genaues kann ich natürlich erst sagen, wenn die Klinge im Labor untersucht worden ist. Allerdings – wenn wir den passenden Wagen dazu finden würden, wäre das natürlich nicht schlecht. Dieser Kampf mit dem Blechtitan oder wie immer man das auch bezeichnen mag, muss auf jeden Fall Spuren hinterlassen haben! Das steht außer Frage!“

„Dann sehen wir uns doch einfach mal an, in welchem Zustand der Geländewagen von Timothy Winkelströter ist“, schlug Haller vor.

Er war schon auf dem Weg hinaus.

Anna wandte sich hingegen an Friedrichs. „Den Dolch!“, verlangte sie.

„Wie gesagt, ich habe nichts dagegen, dass dieser Elbenkrieger sich hier umsieht.“

„Das braucht er nicht“, erwiderte Anna.

„Wie?“

„Er hat es doch bereits. Wenn er sich etwas einmal angesehen hat, dann braucht er keinen zweiten Blick, so wie unsereins. Er hat alles gesehen und kennt jedes Detail. Übrigens ist ihm auch das Hämatom aufgefallen.“

„Respekt!“

„Aber den Dolch, den hat er noch nicht gesehen. Schließlich war der bisher ja in dem Schuhkarton im Schlafzimmer.“

Friedrichs gab Anna den Dolch. „Viel Glück!“

*

Im Flur traf Anna noch einmal auf Haller. Der telefonierte gerade und sagte zweimal kurz und knapp: „Jawohl!“

Mit einem Zeichen bedeutete er Anna, noch nicht zu Branagorn zu gehen, der geduldig in der Küche wartete. Offenbar wollte Haller ihr noch irgendetwas mitteilen.

Nach mehreren ungeduldigen „Hms!“, die man auch mit „Etwas schneller und kurzgefasster bitte, ich bin in Eile!“ hätte übersetzen können, folgte schließlich ein „Sehr interessant, Wolli! Aber die Einzelheiten will ich gar nicht wissen. Nein, ich fahre jetzt mit Raaben nach Kattenvenne und nehme Timothy Winkelströter fest. Alles andere werden wir dann klären können.“

Haller beendete das Gespräch und steckte das Handy ein.

„Kommst du endlich?“, rief Kevin Raaben von der Tür aus. Er kaute auf einem Kaugummi herum. Man musste kein Experte für Körpersprache und Mimik zu sein, um zu erkennen, dass Haller das nicht leiden konnte.

„Sofort“, knurrte er den Kollegen an und Anna hatte in diesem Moment aus irgendeinem Grund die Assoziation eines kläffenden Terriers.

Haller wandte sich Anna zu. „Du hast ja mitgehört.“

„Ja.“

„Kevin und ich kümmern uns jetzt um Winkelströter und ich bin mal gespannt, wie viele Dellen sein Wagen hat!“

„Vielleicht willst du noch warten, bis Branagorn sich den Dolch angesehen hat.“

„Keine Zeit. Es gibt noch eine interessante Neuigkeit. Gerade hat Wolli aus dem Innendienst angerufen. Wusstest du, dass Timothy Winkelströter mal Jäger war?“

„Nein.“ Woher auch?, dachte Anna etwas ärgerlich. Habe ich vielleicht einen Polizeiapparat hinter mir, der mir zuarbeitet?

„Vor siebeneinhalb Jahren, als das erste Opfer des Barbiers umgebracht wurde, war er es jedenfalls noch. Dann wurde er aus dem Jagdverein ausgeschlossen und musste auch seine Waffen abgeben.

Anna nickte leicht.

Jana Buddemeier, Opfer Nummer eins in der inzwischen schon schon recht ansehnlichen Liste, die der Barbier auf seinem Kerbholz hatte, war mit einer Jagdwaffe ermordet worden.

„Das würde zumindest erklären, weshalb der Täter danach die Waffe gewechselt hat!“, stimmte Anna zu.

„Du kümmerst dich um Frank Schmitt und mach ihm bitte auch klar, dass er sein Schwert fürs Erste nicht zurückbekommt,“ Haller zuckte die Achsel. „Ist sowieso verbogen. Die magische Kraft dürfte doch damit auch flöten gegangen sein, meinst du nicht?“

„Er wird das nicht lustig finden.“

„Ja – das zweite Schwert innerhalb kurzer Zeit – das muss schlimm sein!“

*

Anna ging zu Branagorn in die Küche.

„Der Hüter der Ordnung irrt sich“, sagte Branagorn. „Der werte Herr Timothy mag manchmal über ein unangenehmes Temperament verfügen – aber ist in diesem Fall unschuldig.“

„Wie können Sie sich da so sicher sein?“

„Weil ...“

„Sie konnten den Autotyp nicht nennen und Sie haben auch nicht erkennen können, wer im Inneren saß! Sie haben gerade das Gespräch auf dem Flur mitgehört?“

„Ich konnte nicht umhin. Wir Elben haben sehr empfindliche Sinne, wie ich Euch ja schon mal erklärte. Das gilt insbesondere für Augen und Ohren.“

„Dann werden Sie ja mitbekommen haben, dass erhebliche Indizien gegen Herrn Winkelströter vorliegen.“

„Er ist aber schon vorher davongefahren!“

„Aber das haben Sie nicht gesehen!“

„Ich habe es gehört!“, beharrte Branagorn. „Ich kenne mich mit den Fabrikaten nicht aus. Das Automobil ist nach meinen Zeitbegriffen erst vor einer Zeitspanne erfunden worden, die einem Wimpernschlag der Geschichte gleichkommt. Und die Fabrikate haben so schnell einander abgelöst, dass es mir unmöglich ist, da mitzukommen. Im Übrigen fehlte mir auch, ehrlich gesagt, das Interesse daran, mich mit dieser unästhetischen Erfindung näher zu beschäftigen, die so vollkommen bar jeder Magie ist ...“ Branagorn lehnte sich etwas zurück und sein Blick schien ins Nichts gerichtet zu sein. Er wirkte wie jemand, dessen Gedanken in diesem Moment sehr weit zurück in die Vergangenheit gewandert waren. Anna hatte das oft bei betagten Patienten gesehen, die mehr in der Vergangenheit, als in der Gegenwart lebten. Aber Frank Schmitt war nicht betagt! Ein flüchtiges Lächeln flog über Branagorns Lippen. „Dasselbe in grün ...“, murmelte er.

„Wie bitte.“

„Ach. Für Euch bedeutet es nichts.“

„Ich bin Ihre Therapeutin. Alles, was für Sie bedeutsam ist, bedeutet auch für mich etwas.“

„In den zwanziger Jahren hat Opel ein Automobil gebaut, das in fast jedem Detail der Konkurrenz von Citroen glich. Nur nicht in der Farbe, denn der Opel war in Grün. Das einzige Auto mit grüner Karosserie damals. Darum haben die Leute 'dasselbe in Grün' dazu gesagt und der Ausdruck hat sich bis heute erhalten. Es gab übrigens auch einen lang andauernden Rechtsstreit wegen Patentverletzung, aber Opel hat sich schließlich vor den deutschen Gerichten durchgesetzt – und das Argument dabei war, dass sich das Modell ja schließlich durch die Farbe unterscheiden würde.“

„Eine hübsche Geschichte.“

„Die Wahrheit, werte Cherenwen! Sprecht mal mit Automobilisten aus dieser Zeit, obwohl ... Ach, so kurzlebig, wie die Menschen nun mal sind, werdet Ihr wohl kaum noch jemanden finden, der damals schon alt genug war, ein Automobil zu fahren ... Obwohl – mit etwas Glück?“

„Johannes Heesters kann sich daran vielleicht noch erinnern, aber sonst wohl niemand.“

„Wo ist Eure Seele zu dieser Zeit gewesen, Cherenwen? Schon auf dieser Welt? Vielleicht in einem anderen Körper?“

„Ich denke, wir kümmern uns erst einmal um das hier!“, unterband Anna fürs Erste jede weitergehende esoterische Spekulation und legte den Dolch vor Branagorn auf den Tisch.

Branagorns Augen wurden groß. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er wich instinktiv einige Zentimeter zurück – beinahe so, als ob von diesem Gegenstand eine dunkle magische Kraft ausging, die ihn zurückschrecken ließ.

„Woher habt Ihr dieses Artefakt?“, stieß er hervor. Dann stand er auf und wich zwei Schritte zurück. Er murmelte eine Formel vor sich hin und steckte die langfingrigen Hände aus und richtete dabei seine Fingerspitzen auf den Dolch.

„Branagorn!“, versuchte Anna sich Gehör zu verschaffen.

Meyer zu Gentrup kam durch die Küchentür.

„Alles unter Kontrolle, Frau ...?“ Weiter kam er nicht, denn er starrte nur den Elbenkrieger an, der mit seinem magischen Ritual fortfuhr.

Branagorn stieß einen Schrei aus, der dafür sorgte, dass sich noch ein weiterer Beamter durch die Küchentür zu drängen versuchte.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Herr Schmitt?“, fragte Meyer zu Gentrup.

Branagorn gab keine Antwort. Er senkte jetzt die Arme und atmete tief durch. „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung mehr“, erklärte er. „Die üblen Kräfte sind gebannt, die womöglich die Aura dieser Waffe vergiftet haben.“

Meyer zu Gentrup wandte sich mit einem nach wie vor ziemlich besorgten Gesichtsausdruck an Anna. „Und Sie sind sich sicher, dass Sie die Lage hier wirklich unter Kontrolle haben?“

„Vollkommen, Sie lassen uns jetzt am besten allein.“

„Wie Sie meinen. Aber wenn Sie Hilfe brauchen ...“

„Danke, ich komme klar.“

Meyer zu Gentrup tauschte einen sehr skeptischen Blick mit seinem Kollegen, aber schließlich verließen doch beide die Küche und ließen Anna mit ihrem Patienten allein.

„Erklären Sie mir, weshalb Sie so reagiert haben, Branagorn?“

„Ich habe diese Waffe schon einmal gesehen – nein, diese Waffe nicht, sondern eine Waffe, die genauso aussah.“

„Und bei welcher Gelegenheit?“

„Erinnern Sie sich an den Pest-Arzt auf dem Mittelalter-Markt in Telgte?“

„Den werde ich wohl bis an mein Lebensende nicht vergessen, Branagorn!“

„Der Dolch war unter der Kleidung verborgen. Aber für einen kurzen Moment war der Dolch sichtbar, als der Stoff des Mantels zur Seite glitt.“

„Sind Sie sich vollkommen sicher?“

„Vollkommen.“

„Warum haben Sie bisher nichts davon gesagt, Branagorn.“

„Weil mich niemand gefragt hat. Und davon abgesehen erschien bisher wohl auch niemandem das als ein wesentliches Faktum, wenn mir diese Bemerkung erlaubt sei.“

„Das stimmt natürlich“, gab Anna zu.

„Darf ich nun erfahren, wem diese Klinge gehört, die Ihr mir vorgelegt habt, werte Cherenwen?“

„Sie war im Besitz von Nadine Schmalstieg. Ein Geburtstagsgeschenk, das Timothy Winkelströter ihr gemacht hat. Er vertreibt diese Dolche über seinen Internet-Shop.“

„Und so verleitet dies die Hüter der Ordnung ein weiteres Mal einer falschen Spur zu folgen“, lautete Branagorns Kommentar dazu. „Das ist bedauerlich, denn es wäre zweifellos besser, wenn jetzt alle Kräfte gegen das Böse vereint wären. Doch das bleibt wohl nach all den Jahrtausenden ein vergeblicher Wunsch, der sich wohl niemals erfüllen wird ...“

„Sie verlangen immer von anderen, dass sie Ihre Erkenntnisse und Sichtweisen in ihre Betrachtungen miteinbeziehen sollen“, stellte Anna nach einer kurzen Pause fest.

Branagorn blickte ruckartig auf, musterte sie kurz und legte dann die Stirn in Falten. „Ist das etwa zu viel verlangt, werte Cherenwen? Ich will mich Eurer Erkenntnis nicht verschließen. Schließlich scheint es tatsächlich so zu sein, dass Eure Seele diese Welt vor noch nicht langer Zeit erreichte, wie es bei mir der Fall ist. Und das bedeutet, dass Ihr die Verhältnisse hier vielleicht mit einem größeren Maß an Unabhängigkeit zu beurteilen vermögt, als mir das möglich ist, der ich vielleicht im Verlauf der Jahrtausende einfach schon zu müde geworden bin, immer wieder Zeuge derselben Grausamkeiten zu werden. Und abgesehen davon, müsst Ihr Ewigkeiten in den Sphären der Eldran zugebracht haben.“

„Ich werde Sie jetzt nicht fragen, was das sein soll, Branagorn. Dazu haben wir nämlich jetzt keine Zeit.“

„Ihr erinnert Euch wirklich nicht an Euer Dasein als Eldran? So nennen wir die verklärten Totengeister der Elben.“

„Was halten Sie davon, wenn wir jetzt einfach mal bei dieser Sarah Aufderhaar vorbeifahren“, glaubte Anna dann genau den richtigen Hebel gefunden zu haben, um ihn auf ein anderes, weniger esoterisches Gesprächsterrain zu locken.

„Wie Ihr wünscht, Cherenwen. Und ich kann Euch nur mein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken, dass offenbar weder die Erinnerung an Euer früheres Leben als Elbin noch an Eure Zeit als Eldran im Reich der Geister inzwischen zurückgekehrt ist. Aber ich möchte Euch dazu ermutigen, in aller Geduld darauf zu warten. Denn Eure Erlebnisse aus dieser Zeit sind zweifellos so stark gewesen, dass es nicht vorstellbar erscheint, dass Eure Seele nicht wenigstens Spuren davon bewahrt hätte! Glaubt mir! Was Ihr einst gewesen seid, werdet Ihr wieder sein.“

Anna seufzte. „Kommen Sie!“, forderte sie ihn auf.

Verdächtige und Zeugen

Anna führte Branagorn zu ihrem Wagen. „Steigen Sie ruhig ein“, ermutigte sie ihn, als sie merkte, dass er aus irgendeinem Grund zögerte, die Tür zu öffnen, nachdem sie mithilfe ihres Schlüssels die Zentralverriegelung gelöst hatte.

„Ich frage mich, ob wir in diesen Kampf wirklich ohne ein magisches Artefakt gehen sollten!“

„Wir kämpfen nicht, Branagorn. Wir ermitteln allenfalls – und selbst das tun wir im Grunde nicht. Eigentlich suchen wir nur ein paar Anhaltspunkte – und ich tue Ihnen einen Gefallen.“

Branagorn schien ihr gar nicht zuzuhören. Nicht zuletzt deshalb ließ Anna ihren Wortschwall auch schließlich versiegen. Wenn die eigenen Worte das Gegenüber gar nicht mehr erreichten, war es besser zu schweigen – wenngleich Anna nur zu gut aus eigener leidvoller Erfahrung wusste, dass gerade Angehöriger sozialer und sogenannter helfender Berufe diese Maxime meistens überhaupt nicht beherzigten.

Für sie selbst traf das im Übrigen ebenfalls zu, wie ihr sehr bewusst war.

„Ich nehme an, es besteht im Moment keine Möglichkeit, mein Schwert zurückzuerhalten“, sagte Branagorn.

„Sie vermuten richtig.“

„Und den Dolch, den Ihr mir vorhin gezeigt hat? Könnten wir nicht wenigstens ihn mitnehmen?“

„Nein, das ist auch unmöglich. Und das wissen Sie auch genau. Branagorn, steigen Sie jetzt endlich ein. Ihre geistige Kraft ist groß genug, um ohne ein Artefakt Magie auszustrahlen.“

Branagorns Gesicht hellte sich auf. „Ihr scheint mich inzwischen tiefer zu verstehen, als ich es je zu hoffen wagte! Und Eure Erinnerungen an Cherenwen scheinen zurückzukehren. Erinnerungen, die Euch bestätigen werden, dass Magie keineswegs der Einbildung kranker Geister entspringt, sondern selbst in dieser nüchternen Welt eine Realität ist!“

„Einsteigen!“, beharrte Anna und der barsche Tonfall, in dem sie dieses eine Wort jetzt ausgesprochen hatte, erstaunte sie selbst am meisten.

Aber Branagorn gehorchte, öffnete augenblicklich die Tür und setzte sich auf den Beifahrersitz des Renault.

Anna setzte sich ans Steuer.

„Es ist nicht weit von hier“, versprach Branagorn.

*

Wenig später parkte Anna ihren Wagen vor dem Haus, in dem Sarah Aufderhaar wohnte.

„Sie hat noch eine Zwillingsschwester namens Melanie“, erklärte Branagorn. „Vielleicht erkundigt Ihr Euch auch nach ihr, wenn es Euch gelingen sollte, mit Sarah zu sprechen.“

„Das werde ich gerne tun.“

„Und möglicherweise erlaubt es Euch Euer angeborenes diplomatisches Geschick auch, A. Gross zu befragen. Er bewohnt die untere Wohnung. Fragt ihn, was hinter der Tür zu finden ist, die seiner Wohnung gegenüberliegt! Es ist unmöglich, dass er davon nichts weiß.“

„Warten Sie einfach hier im Wagen, Branagorn. Auch wenn es Ihnen schwer fällt: Bleiben Sie hier und rühren Sie sich nicht von der Stelle! Sonst gibt es nur wieder irgendwelchen Ärger.“

Branagorn nickte leicht. „Ihr habt zweifellos Recht, werte Cherenwen und so werde ich mich nach Euren Worten richten, auch wenn mir das sehr schwerfällt.“

Anna atmete tief durch, als müsste sie für die Aufgabe, die ihr bevorstand, erst einmal genügend Sauerstoff in sich hineinsaugen. Sie hatte ein sehr mulmiges Gefühl, wenn sie daran dachte. Die Grenzen dessen, was eigentlich die Aufgabe von Psychologen und Therapeuten war, hatte sie längst und in jeder nur denkbaren Hinsicht überschritten. Sowohl, was ihre Funktion als Beraterin der Polizei anging, als auch im Hinblick auf ihr therapeutisches Verhältnis zu einem Patienten namens Frank Schmitt.

Aber Anna fand, dass es trotzdem richtig war. Schließlich ging es darum, einen Serienmörder zu stellen. Und das rechtfertigte in ihren Augen einen Verstoß gegen die Regeln. Zumindest versuchte Anna sich das immer wieder einzureden. So richtig überzeugt war sie davon nicht. Sie gab sich einen Ruck und stieg aus.

Dann ging sie bis zur Haustür und betätigte die Klingel.

An der Sprechanlage meldete sich jemand.

Eine Frau.

„Was wollen Sie?“

„Ich möchte mit Sarah Aufderhaar sprechen“, erklärte Anna und benutzte dabei den neutralsten, sachlichsten Tonfall, den sie mit Hilfe ihrer Stimmbänder zu erzeugen vermochte.

„Wer sind Sie denn?“

„Mein Name ist Anna van der Pütten, Diplom-Psychologin. Und ich komme in einer sehr persönlichen Angelegenheit, die ich schlecht hier am Sprechgerät mit Ihnen bereden kann. Deswegen wäre es nett, wenn Sie mir die Tür aufmachen würden.“

„Es tut mir leid, aber mir ist zurzeit nicht gut. Und deswegen ...“

„Einen Moment!“, fiel Anna der Sprecherin ins Wort, aber es war bereits zu spät.

Ein Knacken in der Leitung war noch zu hören, dann war die Verbindung unterbrochen. Aber so schnell gedachte Anna nicht aufzugeben. Sie klingelte noch einmal, aber diesmal gab es keine Reaktion aus der Aufderhaar-Wohnung.

Anna blickte die Fassade empor und entdeckte einen Spiegel an einem der Fenster im Obergeschoss. Es schien sich um einen ganz gewöhnlichen Außenspiegel eines Autos zu handeln, der einfach an einer Fensterbank festgemacht und so ausgerichtet worden war, dass man aus dem oberen Stockwerk in die Haustürnische sehen konnte. Ein einfaches und sehr zuverlässiges System!, musste Anna zugeben.

Sie beobachtet mich also!, ging es Anna durch den Kopf. Vermutlich saß Sarah Aufderhaar – oder ihre Zwillingsschwester – jetzt am Fenster und sah auf sie herab.

Anna klingelte noch einmal. Wieder keine Reaktion.

Dann folgte Anna einem spontanen Gedanken, etwas was sie normalerweise tunlichst vermied. Aber offenbar war ihre Neugier, was die Hintergründe dieses Falles anging, einfach inzwischen stärker geworden als ihr Hang zur Vorsicht und zu wohl abgewogenen, bestens vorbereiteten Handlungen. Jedenfalls stellte sie selbst überrascht fest, dass ihr Zeigefinger die Klingel von A. Gross bereits gedrückt hatte, noch ehe sie das Für und Wider wirklich bis ins Letzte abgewogen hatte.

Zunächst gab es auch hier keine Reaktion.

Anna blickte noch einmal auf und glaubte in dem Spiegel irgendeine Bewegung zu sehen. Vielleicht war es nur eine Reflexion des Sonnenlichts oder der Schatten eines Vogels. Aber es konnte genauso gut sein, dass eine Beobachterin im zweiten Stock diese Veränderung ausgelöst hatte. Also doch!, dachte sie.

Eigentlich hatte sie den Wagen so geparkt, dass man aus den Fenstern des Obergeschosses nicht sehen konnte, wer auf dem Beifahrersitz saß. Aber eine Garantie dafür, dass Sarah Aufderhaar Branagorn nicht doch gesehen hatte und nun einfach weder mit ihm noch mit seiner Stellvertreterin zusammentreffen wollte, gab es nicht.

Anna versuchte es ein letztes Mal und diesmal drückte sie beide Klingeln. Sie fühlte sich an die Zeiten erinnert, als sie noch keine zehn gewesen war und zusammen mit Freunden von Haus zu Haus gezogen war, um die Bewohner hervorzuklingeln und dann rechtzeitig zu verschwinden, ehe jemand kam. Pingelmännchen hatten sie das genannt und Anna hatte das auch ein einziges Mal mitgemacht und dann noch wochenlang ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt.

Das surrende Geräusch, das von der Tür im nächsten Moment ausging, überraschte sie. Über die Sprechanlange hatte sich niemand gemeldet, stattdessen war einfach die Tür geöffnet worden. Anna drückte dagegen und trat in den Flur.

Ihr Blick glitt zunächst die Treppe hinauf, aber dann kam ihr im Erdgeschoss ein Mann im karierten Hemd entgegen.

„Guten Tag, wer sind Sie?“, fragte er und dabei klemmte er seine Daumen hinter die Hosenträger, die er zusätzlich zu seinem Gürtel trug.

„Mein Name ist Anna van der Pütten, ich bin Kriminalpsychologin.“

„Wie bitte? Polizei?“

Anna überlegte einen Moment und entschied sich dann, ihrem Gegenüber einfach nicht zu widersprechen. Eine richtige Lüge war das schließlich nicht und es bestand ja die begründete Hoffnung, dass das Schweigen in diesem entscheidenden Punkt die Kommunikation erheblich erleichtern würde. Juristisch sah das natürlich weniger gut aus, aber Anna sagte sich, dass sie darauf im Moment keine Rücksicht nehmen wollte. Wenn sie sich später wegen dieses Gesprächs verantworten musste, dann konnte sie immer noch behaupten, dass es sich schlicht und ergreifend um ein Missverständnis handelte. Jeder benutzte eben sein Gegenüber als Projektionsfläche für die eigenen Wünsche oder Befürchtungen. Und wenn dieser Mann in ihr eine Polizistin sah, obwohl sie sich doch eindeutig als etwas ganz anderes vorgestellt hatte, so konnte sie nichts dafür. Zumindest versuchte sie sich das einzureden.

„Sie sind Herr Gross nehme ich an“, stellte Anna fest und der Mann nickte heftig.

„Ja, Arnold Gross. Was wollen Sie denn von mir?“

„Wie gesagt, ich arbeite für die Kriminalpolizei. Haben Sie von dem Barbier gehört? Dem Mörder, der seinen Opfern die Haare abschneidet, nachdem er sie umgebracht hat.“

„Für eine Zeitung bin ich zu geizig, das sage ich ganz ehrlich“, sagte Arnold Gross. „Was da drin steht sind meistens ja auch die reinsten Räuberpistolen. Oder die Politik! Da werden wir doch auch von vorne bis hinten verarscht. Aber ich höre Radio und da haben sie ja auch immer mal wieder was darüber gebracht. Wenn Sie mich fragen, dann kann man ja heute nicht mehr unbehelligt über die Straße gehen, ohne dass man befürchten muss, dass man Opfer eines Gewaltverbrechens wird! Zum Beispiel diese U-Bahn-Schläger ...“

Von Höcksken auf Stöcksken!, dachte Anna etwas genervt. Die Art und Weise, wie A. Gross die verschiedensten Themen in ein und demselben Atemzug miteinander vermengte und mit kühnen Ketten wildwuchernder Assoziationen einfach miteinander verband, wirkte wie eine verbale Demonstration dieser in weiten Teilen des Münsterlands bekannten Redensart.

„Also um ehrlich zu sein, wollte ich Sie eigentlich etwas zu Frau Aufderhaar von oben fragen.“

„Kommt drauf an, welche der beiden Frauen Aufderhaar Sie meinen. Auseinanderhalten kann ich die beiden nämlich eigentlich nur an ihrer unterschiedlich stark ausgeprägten Unfreundlichkeit. Die eine ist sehr unfreundlich und ihre Zwillingsschwester äußerst unfreundlich, wenn ich das mal so charakterisieren soll ... Aber irgendwie kann ich das auch verstehen. Schließlich ...“

Von oben war ein Knarren zu hören, so als würde jemand auf dem Treppenabsatz stehen und das Gewicht seines Körpers leicht von einem Bein auf das andere verlagern. Eine Fliege, die bisher in aller Ruhe auf dem Handlauf der Treppe ausgeharrt hatte, stob durch ein leichtes Zittern davon. So als hätte sich dort jemand aufgestützt!, ging es Anna van der Pütten durch den Kopf.

„Hallo – ist da wer?“, fragte sie.

„Ach, hier knarrt und knarzt es wie in einem Geisterhaus“, meinte Arnold Gross. „Wollen Sie einen Moment hereinkommen?“

Anna war angesichts dieser aggressiven Gastfreundlichkeit etwas überrascht. Offenbar hatte dieser Mann ansonsten wenig Gelegenheit, jemandem die Ohren vollzuquatschen, dachte sie. Aber in diesem Fall war es vielleicht legitim, das auszunutzen.

„Gerne“, sagte sie.

„Trinken Sie Kaffee?“

„Nein, danke.“

„Ich auch nicht. Nur Tee. Aber ich hätte Kaffee für Sie gemacht, wenn Sie gewollt hätten.“

Anna folgte A. Gross in dessen Wohnung. Schon auf den ersten Blick in den Flur war für Anna erkennbar, dass sie es mit einem sogenannten Messi zu tun hatte. Die Wohnung war vollkommen vermüllt. Der Flur war eigentlich sehr breit, aber es blieb nur ein schmaler Pfad in der Mitte, durch den man hindurchgehen konnte. Rechts und links waren die Wände mit übereinander gestapelten Kartons vollgestellt. Arnold Gross räumte eine Stehleiter noch schnell zur Seite, mit der er wohl üblicherweise die oberen Etagen dieser äußerst gewagten Karton-Bauwerke erreichte. Aus den Grifflöchern einiger dieser Pappkartons ragten Papierrollen und Blumenstäbe heraus. Zumindest glaubte Anna, dass es sich darum handelte.

Ein penetranter Geruch hing in der Luft.

Anna atmete sehr vorsichtig ein, um die mögliche Dosis an Gift- und Fäulnisstoffen, die sie dabei womöglich in sich aufnahm, nicht unnötig zu vergrößern. Aber es roch keineswegs nach Fäulnis oder verdorbenen Lebensmitteln, wie Anna eigentlich erwartet hatte, sondern nach etwas anderem.

Sie blieb stehen und war schließlich doch dazu gezwungen, einen etwas tieferen Atemzug direkt durch die Nase zu nehmen, um diese Duftnote olfaktorisch näher bestimmen zu können.

Leim!, glaubte sie zu erkennen. Leim oder Tapetenkleister!

Für Branagorn mit seinen extrem empfindlichen Sinnen wäre es sicherlich eine Kleinigkeit gewesen, genau an der Duftnuance noch die genaue Beschaffenheit zu erkennen!, dachte sie ironisch. Aber sie war nun einmal weder eine Elbin noch eine Savant und ganz gleich, welche Ursache man für Branagorns gesteigerte Sinneswahrnehmung auch immer haben mochte, so stand doch außer Frage, dass er jedem anderen Menschen, den Anna kannte, darin überlegen war.

Allerdings hätte er vermutlich Schwierigkeiten gehabt, seine Sinneseindrücke hinterher so in Worte zu fassen, dass ein normaler Mensch das auch verstehen kann!, ging es Anna durch den Kopf. Aber eigentlich war das nicht weiter verwunderlich. Schließlich war Branagorn auf seine Weise und mit seinen speziellen Fähigkeiten einzigartig. Die Anzahl der weltweit bekannten Savants bewegte sich im zweistelligen Bereich und jeder von denen unterschied sich doch so sehr von den anderen, dass sie in der Regel noch nicht einmal erwarten konnten, unter ihresgleichen mehr Verständnis zu finden. Mehr Verständnis oder einfach nur eine etwas leichtere Kommunikation.

„Ja, ich weiß, es sieht hier vorübergehend ein bisschen wild aus“, sagte Arnold Gross.

Nein, das sieht nicht vorübergehend so aus, sondern schon seit schätzungsweise einem oder anderthalb Jahrzehnten!, dachte Anna, behielt ihren Kommentar aber tunlichst für sich. Schließlich war sie ja nicht hier, um etwa zu beurteilen, ob dieser Mann noch fähig war, für sich selbst zu sorgen oder ob man ihm von Amts wegen irgendwelche Hilfen aufzwingen musste. In seinem eigenen Interesse natürlich.

Arnold Gross führte Anna in einen Raum, der vielleicht vor grauer Vorzeit mal ein Wohnzimmer gewesen war, auch wenn man das jetzt kaum noch erkennen konnte: Überall standen Kisten und Plastikbeutel. Und auf dem Tisch waren mehrere halbfertige Modellsegelschiffe zu sehen, außerdem standen zwei fertige Modelle in offenen Pappkartons. Offenbar mussten sie trocknen, jedenfalls rochen sie stark nach irgendeinem Lack, ein Geruch, der allerdings noch durch den Geruch von Klebstoff überlagert wurde.

Arnold Gross räumte eine der Kisten von einem Sessel herunter. „Bitte, nehmen Sie Platz“, sagte er.

Unter der Kiste lagen allerdings ein paar Pinsel. Anna hob sie sie auf und gab sie Gross. „Bitte! Da würde ich mich ungern draufsetzen.“

„Echthaarpinsel. Die mache ich selber, denn das, was man kaufen kann, taugt nichts. Zumindest nicht für meine Zwecke, wo es darum geht, Lacke und Klebstoffe möglichst gleichmäßig zu verteilen. Und ich will ja bei meinen Modellen nicht beim Lackieren die Hälfte der Details wieder zerstören, wenn Sie verstehen, was ich meine!“

„Natürlich.“ Anna setzte sich. Es kostete sie etwas Überwindung, denn wirklich sauber war es hier nicht. Auf dem Handlauf des Sessels hatte sich etwas Staub angesammelt. Sie setzte sich einfach deshalb, weil alles andere wie ein Affront gewirkt hätte. „Sie betreiben ja ein ziemlich intensives Hobby, Herr Gross!“

„Ja, seit meine Frau tot ist, vertreibe ich mir damit die Zeit.“

„Dass es dabei auf die Haare der Pinsel so sehr ankommt, habe ich gar nicht gewusst. Woher bekommen Sie denn die Haare?“

Gross blickte auf und stutzte. Dann schien er zu begreifen.

„Von einem Kaninchenzüchter.“ Er grinste. „Also ich rasiere dafür niemanden den Schädel ab, obwohl man Menschenhaar auch kaufen kann. Das wird in der Perückenherstellung zum Beispiel verwendet. Aber Sie hatten ein paar Fragen an mich.“

„Ja, ich weiß nicht, ob Sie schon gehört haben, dass dieser Barbier wieder zugeschlagen hat. Hier in Borghorst nur ein paar Straßen weiter ist eine Frau umgebracht worden.“

„Das ist ja furchtbar. Und Sie glauben, dass die Aufderhaar-Frauen von oben etwas damit zu tun haben?“

„Nein, eigentlich nicht. Aber sie könnten wichtige Zeuginnen sein. Auf jeden Fall kannte eine von ihnen das Opfer. Das steht fest. Und wir ermitteln jetzt einfach im Opferumfeld.“

„Wie heißt denn das Opfer? Vielleicht kenne ich es ja auch!“

„Nadine Schmalstieg.“

Gross kniff die Augen etwas zusammen. „Sagt mir jetzt nichts, der Name.“

„Was können Sie mir denn über die Aufderhaar-Frauen sagen? Es sind ja wohl Zwillinge. Und als Sie erwähnten, wie unfreundlich die sind, meinten Sie, dass man das auch irgendwie verstehen könnte.“

„Ja, die beiden haben es ja auch nicht einfach, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Nein, tut mir leid, verstehe ich nicht.“

„Soll ich Ihnen einen Tee eingießen?“

„Nein danke.“

„Aber Sie gestatten, dass ich mir eine Tasse genehmige.“

„Natürlich.“

Er ging davon und verschwand in einem weiteren Raum, der an das ehemalige Wohnzimmer angrenzte. Anna hörte ihn herumhantieren und Geschirr klappern. Anschließend war auch zu hören, wie er einen Wasserhahn aufdrehte. Offenbar musste er sich erst eine Tasse suchen und abwaschen, bevor er sich Tee eingießen konnte. Anna überlegte schon, ihm zu folgen, um ihn besser verstehen zu können, denn er redete die ganze Zeit unablässig weiter. Doch dann kehrte er schneller zurück, als sie erwartet hatte und sie war froh sitzen geblieben zu sein. Das, was in dieser Wohnung mal eine Küche gewesen war, musste sie nicht auch noch unbedingt mit eigenen Augen sehen. Die gute Stube, in der sie ihren Sitzplatz bekommen hatte, reichte vollkommen aus.

„Wissen Sie, mit Melanie Aufderhaar habe ich mich früher recht gut verstanden. Sie hat sich häufiger mal Ratschläge geholt.“

„Ratschläge?“

„Ja, handwerklicher Art. Welche Klebstoffe sich gut verarbeiten lassen und welche Farben man nehmen sollte, wenn man bei der Verarbeitung nicht andauernd tränende Augen und einen kratzenden Hals haben will oder eine Gasmaske braucht.“

„Sagen Sie bloß, Melanie Aufderhaar fertigt ebenfalls Modellsegelschiffe an!“

Gross schüttelte den Kopf. „Dieser Gedanke wäre nun wirklich abwegig“, meinte er und setzte sich nun ebenfalls, wobei er mit seiner bis zum Rand gefüllten Teetasse plemperte.

Der Tee selbst war so hell und durchsichtig, dass man ihn eher als leicht getöntes Wasser bezeichnen konnte. „Melanie hat ein anderes Hobby. Sie fertigt Puppen an mit Porzellangesichtern. Das wäre mir zu empfindlich. Die fallen hin und gehen kaputt, wenn man sie nur streng ansieht! Aber ich muss aus rein handwerklicher Sicht sagen, dass sie ziemlich talentiert ist. Kennen Sie das Krippenmuseum in Telgte?“

„Ja, davon habe ich gehört. Aber ehrlich gesagt war ich noch nie dort.“

„Dort werden Weihnachtskrippen aller Art ausgestellt. Und Melanie Aufderhaar hatte dort auch mal eine Krippe eingereicht, die sogar irgendeinen Künstler-Preis gewonnen hat. Fragen Sie mich nicht mehr welchen. Aber es stand groß in der Zeitung.“

„Ich dachte, die lesen Sie nicht!“

„Das ist schon ein paar Jahre her. Da habe ich mir noch diesen überflüssigen Luxus geleistet“, parierte Arnold Gross Annas Frage. „Tja, in den letzten Jahren ist es immer weniger dazu gekommen, dass sie mal bei mir reingeschaut hat, um sich irgendeinen Leim auszuleihen.“

„Was macht Melanie eigentlich beruflich?“, fragte Anna. „Ihre Schwester ist ja wohl bei der Kreisverwaltung in Burgsteinfurt.“

„Ich glaube nicht, dass Melanie berufstätig ist. Ihre Schwester Sarah versorgt sie.“

„Etwas ungewöhnlich, finden Sie nicht? Auch wenn Zwillinge ja eine besonders starke Bindung zueinander haben, wie man allgemein sagt.“

„Ja, und die ist in diesem Fall wohl besonders stark“, glaubte Gross.

„Wieso?“

„Ich lebe ja schon länger in dieser Straße. Die beiden Aufderhaar-Schwestern kamen erst später hinzu, als das Ehepaar Grömpinger, das oben lange gelebt hat, gemeinsam ins Altenheim umgezogen ist. Aber ich kenne die Zwillinge schon seit ihrer Jugendzeit. Die wohnten nämlich in einem Haus ein Stück die Straße lang. Das ist vor fünfzehn Jahren abgebrannt. Beide Eltern sind dabei umgekommen und außerdem noch ein jüngerer Bruder. Und Melanie hatte wirklich großes Glück, da herauszukommen.

„Sarah nicht?“

„Sie war nicht zu Hause. Klassenfahrt mit der Schule oder so etwas. Die beiden sind zwar Zwillinge, aber Melanie hatte immer mehr Schwierigkeiten beim Lernen und musste deswegen mal ein Schuljahr wiederholen. Deswegen waren sie auch in verschiedenen Klassen.“

„Sie erzählen das, als hätten Sie die Familie wirklich gut gekannt.“

„Der Vater war bei mir in der Firma. Also damals, als ich noch nicht in Rente war. Wir haben beide als Großhandelskaufleute in einer Spedition unseren Job gehabt, allerdings war ich schon fast draußen, als der Harald – so hieß der Vater der Zwillinge – da anfing. Wir sind auch öfter mal zusammen zur Jagd gegangen, aber dann machte mein Knie nicht mehr mit und ich habe das drangegeben.“ Gross nahm einen Schluck von seinem dünnen Tee. Seinem Gesicht war anzusehen, wie sehr ihn die Erinnerung wohl noch immer verstörte, wenn er darüber sprach. „Ich habe das damals mit angesehen. Die Feuerwehr kam, der brennende Dachstuhl stürzte ein ... Mein Gott, da war wirklich nichts mehr zu machen und ehrlich gesagt, hat wohl zuerst nicht einmal mehr die Feuerwehr daran geglaubt, dass da überhaupt noch jemand zu retten war.“

„Wo sind die Zwillinge dann aufgewachsen?“

„Bei ihrer Tante. Wohnt auch nur ein paar Straßen weiter.“

„Wie heißt diese Tante?“

„Die haben immer Tante Helga zu ihr gesagt. Ich glaube Helga Plüher, es war nämlich eine Schwester der Mutter. Die hatte es auch nicht leicht ...“

„Was fahren die beiden denn für Autos?“, fragte Anna.

Gross wirkte etwas überrascht. „Einen Audi. Mit dem fährt Sarah zu ihrer Arbeit in Burgsteinfurt. Der öffentliche Nahverkehr ist ja auch nicht mehr das, was er mal war. Ich sag immer, als älterer Mensch muss man froh sein, in dem Teil der Stadt zu leben, in dem sich das Krankenhaus befindet! Darum sind die Borghorster gegenüber den Burgsteinfurtern auch auf jeden Fall im Vorteil! Gerade, wenn man in meinem Alter ist. Und auch als meine Frau krank wurde, war es sehr gut, dass wir die Klinik hier gleich um die Ecke haben, denn ich habe zwar noch ein Auto und würde auch den Führerschein niemals abgeben, aber ...“ Er machte eine Bewegung mit der Hand, die wohl unterstreichen sollte, dass er sich am Steuer nicht mehr wirklich sicher fühlte. „Ich will ja noch eine Weile leben, sag ich mir immer. Und der Tod im Straßenverkehr ist ja nun auch nicht unbedingt das, was man sich so für sein Ende vorstellt. Besser Herzsekundentod – abends ins Bett, Augen zu und nicht mehr aufwachen. Das ist das Beste.“

„Herr Gross ...“

„Ja, entschuldigen Sie, ich quatsche Ihnen die Ohren voll. Wir hätten Kinder haben sollen, dann müssten die mir jetzt zuhören und nicht irgendwelche Leute ... Oder eine Psychologin, die dafür bezahlt wird!“

„Was ist hinter der Tür gegenüber?“

„Gegenüber? Da wohnen, warten Sie mal ...“

„Nein gegenüber Ihrer Wohnungstür, auf der anderen Seite des Flures.“

„Ach so.“

„Wer wohnt da?“

„Das ist ein Abstellraum. Gehört den Aufderhaar-Schwestern. Das meiste ist vermutlich Gerümpel.“

„Tja, dann danke ich Ihnen sehr für Ihre Auskünfte.“

„Sie wollen schon gehen?“

„Ja, ich muss. Leider.“

„Wirklich schade. Von mir aus hätten wir uns gerne noch länger unterhalten können. Wenn Sie noch mal irgendwelche Fragen haben, dann wenden Sie sich gerne vertrauensvoll an mich.“

„Oder Sie sich an mich“, gab Anna zurück und gab Gross eine ihrer Visitenkarten.

„Ist gar kein Zeichen von der Polizei drauf!“, stellte Gross etwas irritiert fest.

„Soll nicht so einschüchtern“, begründete Anna dies.

„Ach so, das verstehe ich natürlich. Obwohl, wenn da wie bei Ihnen steht Diplom-Psychologin, das kann aber auch ganz schön einschüchternd sein, finden Sie nicht? Na ja, ich ruf Sie an, wenn mir noch was einfällt. Darauf können Sie sich verlassen.“

Das befürchte ich!, ging es Anna durch den Kopf.

*

Sie gingen zur Tür und Anna war froh, im Hausflur wieder einigermaßen frei atmen zu können, ohne unter dem Einfluss von Klebstoff zu stehen.

Gross stand noch einen Augenblick an der Tür, ehe es ihm dann doch peinlich war und er sie schloss.

Als Anna die Treppe erreichte, hörte sie erneut ein Knarren und blieb wie angewurzelt stehen.

„Frau Aufderhaar?“, fragte sie. Da beide Schwestern diesen Name trugen, musste sich die Gestalt, die da oben angestrengt lauschte, auf jeden Fall angesprochen fühlen. „Frau Aufderhaar? Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Wir sind vorhin an der Sprechanlage irgendwie unterbrochen worden.“

Anna ging jetzt schnellen Schrittes die Treppe hinauf. Immer zwei Stufen nahm sie auf einmal. Normalerweise tat sie das nie. So raumgreifende Schritte sahen schon nicht besonders fein aus, wenn Männer sich so bewegten.

Aber in diesem Fall entschied sich Anna, zuerst zu handeln und dann darüber nachzudenken, dass sie besser gezaudert hätte. Das Unerwartete tun – wie eine Motte, die sich ganz plötzlich einfach fallenließ, damit sie nicht vom Sonar der Fledermaus erfasst und gefressen wurde. Ein Beispiel, das ihr Biologielehrer mal gebracht hatte, vor vielen Jahren. Aber Anna war es aus irgendeinem Grund im Gedächtnis geblieben. Chaotisches, spontanes Handeln, das dennoch einem Plan folgte und vor allem auch zum Ziel führte. Ihr war das immer wie ein Realität gewordener Widersinn vorgekommen. Vermutlich hatte sie dieses Beispiel auch aus diesem Grund in ihren Gedanken immer wieder aufs Neue beschäftigt. Und nun, in diesem besonderen Moment, war sie selbst die Motte, die etwas Unerwartetes tat und damit die ganze Situation veränderte.

Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie den Absatz erreicht.

Die Frau, die dort im Schatten gestanden hatte, war gerade drei Stufen weit nach oben gelangt. Sie stützte sich dabei auf den Handlauf. Irgendetwas stimmte mit ihrem Bein nicht.

„Frau Aufderhaar?“

„Was wollen Sie von mir?“

„Sie kennen Frau Nadine Schmalstieg?“

„Lassen Sie mich einfach in Ruhe.“

„Das kann ich nicht. Eine Frau ist ermordet worden, und es gibt in den letzten Jahren eine ganze Reihe von ähnlichen Verbrechen. Nadine Schmalstieg hat ein Foto auf Facebook hochgeladen, etwa siebeneinhalb Jahre alt. Da sind Sie auch drauf. Die meisten der Abgebildeten tragen irgendwelche Mittelalter-Kostüme. Mittelalter-Markt in Telgte, sagt Ihnen das was?“

Die Frau schluckte.

„Nadine und ich, das ist lange her. Wir hatten in letzter Zeit keinen Kontakt mehr.“

„Und warum standen Sie dann mit Ihrem Audi in Ihrer Straße und haben Sie beobachtet?“

„Wie bitte?“

„Sie sind gesehen und beschrieben worden!“

„Und wohl auch verwechselt“, stellte die dunkelhaarige Frau fest. Ihr Haarschnitt war sehr gleichmäßig. Der Pony bildete eine gerade Linie. Anna konnte nicht umhin, das zu bemerken. Und es gefiel ihr. Es war ein Zeichen der Ordnung. Es war gar nicht so einfach, sich so zu frisieren, dass nicht andauernd irgendwelche Haare aus der ihnen zugedachten Positionen ausbrachen. Gerade wenn man dünnes Haar hatte, so wie sie selbst. Aber ihr Gegenüber hatte dieses Problem nicht. Dickes Haar ordnete sich quasi von selbst, ja es war von einer gewissen Stärke an sogar schier unmöglich, ihm irgendwie eine andere Ordnung aufzwingen zu wollen, als die, zu der es von Natur aus tendierte.

Aber irgendetwas stimmte da nicht. Anna konnte es nicht in Worte fassen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Unterbewusstsein etwas wahrnahm, was dann in den höheren Schichten ihrer Persönlichkeit und ihrer Wahrnehmung nicht mehr ankam. In diesem Moment beneidete sie jemanden wie Branagorn. Für einen Savant gab es diese Filter nicht. Meistens war das ein Nachteil. Aber längst nicht immer.

„Verwechselt?“, fragte Anna.

„Ich bin Melanie Aufderhaar. Meine Schwester Sarah fährt einen Audi – ich nicht.“

„Dann sollte ich mich vielleicht mit Ihrer Schwester unterhalten.“

„Die ist zur Arbeit.“

„Vielleicht geben Sie ihr dies“, sagte Anna und reichte Melanie Aufderhaar eine Visitenkarte.

Melanie Aufderhaar warf einen Blick auf die Karte. Sie hielt sie dabei etwas hoch, sodass sie von einem Lichtstrahl erfasst wurde, der durch ein kleines Fenster auf dem nächsten Absatz ins Treppenhaus drang. „Sind Sie von der Polizei oder einfach nur eine Psychologin?“, fragte Melanie.

„Ich bin eine Kriminalpsychologin und berate die Polizei bei ihren Ermittlungen.“

„Und stellen auch selber welche an? Das ist aber seltsam. Soweit ich weiß, entspricht das auch keineswegs der normalen Vorgehensweise!“

„Frau Aufderhaar, ich mache mir große Sorgen. Nadine Schmalstieg hat ein Foto auf Facebook veröffentlicht ...“

„Wie Sie schon mal erwähnten, wenn ich Sie daran erinnern darf!“

„... und die meisten Frauen auf dem Bild sind tot. Das sollte Ihnen und Ihrer Schwester zu denken geben!“

„Ich habe jetzt keine Lust, mit Ihnen zu sprechen.“

„Sagt Ihnen der Name Timothy Winkelströter etwas?“

Sie schluckte. Kein Zweifel. Dieser Name sagte ihr etwas.

„Auf Wiedersehen Frau ...“ Sie blickte auf die Karte, „... van der Pütten.“

Dann ging sie die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Anna fiel auf, dass sie dabei den Handlauf nicht losließ. Oben angekommen, drehte sie sich noch einmal kurz um und verschwand dann in ihrer Wohnung. Schwer fiel die Tür ins Schloss und es war deutlich zu hören, wie Melanie Aufderhaar den Schlüssel demonstrativ herumdrehte.

*

Branagorn saß mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz des Renault, als Anna van der Pütten dorthin zurückkehrte. Sie setzte sich hinter das Steuer.

Branagorn reagierte nicht. Er schien in einer Art Meditation versunken zu sein und sich in einen tranceartigen Zustand versetzt zu haben. Vielleicht war er aber einfach nur eingeschlafen.

„Sind Sie vielleicht gewillt, in diese, einzig wirkliche Welt zurückzukehren, ehrenwerter Elbenkrieger?“, fragte Anna.

Branagorn öffnete die Augen.

„Ihr macht Euch über mich lustig und verstoßt damit gegen die Ehre Eures Standes – denn soweit ich weiß, ist es den Seelenheilern verboten, eine zynische Haltung gegen die ihnen anvertrauten Leidenden anzunehmen. Allerdings muss ich gestehen, dass Ihr nicht die Erste seid, die gegen dieses Gebot verstößt, ohne dass es geahndet würde.“

„Tut mir leid, es war nicht böse gemeint, Branagorn.“

„Dennoch offenbarte Eure Bemerkung, wie wenig von Cherenwens Seele doch bisher in Euch wach geworden ist.“

„Vielleicht liegt Ihre Enttäuschung auch einfach nur daran, dass Sie in mir nur das sehen wollen, was Ihnen gefällt und Ihrem offenbar tief eingebrannten Bild dieser mysteriösen Cherenwen entspricht.“

Genau an diesem Punkt wird er das Thema wechseln!, glaubte Anna. Sie sollte recht behalten.

„Hattet Ihr mit Euren Befragungen Erfolg?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht. Es war in mancher Hinsicht ... verwirrend!“

„So berichtet mir jede Einzelheit, Cherenwen. Und danach sollten wir zurück zu dem Haus von Nadine Schmalstieg fahren.“

„Ich glaube, da würden wir im Moment nur stören, Branagorn.“

„Wir müssen mit Klaus sprechen. Er ist vielleicht noch auf dem Friedhof.“

„Es wird jemand von den Polizisten mit ihm sprechen, da bin ich mir ganz sicher, Branagorn!“

„So wie Ihr Euch auch sicher seid, dass irgendwann die Haare, die ich fand, das Laboratorium eines Alchemisten erreichen werden?“, gab Branagorn sehr skeptisch zurück.

Anna ging auf diesen Punkt nicht weiter ein. Es war genau der Punkt, an dem sie nun das Thema wechselte und von ihren Gesprächen mit Arnold Gross und Melanie Aufderhaar zu berichten begann.

Branagorn hörte die meiste Zeit über wort- und fast teilnahmslos zu. Anna startete unterdessen den Wagen und fuhr los. Als sie ihren Bericht beendet hatte, schwieg Branagorn zunächst weiter.

Dann begannen die Detailfragen. Anna stellte fest, dass er jede ihrer Antworten wortgetreu in Erinnerung hatte. Und überall, wo eine Angabe nicht vollkommen präzise war, hakte er unerbittlich nach. So intensiv, dass Anna manchmal einfach nur entnervt aufstöhnen konnte.

„Sie treiben mich noch zum Wahnsinn, Branagorn!“, meinte sie.

„Seid Ihr der Meinung, dass meine Fragen nicht von Bedeutung sind?“

„Das habe ich damit nicht sagen wollen.“

„Es mag sein, dass ich in mancher Hinsicht etwas zu sehr an den Details hänge. Aber ich glaube, dass gerade die Kleinigkeiten in diesem Fall von besonderem Gewicht sind.“

„Mag sein. Aber bedauerlicherweise war nur ich es, die mit Herrn Gross und Frau Aufderhaar gesprochen hat. Und meine Wahrnehmung ist unvollkommen und lückenhaft. Ich verfüge nicht einmal ansatzweise über ein fotografisches Gedächtnis und daher sollten Sie nichts von dem, was ich sage, auf die Goldwaage legen.“

Branagorn dachte einen Augenblick lang nach. Dann meinte er: „Ich danke für die Ehrlichkeit, mit der Ihr mir begegnet. Ihr habt ein Geständnis von geradezu bestürzender Ehrlichkeit abgelegt und ich frage mich langsam, wie es unter Euresgleichen überhaupt möglich ist, eine Aussage als verlässlich zu bezeichnen, wo doch ganz offenbar ist, dass sie dies nicht sein kann. Nicht in dieser Welt zumindest, da die meisten ihrer Bewohner kaum jemals in die Lage kommen, die volle Wahrheit zu sehen.“

„Sie haben gut reden, Branagorn.“

„Ihr habt von dem Auto gesprochen, das Sarah Aufderhaar benutzt hat.“

„Richtig.“

„Aber was ist mit dem Wagen von Melanie? Es waren mehrere Garagen vorhanden, die zu diesem Wohnkomplex gehören.“

„Es tut mir leid, aber danach habe ich nicht gefragt.“

„Drei Stellplätze habe ich gesehen – und das bedeutet einer für jeden Bewohner dieses Hauses!“

„Branagorn, ich weiß nicht, ob das jetzt wirklich wesentlich ist! Und abgesehen davon, können wir auch nicht einfach alle Garagen dort untersuchen. Ohne, dass es einen konkreten Hinweis gibt ...“

„Das Haar im Flur ...“

„Das Haar ist noch nicht untersucht und ich fürchte, das wird auch nie geschehen!“

Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Ein Moment von eigentlich unbeabsichtigter Wahrhaftigkeit, dachte Anna. Sie hatte nicht vorgehabt, Branagorn zu sagen, dass niemand im Ernst davon ausging, dass das Haar auf dem Flur irgendetwas mit dem Fall zu tun haben könnte.

Branagorn starrte aus dem Seitenfenster. Das Motorengeräusch des Renault erschien Anna in diesem Moment ungewöhnlich laut zu sein. Wie die anschwellende, dramatische Ereignisse vorwegnehmende Musik in einem Spielfilm.

„Man hält mich für verrückt“, sagte Branagorn. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Es ist bedauerlich, dass niemand meine Warnungen zur Kenntnis nimmt und das ernst nimmt, was ich sage – nur, weil ich es vielleicht nicht immer ganz schaffe, mit den Feinheiten des Umgangs und der Ausdrucksweise Schritt zu halten, die in der einen oder anderen Welt üblich sind. In dieser Welt hat die Zeit anscheinend einen viel stärkeren Einfluss. Alles vermehrt sich in so rasender Geschwindigkeit, dass man kaum mitkommt. Kennt Ihr den Sachsenhof in Greven?

„Nein, ehrlich gesagt nicht.“

„Man hat dort Gebäude aus der Sachsenzeit ausgegraben und rekonstruiert. Nicht ganz so, wie die Originale gewesen sind, als ich durch diese Lande als Branagorn von Corvey im Auftrage verschiedener Herrscher streifte. Aber bisweilen suche ich solche Orte auf, weil sie wie ein Stück gefrorener Zeit wirken, wo zumindest die groben Umrisse an den früheren Zustand erinnern. Manche Kirchen gehören dazu, wie St. Martinus – ebenfalls in Greven –, wohin ich einst ein Evangeliar aus Corvey brachte. Aber selbst dieser Name hat heute keine Strahlkraft mehr! Viele glauben, Corvey wäre eine englische Stadt, dabei ist diese Abtei bei Höxter hier in Westfalen mal das geistige Zentrum des Reiches gewesen ...“

„Seien Sie nicht deprimiert, Branagorn.“

„Habe ich keinen Anlass dazu?“

„Nein.“

„Selbst Ihr nehmt meine Mahnungen nicht ernst, werte Cherenwen, denn wie könnt Ihr sonst unvollkommen und nachlässig in Eurer Befragung der Bewohner des Hauses in der Nordwalder Straße sein?“

„Ich bin unvollkommen, Branagorn. Wie wir alle.“

Ein Satz, den Anna nicht gerne über die Lippen brachte und der sich fremd anfühlte. Aber nichtsdestotrotz traf er zu, auch wenn sie selbst sich gerne mit einem größeren Grad an Perfektion gesehen hätte. Aber das waren ihre ganz persönlichen Lebenslügen, und vielleicht tat sie besser daran, diese so weit wie irgend möglich auszublenden, wenn sie mit Branagorn sprach.

„Ich halte Sie nicht für verrückt“, sagte Anna schließlich in die Stille hinein. „Sie haben besondere Talente und Eigenschaften, die Sie von den meisten Anderen unterscheiden. Dadurch entstehen immer wieder Probleme. Darüber hinaus haben sie zweifellos nicht nur besondere Talente, sondern auch besondere Schwierigkeiten, wobei das eine aus dem anderen zum Teil resultieren dürfte.“

„Ich werfe Euch nicht vor, dass Ihr nicht vollkommen seid, Cherenwen, denn auf Eure Weise seid Ihr das für mich schon in jener anderen Welt gewesen, in der sich unsere Seelen zum ersten Mal begegnet sind. Aber ich werfe Euch vor, dass Ihr Euch mutwillig in Gefahr begebt.“

„Wieso das?“

„Ihr versteht noch nicht einmal, worauf ich hinaus will.“

„Erklären Sie es mir.“

„Ihr habt eher beiläufig davon berichtet, wie Ihr Eure Visitenkarten im Haus an der Nordwalder Straße verteilt habt.“

„Ja, und?“

„Ich glaube, das war ein Fehler.“

„Wieso?“

„Weil man das Böse nur dann anlocken sollte, wenn man auch bereit ist, sich ihm zu stellen, werte Cherenwen. Und das seid Ihr nicht.“

Anna schwieg. Das Gespräch schien ihr nicht sehr ergiebig zu sein und abgesehen davon hatte sie auch etwas dagegen, dass es darin mehr und mehr um ihre eigene Person zu gehen schien. Die Rollen sollten klar verteilt bleiben, dachte sie. Ich Therapeut – er Patient. Aber das sagte sie Branagorn aus irgendeinem Grund nicht. Nicht in dieser Klarheit zumindest.

„Soll ich Sie direkt nach Kinderhaus bringen, Branagorn?“

Zugriff in Kattenvenne

„Ich schätze, wir werden Tornhöven heute noch freilassen müssen“, meinte Raaben, der auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Sie hatten Kattenvenne fast erreicht. Sven Haller war gefahren wie der Teufel, während Raaben per Handy Verstärkung angefordert hatte – weniger, weil man damit rechnete, dass Timothy Winkelströter großartigen Widerstand leisten würde als vielmehr deshalb, weil man Unterstützung bei der Durchsuchung seiner Wohnung und vielleicht auch des Lagers brauchte, wo er die Waren seines Internet-Shops lagerte.

„Abwarten“, meinte Haller. „'Im Verlauf des nächsten Tages' ist noch nicht vorbei, würde ich sagen.“

„Aber du kennst den Staatsanwalt, der wird das nicht mitmachen.“

„Wir haben bis dahin ja vielleicht auch einen anderen Verdächtigen, auf den noch sehr viel mehr Indizien hindeuten.“

„Auch schon mal darüber nachgedacht, dass diese Taten vielleicht irgendeine Art Mutprobe oder ein Einführungsritual innerhalb dieser Sekte sein könnte, um in der internen Hierarchie vielleicht eine Stufe höher zu steigen.“

„Ich persönlich glaube ja auch, dass ein Verein, der Fliegen mit Stinkmorcheln anlockt, und mit so einem Zeug die Teilnehmer für irgendwelche absolut unappetitlichen magischen Rituale einreibt, damit die Fliegen sie umschwirren, als wären es Leichen, zu allem fähig ist. Aber ...“

„Aber?“

„Kevin, das ist alles reine Spekulation. Halten wir uns einfach an die Fakten und die werden wir gleich in Augenschein nehmen, indem wir uns die Motorhaube von Timothy Winkelströters Wagen ansehen.“

*

Sie erreichten das Haus, in dessen Obergeschoss Winkelströter sich eingemietet hatte.

Sein Wagen stand vor dem Haus – und sein Vermieter Herr Möller ganz in der Nähe.

„Na, da haben wir doch schon mal das Wichtigste beieinander“, meinte Haller und stellte den Motor ab.

„Wollen wir nicht auf die anderen warten?“

„Nein.“

Haller überprüfte den Sitz von Waffe und Handschellen. Es klapperte. Alles dabei. Gut so.

Sie stiegen aus.

Herr Möller sah ihnen stirnrunzelnd entgegen. Seine Mutter sah Haller schließlich auch. Sie stand – mit ihrem grün geblümten Hauskleid außerordentlich gut getarnt – in einem der Beete, die sie angelegt hatte, und da ein paar Sträucher etwas die Sicht behinderten, war sie zunächst für Haller gar nicht zu sehen gewesen. Aber für Haller stand es außer Frage, dass sie ziemlich schnell merken würde, dass etwas im Gange war, das man besser mitbekommen sollte.

„Issoben!“, sagte Herr Möller in der ihm eigenen Sprechweise.

„Hinführen!“, äffte Haller seine Einwort-Sprechweise nach.

„Hä?“

„Jetzt!“

„Echt?“

„Echt!“

„Washattergemacht?“

„Das können Sie demnächst in der Zeitung nachlesen.“

*

Raaben warf unterdessen einen Blick auf die Motorhaube des Geländewagens. Der Kuhfänger hatte einige Kratzer und auch auf der Haube waren ein paar Striemen zu sehen. „Tja, ob das nun von einem Schwert kommt oder davon, wenn man hängenden Ästen zu nahe kommt, weiß ich natürlich nicht.“

„Da sollten wir mal ganz unseren Laborratten vertrauen“, meinte Haller, der bereits Möller zum Eingang folgte.

Möllers Mutter war aus ihrer Anpflanzung hervorgetaucht und rief: „Was ist denn passiert?“

Aber im Moment war niemand gewillt, ihr eine Antwort zu geben.

Herr Möller führte Haller und Raaben ins Haus.

„Treppehoch“, sagte er.

„Danke“, sagte Haller.

„Nichtschießen. Nixdreckigmachen.“

„Wir geben uns Mühe“, versicherte Raaben.

Die beiden Kripo-Beamten gingen die Treppe hinauf und kamen wenig später an Timothy Winkelströters Wohnungstür.

Haller klopfte.

„Herr Winkelströter? Machen Sie bitte auf. Hier ist die Kriminalpolizei.“

Keine Antwort. Aber hinter der Tür waren jetzt Geräusche zu hören. Schritte. Etwas fiel zu Boden. Dann ein Laut, der wie ein unterdrückter Fluch klang.

„Herr Winkelströter, bitte machen Sie die Tür auf. Wir wissen, dass Sie da sind. Zwingen Sie uns nicht, die Tür aufzubrechen!“

Ein Schuss ertönte. Faustgroß war das Loch, das im nächsten Moment in der Tür klaffte. Die Kugel ging genau zwischen den Köpfen von Haller und Raaben hindurch und schlug hinter ihnen in die Wand ein.

Haller und Raaben griffen nach ihren Dienstwaffen und gingen in Deckung. Sie pressten sich links und rechts der Tür gegen die Wand.

„Herr Winkelströter, lassen Sie den Unfug!“, rief Haller. „Das bringt doch alles nichts!“

Das Wort 'nichts' ging bereits im nächsten Schuss unter, der etwas tiefer durch die Holztür krachte.

„Istdawaskaputt?“, rief Möller von unten.

„Jetzt reichts, Herr Winkelströter!“, rief Haller. Er schnellte vor, öffnete mit eine wuchtigen Tritt die Tür und stand dann mit der Dienstpistole in der Hand Timothy Winkelströter gegenüber. Der stand mit weit aufgerissenen Augen da. Man brauchte kein Drogenexperte zu sein, um zu sehen, dass er irgendetwas genommen haben musste. Seine Pupillen waren so sehr geweitet, dass die Iris kaum noch zu sehen war.

Er hielt ein Jagdgewehr in den Händen.

„Runter damit!“, rief Haller.

Timothy war für einen Moment etwas unschlüssig. Was immer ihm im Moment auch die Sinne vernebeln mochte, es schien nicht gerade seine Entscheidungsfreude zu befördern.

Zwei schnelle Schritte und Haller war bei ihm. Er bog den Gewehrlauf zur Seite.

„Ich habe nichts gemacht!“, rief Timothy Winkelströter.

„Klar doch!“, meinte Haller und entwand ihm das Gewehr. Raaben legte Timothy Handschellen an, was er teilnahmslos über sich ergehen ließ.

„Herr Winkelströter, falls Sie mich verstehen: Sie sind wegen des Verdachts des Mordes an Nadine Schmalstieg vorläufig festgenommen“, sagte Raaben. „Falls Sie einen Anwalt benachrichtigen wollen ...“

„Nadine?“, echote er. Seine Stirn umwölkte sich. Das Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und die Augen schienen beinahe aus ihren Höhlen herauszutreten. Er war offensichtlich nicht ganz beieinander.

Raaben wollte mit seinen Belehrungen fortfahren, aber Haller schüttelte den Kopf.

„Hat keinen Zweck“, meinte er. „Erst nach einer vorläufigen Entgiftung, so wie ich das sehe.“

Ein intensiver Geruch hing in der Luft. Aber Haller konnte nicht sagen, was es war.

„Vor siebeneinhalb Jahren wurde Jana Buddemeier das erste Opfer des Barbiers“, sagte Haller. „Erschossen mit einem Jagdgewehr - Herr Winkelströter, falls Sie das noch mitbekommen sollten und noch nicht völlig in irgendwelchen anderen Sphären schweben: Wir werden innerhalb relativ kurzer Zeit wissen, ob Sie das gewesen sind ...“

*

Anna brachte Branagorn doch nicht nach Kinderhaus. Stattdessen machte Anna ihm einen anderen Vorschlag. Sie fuhren zu ihrer Praxis, um den Rundum-Videoschwenk anzusehen, der auf dem Mittelalter-Markt in Telgte gemacht worden war.

„Man hat mir das Material auf meinen Stick geladen“, sagte Anna und deutete auf einen Datenstick, der an ihrem Schlüsselbund hing, aber aussah wie ein gewöhnlicher Schlüsselanhänger. „Gut, dass ich den gestern dabei hatte, sonst würde ich die Daten erst heute oder morgen bekommen“, meinte sie.

Sie stiegen aus dem Wagen, nachdem Anna in der Achtermannstraße geparkt hatte. Anna brachte Branagorn allerdings nicht zu ihrer Praxis, sondern zu ihrer Wohnung, ein Stock höher.

„Ihr zeigt mir Eure Privatgemächer?“, fragte Branagorn sichtlich überrascht.

„Ich habe dort eine Kinoleinwand. Da können wir die Aufnahme in der entsprechenden Vergrößerung ansehen und all die Kleinigkeiten, auf die Sie so gerne achten, sind dann viel besser zu sehen.“

„Das ist gut“, nickte Branagorn.

„Wollen Sie etwas trinken?“

„Nein danke.“

„Nicht einmal Wasser?“

„Ich brauche im Moment nichts.“

Anna führte den Elbenkrieger in ihren privaten Mini-Kinosaal. Dort konnte sie von den emotional anstrengenden Erlebnissen ausspannen, die ihr Beruf nun einmal mit sich brachte. Die Videodaten auf dem Stick überspielte sie auf die Festplatte, auf der sich auch ihre gesammelten Filme befanden.

Branagorn setzte sich in einen sehr bequemen Ledersessel und wartete ab.

„Einen Augenblick noch“, sagte Anna dann, nahm ihr Handy und ging hinaus auf den Flur. Zwei oder drei kurze Gespräche führte sie. „Ich musste noch ein paar Termine absagen“, erklärte sie, als sie zurückkehrte.

„Ihr weist Hilfesuchende ab?“

„Die Verfolgung des Barbiers hat im Moment Vorrang, finde ich.“

„Ja, gewiss, das verstehe ich.“

„So, und jetzt haben wir unseren Kinoabend, wenn man das denn so nennen will. Na ja, vielleicht ist das auch geschmacklos. Sie haben jedenfalls alle Zeit, die Sie brauchen. Sehen sie sich das Material immer wieder an, wenn es sein muss. Sie können die Aufnahme stoppen, einzelne Bilder heranzoomen – was Sie wollen!“

„Ich mache mir Sorgen um Euch, Cherenwen.“

„Um mich?“

„Ihr wart unvorsichtig.“

„Branagorn, Sie sprechen in Rätseln! Davon abgesehen kann ich sehr gut auf mich selbst aufpassen.“

„Sagt mir, habt Ihr schon vom Traumhenker geträumt? Ist er bereits in Eure nächtliche Sphäre des Schlafes eingedrungen? Sagt mir die Wahrheit!“

Anna sah ihn verwundert an. Wie kann er von meinen Alpträumen wissen?, ging es ihr durch den Kopf. Oder hat er das nur geraten? Sieht er mir an, wie sehr mich dieser Fall mitnimmt und habe nur ich umgekehrt einfach seine Sensibilität stark unterschätzt?

Branagorn wartete die Antwort gar nicht erst ab.

Sie schien für ihn bereits festzustehen.

„Es ist also wahr“, einte er.

In Annas Ohren klang das wie ein Todesurteil. Ein Schauder erfasste sie, ohne dass sie dafür wirklich einen auch nur halbwegs nachvollziehbaren Grund hätte nennen können.

„Ich schlage vor, Sie konzentrieren sich jetzt erst mal auf das hier!“, meinte sie und betätigte die Fernbedienung.

*

Branagorn saß mit starrem Blick und praktisch regungslos da, während die Video-Aufzeichnung vom Tatort auf der Planwiese lief.

„Halt!“, forderte er plötzlich.

„Sie haben etwas entdeckt?“

Branagorn stand auf und deutete auf einen bestimmten Bereich des Standbildes. Für Anna war da kaum etwas erkennbar, außer den Köpfen zahlloser Schaulustiger.

„Ich werde es vergrößern“, kündigte sie an.

Sie ging an den Computer, der an ihre Kino-Anlage angeschlossen war. Wenig später stand eine Vergrößerung des Bildausschnitts zur Verfügung.

Nun glaubte auch Anna zu erkennen, um was es sich handelte.

„Das ist die Frau, mit der ich gesprochen habe! Melanie Aufderhaar!“, war sie überzeugt.

„Nein“, widersprach Branagorn. „Das ist nicht Melanie Aufderhaar – sondern Sarah.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Es ist die Frau, die auf dem Foto war, das im Buch der Gesichter stand!“, erklärte Branagorn. „Und genau mit jener Frau habe ich gestern gesprochen, als ich das Haus aufsuchte. Es gibt feine Unterschiede in den Linien des Gesichts. Und die Haare ...“

„Mit den Haaren von Melanie Aufderhaar war irgendetwas seltsam.“

„So?“

„Keine Ahnung, wie ich es Ihnen beschreiben soll, aber ich habe im ersten Moment gedacht, es wäre eine Perücke. War nur so ein Gefühl. Außerdem hatte Melanie irgendetwas am Bein, dass sie beim Gehen behinderte. Sie stützte sich dauernd auf den Handlauf.“

„Dies ist Sarah Aufderhaar“, beharrte Branagorn. „Auch wenn ich Melanie bisher nicht begegnet bin, weiß ich doch, wem ich begegnet bin! Da gibt es keine Zweifel.“

„Nun, ich verstehe nicht, weshalb Melanie sich mir gegenüber so eigenartig verhalten hat. Und da ist noch etwas. Ich habe sie auf das Facebook-Foto angesprochen und sie schien sich überhaupt nicht zu wundern!“

„Natürlich nicht“, sagte Branagorn.

„Was?“

„Sie ist doch auch auf dem Bild. Auch wenn ihr Gesicht nicht zu sehen ist.“

„Und wo ist sie dann?“

„Es gibt noch einen Ritter und einen Pest-Arzt. Beide Gesichter sind nicht zu sehen. Geht man von der Körpergröße aus, dann kommt nur die Maske des schwarzen Todes infrage und nicht der Ritter mit seinem geschlossenen Helmvisier.“

Anna schluckte und nickte leicht. Er hat recht!, ging es ihr schlagartig durch den Kopf. Diejenigen, die die Kommentare zu dem Bild abgegeben hatten, waren sich wohl nicht sicher gewesen, ob die Frau mit dem offen sichtbaren Gesicht nun Melanie oder Sarah war. Schließlich sahen Zwillinge sich in der Regel zum Verwechseln ähnlich.

„Ihr könnt die Bilder sich wieder bewegen lassen“, sagte Branagorn. „Wer weiß, vielleicht entdecke ich noch irgendein anderes Detail, das von Interesse ist.“

„Wonach suchen Sie überhaupt?“, fragte Anna.

„Nach einem Augenpaar. Ein Augenpaar, das mir in Lengerich begegnete. Ich habe Euch davon berichtet.“

„Ich habe übrigens Kontakt mit jemandem in Lengerich aufgenommen“, sagte Anna. „Einem Arzt, den ich gut kenne und der an die Patientendaten herankommt, sodass man herausfinden könnte, wer damals mit Ihnen zusammen dort war.“

Branagorn wandte den Kopf und sah Anna erstaunt an. „Das habt Ihr für mich getan?“, stieß er hervor und Anna stoppte sogleich den Fortgang der Aufzeichnung, denn schließlich wollte sie, dass Branagorn sich die ganze Sequenz ansah.

„Ich habe das nicht Ihretwegen getan, sondern weil ich mir vorstellen könnte, dass Sie vielleicht tatsächlich etwas gesehen haben, das für die Lösung dieses Falles bedeutsam sein kann.“

Branagorn sprach mit belegter Stimme. Er schien innerlich tief berührt zu sein. „Ich weiß, wie groß Eure Scheu davor ist, Regeln zu verletzten. Ihr fürchtet dann den unweigerlichen Einbruch des Chaos – und ich kann Euch diese Furcht noch nicht einmal guten Gewissens nehmen! Denn tatsächlich ist es so, dass die Missachtung von Regeln die Urquelle des Chaos ist. Für Eure Profession der Seelenkunde gilt das genauso wie für die Magie ... Und doch habt Ihr Euch überwunden und seid über diesen breiten Schatten gesprungen. Das beeindruckt mich sehr, werte Cherenwen!“

„Hören Sie auf, mich zu analysieren.“

„Das tue ich nicht.“

„Das tun Sie sehr wohl! Und Sie machen das noch nicht einmal schlecht.“

„Ich gebe lediglich meiner tief empfundenen Bewunderung und Hochachtung für Eure innere Größe Ausdruck, Cherenwen.“

„Wollen wir jetzt fortfahren?“

Branagorn nickte. „Ja, gerne.“

Die Aufzeichnung lief weiter. Branagorn sah mit angestrengter Miene auf die Leinwand und fragte plötzlich: „Wann wird Ihr befreundeter Heiler aus Lengerich Euch Bescheid geben?“

„Vielleicht heute noch. Wer weiß.“

„Welcher von den Heilern, die dort zurzeit ihres Amtes walten, ist es?“

„Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen, Branagorn.“

„Ja, vielleicht habt Ihr Recht ...“ Ein paar Augenblicke vergingen und die Polizeikamera schwenkte ganz nach rechts und dann wieder zurück. „Halt!“, sagte Branagorn. „Ein Stück zurück! Zeigt mir den Moment, bevor zurückgeschwenkt wird, teure Cherenwen!“

„Ich versuche es hinzubekommen“, gab Anna zurück.

Wenige Augenblicke später hatte Branagorn gefunden, was er suchte. Es war ein Bildausschnitt, der nur für einen winzigen Moment zu sehen war. Branagorn deutete auf einen bestimmten Ausschnitt mitten in der Menschenmenge. „Dies vergrößern“, forderte er.

Für Anna war dort zunächst nicht mehr als ein undeutlicher Schatten zu sehen. Erst in der Vergrößerung erkannte sie, worum es Branagorn dort eigentlich ging. Eine maskierte Gestalt war – halb verdeckt durch die breiten Schultern eines als Mönch verkleideten Mannes – zu sehen. „Der Schwarze Tod“, murmelte sie.

Die Maske war deutlich zu erkennen, allerdings war von dem langen Schnabel an der Vorderseite nichts zu erkennen, da er nahezu vollkommen verdeckt wurde. Aber dennoch erkannte auch Anna, dass es sich um die Maske eines Pest-Arztes handelte. Anna glaubte zu erkennen, dass es sich um eine jener Masken handelte, die Timothy Winkelströter in seinem Internet-Shop vertrieb.

„Da ist irgendetwas am Auge“, stellte Branagorn fest.

„Ich kann das Bild noch etwas vergrößern, aber ich glaube, jetzt sind schon die einzelnen Pixel zu sehen.“

„Versucht es trotzdem, teure Cherenwen!“

„Ganz wie Sie wollen.“

Nachdem Anna den Ausschnitt noch etwas weiter herangezoomt hatte, erkannten sie beide, was es war. Anna runzelte die Stirn.

„Mich dünkt, die Apparatur, die da ans Auge gehalten wird, dient der Fernsicht und wird Zielfernrohr genannt“, stellte Branagorn fest. „Oder sollte ich mich da irren, Cherenwen.“

„Nein“, murmelte Anna tonlos. „Sie irren sich keineswegs. Das sieht so aus, als würde der Pest-Arzt die Szenerie durch ein Zielfernrohr beobachten. Das ist wirklich ... eigenartig.“

„Sie“, stellte Branagorn klar.

„Was?“

„Es ist eine Pest-Ärztin, wie wir jetzt wissen“, erklärte er. „Genau, wie es wohl auch auf dem Bild im Buch der Gesichter der Fall zu sein scheint.“

In diese Moment klingelte Annas Handy. „Wir haben Timothy Winkelströter festgenommen, Anna. Ein Jagdgewehr wurde sichergestellt, das jetzt einer ballistischen Laboruntersuchung zugeführt wurde. Und in seiner Wohnung und in seinem Mittelalter-Warenlager haben wir auch mehrere Dolche und Drahtschlingen gefunden, die als Tatwaffen für die Morde infrage kommen. Wir gehen inzwischen davon aus, dass wir ihm auf jeden Fall den Mord an Nadine Schmalstieg auch nachweisen können werden.“

Der Kriminalhauptkommissar machte einen geradezu euphorischen Eindruck.

„Das freut mich sehr“, sagte Anna.

„Es wäre schön, wenn du nachher im Präsidium sein könntest.“

„Gerne.“

„Der Fall steht unmittelbar vor seiner Lösung. Und du solltest unbedingt dabei sein, wenn der Sack zugemacht wird.“

„Danke“, murmelte Anna.

„Bis nachher.“

„Bis nachher.“

Gefährten

„Melanie?“

Sarah Aufderhaar stand in der Wohnzimmertür, während ihre Schwester in einem der Sessel Platz genommen hatte. Auf ihrem Schoß saß eine der Porzellanpuppen, die sie gefertigt hatte. Mit einem Kamm strich sie durch das Haar der Puppe. Dickes Haar, das schwer zu verarbeiten gewesen und auch schwer in einer Frisur zu bändigen war.

„Melanie?“, fragte Sarah noch einmal, aber ihre Schwester wirkte vollkommen gedankenverloren und entrückt, während sie darin fortfuhr, den Kamm durch das Puppenhaar gleiten zu lassen.

Sarah trat an den niedrigen Wohnzimmertisch heran und legte etwas darauf.

Es war ein Zielfernrohr.

„Du hast dir vor Kurzem meinen Wagen geliehen, als deiner in der Werkstatt war. Und das hier war im Handschuhfach. Wir müssen darüber reden, Melanie.“

Melanie schwieg. Das konnte sie besonders gut. Hartnäckig schweigen und leiden. So sehr, dass es jedem anderen in ihrer Umgebung auch schlecht ging. Diesmal nicht!, dachte Sarah. Diesmal lasse ich dir das nicht durchgehen. Es geht einfach nicht mehr.

„Melanie, ich will jetzt die Wahrheit wissen.“

Jetzt ging ein Ruck durch Melanies Körper. Sie sah ihre Schwester an. „Wahrheit?“, echote sie, fast so, als hätte sie nur dieses eine Wort von dem verstanden, was Sarah gesagt hatte. „Welche Wahrheit, Sarah? Meine? Oder deine? Oder die Wahrheit, an die Menschen wie Timothy Winkelströter glauben, wenn sie aus irgendwelchen Fliegenpilzen die Drogen des Mittelalters nachzukochen versuchen?“ Ein eigenartiges, freudloses Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie sah auf ihre Puppe. „Meinst du die Wahrheit, die in diesen Haaren steckt?“ In ihren Augen blitzte es. Sie stand auf. Dabei musste sie sich mit einer Hand aufstützen. Sie ging zu der Schrankwand, kniete nieder und setzte die Puppe an den Platz, den Melanie für sie auserkoren hatte. Alles musste seine Ordnung haben. Dann stand sie auf und stützte sich dabei auf. Aufstehen und Treppensteigen war etwas schwierig, bei allem anderen sah man ihr nichts an – weder von den Bewegungsabläufen her noch, was die Schnelligkeit betraf.

„Melanie ...“

„Oder meinst du diese Wahrheit?“ Mit diesen Worten nahm sie ihre Perücke vom Kopf, die dem Naturhaar ihrer Schwester so exakt wie nur irgend möglich nachgearbeitet worden war. „Es gibt so viele Wahrheiten, Sarah. Für welche soll ich mich entscheiden?“

*

Anna brachte Branagorn nach Kinderhaus, bevor sie schließlich zum Polizeipräsidium am Friesenring fuhr. Von der Achtermannstraße aus lag das nun wirklich nicht gerade auf der Strecke und Branagorn wollte zunächst auch lieber mit dem Bus fahren, aber schließlich ließ er sich doch darauf ein, diesen besonderen und gewiss einmaligen Service seiner Therapeutin anzunehmen.

Der Grund dafür war vermutlich derselbe, aus dem Anna ihm die Fahrt überhaupt angeboten hatte: Sie wollten beide die Zeit nutzen, um ihre Unterhaltung fortzusetzen. Anna hatte das Gefühl, den Kopf etwas freier bekommen zu müssen. Die Erkenntnisse, die sich durch die Ansicht des Polizeivideos ergeben hatten, waren verwirrend.

„Glauben Sie, dass Melanie Aufderhaar hinter der Maske des Schwarzen Todes steckte, die Sie auf dem Video entdeckt haben?“, fragte Anna.

„Das weiß ich nicht. Es wäre aber möglich.“

„Ist das dieselbe Gestalt, mit der Sie gekämpft haben?“

„Auf dem Bild konnte ich die Augen nicht sehen. Wenn das möglich wäre, würde ich die Mörderseele erkennen, in die der Traumhenker gefahren ist, werte Cherenwen! Ganz bestimmt!“

„Ich werde vermutlich Gelegenheit haben, gleich mit Timothy Winkelströter zu sprechen und ...“

„Er ist unschuldig“, beharrte Branagorn auf seiner Meinung. „Sagt den Hütern der Ordnung, dass sie die Haare den Alchemisten übergeben sollen, wenn sie die Wahrheit erfahren wollen, denn nur so wird sie auf eine Weise an den Tag kommen, dass die unvollkommene Gerichtsbarkeit dieser Welt sie akzeptieren kann.“

„Ich tue mein Bestes, Branagorn.“

„Das weiß ich, Cherenwen“, gab Branagorn nun in einem deutlich versöhnlicheren Tonfall zurück. „Nur in einem Punkt gebt Ihr mir Anlass zur Kritik.“

„Und der wäre?“

„Ihr achtet zu wenig auf Euch, denn ich glaube, dass Ihr in Gefahr seid. Wenn Ihr wollt, werde ich Euch begleiten und bewachen, wohin Ihr auch geht.“

„Nein, das halte ich für keine gute Idee, Branagorn.“

„Warum nicht? Obwohl mir bereits zwei Schwerter genommen wurden, bin ich nicht ohne Magie! Und davon abgesehen habe ich noch weitere Artefakte in meinen Gemächern, auch wenn sie weitaus weniger mächtig sind als diejenigen, die man mir nahm.“

„Nein. Vielen Dank, Branagorn. Das wird nicht nötig sein!“

„Täuscht Euch da nicht!“, widersprach Branagorn. „Täuscht Euch da bloß nicht!“

„Haller bekommt zu viel, wenn ich Sie wieder im Präsidium anschleppe. Es ist schon hart an der Grenze, dass wir uns zusammen bei mir das Videomaterial angesehen haben.“

Branagorn atmet tief durch. Anna hielt ihren Wagen an. Sie hatten den Wohnblock erreicht, in dem Branagorn alias Frank Schmitt zu Hause war, wenn das der richtige Begriff dafür war. Vielleicht passte das Wort hausen besser als 'zu Hause sein', dachte Anna. Eine trostlose Umgebung war es, in der dieser eigentlich hochbegabte Mann leben musste. Eine Umgebung, deren graue Realität in einem so unfassbar krassen Gegensatz zu den farbigen Erzählungen von anderen Welten und fantastischer, allgewaltiger Magie stand, die Branagorn zu erzählen wusste.

„Wir sehen uns morgen“, sagte Anna. „Ich habe alle anderen Termine bis auf Weiteres abgesagt.“

„So bleiben wir über das sprechende Artefakt in Kontakt?“

„Wann immer Sie wollen oder ich Ihren Rat brauche, Branagorn.“ Anna lächelte unwillkürlich.

„Was amüsiert Euch, werte Cherenwen?“

„Dass ich das wirklich gesagt habe!“

„Dass Ihr meinen Rat braucht?“

„Ja.“

„Das ist nichts weiter als die verspätete Anerkenntnis der Realität. Ihr brauchtet meinen Rat schon in jener anderen Welt, in der wir uns zuerst begegneten. Leider habt Ihr ihn damals nicht angenommen und dem Lebensüberdruss nachgegeben.“

„Das ist jetzt aber eine Projektion, Branagorn. Schließlich haben Sie versucht, sich umzubringen – nicht ich.“

Doch darauf ging Branagorn nicht ein. Stattdessen sagte er mit sehr großem Ernst: „Diesmal solltet Ihr auf meinen Rat hören, teure Cherenwen. Ich bitte Euch!“

*

Branagorn sah Annas noch einen Moment nach, als sie davonfuhr. Dann ging er ins Haus. Zunächst suchte er seine Wohnung auf und nahm sich eines der Schwerter, die er noch besaß. Es passte nicht richtig in die Lederscheide und ragte etwas zu weit heraus. Außerdem war die Klinge leicht angerostet. Er hatte diese Waffe mal auf einem Flohmarkt erworben, wo sie als Teil eines Kaminbestecks angeboten worden war. Branagorn erinnere sich noch lebhaft an das ellenlange Verkaufsgespräch, in dem es im Wesentlichen darum gegangen war, dass Branagorn nicht das gesamte Kaminbesteck hatte kaufen wollen, während der Händler zunächst unter keinen Umständen bereit war, die Teile einzeln abzugeben. Schließlich hatte er es aber doch getan. Vielleicht, weil er zu der Erkenntnis gelangt war, dass er das gesamte Besteck wohl ohnehin nicht mehr loswerden würde oder einfach deshalb, weil Branagorn ihm auf so anhaltend penetrante Weise auf die Nerven ging, dass er sich irgendwie von dieser Folter befreien musste.

Branagorn hingegen war der festen Überzeugung, dass eine magische Formel zur Beeinflussung des Willens hier ihre Wirkung getan hatte. Eine Formel, die nur auf die schwachen Seelen von Sterblichen wirkte und die darüber hinaus in dieser Welt auch aus irgendeinem Grund nicht sonderlich zuverlässig war.

Dann begab sich Branagorn zu einer Wohnung, die sich ein Stockwerk tiefer befand. Ein Namensschild gab es nicht. Nur noch ein Abdruck und die Dübellöcher zeigten an, wo es mal angebracht gewesen war.

Branagorn klingelte.

Die Tür öffnete sich und zwei große dunkle Augen sahen ihn erstaunt an.

„Werter Taliban, ich brauche einen tapferen Kampfgefährten gegen die Macht des Bösen!“, verkündete Branagorn. „Einen, dem es nicht an Mut mangelt und der über das nötige Wissen verfügt.“

Taliban war so perplex, dass er sich sogar die tiefsitzenden Baggy Pants ein Stück hochzog, was bei ihm schon als versehentlicher Kulturbruch anzusehen war.

„Ey, wer hat dich abgezogen? Wen soll ich kloppen?“

„Auch wenn wir uns schon auf verschiedenen Seiten der Schlacht begegneten, weiß ich darum umso mehr, dass Ihr ein Mann von Ehre und Mut seid – also genau der, den ich brauche.“

„Ey, Mut hab ich!“, sagte Taliban. „Komm rein! Aber lässt du Schwert stecken!“

„Gewiss!“

„Sonst – Kumpel nervös. Ich nicht – aber Kumpel.“

„Eurem Anliegen soll Rechnung getragen werden, so wie ich hoffe, dass mein Anliegen bei Euch Gehör findet.“

„Hör alles, ich schwör!“

„Darf ich eintreten?“

„Hier kommst du rein.“

Branagorn folgte Taliban ins Wohnzimmer. Auf einem niedrigen Tisch war eine Schale mit Chips zu sehen. Außerdem ein paar Game Controller.

Einige von Talibans Freunden drängten sich auf dem Sofa und den Sesseln.

„Er ist cool, ich schwör!“, sagte Taliban, noch ehe jemand eine Bemerkung machen konnte. „Hat Problem, ich helfe.“

Branagorn deutete auf einen von mehreren Rechnern und Laptops, die sich sowohl auf als auch unter einem Küchentisch befanden. Einige der Geräte waren unverkabelt, andere jedoch sogar eingeschaltet.

„Ich brauche dieses Artefakt, um das Böse zu bekämpfen“, sagte Branagorn.

„Ey, willst du zocken?“, fragte Taliban. „Sach doch gleich! Ich dachte, Welt retten und jetzt nur daddeln.“

„Ihr irrt, werter Taliban. Es geht darum, eine Mörderseele zu fassen und eine Seelenverwandte vor dem Unheil zu bewahren.“

„Verwandte? Meinst du Ehre von Schwester.“

„Schwester der Seele“, sagte Branagorn.

„Ehre von Schwester ist heilig.“

„Ich brauche die Maschine des Suchens – und Ihr wisst zweifellos damit umzugehen.“

„Ach Google!“, meinte Taliban.

„Gibt auch I'm Halal“, mischte sich einer seiner Freunde ein. „Ist auch Suchmaschine – aber nur islamisch und alles halal.“

„Nein“, widersprach Taliban. „I'm halal ist schon wieder abgeschaltet.“

„Wieso das?“

„Stand nicht so viel drin. Kein Sex und keine Schlampen. Darum hat keiner geklickt.“

„Ach so.“

Taliban wandte sich an Branagorn. „Ich helfe“, erklärte er.

Wenig später erschienen Seiten auf dem Bildschirm von einem der Rechner, die Branagorn in einem scheinbar rasenden Tempo überflog. Taliban schaute dabei nur kopfschüttelnd zu und half Branagorn ab und zu, wenn es technische Probleme gab. „Ich bin nur an die Maschinen des Rechnens gewöhnt, die es in der Universitätsbibliothek gibt“, erklärte Branagorn. „Wie kommt man auf diese Seite dort?“

„Zeitungsarchiv. Ist gebührenpflichtig – aber gibt Weg“, versprach Taliban. „Wie bei Kopierschutz, ich schwör. Ist alles für Arsch.“

*

Branagorn sog die Informationen nur so in sich auf. Ein Hausbrand in Borghorst, ein Mädchen, das überlebt hatte und durch zahlreiche Hauttransplantationen an Kopf und Bein gerettet wurde. Dreizehn Jahre war Melanie Aufderhaar damals. Branagorn fand ein aktuelles Bild in einem Netzwerk für ehemalige Schulfreunde und auf einer Seite, die sich mit der Herstellung und dem Verkauf von Porzellanpuppen beschäftigte. Ein ausführlicher Zeitungsartikel stellte sie anlässlich eines Preises vor, den ihre Puppenkrippe durch das Bistum erhalten hatte. Äußerlich war ihr nichts mehr anzusehen und sie sah ihrer Schwester Sarah, der Branagorn ja begegnet war, zum Verwechseln ähnlich. Zumindest für den oberflächlichen Blick der Sterblichen!, dachte Branagorn. Denn so sehr sie ihre Perücke auch der ihrer Schwester angeglichen haben mochte, einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden gab es.

Die Augen.

„Nichts als die Wahrheit, die reine Wahrheit!“

„Anna, das ist nicht dein Ernst“, polterte Haller. „Du ermittelst auf eigene Faust. Und dann auch noch mit diesem Branadingsbums Schmitt im Schlepptau?“ Haller wischte sich über das Gesicht. Sie saßen in seinem Büro. Haller hatte schon kurz nachdem Anna van der Pütten ihren Bericht begonnen hatte, die Tür geschlossen. Es musste nun wirklich nicht jeder mitbekommen, was da geschehen war. Anna hatte ihm ausführlich von dem Besuch in dem Haus an der Nordwalder Straße erzählt und ihm auch davon berichtet, dass sie sich gemeinsam mit Branagorn das Video-Material vom Tatort angehen und analysiert hatte.

„Warum vergleicht man nicht einfach das Haar, das Branagorn am Tatort gefunden hat, mit dem, was er in der Nordwalder Straße aufgehoben hat?“, fragte Anna.

„Ja, warum vergleichen wir nicht irgendeinen Halm Unkraut an der Mauer des Polizeipräsidiums mit irgendeinem anderen Halm Unkraut bei deiner Praxis in den Bürgersteigfugen an der Achtermannstraße?“, fauchte Haller zurück. „Das ergibt etwa genauso viel Sinn!“

„Ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll. Aber du selbst hast mir von dem Zielfernrohr erzählt, das auf dem Beifahrersitz eines Fahrzeugs lag. Du weißt doch, das Fahrzeug, in dem diese Frau saß, die Nadine Schmalstieg beobachtet hat! Und jetzt sehen wir jemanden mit einem Zielfernrohr, der die Szene auf der Planwiese beobachtet und sich wahrscheinlich daran ergötzt, wie sich alle um die Leiche kümmern und ihnen dabei ein Schauder über den Rücken läuft!“

„Nennt man so etwas nicht eine tendenziöse Perzeption?“, fragte Haller. „Wir haben Timothy Winkelströter verhaftet. Er besitzt ein Jagdgewehr und diverse Hieb- und Würgewaffen, die als Tatwerkzeuge für die Morde des Barbiers infrage kommen. Jetzt überprüfen wir seine Alibis zu den Zeitpunkten aller Morde, die in diese Liste gehören. Auf seinem Wagen sind Kratzspuren, unser Labor wird sicher nachweisen, dass dafür Branagorns Schwert verantwortlich ist. Insofern hat dieser Spinner tatsächlich zur Lösung des Falles beigetragen.“

„Was ist mit Tornhöven?“

„Ist schon wieder auf freiem Fuß.“

„Sven ...“

„Nein, jetzt rede ich! Was du getan hast, überschreitet bei Weitem deine Kompetenzen. Du sollst uns psychologisch beraten und bei Befragungen helfen. Du sollst uns dabei assistieren, die Aussagen, die wir gewonnen haben, einzuschätzen und die Täterpersönlichkeit zu analysieren, stattdessen belästigst du irgendwelche Leute, die vermutlich mit dem Fall gar nichts zu tun haben!“

„Die Aufderhaar-Schwestern haben etwas damit zu tun. Melanie Aufderhaar ist auf dem Facebook-Bild zu sehen – unter der Schnabelmaske!“

„Wer sagt das? Branagorn?“

„Das vermuten doch sogar die Kommentatoren auf der Seite! Die konnten nur Sarah und Melanie nicht unterscheiden – aber Branagorn sieht so etwas mit einem Blick!“

„Jetzt will ich dir mal was über deinen Branagorn sagen, auf dessen Urteils- und Sehvermögen du ja so sehr viel setzt!“, erklärte Haller. „Ich habe Wolli darum gebeten, er soll mal nachsehen, ob er da irgendetwas finden kann.“

„Und?“

„Er hat was gefunden. Eigentlich wollte ich es dir erst nachher zeigen.“ Haller zog eine Schublade auf, nahm einen Schnellhefter hervor und legte ihn vor Anna auf den Tisch. „Alles Computerausdrucke und Kopien. Du wirst erstaunt sein.“

Anna nahm den Schnellhefter und blätterte darin.

Sie bemerkte ihr eigenes Zögern dabei. Fürchtete sie insgeheim vielleicht die Wahrheit? War sie dem Charme seiner Geschichten und fantastischen Welterklärungen schon so sehr erlegen, dass sie selbst vielleicht auch allzu gern wenigstens den Teil davon glauben wollte, für den es immerhin eine nachvollziehbare und in ihrem Fall auch immer eine naturwissenschaftlich nachvollziehbare Erklärung gab?

„Ich will es mal so zusammenfassen, Anna: Es gab da eine junge drogensüchtige Mutter, die sich in ihrem Rausch die Haare abgeschnitten hat. Eigentlich wollte diese junge Mutter auf eigene Faust einen kalten Entzug machen, aber sie wurde schwach und hat stattdessen ihren Mann mit einem Küchenmesser erstochen, weil der ihr das Geld für den nächsten Schuss nicht geben wollte. Und der kleine Sohn dieser jungen Mutter – Frank Schmitt - saß unter dem Küchentisch und hat das alles mit angesehen.“

„Woher kommen diese Unterlagen?“, fragte Anna. „Warum habe ich davon noch nie etwas gesehen?“

„Das weiß ich nicht. Schlamperei vermutlich.“

Anna schluckte. „Ich weiß nicht, ob ...“

„Anna, die Augen der Mörderseele, die Frank Schmitt gesehen hat, sind die Augen seiner Mutter – und die irgendeines Irren, mit dem er zusammen in Lengerich war! Vermutlich wird er diese Augen bis zu seinem Lebensende vor sich sehen! Und sie überall wiederzuerkennen glauben – als ein mystisches Wesen, das man Traumhenker oder Weihnachtsmann oder wie auch immer nennen kann und das von den Seelen anderer Menschen Besitz ergreift und sie böse werden lässt. So wie es bei seiner Mutter der Fall gewesen sein muss! Es war seine kindliche Erklärung dafür, dass seine Mutter, die er zweifellos geliebt hat, offensichtlich aber für ihn unerklärlich zu einer bösartigen Bestie wurde!“

„Was ist aus der Mutter geworden?“

„In der Haftanstalt verstorben. Drogen bekommt man leider auch da.“

Einige Augenblicke herrschte Schweigen.

Anna lehnte sich zurück und atmete so heftig aus, dass es fast wie ein Seufzen klang.

In diesem Moment flog die Tür zur Seite. Raaben kam herein.

„Timothy Winkelströter ist in Raum drei. Ich dachte ...“

„Jetzt nicht“, sagte Haller.

„Doch“, widersprach Anna. „Es geht schon.“

„Nun sag mal ehrlich. So ein schlechter Psychologe bin ich auch nicht, oder?“

„Na ja, es geht, Sven.“

*

Timothy Winkelströter nippte an dem Becher mit schwarzem Kaffee, den man ihm hingestellt hatte und verzog das Gesicht. „Bah!“, stieß er hervor.

„Die können hier eben nicht Kaffee kochen“, meinte Anna. „Aber ich bin noch schlechter dran, denn ich trinke nur Tee und den gibt es hier überhaupt nicht.“

„Nein, am Kaffee liegt es nicht. Wussten Sie, was für psychointensive Stoffe alles in Pilzen vorhanden sind? Da muss man sich allerdings mit auskennen, sonst nippelt man ganz schnell ab.“

„Und Sie kennen sich aus?“

„Ja, dachte ich zumindest. Aber die Wirkung ist immer schwer abzuschätzen. Und hinterher hat man noch eine Weile einen stark veränderten Geschmackssinn. Zumindest bei manchen der Originalrezepte, die ich bei den 'Neuen Templern' gelernt habe.“

„Sie haben sich also zugedröhnt.“

„Ja.“

„Gab es einen Grund?“

„Ja, natürlich! Ich hatte ein paar Meinungsverschiedenheiten mit Nadine und es schien so, als würde sich unsere schöne Zeit irgendwie langsam aber sicher, oder besser gesagt furchtbar schnell, dem Ende entgegen entwickeln. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Durchaus.“

„Ich konnte ja nicht ahnen, dass die Polizei ein paar Stunden später vor der Tür steht und mich festnehmen will. Da habe ich wohl ein bisschen überreagiert. Das ist auch schon alles. Mit Nadines Tod habe ich nichts zu tun.“

„Die Kripo glaubt etwas anderes.“

„Ja, diese Idioten wollen irgendeinen Sündenbock haben. Hauptsache, jemand wird eingelocht, damit die Bevölkerung beruhigt werden kann. Aber das Morden wird weitergehen! Ich bin nicht der Barbier! Ich schwöre es Ihnen! Ich sage nichts als die Wahrheit, die reine Wahrheit! Allerdings habe ich zurzeit das Gefühl, dass die hier niemand wirklich hören will.“

„Also für mich trifft das auf jeden Fall nicht zu“, sagte Anna. „Ich bin an nichts anderem, als an der Wahrheit interessiert. Und vielleicht können Sie ja auch dazu beitragen, dass wir ihr etwas näher kommen.“

„Ist das irgendeine neue Masche? Wollen Sie mich einlullen, damit ich was Unvorsichtiges sage, was dann vor dem Haftrichter so ausgelegt werden kann, dass ich gefährlich bin?“

„Nein, da können Sie völlig unbesorgt sein.“

„Fragen Sie mich, was Sie wollen. Ich werde sowieso später alles abstreiten und behaupten, dass ich misshandelt wurde!“

„Herr Winkelströter ...“

„Ist doch wahr! Wenn man etwas anders aussieht als der Durchschnitt, wird man gleich mit irgendwelchen Perversionen in Verbindung gebracht und als potentieller Mörder betrachtet. Sie haben Glück. Sie laufen adrett frisiert und wie die Spießigkeit persönlich herum, da werden Sie wohl noch nicht mal verhaftet, wenn Sie gerade einen Geldsack aus einer Bank herausschleppen.“

„Herr Winkelströter, wenn Sie erst noch etwas mehr von Ihren Pilzgiften ausschwitzen müssen, bevor Sie sich mit mir unterhalten können, dann akzeptiere ich das. Aber Sie sollten wissen, dass ich keineswegs Ihr Feind bin. Und wenn das, was Sie behaupten, stimmt, wird sich das ja spätestens nach Abschluss der Laboruntersuchungen an Ihren Waffen, Ihrer Kleidung und Ihrem Wagen auch erweisen.“

Timothy seufzte. „Ja, entschuldigen Sie“, murmelte er. „Es ist nur so, ich habe Nadine wirklich gemocht.“

„Kennen Sie auch Melanie und Sarah Aufderhaar.“

Timothy Winkelströter blickte überrascht auf.

„Ja, kenne ich.“

„Beide?“

„Beide. Aber Melanie etwas besser.“

„Wieso?“

„Ich weiß nicht, wieso das jetzt wichtig ist.“

„Deshalb ist das wichtig!“, sagte Anna und faltete vor ihm einen Ausdruck des Facebook-Fotos auf, das Nadine Schmalstieg hochgeladen hatte.

„Das ist aber lange her“, meinte Timothy. „Da sehe ich ja noch aus wie ein Bubi!“

„Fast alle der Frauen, die hier zu sehen sind, wurden Opfer des Barbiers!“

„Ja, und weil ich mit all denen irgendwie mehr oder weniger gut bekannt war, heißt es nun, dass ich sie auf dem Gewissen habe!“

„Erinnern Sie sich noch, wo Melanie auf dem Foto war?“

„Na, da!“, meinte er und zeigte mit dem Finger auf eine der Frauen. Dann korrigierte er sich. „Nein, das ist Sarah. Melanie trug immer gerne diese Pest-Doktor-Kostüme. Ich hatte damals mit meinem Internet-Shop angefangen und das Ding ist seitdem ein Renner, kann ich Ihnen sagen.“ Dann wirkte sein Gesicht auf einmal sehr nachdenklich.

„Sprechen Sie ruhig weiter. Alles, was Ihnen einfällt.“

„Irgendwie ist es nicht verwunderlich, dass Melanie eine Vorliebe für Masken hatte. Auch damals schon ...“

„Sie meinen, weil sie damals bei dem Hausbrand entstellt wurde?“

„Sie wissen davon?“

„Ja.“

„Was hat das denn alles mit diesem Barbier zu tun – und mit Nadines Tod!“

„Und dem von Jennifer Heinze, die Ihnen ja wohl ebenfalls nahestand.“

„Ja“, murmelte er.

„Vertrauen Sie mir einfach. Was hatten Sie mit Melanie Aufderhaar zu tun?“

„Ich würde sagen, ich war ihr erster Freund. Oder besser gesagt: beinahe.“

„Was heißt beinahe, Herr Winkelströter?“

Er wich Annas Blick aus und ließ die Daumen seiner gefalteten Hände umeinanderkreisen. „Melanie war ja recht nett und sie hat die Folgen ihrer Brandverletzungen ja auch immer recht geschickt verdeckt. So geschickt, dass ich davon zu Anfang gar nichts bemerkt habe. Verstehen Sie, ich konnte das einfach nicht. Sie hat kein Haar mehr auf dem Kopf und sieht ohne Perücke aus wie Frankenstein. Und dann an der Seite von der Körpermitte bis zum Knie, das ist alles verwachsen und was weiß ich, was da gemacht wurde. Sie hat deswegen auch Schwierigkeiten, wenn sie aufsteht.“

„Sie haben sich also von ihr zurückgezogen.“

„Ja. Kann man so sagen.“

„Und wie hat sie reagiert?“

„Sie wollte das nicht akzeptieren, hat mich lange Zeit mit Telefonterror verfolgt und so ... Die Freundinnen, die ich danach hatte – oder auch nur Frauen, von denen Melanie geglaubt hat, dass ich was mit ihnen hätte, hat sie ebenfalls belästigt. Es hagelte unbegründete anonyme Anzeigen wegen Steuerhinterziehung, Falschparken, was weiß ich, was sie sich alles ausgedacht hat. Manchmal rief auch einfach nur jemand mitten in der Nacht an und meldete sich nicht. Natürlich mit unterdrückter Rufnummer. Aber das war sie, da bin ich mir sicher.“

„Warum ist nie jemand zur Polizei gegangen?“

„Weil so was doch immer im Sand verläuft. Außerdem kannten die meisten doch Melanie. Wir hatten uns alle in der Mittelalter-LARP-Szene kennengelernt und jeder wusste doch, welches Schicksal sie hinter sich hatte. Und davon abgesehen, war es in vielen Fällen auch nicht zu beweisen. Ich habe Nadine allerdings noch kurz vor ihrem Tod gesagt, sie sollte damit unbedingt zur Polizei gehen! Das war auch einer der Gründe für unseren Streit. Denn sie glaubte eher, dass nicht Melanie hinter den Anrufen stecken würde, sondern die 'Neuen Templer,' weil sie kein Mitglied werden wollte.“

„Und? Das kann man ausschließen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Seit heute schließe ich gar nichts mehr aus. Denken Sie denn, dass Melanie wirklich ...?“

„Ich schließe auch nichts aus“, antwortete Anna. „Warten wir am besten die Ergebnisse der Laboruntersuchungen ab.“

Die Augen der Mörderseele

Als Anna ihre Wohnung erreichte, klingelte ihr Handy. Es war Branagorn.

„Teure Cherenwen, ich bin froh, dass Ihr offenbar wohlauf seid!“

„Warum auch nicht, Branagorn?“

„Lasst äußerste Vorsicht walten.“

„Gibt es einen Grund für Ihren Anruf? Ich bin nämlich sehr müde und vielleicht wäre es besser, wenn wir uns morgen weiter unterhalten.“

„Hat sich Euer Heilerfreund aus Lengerich schon gemeldet?“

„Nein, das hat er nicht. Aber das tut er vielleicht noch.“

Anna dachte an das, was sie heute über Branagorns Vergangenheit erfahren hatte. Eines Tages werden wir uns über seine Mutter unterhalten müssen, dachte sie. Aber nicht jetzt und schon gar nicht am Telefon, obwohl sie seine Reaktion darauf brennend interessiert hätte. Ein kleines Kind, das einen Mord gesehen hat – und die wahnhafte Grausamkeit und Gier in den Augen seiner Mutter. Wer so etwas erlebt hatte, dem blieb wohl tatsächlich keine andere Wahl, als sich in eine Fantasiewelt zu flüchten und sich eine Herkunft vom edlen Lichtvolk der Elben zu erträumen, dessen Angehörige über allerlei erstaunliche oder magische Fähigkeiten verfügten. Andererseits fragte sich Anna immer noch, wie es sein konnte, dass in den bisherigen Unterlagen, die ihr vorlagen, weder etwas über Heimaufenthalte noch über dieses zweifellos traumatisierende Kindheitserlebnis verzeichnet war. War am Ende doch alles nur eine Verwechslung? Ein Fehler? Ein Treppenwitz der Psychiatrieverwaltung? Der Name Frank Schmitt war schließlich so häufig, dass man die Verwechslung mit einem Namensvetter nicht so ohne Weiteres als etwas völlig Unwahrscheinliches ansehen konnte.

Machst du jetzt nicht dasselbe wie er, ging es Anna dann durch den Kopf. Biegst du dir jetzt nicht auch die Welt so zurecht, wie sie dir in den Kram passt, nur damit zumindest eine vage Chance bestehen bleibt, dass an Branagorns Geschichte doch irgendetwas Wahres sein könnte?

„Branagorn wir unterhalten uns am besten morgen. Kommen Sie so gegen zehn in meine Praxis. Und dann erzähle ich Ihnen auch, was sich bis dahin Neues ergeben hat. Und wir beide unterhalten uns dann vielleicht auch noch mal etwas ausführlicher.“

„Nein“, widersprach Branagorn. „Ich bin auf dem Weg zu Euch, denn zumindest das, was ich herausgefunden habe, solltet Ihr noch heute wissen.“

„Branagorn, das halte ich für keine gute Idee.“

„Ich werde jetzt das Gespräch beenden, werte Cherenwen, denn die Magie des sprechenden Artefakts gestattet es nicht, sich mit mehreren Stimmen zur selben Zeit zu unterhalten. Und wenn nun Euer Heilerfreund aus Lengerich Euch zu erreichen versucht und seine Magie nicht zu Euch durchzudringen vermag, wäre das sehr bedauerlich.“

„Hören Sie ...“

„Bis bald, teuerste Cherenwen. Und gebt unbedingt auf Euch acht!“

Das Gespräch war unterbrochen. Das hast du dir selbst zuzuschreiben!, dachte Anna. Sie war es schließlich gewesen, die es zugelassen hatte, dass die Grenzen überschritten worden waren – und jetzt hatte sie einen Patienten am Hals, der gar nicht daran dachte, diese Grenzen zwischen Patient und Therapeut je wieder einzuhalten. Ein schöner Schlamassel, durchfuhr es sie. Aber so auf die Schnelle war daran leider wohl nichts zu ändern.

Anna zog die Schuhe aus, stellte sie sehr sorgfältig nebeneinander in den Flur, wo ihr Platz war, und streifte die Hausschuhe über. Dann ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich in einen der Sessel fallen.

Erneut klingelte ihr Handy.

„Van der Pütten.“

„Hallo, Frau van der Pütten, hier spricht Dr. Lorentz aus Lengerich.“

„Ah ja, schön, dass Sie anrufen!“

Dr. Richard Lorentz kannte Anna schon seit Jahren. Er war Psychiater in Lengerich, fünf Jahre älter als sie und hätte sich liebend gern mit ihr geduzt, wenn sie das zugelassen hätte. Aber sie hatte nicht, und bevor sie ihn gefragt hatte, ob er ihr in der Barbier-Angelegenheit nicht an den offiziellen Wegen und Regeln vorbei helfen könnte, hatte sie ihre Sperrigkeit in dieser Hinsicht für kurze Zeit sogar bereut. Aber nur solange, bis sie feststellte, dass Dr. Lorentz auch ohne Duzerei bereit war, ihr zu helfen.

„Also Sie suchten doch einen Patienten, der in einem genau umrissenen Zeitpunkt hier in Lengerich war und keine Haare auf dem Kopf hatte.“

„Ja. Es geht darum, dass er gemeinsam mit Frank Schmitt in Ihrer Einrichtung war und beide sich getroffen – oder zumindest gesehen haben könnten!“

„Wir haben da eine gewisse Melanie Aufderhaar. Sie trug eine Perücke und hat sie während ihres Aufenthalts hier in Lengerich angezündet. Woher sie das Feuerzeug hatte, konnte nie ermittelt werden. Nachdem sie dann medikamentös neu eingestellt wurde und eine Gesprächstherapie bekam, scheint es ihr wieder besser gegangen zu sein.“

„Ah, ja ...“

An der Wohnungstür klingelte es.

„Das ist alles, was ich herausbekommen konnte. Wenn Sie noch Fragen dazu haben, rufen Sie mich gerne morgen früh an, da habe ich nur Bereitschaft.“

„Gut.“

Es klingelte ein zweites Mal.

„Ich höre, Sie bekommen gerade Besuch. Da will ich Sie auch nicht länger aufhalten.“

„Auf Wiederhören und vielen Dank.“

Anna beendete das Gespräch und ging zur Tür. Durch den Spion sah sie eine Frau mit Kopftuch. Sicher eine Spendensammlerin für die benachbarte Kulturinitiative. Anna öffnete – und erkannte im nächsten Moment das Gesicht. Melanie Aufderhaar stand vor ihr. Sie trug das Kopftuch in Kombination mit einem weiten, bis zu den Knöcheln reichenden Sommermantel.

„Guten Abend“, sagte sie. „Sie wollten doch mit mir über Nadine Schmalstieg sprechen, nicht wahr?“

„Richtig“, murmelte Anna tonlos.

„Und wenn mir noch etwas einfiele, sollte ich mich bei Ihnen melden. Dafür gaben Sie mir Ihre Karte.“

„Ja.“

„Ich war vielleicht bei unserem ersten Zusammentreffen nicht so höflich, wie es angemessen gewesen wäre. Das tut mir leid. Aber wissen Sie, es war auch für mich nicht leicht, erfahren zu müssen, dass Nadine tot war ...“

„Wissen Sie, es ist schon spät und ich bin sehr müde. Ehrlich gesagt, würde ich mich lieber morgen mit Ihnen unterhalten. Wir können gerne einen Termin machen oder noch besser, ich fahre bei Ihnen zu Hause vorbei!“

„Nein, wir werden jetzt miteinander reden!“, erklärte Melanie Aufderhaar in einem plötzlich veränderten Tonfall. Sie riss ihre Hand aus der Manteltasche. Darin hatte sie einen Dolch mit Parierstange verborgen. Die Klinge wirbelte in der Höhe von Annas Kehle durch die Luft. Es war eine blitzschnelle Bewegung. Nur weil Anna sie vorausgeahnt hatte, entging sie diesem wuchtig ausgeführten Schnitt.

Sie wich zurück. Melanie Aufderhaar setzte nach, ließ das Messer noch einmal vorschnellen und traf damit Annas Hand. Das Handy entfiel ihr. Blut spritzte aus der Wunde.

„Frau Aufderhaar, was soll das!“

„Sie wissen es! Sie wissen anscheinend alles. Ich kann Sie nicht leben lassen!“

Anna floh ins Wohnzimmer, riss einen der Sessel herum und schob ihn der Angreiferin entgegen. Deren Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen. „Sie haben Timothy erwähnt, als sie bei mir waren. Wie gut kennen Sie ihn ... reden Sie!“

Die letzten Worte glichen einem Schrei. Ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen. Sie atmete heftig. Die Ader an ihrem Hals trat hervor und pulsierte.

Dann waren Schritte vom Flur her zu hören.

Branagorn stürmte in das Wohnzimmer, riss dabei sein Schwert hervor. Dabei rief er eine Formel und schwang die Klinge durch die Luft. Melanie wirbelte herum. Branagorns Klinge hakte hinter die Parierstange. Der Dolch wurde ihr aus der Hand geschleudert. Branagorn stand mit dem Schwert in beiden Händen vor ihr und richtete die Spitze auf ihren Hals.

Dabei murmelte er weiter scheinbar sinnlose Silben vor sich hin wie in einem Singsang. „Bewegt Euch nicht, Mörderseele! Ich erkenne Eure Augen, Traumhenker, denn ich sah Euch in Lengerich und in so vielen andere Gesichtern. Jetzt ist der Tag deines Banns gekommen!“

Branagorn holte aus.

„Nein!“, rief Anna. „Wir rufen die Polizei!“

Branagorn hielt inne. Auch sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Sekunde vergingen. „Rührt Euch nicht, wenn Ihr Euren Kopf behalten wollt, Mörderseele“, murmelte er. „Rührt Euch nicht ... Wagt es nicht einmal heftig zu atmen!“

Melanie Aufderhaar starrte ihn nur an und wirkte wie erstarrt. Anna ging derweil zum Festnetzanschluss auf der anderen Seite des Wohnzimmers und nahm den Hörer ab. Die Nummer wählte sie wie automatisch. „Haller? Ich meine Sven ... Ich bin zu Hause in meiner Wohnung und hier muss jemand festgenommen werden. Melanie Aufderhaar ist hier und hat versucht, mich umzubringen.“

*

Fast eine Woche war seit der Verhaftung von Melanie Aufderhaar vergangen. Anna saß in Hallers Büro. Der Kriminalhauptkommissar machte einen ziemlich nachdenklichen Eindruck. Sarah Aufderhaar hatte inzwischen ausführlich ausgesagt. Sie hatte offenbar schon seit Langem geahnt, dass ihre Schwester etwas mit den Morden zu tun hatte.

„Sie muss es gewusst haben, sonst hätte sie ihre Schwester nicht regelrecht verfolgt, wenn es ihr Job zuließ“, meinte Haller.

„Manche Dinge will man einfach nicht wahrhaben“, antwortete Anna. „Dinge, die nicht in das eigene, ganz private Weltbild passen und es zu sprengen drohen.“

„Fang jetzt nicht an, von Magie zu sprechen.“

„Dafür, dass Branagorn zur rechten Zeit zur Stelle war, um Melanie Aufderhaar aufzuhalten, suche ich erst gar keine Erklärung, Sven. Vielleicht war es einfach Zufall, vielleicht auch etwas anderes. Wer weiß ... Wenn man anfängt, zwanghaft wirklich alles erklären zu wollen, dann endet man in einer Sackgasse wie Melanie. Warum war sie in dem brennenden Haus und nicht ihre Schwester? Warum konnte Timothy Winkelströter sie einfach nicht lieben? Nicht einmal dann, als doch alle Konkurrentinnen tot waren? Warum musste sie hässlich und verunstaltet sein, während der Rest der Menschheit nur aus Schönheit und Anmut zu bestehen schien?“

„Sie hätte sich auch fragen können, warum sie das unglaubliche Glück hatte, noch am Leben zu sein.“

„Ja, es ist alles eine Frage der Perspektive. Und je nachdem, welchen Blickwinkel wir einnehmen, gestalten sich auch die Fragen, die wir dem Leben stellen. Und je nachdem, wie wir diese Fragen beantworten, formen sich unsere Einstellungen und Ansichten.“

„Du hattest auf jeden Fall einfach Glück.“

„Ja, so versuche ich das auch zu sehen ... Sven.“

Haller grinste. „Du hast immer noch Schwierigkeiten damit, nicht wahr?“

„Womit?“

„Mich beim Vornamen zu nennen.“

„Wie gesagt, jeder von uns hat Gründe dafür, weshalb sich seine Ansichten so und nicht anders gebildet haben.“

„Sicher ... Inzwischen liegen übrigens die Testergebnisse vor. Melanie Aufderhaar hat die Haare ihrer Opfer tatsächlich bei ihren Puppen verarbeitet. In dem Abstellraum gegenüber der Wohnung von Herrn Gross fanden sich noch einige Haarvorräte. Im Labor konnte man sie den bisherigen Opfern des Barbier inzwischen zuordnen. Und ihr Wagen – ein Kombi mit Kuhfänger - so ähnlich wie man ihn auch bei Timothy Winkelströters Wagen findet – trägt eindeutig Spuren von Branagorns Schwert.“

„Das finde ich gut.“

„Was?“

„Dass du ihn Branagorn nennst. Bei seinem richtigen Namen.“

Haller lächelte matt. „Der Wahnsinn scheint langsam schon auf mich überzuspringen.“

„Sven, das glaube ich nicht.“

„Ach, nein?“

„Ich soll dich übrigens fragen, wann 'Ihr gedenkt, verschiedene Schwerter an ihren Eigentümer zurückzugeben, werter Hüter der Ordnung'! Ich glaube, ich habe jetzt wörtlich seine Ausdrucksweise zitiert.“

„Der Fortschritt in der Beweissicherung wird es sicher bald zulassen“, sagte Haller. „Die Zurverfügungstellung eines Ersatzschwertes sieht unsere Rechtsordnung allerdings leider nicht vor – auch wenn das Branagorn gewiss nicht zufriedenstellen wird!“

*

„Sie wirken nicht glücklich“, stellte Anna beim nächsten Therapie-Termin mit Branagorn alias Frank Schmitt fest. „Es kann ja ein subjektiver Eindruck meinerseits sein, aber als wir uns über die Verhaftung von Melanie Aufderhaar und alles, was damit zu tun hat, unterhalten haben, da wirkten Sie so, als wäre es anders verlaufen, als Sie ... gehofft haben.“

„Ich hätte ihr den Kopf abschlagen müssen“, sagte Branagorn.

„Seien Sie froh, dass Sie das nicht getan haben!“

„Der Traumhenker konnte entkommen. Er entfuhr der Mörderseele. Ich sah es an den Augen. Euer Ruf war es, der mich dazu veranlasste zu zögern – und dieses Zögern war es, dass dem Traumhenker die Flucht gestattete. Melanie Aufderhaar ist nur eine arme Mörderseele, die niemandem mehr etwas tun kann. Jetzt nicht mehr. Aber der Traumhenker ist frei. Er wird sich eine neue Seele suchen und sein Hass wird aus einem anderen Augenpaar herausleuchten ...“ Branagorn ballte seine dürren Hände zu Fäusten. „Aber ich werde diese Augen erkennen! Wo auch immer sie mir begegnen! Das Böse kann sich vor mir nicht verbergen! Niemals!“

Einige Augenblicke schwiegen sie beide.

Anna überlegte, ob sie es wagen sollte, ihm die Frage zu stellen, die sie nun schon geraume Zeit vor sich herschob.

Heute werde ich etwas riskieren, nahm sie sich dann vor.

„Branagorn, wären Sie heute bereit, über Ihre Mutter zu sprechen?“

„Meine Mutter?“ Er wirkte überrascht. „Ich hatte schon befürchtet, Ihr wolltet über Unangenehmes mit mir reden.“

„Der Gedanke an Ihre Mutter ist nicht unangenehm?“

„Nein“, lächelte er.

„Was ist Ihre früheste Erinnerung an sie?“

„Meine Mutter steht am Bug eines prächtigen Schiffes, das zusammen mit der großen Flotte der Elben durch das zeitlose Nebelmeer gleitet, um die Gestade der Erfüllten Hoffnung zu finden – und ich bin auf ihrem Arm. Sie deutet in die Ferne und sagt: Sieh nur – da irgendwo ist unser fernes Ziel! Und dabei sehe ich zuerst in den trostlosen Nebel und danach in ihre golden schimmernden Augen, in denen so viel Hoffnung leuchtet, dass ich mir von nun an sicher bin, die ferne Küste irgendwann zu erreichen ...“ Er brach ab und ein verhaltenes Lächeln umspielte seine Lippen. Dann sah er Anna van der Pütten an und fragte: „Habt Ihr etwas anderes erwartet?“

„Nein“, antwortete sie leise. „Eigentlich nicht. Fahren Sie ruhig fort ...“

ENDE

Ein Killer läuft Amok

von Alfred Bekker

Ein bis dahin friedliebender Mann läuft Amok - und Privatdetektiv Bount Reiniger muss einen Mörder entlasten!

1

Vielleicht wusste der Mann nicht wirklich, was er tat. Aber das machte die Sache nicht weniger schlimm. Brannigan hielt die automatische Pistole in seiner Rechten krampfhaft umklammert. Sein Blick war starr, sein Gesicht rot angelaufen und seltsam verkrampft. Die Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Der Arm mit der Pistole hob sich und als dann der erste Schuss krachte, stoben die Passanten schreiend auseinander. Panik griff um sich, während jemand getroffen zu Boden sank. Der Mann presste die Hände gegen die Brust, aber das Blut rann ihm zwischen den Fingern hindurch. Der Mann blickte ungläubig zu Brannigan auf, der für einen Augenblick innehielt. Dann brach der Mann zusammen, schlug hart auf den Asphalt und regte sich nicht mehr. Brannigan wirbelte herum. Er hörte die Schreie. Die Stimmen drohten, ihn halb wahnsinnig zu machen.

"Ein Verrückter!", rief jemand. "Ein Irrer!" Dann taumelte Brannigan vorwärts. Ein zweiter Schuss löste sich aus seiner Pistole und dann ein dritter. Nur am Rande nahm Brannigan war, wie jemand getroffen nach hinten gerissen und durch die Wucht des Projektils gegen ein Schaufenster geschleudert wurde. Das Glas ging klirrend entzwei. Brannigan beschleunigte seine Schritte. Er wirbelte herum. Er wusste nicht, wohin er eigentlich wollte. Dunkel erinnerte er sich, gerade noch hinter dem Steuer seines Wagens gesessen zu haben. Und jetzt war er in dieser belebten Einkaufsstraße, umgeben von Menschen, die versuchten, sich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Brannigan fühlte seinen Puls bis zum Hals schlagen. Er hatte Angst. Namenloses Entsetzen kroch ihm wie eine kalte, glitschige Hand den Rücken hinauf.

Er hörte eine Stimme, schnellte herum, sah eine Gestalt und feuerte sofort, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. Immer wieder betätigte er den Abzug. Die Gestalt, die er gesehen hatte, gehörte einem Mann in den Fünfzigern, der gerade in seinen Wagen hatte einsteigen wollen. Schützend hatte der Mann seinen Aktenkoffer hochgerissen, aber das hatte ihm nichts genützt. Die erste Pistolenkugel war glatt durch das harte Kunststoffmaterial hindurchgeschlagen und in seinen Oberkörper eingedrungen. Der Mann war längst tot, aber Brannigan feuerte noch immer. Er war wie besessen und konnte einfach nicht aufhören. Auch nicht, als zwei weitere Passanten getroffen aufschrien. Als Brannigan sich dann herumdrehte, sah er in ein schreckensbleiches Gesicht, das nur stumm den Kopf schüttelte. Ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge in Jeans und Turnschuhen, der unwillkürlich erstarrt war, als er in die Pistolenmündung blickte.

"Nein", flüsterte der Junge und schien dabei unfähig zu sein, sich zu bewegen. Brannigan drückte sofort ab.

Glücklicherweise traf er nicht richtig. Die Kugel fuhr dem Jungen in die Schulter.

"Stehenbleiben! Keine Bewegung!", rief eine Stimme, die wie ein Messer in Brannigans Bewusstsein drang und ihn sich erneut herumdrehen ließ. Der Junge nutzte das. Die Lähmung, die ihn noch eine Sekunde zuvor gefangen gehalten hatte, schien wie weggeblasen zu sein. Er rannte um sein Leben und flüchtete in einen Kaufhauseingang. Brannigan sah indessen die dunkelblaue Uniform eines Polizisten, der seine Dienstwaffe aus dem Holster gerissen und auf den Amokläufer gerichtet hatte.

"Ich sagte, Sie sollen die Waffe fallen lassen!", rief der Polizist, der sichtlich nervös war. "Ich will Sie nicht erschießen, aber ich werde es tun, wenn Sie mich dazu zwingen!" Es war Brannigan nicht anzusehen, ob er sein Gegenüber überhaupt verstanden hatte.

Eine volle Sekunde lang geschah überhaupt nichts. Brannigan stand einfach nur da, aber er warf seine Waffe nicht weg.

Niemand wird mich kriegen!, durchzuckte es ihn heiß. Niemand! Nicht noch einmal!

Dieser Gedanke hämmerte immer wieder in seinem Kopf. Brannigan schluckte. Er dachte an damals. Aber es würde sich nicht wiederholen. Nie wieder. Dafür würde er sorgen. Und dann riss er urplötzlich seine Waffe hoch und feuerte. Der Polizist schoss annähernd gleichzeitig und traf Brannigan im Oberkörper. Brannigan wurde nach hinten gerissen, ein weiterer Schuss löste sich aus seiner Waffe und traf einen Passanten in den Rücken, der sich gerade in Sicherheit bringen wollte.

Brannigan taumelte, schaffte es aber bis zu einer Parkuhr, an der er sich aufstützte. Den Polizisten hatte es am Bein erwischt und so lag dieser mit grimmig verzerrtem Gesicht auf dem Asphalt, den 38er Revolver immer noch in der Rechten. Brannigan ächzte. Er fühlte den Schmerz an seiner Seite und presste die Linke dagegen. Er blickte nicht hinab. Stattdessen hob er erneut die Pistole und ließ seinem uniformierten Gegenüber keine andere Wahl.

Bevor Brannigan abdrücken konnte, hatte eine weitere Kugel ihn getroffen und dann noch eine. Er schlug rückwärts gegen einen parkenden Wagen und rutschte an dem glatten Blech zu Boden. Die Pistole hielt er immer noch fest umklammert, auch dann noch, als seine Augen schon erstarrt ins Nichts blickten.

2

Bount Reiniger war ziemlich guter Laune, als er die Räume seiner Agentur betrat, die in einer Traumetage am nördlichen Ende der Seventh Avenue gelegen war. Bount Reiniger war so etwas wie die Nummer eins unter den New Yorker Privatdetektiven. Und so war er bei der Erstellung eines neuen Sicherheitskonzepts hinzugezogen worden, das eine Kette von Juweliergeschäften für ihre an der gesamten Ostküste verstreuten Filialen einführen wollte. Keine aufregende Tätigkeit, dafür ziemlich zeitraubend und arbeitsintensiv. Doch dafür stimmte das Honorar. Bount hatte den Scheck in der Jackett-Innentasche.

Als seine blondmähnige Assistentin June March ihn begrüßte, zog er das Papier grinsend hervor und zeigte es ihr.

"Na, der Stress scheint sich ja gelohnt zu haben!", meinte June dazu und fügte dann noch lächelnd hinzu: "Über eine Erhöhung meiner Bezüge mit dir zu reden dürfte jetzt wohl reine Formsache sein, nehme ich an..."

Bount hob die Augenbrauen.

"Nach diesem dicken Fisch kannst du von Glück sagen, wenn ich mich nicht plötzlich dazu entschließe, die Agentur einfach dicht zu machen, um..."

"...dich zur Ruhe zu setzen?" June stemmte ihre schlanken Arme in die wohlgeformten Hüften und lache dann laut los.

"Warum nicht?", fragte Bount. "Was ist so abwegig daran?"

"Nichts als leere Drohungen! Wir wissen beide, dass du das nie tun würdest!"

Bount zuckte die Achseln. "Vermutlich hast du recht."

"Natürlich habe ich das!"

"Aber für heute finde ich, sollten wir Schluss machen." Doch June schüttelte entschieden den Kopf. "Ich fürchte, daraus wird nichts, Bount."

"Und warum nicht? Soweit ich weiß, habe ich heute keine Termine mehr. Es gibt auch keinen Fall, an dem..."

"Vielleicht doch, Bount."

Bount runzelte die Stirn. Er löste den ersten Hemdknopf und lockerte den Krawattenknoten ein Stück. "Was soll das heißen?", fragte er gleichzeitig.

"In deinem Büro sitzt eine Frau, die ganz so aussieht, als würde sie unsere nächste Klientin. Sie wartet schon eine halbe Stunde..."

"Du hättest ihr einen anderen Termin geben können."

"Natürlich, Bount. Aber sie machte mir einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass ich mir dachte, dass ihre Sache wohl nicht länger warten kann."

Bount seufzte. Wann hatte es schon je einen Klienten gegeben, der freudestrahlend im Büro eines Privatdetektivs saß und mit sich und der Welt zufrieden war?

"Hat die Dame dir schon gesagt, worum es geht?"

"Nur, dass ihr Lebensgefährte erschossen wurde. Aber nichts weiter. Sie brach gleich in Tränen aus. Sei also nett zu ihr."

"Sicher."

Als Bount dann einen Moment später sein Büro betrat, saß dort eine gutaussehende Dunkelhaarige, deren verlaufenes Make-up für sich sprach. Bount reichte ihr die Hand und sie nickte. Sie brauchte eine Sekunde, um etwas herauszubringen. Ein Kloß schien ihr im Hals zu sitzen.

"Sie sind Reiniger?"

"Ja."

"Geld spielt keine Rolle", sagte sie und zuckte dann ihre schmalen Schultern. "Oder besser gesagt: fast keine. Ich habe einiges auf der hohen Kante und..."

"Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, wer Sie sind und worum es geht, Miss..."

"Carter, Joanne Carter."

Bount nahm in dem Sessel hinter dem Schreibtisch Platz und lehnte sich etwas zurück, während er sein Gegenüber einer knappen Musterung unterzog. Diese Frau schien noch ganz unter einer Art Schock zu stehen und war deshalb wohl etwas durcheinander. Was immer es auch gewesen war, das ihr so zugesetzt hatte - es konnte keine Kleinigkeit sein.

"Meine Mitarbeiterin hat mir gesagt, dass man Ihren Lebensgefährten erschossen hat", begann Bount, nachdem er bemerkte, dass es Joanne Carter schwer fiel, über die Sache zu sprechen und den richtigen Anfang zu finden.

Sie nickte. "So ist es", meinte sie. "Sein Name ist Walt Brannigan. Und der Mann, der ihn erschossen hat, war Polizist und hat selbst eine Kugel ins Bein gekriegt..." Sie atmete tief durch und Bount begann zu dämmern, um welche Sache es sich hier drehte. Indessen hob Joanne den Kopf und sah den Privatdetektiv offen an. "Vielleicht haben Sie in der Zeitung von der Sache gelesen. Walt hat in einer belebten Geschäftspassage wild um sich geschossen und dabei insgesamt fünf Menschen erschossen..."

Bount beugte sich etwas nach vorne.

"Sie meinen..."

"Er ist Amok gelaufen, dass wollten Sie doch sagen, nicht wahr? Ein Verrückter, der wild um sich ballert, der in seiner Verzweiflung oder seinem Wahn oder aus welchen Gründen auch immer so viele Menschen wie möglich mit sich in den Tod zu reißen sucht!" Sie wischte die Träne hastig beiseite, die sich unmerklich auf ihre Wange gestohlen hatte.

"Ich habe von der Sache tatsächlich gehört", meinte Bount.

"Und soweit ich weiß, hatte der Polizist wohl keine andere Wahl..."

Sie nickte. "Ja, so denken alle darüber. Polizei, Staatsanwaltschaft, Presse und so weiter."

"Und was ist falsch daran?"

Sie schluckte. "Vielleicht nichts", murmelte sie dann. "Ich weiß selbst schon nicht mehr, was ich darüber denken soll. Ich weiß nur eins: Es gibt keinen Grund, weshalb Walt auf die Straße gehen und wahllos Menschen erschießen sollte!" Bount zuckte die Achseln. "Aber er hat es doch getan, oder? Aus welchem Grund auch immer..."

Sie hob den Kopf und schien sich ihrer Sache auf einmal sehr sicher zu sein. "Walt und ich leben zusammen. Wahrscheinlich kennt ihn niemand besser als ich. Und ich sage Ihnen, die Vorstellung ist völlig absurd."

Bount musterte sie. Was sollte er dazu sagen? Es schien ihm, als wollte die Frau einfach die Realitäten nicht anerkennen. Walt Brannigan wäre nicht der erste Amokschütze gewesen, der seiner engsten Umgebung als völlig normal erschienen war. Bis zu dem bestimmten Tag, an dem es geschah.

"Sehen Sie, Miss Carter, man kann in den Kopf eines Menschen nicht hineinschauen. Und in den eines Toten schon gar nicht. Ich weiß nicht, warum Ihr Freund das getan hat - und wahrscheinlich wird es man es auch nie mehr erfahren."

"Er war Mitarbeiter eines erfolgreichen Ingenieurbüros. Ein erfolgreicher, dynamischer Mann. Er war gesund, er hatte eine glückliche Kindheit auf dem Lande und mit uns beiden lief es auch sehr gut. Sagen Sie mir, weshalb ein Mann durchdreht, in dessen Leben doch wirklich alles zu funktionieren scheint! Selbst sein Ferrari war abbezahlt!"

Bount überlegte. So, wie sie das sagte, klang das tatsächlich ein bisschen merkwürdig. Aber wahrscheinlich lag es einfach nur daran, dass sie beide zu wenig über Brannigan wussten. Bount fragte sich, wie er ihr schonend beibringen konnte, dass er wahrscheinlich nicht der richtige Mann für ihre Angelegenheit war. Vermutlich wandte sie sich besser an einen Psychologen.

Aber als er sie da so sitzen sah, brachte er es nicht über sich. Und so fragte er: "Vielleicht sagen Sie mir einfach mal, was ich für Sie tun soll und ich sage Ihnen dann, ob es im Bereich meiner Möglichkeiten liegt!"

Sie nickte. "Okay", meinte sie und versuchte ein Lächeln, das ihr aber gründlich misslang. Die innere Anspannung war ihr nach wie vor deutlich anzusehen. "Ich will, dass Sie herausfinden, was wirklich geschehen ist."

"Das steht doch sicher im Polizeibericht - und in etwas öffentlichkeitswirksamerer Form in den Zeitungsartikeln. Ich weiß nicht, was meine Nachforschungen da noch sollen."

"Ich möchte wissen, was wirklich geschehen ist, Mister Reiniger. Das Ende der Geschichte, das steht im Polizeibericht, aber so etwas geschieht nicht aus heiterem Himmel! Das kann mir niemand erzählen!" Sie hielt einen Moment lang inne und der Blick ihrer dunklen Augen ruhte auf Bounts Gesicht.

"Werden Sie die Sache übernehmen? Wie gesagt: Ich bin bereit, tief in die Tasche zu greifen! Aber das ist es mir wert!"

"Ich kann Ihnen nichts versprechen, Miss Carter."

"Das weiß ich. Trotzdem, versuchen Sie etwas herauszufinden."

Bount nickte. Und damit hatte er sich entschieden. Er war sich nicht sicher, ob er diese Entscheidung nicht bald schon wieder bereuen würde. Jedenfalls hatte ein flaues Gefühl dabei.

"Hat Walt Brannigan vielleicht Drogen genommen?"

"Nein."

"Niemals?"

"Niemals. Ich hätte das gemerkt."

"Auch nicht irgendwelche Aufputscher, um mehr Leistung zu bringen? Sie sagten, er war sehr erfolgreich. Manchmal..."

"Nicht Walt!", schnitt sie Bount das Wort ab.

"Haben Sie sonst irgendeinen Verdacht? Dann sagen Sie ihn mir am besten gleich."

"Nein."

"Ich nehme an, die Leiche ist obduziert worden?"

"Ja, aber was sollte man außer den Kugeln, die Walt getötet haben, noch finden?"

Bount zuckte die Schultern. "Das hängt immer ein bisschen davon ab, wonach man sucht!"

"Davon verstehe ich nichts."

"Wenn Sie mir noch Ihre eigene Adresse und die des Ingenieurbüros geben könnten, bei dem Walt Brannigan beschäftigt war."

"Natürlich."

Bount reichte ihr Zettel und Kugelschreiber. Während sie schrieb, fragte er dann: "Woher kam die Waffe, mit der Ihr Freund herumgeballert hat?"

"Er hatte sie immer im Handschuhfach."

"Weswegen? Wurde er bedroht?"

Sie zuckte die Achseln. "Ich weiß es nicht. Aber ist das heutzutTage so ungewöhnlich? Die einen haben abgezählte dreißig Dollar in der Tasche, um bei einem Überfall nicht die ganze Brieftasche abliefern zu müssen, andere tragen Reizgas bei sich oder besuchen Kurse in Selbstverteidigung."

"Und Walt Brannigan hatte eben eine Pistole, meinen Sie."

"Ja."

"Hat er sie zuvor schon einmal gebraucht?"

"Nein, nie."

"Sind Sie sicher?"

"Ich bin sicher. Sie lag immer nur im Handschuhfach. Ich habe sie einmal per Zufall dort gesehen. Das war noch ganz zu Anfang, als wir uns kennenlernten."

"Die Waffe war immer geladen?"

"Das weiß ich nicht."

Bount nickte. "Gut", meinte er. "Ich werde versuchen, etwas herauszufinden. Vielleicht überlegen Sie sich noch einmal, ob Sie Ihr Geld wirklich zum Fenster herausschmeißen wollen oder..."

"Glauben Sie mir, ich weiß, was ich tue!", erwiderte sie bestimmt.

"Okay."

Sie erhob sich. "Ich werde mich bei Ihnen melden, Mister Reiniger!"

3

"Besonders aufschlussreich ist der Untersuchungsbefund von Brannigans Leiche ja nicht gerade...", meinte Bount an Captain Toby Rogers gewandt, während er die entsprechende Mappe auf den Tisch legte. "Warum hat man keine weitergehenden Analysen angestellt?"

Der korpulente Rogers war Leiter der Mordkommission Manhattan C/II und seit vielen Jahren Reinigers Freund. Rogers verschluckte sich fast an seinem Kaffee und blickte den Privatdetektiv stirnrunzelnd an.

"Soll das etwa Kritik sein?"

"Nur eine Frage unter Freunden, Toby!"

Der Captain atmete tief durch und meinte dann: "Der Arzt meinte, dass das nicht notwendig sei. Und der Staatsanwalt war derselben Meinung. Die Sache liegt doch so glasklar auf der Hand, wie nur irgendetwas!"

"Erzähl mal."

"Er hatte keinen Alkohol im Blut und es gibt keine Indizien, die dafür sprechen, dass er drogensüchtig war. Warum sollte man ihn dann auseinanderschneiden?"

"Mag sein, Toby."

"Was soll der ganze Aufstand eigentlich, Bount? Ein Mann ist durchgedreht, das kommt öfter vor!"

"Seine Lebensgefährtin glaubt nicht daran."

"Wundert dich das?"

"Ein Mann, für den alles gut läuft, der erfolgreich im Beruf ist und in einer harmonischen Zweierbeziehung lebt - weshalb geht der auf die Straße und schießt wild um sich? Findest du das nicht ein bisschen seltsam?"

Rogers lachte heiser. "Ich bin zu lange in dem Job, um so etwas noch seltsam zu finden, Bount!"

"Du könntest veranlassen, dass Brannigans Leiche noch einmal untersucht wird."

"Und wonach soll man suchen?"

Bount hob die Schultern. "Bin ich Arzt?" Rogers erhob sich und kam auf die andere Seite seines Schreibtischs. "Hör zu, Bount, ich will dir mal ein paar Dinge über Brannigan erzählen!"

"Ich bin gespannt!"

"Sein Leben war keineswegs so glatt, wie diese Joanne Carter dir vielleicht glauben machen wollte." Der Captain zuckte mit den breiten Schultern. "Wahrscheinlich wusste sie es auch nicht besser. Sie kannte ihn ja kaum anderthalb Jahre..." Bount hob die Augenbrauen. "Und was zum Beispiel wusste sie nicht?"

"Zum Beispiel, dass es vielleicht nicht das erste Mal war, dass Walt Brannigan durchdrehte."

"Wovon sprichst du, Toby?"

"Von einer Vergewaltigungsgeschichte, ist gut zweieinhalb Jahre her. Es war wohl nur ein Versuch, die Frau konnte sich in Sicherheit bringen."

"Wer war die Frau?"

"Nora Gaynor, eine Kollegin aus dem Ingenieurbüro, in dem Walt Brannigan tätig war." Rogers hob die Schultern. "Die Sache ist im Sand verlaufen. Du weißt ja, wie das ist, wenn Aussage gegen Aussage steht und nichts Handfestes vorhanden ist, das irgendetwas beweisen könnte."

Bount machte eine hilflose Geste. "Vielleicht hast du recht und ich jage einer Fata Morgana hinterher."

"Bestimmt. Und da ist übrigens noch etwas! Brannigan nahm seit einem halben Jahr Therapiestunden bei einem Psychologen."

"Weswegen?"

"Anfänge von Paranoia, Bount. Verfolgungswahn."

"Deshalb die Pistole!"

"So ist es. Er hatte sie immer im Handschuhfach liegen."

"Nahm er Medikamente?"

"Ja, Beruhigungsmittel. Aber nur in den Mengen, die ihm der Arzt verschrieben hat." Rogers seufzte. "Die Sache ist abgeschlossen, Bount. Und ich habe nicht die Absicht, den Aktendeckel noch einmal zu öffnen."

"Und eine weitere Untersuchung?"

"Wird es nicht geben. Die Leiche ist frei!"

"Liegt sie noch im Leichenschauhaus?"

"Ja, und wartet darauf, dass sie jemand abholt, um sie zu beerdigen. Warum bohrst du so hartnäckig in der Sache herum, Bount? Was glaubst du, könnte eine weitere Untersuchung bringen?"

Bount zuckte die Achseln. "Was weiß ich! Hinterher ist man immer schlauer! Aber stell dir mal vor, jemand hätte Brannigan etwas eingeflößt..."

"Etwas, dass ihn so wild macht, dass er um sich schießt? Brannigan war so gut wie abstinent! Die einzige Droge, die er in großen Mengen konsumierte, war Kaffee!"

"Und wenn es etwas war, wonach man nicht gesucht hat?" Rogers machte eine wegwerfende Handbewegung. "Komm schon, jetzt fängst du an, dich lächerlich zu machen Bount! Bei aller Freundschaft!"

Bount lächelte dünn. "Ich weiß, Toby. Aber will diese Möglichkeit zumindest sicher ausschließen können, verstehst du?"

Rogers stellte geräuschvoll die Kaffeetasse auf den Tisch und schüttelte dann energisch den Kopf. "Ich kann die Sache nicht noch mal aufrollen und für eine Obduktion sorgen, nur weil eine Klientin von dir irgendeinen vagen Verdacht hat oder sich nicht erklären kann, wie aus dem netten, dynamischen Mann an ihrer Seite plötzlich ein Monster wird! Das ist ihr Problem und damit muss sie - fürchte ich - auch ganz allein fertig werden!"

4

Joanne Carter bewohnte eine sicher nicht billige Wohnung in Midtown Manhattan. An der Tür war noch immer auch Walt Brannigans Name zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie es einfach noch nicht übers Herz gebracht, das Schild abzunehmen. Als sie Bount Reiniger die Tür öffnete, schien sie im ersten Moment ein wenig verwundert zu sein.

"Sie, Mister Reiniger?"

"Ich dachte, ich schau mir mal, wie Walt Brannigan gelebt hat!"

"Kommen Sie herein!"

Bount nickte und trat in eine sachlich und sehr modern eingerichtete Wohnung.

"Was machen Sie eigentlich beruflich?"

"Ich habe einen Job in einem Makler-Büro."

"Immobilien?"

"Ja."

Bount sah sie an und meinte dann: "Ich will ganz offen sein: Bis jetzt habe noch nicht viel herausfinden können." Sie zuckte mit den Schultern. "Das wäre wohl auch etwas zuviel verlangt."

"Die Leiche ist freigegeben. Wenn Sie wollen, dann gebe ich Ihnen die Adresse eines Bekannten, der früher bei der Gerichtsmedizin war und sich dann selbstständig gemacht hat." Bount zuckte die Achseln. "Ich habe schon ab und zu mit ihm zusammengearbeitet. Wenn wirklich etwas medizinisch Greifbares übersehen wurde, das die plötzliche Wandlung Ihres Freundes erklären könnte, dann wird er es finden! Von Polizei und Staatsanwaltschaft ist in der Hinsicht wohl nichts mehr zu erwarten. Der Fall gilt als abgeschlossen, und solange nicht neue Indizien vorgelegt werden, kann auch mein Freund Rogers von der Mordkommission da nichts machen."

Sie nickte. "Gut", meinte sie.

"Hat Brannigan noch Angehörige?"

"Nur seine Mutter, soweit ich weiß. Sie wohnt in Queens."

"Das ist ja sozusagen gleich um die Ecke. Kennen Sie sie?"

"Ja, wir verstehen uns großartig."

"Das ist gut. Reden Sie mit ihr, denn sie wird ein Wörtchen mitzureden haben, was die Leiche Ihres Freundes angeht. Wenn Sie beide verheiratet gewesen wären, wäre das etwas unkomplizierter."

"Das wird schon klappen", meinte sie zuversichtlich.

"Ich würde gerne Brannigans persönliche Sachen ansehen. Er wohnte hier zusammen mit Ihnen, nicht wahr?"

"Ja." Sie bewegte den Kopf ein wenig zur Seite. "Kommen Sie mit, Mister Reiniger. Das meiste, was Sie hier sehen, stammt von ihm. Er hat hier zuvor allein gelebt. Ich bin zu ihm gezogen, verstehen Sie?" Sie führte Bount zu Brannigans Schreibtisch. "Ich habe alles so gelassen", meinte sie.

"Hat sich die Polizei das angesehen?"

"Ja."

"Ist etwas mitgenommen worden?"

"Nein. Mit Ausnahme einer Packung Beruhigungspillen und dem dazugehörigen Rezept."

"Die Schublade hier ist abgeschlossen", stellte Bount fest.

"Haben Sie den Schlüssel?"

Sie nickte. Dann drehte sie sich um und ging.

Währenddessen wandte sich Bount dem Büroschrank zu, der nicht abgeschlossen war. Er bestand aus metallenen Laden, in denen jeweils Dutzende von Hängemappen zu finden waren. Es schien sich dabei vorwiegend um technische Zeichnungen und Entwürfe zu handeln. Dazu Notizen und Berechnungen. Für jemanden, der nichts davon verstand, wirkte das wie Chinesisch.

Bount öffnete die nächste Lade und schaute flüchtig in die Hängemappen. Eine war voll mit Quittungen, die Brannigan vermutlich für die Steuer gesammelt hatte, eine andere enthielt aus Zeitschriften herausgerissene Kochrezepte. Mitten dazwischen lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem Brannigan offenbar sehr intensiv gelesen hatte. Jedenfalls waren Passagen mit einem grellgrünen Textmarker gekennzeichnet. Bount nahm das Buch heraus und warf einen Blick auf den nach hinten geknickten Umschlag. Angstneurosen - Ursachen, Diagnose und Therapie lautete der Titel. Offenbar ein populärwissenschaftlicher Taschenbuch-Ratgeber.

Indessen war Joanne mit dem Schlüssel zurück und gab ihn Bount. Der Privatdetektiv gab ihr dafür das Buch. "Walt Brannigan hatte psychische Probleme, nicht wahr?" Sie sagte nichts. Sie nahm das Buch an sich, ohne einen Blick darauf zu werfen und nickte dann.

"Ja."

"Er war in Therapie. Ich nehme an, Sie wussten das."

"Wenn ich es Ihnen gesagt hätte, hätten Sie den Fall nicht übernommen, Mister Reiniger! Dann wäre die Sache für Sie genauso klar gewesen, wie für die Polizei!"

Bount zuckte die Achseln. "Wahrscheinlich haben Sie recht! Und vielleicht ist es noch nicht zu spät, um die Sache aufzugeben!"

"Mister Reiniger! Nur, weil jemand ein paar Probleme hat, muss er noch lange nicht zu einem Killer werden, der ohne jeden Grund auf irgendwelche Menschen schießt!"

"Paranoia ist nicht irgendein kleines Problem, Miss Carter!"

"Ich weiß. Aber Walt war nicht verrückt!" Sie seufzte. "Wie soll ich es Ihnen nur erklären?", stieß sie dann hervor. Unterdessen öffnete Bount die Schublade. "Walts Ängste hatten einen realen Hintergrund", erklärte Joanne Carter dann. Bount zog die Augenbrauen in die Höhe. "Ach, ja?"

"Vor acht Jahren ist Walt auf offener Straße überfallen worden. Er war zusammen mit einem Freund unterwegs, der dabei ums Leben kam. Die Mugger glaubten wohl, dass er irgendeinen Trick versuchen wollte und haben drauflos geschossen."

"Sie kennen die Geschichte nur aus Brannigans Erzählung, nehme ich an..."

"Was wollen Sie damit sagen? Es war ein traumatisches Erlebnis und seitdem hatte er auch die Waffe bei sich." Sie zuckte die Achseln. "Wir haben nicht oft darüber gesprochen. Es war Walt unangenehm und ich wollte nicht in der Wunde herumbohren."

"Bei wem war er in Therapie?"

"Bei einem gewissen Dr. Stanley. Aaron Stanley, glaube ich."

"Wenn Sie noch etwas wissen, erzählen Sie es mir besser. Von diesem Dr. Stanley werde ich es kaum erfahren. Der wird sich auf seine Schweigepflicht berufen!"

Sie nickte.

Bount sah sich den Inhalt der Schublade an. Er fand eine Straßenkarte von Vermont und einige zusammengerollte Bilder. Aquarelle und Kohlezeichnungen in verschiedenen Formaten. Bount zeigte Miss Carter die Blätter. "Kennen Sie die?"

"Nein. Ich wusste gar nicht, dass er sich künstlerisch betätigte."

"Die Sachen sind datiert... Ungefähr jede Woche eins."

"Ich schätze, dass er sie während seiner wöchentlichen Therapie-Sitzungen gemalt hat", meldete sich nun Joanne zu Wort.

"Haben Sie nie mit ihm darüber gesprochen, was dort ablief?"

"Nein. Und das ist jetzt die Wahrheit. Er meinte, dass das allein seine Sache sei und er damit fertig werden müsste." Einige der Bilder zeigten offenbar die Szene des Überfalls. Der tote Freund, die Mugger. Es war alles deutlich zu sehen. Dann nahm sich Bount die Karte von Vermont vor. Eine Stelle war markiert.

"Was könnte das zu bedeuten haben?", fragte Bount.

"Keine Ahnung", kam die Antwort. "Vor ein paar Wochen war Walt mal in Vermont. Ich glaube, das muss etwas mit seiner Arbeit zu tun haben. Aber über den Job haben wir nie gesprochen. Das eine feste Regel in unserer Beziehung." Zum Teufel mit dieser Regel!, dachte Bount. Ohne sie wäre es vielleicht einfacher gewesen, in der Sache voranzukommen.

5

Das Ingenieur-Büro P. McGreedy war eine hervorragende Adresse im Brückenbau, wenn man den Informationen glauben schenken konnte, die Reinigers Assistentin June über diese Firma eingeholt hatte.

Als Bount am nächsten Tag dort auftauchte und die Büros im fünfzehnten Stock eines an der Third Avenue gelegenen Turms sah, schien es nicht geringsten Anlass zu geben, daran zu zweifeln.

Wer sich Geschäftsräume leisten konnte, die eine solche Top-Adresse hatten, der musste sehr gut und sehr erfolgreich sein.

Ein Mann mit dunklem Teint und dünnem Oberlippenbart reichte Bount die Hand und zeigte ihm bei seinem geschäftsmäßigen Lächeln zwei Reihen blitzender Zähne. Dieses Lächeln war gut einstudiert. Aber es sagte nichts aus, sondern war reine Maske.

"Mein Name ist Hernandez. Ich nehme an, Sie kommen von Miller Inc. und wollen die Entwürfe sehen. Man hat mir schon gesagt, dass..."

"Mein Name ist Reiniger und ich komme nicht von Miller Inc.", unterbrach ihn Bount.

Jetzt erst schien Hernandez Bount etwas genauer anzusehen. Er runzelte für einen Moment die Stirn und meinte dann: "Macht ja nichts. Vielleicht kann ich Ihnen trotzdem weiterhelfen."

"In diesem Ingenieurbüro war ein Mann namens Brannigan tätig..."

Ein Schatten flog augenblicklich über Hernandez Gesicht. Seine aufgesetzte Freundlichkeit war wie weggeblasen.

"Was soll die Fragerei? Ich dachte, die Polizei hätte dieses leidige Kapitel endlich abgeschlossen!"

"Hat sie auch. Aber ich interessiere mich trotzdem dafür."

"Sie sind von der Presse, stimmt's? Machen Sie, dass Sie rauskommen!"

"Ich bin Privatdetektiv und ermittle im Auftrag von Brannigans Lebensgefährtin. Sie kommt über die Sache nicht so leicht hinweg!"

Herandez musterte Bount abschätzig von oben bis unten und meinte dann: "Um so schändlicher von Ihnen, dass Sie aus der Geschichte noch Geld zu machen versuchen!" Er verzog das Gesicht und versuchte damit, Verachtung zu signalisieren. Aber seine Maske funktionierte diesmal nicht so ganz. Es war nicht Verachtung Bount gegenüber, die Hernandez in erster Linie empfand. Da war noch irgendetwas anderes, das viel stärker war. Bount konnte es deutlich spüren.

"War Brannigan ein guter Ingenieur?", fragte Bount.

"Schon möglich!", knirschte Hernandez. "Wissen Sie was? Bei mir sind Sie an der falschen Adresse, wenn Sie etwas über Brannigan erfahren wollen."

"Haben Sie nicht zusammengearbeitet?"

"Ich hatte kaum Kontakt zu ihm."

"Mochten Sie ihn nicht?"

"Nein." Er atmete tief durch. "Und Ihre Fragerei mag ich genauso wenig!"

Plötzlich durchschnitt eine energische Frauenstimme die stickige Büroluft und ließ die beiden Männer herumwirbeln.

"Darf ich vielleicht erfahren, worum es hier geht?" Die Frau war eine echte Schönheit. Das enganliegende Kleid zeichnete ihre perfekte Figur ziemlich genau nach. Sie hatte blondes, lockiges Haar, aber Bount schätzte, dass weder die Locken, noch die blonden Haare echt waren. Aber das machte nichts. Beides stand ihr hervorragend.

Hernandez wandte Bount noch einen recht giftigen Blick zu und ging dann wortlos davon. Bount zuckte mit den Schultern, sah ihm kurz nach und wandte sich dann dem schönen Lockenkopf zu.

"Mein Name ist Reiniger. Ich Privatdetektiv und interessiere mich für die Walt Brannigan-Story."

Sie reichte ihm die Hand.

"Pamela McGreedy."

"Draußen steht P. McGreedy. Das sind Sie?"

"Sie sind nicht der erste, den das überrascht. Das zwanzigste Jahrhundert ist zwar fast zu Ende, aber wenn eine Frau behauptet, dass sie Brücken konstruieren kann, sind viele noch immer ziemlich skeptisch."

Bount lächelte dünn. "Aber der Firma P. McGreedy scheint es trotzdem recht gut zu gehen!"

"Wir arbeiten hart dafür." Sie musterte Bount, trat etwas näher an ihn heran und sagte dann in einem ganz anderen, viel weicheren Ton: "Sie sagten, Sie wären wegen Brannigan hier."

"So ist es."

"Kommen Sie in mein Büro. Ein paar Minuten habe ich für Sie!"

Wenig später waren sie allein und als Bount ihr gegenübersaß und so hinter ihrem Schreibtisch sitzen sah, konnte er das Gefühl nicht loswerden, dass sie es war, die etwas von ihm herauszubekommen versuchte.

"Sehen Sie, Mister Brannigan war einer unserer besten Leute. Sympathisch, sehr gewissenhaft. Es ist mir ein Rätsel, was da plötzlich in ihn gefahren ist!"

"Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?"

"An dem Tag, an dem er Amok lief. Das war vielleicht so gegen Mittag. Ich bin dann noch zu einer Baustelle hinausgefahren!"

"Ist Ihnen etwas an ihm aufgefallen?"

"Nein!" Sie schüttelte energisch den Kopf. "Er war wie immer. Für wen arbeiten Sie eigentlich? Für seine Lebensversicherung?"

"Ich wüsste nicht, dass Mister Brannigan eine hatte."'

"Wer dann? Seine Freundin?"

"Kennen Sie Miss Carter?"

Sie nickte. "Ja, wir sind uns mal auf einer Party begegnet. Hören Sie, Mister Brannigan stand uns allen hier sehr nahe und die Sache hat mich persönlich tief getroffen..." Bount sah ihr gleich an, dass da noch etwas kommen musste. Sie wollte auf etwas anderes hinaus, druckste noch ein paar Sekunden herum und beugte sich dann etwas vor: "Vielleicht könnten Sie mich über den Fortgang Ihrer Ermittlungen auf dem Laufenden halten! Meinetwegen gegen entsprechendes Honorar." Bount lächelte dünn.

"Tut mir leid! Zwei Klienten in derselben Sache, das ist einer zuviel. So etwas mache ich aus Prinzip nicht!" Sie setzte das charmanteste Lächeln auf, dass sie auf Lager hatte. "Keine Ausnahme möglich?"

"Nein."

Bount erhob sich. Die Unterhaltung nahm eine Richtung, die ihm nicht gefiel. "Ich werde vielleicht noch einmal vorbeikommen."

"Tun Sie das. Und vielleicht überlegen Sie sich mein Angebot noch einmal. Ich würde finanziell nicht kleinlich sein."

"Ich frage mich, warum es Ihnen so verdammt viel wert ist. Bauen Sie eigentlich auch Brücken in Vermont?" Vielleicht eine halbe Sekunde lang stutzte sie. Dann blitzten ihre weißen Zähne bei einem Lächeln.

"Wir bauen überall Brücken, wenn uns jemand den Auftrag gibt!", erklärte sie. "Warum fragen Sie?"

"Nur so."

6

Pamela McGreedy atmete tief durch, nach dem der athletisch gebaute Privatdetektiv den Raum verlassen hatte. Wir hätten uns unter anderen Umständen kennenlernen sollen!, dachte sie, denn sie fand, dass er ein überaus attraktiver Mann war. Aber so standen sie und Reiniger vielleicht auf verschiedenen Seiten... Abwarten!, dachte sie, stand auf und ging zum Fenster um einen Blick hinab in das Gewimmel der Straßenschlucht zu werfen.

Als sie merkte, dass sich hinter ihr die Tür öffnete, drehte sie sich wieder herum. Es war Hernandez, der sich da in ihr Büro geschlichen hatte.

"Frank!"

"Was wollte dieser Schnüffler von dir?"

"Dasselbe wie von dir", gab Pamela kühl zurück und musterte den Mann mit dem dunklen Teint, dessen Gesichtsfarbe ein wenig blasser als üblich geworden war. Er hat keine Nerven!, dachte Pamela. Dann stellte sie sachlich fest: "Er hat Vermont erwähnt."

"Was?" Hernandez' Kinnladen fiel herunter, und er vergaß einige Augenblicke lang, seinen Mund wieder zu schließen.

"Was bedeutet das, Pam?"

"Keine Ahnung."

"Und wie hat der Kerl davon erfahren?"

Pamela hob die Arme. Sie wirkte hilflos. "Ich weiß es nicht, Frank!"

Hernandez schluckte. Seine Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. Er trat jetzt näher und baute sich vor Pamela auf. "Wir müssen etwas unternehmen!", meinte er.

"Nun verlier mal nicht gleich die Fassung, Frank! Wir wissen ja noch nicht einmal, wie viel dieser Reiniger überhaupt weiß..."

"Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie..."

"Hör zu, Frank! Ich bin hier der Boss! Für mich geht es um mindestens genauso viel, wie für dich!"

"Okay, okay..."

Hernandez hob beschwichtigend die Hände. Dann fuhr er sich mit einer fahrigen Geste durch das dunkle Haar. "Ob Brannigan vielleicht noch irgendwo Material über die Vermont Sache hatte? Das würde erklären, weshalb dieser Reiniger Bescheid wusste!"

"Wenn wir jetzt etwas tun, wecken wir vielleicht nur schlafende Hunde, Frank! Nimm einen Drink oder irgendetwas anderes, das dich beruhigt und sieh zu, dass du für unsere Firma ein bisschen Geld verdienst!"

7

"Wie konnte man so etwas übersehen?", fragte Bount an Dr. Clifford gewandt. Clifford war ein erfahrener Mann, der fast zehn Jahre in der Gerichtsmedizin tätig gewesen war. Aber eine eigene Praxis brachte mehr Geld, als jede noch so gute Anstellung und so hatte er sich eines Tages doch noch selbstständig gemacht.

Dr. Clifford hob die Schultern.

"So etwas kann schon mal geschehen, Reiniger. Sie wissen doch, wie das an einem Tatort zugeht! Jede Menge Hektik. Und steht ein ungeduldiger Detective hinter dir und will alles mögliche wissen! Außerdem kann das, was an äußeren Anzeichen eventuell noch zu sehen war genauso gut auf die Beruhigungsmittel zurückzuführen sein, die Brannigan regelmäßig nahm."

"Aber für Sie gibt es keinen Zweifel?"

"So ist es. Walt Brannigan stand unter dem Einfluss einer synthetischen Droge. Vermutlich eine Injektion... Der kleine Einstich ist dem Gerichtsmediziner neben den schlimmen Schussverletzungen wohl nicht weiter aufgefallen. Mir ist das auch schon passiert. Wenn man eine Leiche mit mehreren Einschüssen vor sich hat, neigt jeder dazu, das Urteil schon im Kopf gefällt zu haben, bevor die Fakten da sind!"

"Kennen Sie das Zeug, das Sie bei ihm gefunden haben?"

"Nein. Aber das ist nicht verwunderlich. Diese Sachen werden heute in kleinen Labors gemixt. Am Computerschirm konstruiert man sich Moleküle mit annähernd beliebigen Eigenschaften. Die Behörden können die Stoffe kaum so schnell analysieren und verbieten, wie sie erfunden werden."

"War Brannigan süchtig?"

"Ganz ausschließen kann ich das nicht. Aber dann hätte ich größere Konzentrationen in den inneren Organen vermutet. Ich denke, dass er dieses Zeug noch nicht lange genommen hat, vielleicht sogar zum ersten Mal. Und dann ist da noch etwas." Bount hob die Augenbrauen. "Nur raus damit."

"Er hat an Armen und Beinen Blutergüsse."

"Von denen stand auch etwas im Polizeibericht. Aber der Arzt hat es darauf geschoben, dass Brannigan erstens gestürzt ist, als man ihn erschoss und zweitens vielleicht jemand versucht hat, ihn festzuhalten."

Aber Clifford schüttelte den Kopf. "Der Arzt wusste ja auch nicht, dass Brannigan mit diesem Teufelszeug vollgepumpt war..."

"Und wonach sieht das Ihrer Meinung nach aus?"

"Er wurde festgehalten und hat sich gewehrt! Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass er sich die Spritze selbst gesetzt hat - so wie die Einstichstelle liegt. Meiner Ansicht nach gehört Brannigan dorthin, wo er gerade hergekommen ist. In die Gerichtsmedizin!"

8

Das Mega Star war ein Glitzerladen der Sonderklasse, kaum ein halbes Jahr alt und nichts für schmale Brieftaschen. Hier trafen sich Leute, die es geschafft hatten und sich in gepflegter, modern gestylter Atmosphäre amüsieren wollten.

Aber das Mega Star war auch ein Ort an dem synthetische Drogen umgeschlagen wurden. Die Drogenfahnder hielten noch still. Sie waren nicht an den kleinen Fischen interessiert, sondern wollten die großen Hintermänner.

Bount bestellte sich an der Bar einen Champagner. Die Flasche war sündhaft teuer, dafür war immerhin das Lächeln der wohlproportionierten Bedienung umsonst.

Bount saß eine Weile einfach nur da, nippte an seinem Champagner und beobachtete die Leute. Das flimmernde Laserlicht, die Musik... Das alles wirkte ermüdend und förderte nicht gerade die Konzentration. Und dann glaubte Bount plötzlich, seinen Augen nicht mehr zu trauen!

Eine Sekunde lang war er sich nicht ganz sicher, aber im nächsten Moment traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. Zwischen all den herausgeputzten Schickeria-Typen bewegte sich Pamela McGreedy mit der ihr eigenen Geschmeidigkeit. Sie hatte Bount noch nicht gesehen, und das war vielleicht auch besser so.

Pamelas Gesicht schien ziemlich ernst zu sein, fast angespannt. Besonders gut zu amüsieren schien sie sich nicht. Den einen oder anderen, der ihr begegnete, grüßte sie knapp. Sie war also nicht zum ersten Mal hier.

Schließlich ging sie zur Bar und sprach dort einen Mann an, dessen zurückgekämmtes Haar von der Pomade glänze, die er sich da hineingeschmiert hatte.

Was dann zwischen den beiden über die Bühne lief, war nichts anderes, als ein lupenreiner Deal. Und keiner von beiden machte sich die Mühe, es irgendwie zu verbergen. Warum auch?

Der Mann mit den Pomade-Haaren verdrückte sich dann ziemlich schnell, während Pamela McGreedy an der Bar blieb. Bount nahm seinen Champagner und ging zu ihr. Als sie ihn erkannte, schien sie nicht einmal besonders überrascht zu sein. Aber vielleicht konnte sie ihr Erstaunen auch nur besonders gut verbergen.

Jedenfalls hob sie die Augenbrauen und murmelte dann: "Welch eine Überraschung, Bount Reiniger! Ich habe Sie noch nie hier gesehen..."

"Ich war auch noch nie hier!"

Sie lächelte. "Beschatten Sie mich jetzt etwa?"

"Warum nicht?"

Sie zuckte die Achseln und lachte dann sogar. Schließlich meinte sie: "Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich über Walt Brannigan weiß."

"Ich bin inzwischen etwas schlauer geworden. Sie wollten es doch unbedingt wissen, wenn ich etwas herausgefunden habe."

"Haben Sie Ihre Meinung geändert?"

Bount grinste und zündete sich dabei eine Zigarette ab. "Ich sage es ihnen sogar umsonst, Miss McGreedy! Aber vielleicht sollten Sie erst einmal etwas von dem Zeug nehmen, dass Sie gerade von Kerl mit den fettigen Haaren gekauft haben." Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich jetzt deutlich. Sie war ärgerlich, machte aber dann doch gute Miene zum bösen Spiel. Das hatte sie in ihrem Job gelernt. "Wollen Sie auch etwas, oder warum fragen Sie?"

"Danke, nein."

"Sehen Sie, es geht in meiner Branche ziemlich hart zu. Wenn man nicht aufpasst ist man schneller weg vom Fenster, als man sich das in den schlimmsten Alpträumen vorstellen kann." Ihre Züge wurden jetzt weicher. Ein Lächeln stand plötzlich in ihrem Gesicht und umspielte ihre vollen Lippen.

"Brannigan war vollgepumpt mit einem solchen Muntermacher."

Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. "Ach, wirklich? Um ehrlich zu sein: Das Gegenteil hätte mich mehr überrascht!"

"Vielleicht hat er es nicht freiwillig genommen", murmelte Bount wie beiläufig.

Sie verengte ein wenig die Augen. "Was soll das heißen?"

"Das soll heißen, dass es Anzeichen dafür gibt, dass Brannigan das Zeug gewaltsam verabreicht, und er dann hinter das Steuer seines Wagens gesetzt wurde."

"Warum sollte jemand so etwas tun?" Bount spürte ihre innere Unruhe jetzt sehr deutlich.

"Um ihn zu töten. Wenn man mit so einer Dosis am Steuer sitzt, ist ein Unfall praktisch vorprogrammiert."

"Aber Walt Brannigan hatte keinen Unfall, Mister Reiniger!"

"Er ist nicht weit gefahren. Jeder reagiert anders auf diese Substanzen. Brannigans Mörder konnte nicht damit rechnen, dass sein Opfer unter einem Trauma litt und immer eine Pistole im Handschuhfach hatte..."

Pamela sah Bount nachdenklich an und meinte dann: "Sie scheinen wirklich zu glauben, was Sie da sagen!"

"Das ist noch nicht alles", fuhr Bount fort. "Das Zeug, das man bei Brannigan gefunden hat ist noch nicht lange auf dem Markt. Dreimal dürfen Sie raten, wo zum ersten Mal aufgetaucht ist!"

"Na, wo schon! Hier in diesem Laden vielleicht?"

"Ja."

Sie zuckte mit den Achseln, als würde sie das nicht weiter interessieren. Aber das Gegenteil war der Fall, Bount konnte es ihr deutlich anmerken. "Es gibt hier öfter mal etwas Neues", meinte sie wie beiläufig dazu. "Und das in jeder Beziehung." Sie hob das Glas und stieß mit Bount an.

"Wer hätte ein Motiv gehabt, um Brannigan umzubringen?"

"Sie nehmen den unwahrscheinlichsten Fall an, Mister Reiniger. Ich glaube nicht an Mord."

"Das ist inzwischen keine Glaubensfrage mehr, Miss McGreedy."

"Nennen Sie mich Pam, so wie alle anderen. Und lassen Sie uns um Gottes Willen jetzt über etwas anderes reden!" Sie trank ihr Glas aus und ließ es sich Barmixer wieder auffüllen.

"Was ist mit Hernandez?"

"Was soll mit ihm sein?"

"Er schien nicht gut auf Brannigan zu sprechen gewesen zu sein. Warum eigentlich?"

"Rivalitäten gibt es in jeder Firma. Brannigan war immer ein bisschen besser als er, das konnte er nicht vertragen. Hernandez ist Latino und glaubt immer, dass er deshalb benachteiligt würde. Aber das ist Unfug - zumindest, was unsere Firma angeht."

"Bei Ihnen gibt es auch eine gewisse Nora Gaynor, nicht wahr?"

"Von der Geschichte wissen Sie also auch schon. Sie scheinen gut in Ihrem Job zu sein."

"Ich tue mein Bestes."

"Nora arbeitet nicht mehr bei uns. Nachdem ihre Vergewaltigungsanklage gegen Brannigan fallengelassen wurde, hat sie gekündigt."

"Und was war dran an der Sache?"

Pamela zuckte die Achseln. "Keine Ahnung, was wirklich dahinter steckte. Brannigan hatte ein Alibi. Er war auf einer Feier und wurde von zwei Dutzend Menschen zu genau der Zeit gesehen, als er angeblich versucht haben soll, über Nora herzufallen." Sie trat etwas näher an Bount heran und meinte dann: "Geben Sie die Sache auf! Sie sind auf dem Holzweg."

"Es wundert mich, dass Sie da so sicher sind!"

"Ihr Ton gefällt mir nicht, Bount! Verdächtigen Sie am Ende vielleicht sogar noch mich?"

"Was wäre, wenn sich herausstellt, dass Sie haargenau denselben Stoff nehmen, der aus Walt Brannigan einen Berserker machte?"

Sie nestelte etwas an Bounts Jackenrevers herum und meinte dann kühl: "Irgendwie schmeckten die Drinks hier auch schon einmal besser!" Dann stellte sie ihr Glas auf den Tresen und ging wortlos davon. Bount blickte ihr und fragte sich, was für eine Rolle sie in Bezug auf Brannigan wirklich gespielt hatte. Jedenfalls sagte sie ihm nicht alles, was sie wusste. Bount trank sein Glas aus und sah dann den Pomade-Mann sich zwischen den Leuten hindurchschlängeln. Seinem Gesichtsausdruck zu Folge liefen seine Geschäfte nicht eben schlecht.

Der Privatdetektiv beobachtete ihn eine ganze Weile lang, Dann verschwand der Kerl schließlich durch einer Tür, durch die es zum Notausgang und zu den Toiletten ging.

Vielleicht war das eine Gelegenheit, sich mal ein bisschen mit ihm zu unterhalten. Selbst, wenn er das Zeug, das Dr. Clifford in Brannigans Leiche gefunden hatte, nicht selbst verdealte, wusste er vielleicht, woher es kam.

Bount ging ihm nach und kam durch einen engen, kahlen Flur.

Bei den Türen, die zu den Toilettenräumen führte, blieb er kurz stehen. Jemand betätigte eine Spülung und einige Sekunden später kam der Pomade-Mann aus einer der Kabinen heraus und zog dabei noch den Reißverschluss seiner Hose zu. Als er Bount in der Tür stehen sah, erstarrte er unwillkürlich und unterzog den Privatdetektiv einer knappen Musterung. Dann ging der Dealer zum Waschbecken, um sich die Hände zu Waschen. Über den Spiegel behielt er Bount dabei ständig im Auge.

"Was gibt es zu glotzen?", knurrte er.

"Du verkaufst hier Sachen zum Muntermachen, nicht wahr?"

"Bist du ein Bulle?"

"Keine Sorge", wehrte Bount ab.

Der Pomade-Mann drehte sich herum. Er trug ein ziemlich weites Jackett, aber als er sich eines der Einweg-Handtücher griff, konnte Bount deutlich die Ausbuchtung unter der Achsel sehen. Vielleicht ein Schulterholster.

"Du hast aber diesen Ton!", zischte der Pomade-Mann Bount an.

"Dann hast du dich eben verhört. Ich will mich nur ein bisschen mit dir unterhalten..."

Der Pomade-Mann schien ziemlich misstrauisch zu sein, was in seiner Branche auch sicher angebracht war. Jedenfalls griff er blitzschnell unter sein Jackett. Bount hatte diese Bewegung vorausgeahnt und so war er vorbereitet, als sein Gegenüber einen Augenblick später mit dem kurzen Lauf eines 38er Revolvers auf den Privatdetektiv zeigte.

Aber Bounts Reaktion war blitzschnell.

Er ließ den Fuß hochschnellen und kickte dem Dealer die Waffe aus der Hand. Sie fiel geräuschvoll gegen eine der leichten Kunststoffwände, die die einzelnen Toilettenkabinen voneinander trennten und hinterließ dort ein paar Kratzer. Nur den Bruchteil eines Augenblicks verging, da hatte Bount den Pomade-Mann am Kragen gepackt und grob gegen die Wand gedrückt. Ohne Revolver in der Hand, schien er sich nicht zu trauen, etwas gegen Bount zu unternehmen, denn körperlich war er dem Detektiv unterlegen.

Blitzschnell durchsuchte Bounts Linke die Taschen des Mannes. Er fand einen Führerschein auf den Namen Arnold Parker, ein Springmesser und natürlich das Stoffsortiment. Das Springmesser nahm Bount an sich, den Rest beließ er dem Kerl.

"Worum geht es?", knirschte Parker. "Wenn du nicht zu den Bullen gehörst, bist du wahrscheinlich einer von Buzzatis Bluthunden!"

Wahrscheinlich die Konkurrenz!, dachte Bount. "Hör zu!", sagte der Privatdetektiv dann. "Was du hier treibst, interessiert mich nicht sonderlich, aber ich kann dir eine Menge Schwierigkeiten machen!"

"Was willst du?"

"Eine Auskunft!"

"Schieß los!"

"Hast du zufällig etwas Neues in deinem Angebot?"

Er verzog das Gesicht. "Ich habe immer das Allerneuste. Was soll die Frage?"

"Es geht um eine Substanz, die mit der Abkürzung DSE bezeichnet wird!"

"Diese Sachen haben viele Namen!"

"Ja, aber mit dieser Substanz ist ein Mann vollgepumpt und dann hinter das Steuer seines Wagens gesetzt worden!"

"Keine Ahnung, was du meinst." Er wandte das Gesicht ab.

"Du hast sicher davon gehört!"

"Glaube ich nicht!"

"Es geht um den Amokläufer, der in einer Geschäftspassage fünf Menschen umgebracht hat!"

"Damit habe ich nichts zu tun!"

Bount packte ihn fester.

"War Walt Brannigan ein Kunde von dir?" In dieser Beziehung musste Bount sicher gehen.

"Ich kenne die Namen meiner Kunden nicht...", erwiderte Parker schwach.

Bount ließ ihn los und zog ein Foto hervor. Parker warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte dann den Kopf. "Kenne ich nicht."

In der nächsten Sekunde bemerkte Bount mit den Augenwinkeln eine blitzschnelle Bewegung. Ehe er ausweichen konnte, war es auch schon zu spät. Ein harter Schlag traf ihn am Kopf und er taumelte zurück. Ein Tritt vor den Solar Plexus raubte ihm für den Bruchteil eines Augenblicks die Luft und ließ ihn zu Boden gehen. Dem nächsten Tritt konnte er gerade noch dadurch ausweichen, dass er sich auf den glatten Fliesen herumdrehte.

Bount sah ein paar klobiger Stiefel. Als er aufblickte, grinste ihn ein sommersprossiges, breites Gesicht an. Am Kinn war eine Narbe, die einen kleinen Halbkreis bildete. Die rotblonden Haare waren kurzgeschoren und zeigten steil nach oben. Reiniger war alles andere, als ein kleiner Mann, aber dieser Kerl überragte ihn noch um einen halben Kopf.

Er fletschte die Zähne und blieb dann wie eine versteinerte Drohung stehen. "Was wollte dieser Wurm?", fragte er an Parker gewandt.

Parker ging indessen ein paar Schritte, nahm seine Pistole wieder an sich und zupfte sich dann sein Jackett glatt. "Dürfte sich erledigt haben, Bill."

"Einer von Buzzatis Leuten?", fragte der Rothaarige. Parker zuckte mit den Achseln. "Alles andere wäre unlogisch, was immer der Kerl auch behauptet. Er wollte wissen, woher wir das neue Zeug haben." In Parkers Gesicht zeigte sich so etwas wie Triumphgefühl, als er Bount noch eines letzten Blickes würdigte. "Buzzatti will uns wahrscheinlich von unserer Quelle abschneiden..." Er lachte heiser und auf eine Weise, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. "Aber das ist die Hose gegangen! Wir werden in Zukunft etwas mehr aufpassen müssen!"

"Was soll ich mit dem Kerl machen?", fragte der rothaarige Bill. "Umlegen?"

Unter seiner Jacke holte er eine Pistole mit Schalldämpfer hervor.

Einen Moment lang schien alles in der Schwebe zu hängen. Parker wandte sich ab, ging drei Schritte zur Tür und blieb dann stehen, ohne sich umzuwenden.

Bount erwog indessen, blitzschnell unter sein Jackett zu greifen und die Automatic herauszureißen. Aber es war zu bezweifeln, dass er schnell genug sein würde. Der rothaarige Riese beobachtete ihn äußerst aufmerksam. Nicht die geringste Anspannung von Reinigers Muskeln und Sehnen schien ihm zu entgegen.

"Umlegen macht nur Komplikationen!", meinte Parker kalt.

"Du kannst ihn ein bisschen vermöbeln, so dass er für einige Wochen im Krankenhaus liegt und wir Ruhe vor ihm haben!" Parker strich sich mit der Rechten durch seine glänzenden Haare und ging dann davon.

Die Augen des Rothaarigen musterten Bount indessen kühl. Parkers Schritte verhallten im Flur. Er schien zur Hintertür hinauszugehen.

Aber dann war da noch ein Geräusch. Es kam von der Bar her. Jemand schien eine Tür zu öffnen und den Flur entlangzugehen.

Für einen sehr kurzen Augenblick war der rothaarige Bill nicht hundertprozentig bei der Sache. Bount riss die Automatic aus dem Schulterholster und rollte sich erneut auf dem Boden herum, während der nervöse Finger seines Gegenübers abdrückte. Bills Pistole machte 'plop!' und das Projektil kratzte dicht neben Bount an den Fußbodenfliesen. Aber als der Kerl dann in den Lauf von Bounts Automatic blickte, erstarrte er.

"Keine Bewegung!", zischte Bount. "Die Waffe auf den Boden!" Die Pistole klackerte auf die Fliesen und in Bills Gesicht stand die stumme Frage, weshalb sein Gegenüber ihn nicht gleich umgelegt hatte. Er selbst hätte umgekehrt sicher nicht gezögert. Dann kam ein Mann in den Toilettenraum. Anfang sechzig, graues, schütteres Haar, ein Anzug für tausend Dollar. Er blickte auf, als er einen Schritt durch die Tür gemacht hatte, runzelte die Stirn und begriff zu spät, was hier gespielt wurde. Bill hatte ihn schon gepackt und ihn mit einer ruckartigen Bewegung wie einen Schutzschild vor seinen Körper gezogen. Bount hätte sich zugetraut, Bills Kopf zu treffen. Aber das war es nicht wert. Er sah die Angst in den Augen grauhaarigen Mannes. Bill war vermutlich ohnehin nur ein Handlanger. Und Arnold Parker, der vielleicht etwas wusste, war sicher schon über alle Berge.

Bill schleifte den Grauhaarigen hinaus den Flur, gab ihm dann einen Stoß und warf ihn Bount entgegen. Gleichzeitig setzte der Gorilla zu einem Spurt an. Bount fing den Mann im Tausend-Dollar-Anzug auf, was ihn wertvolle Sekunden kostete. Die Tür zum Hinterausgang wurde geöffnet und wieder zugeschlagen.

"Was ist hier eigentlich los?", fragte der Grauhaarige, nachdem er zweimal tief durchgeatmet hatte. Bount steckte seine Waffe weg.

"Vergessen Sie's", meinte Bount zähneknirschend.

9

Joanne Carter runzelte die Stirn, als sie mit den übervollen Einkaufstüten im Arm vor ihrer Wohnungstür stand und feststellen musste, dass sie einen Spalt weit geöffnet war. Die Tür war aufgebrochen worden und es versetzte Joanne einen Stich, als sie erkannte, was bedeutete. Jemand hatte bei ihr eingebrochen.

Innerlich fluchte sie. Mir bleibt im Moment auch nichts erspart!, ging es ihr wütend durch den Kopf. Aber zum Glück hatte sie kaum Wertsachen in der Wohnung. Für das, was wirklich wichtig war, hatte sie ein Bankschließfach. Aber das tröstete sie nicht wirklich.

Mit dem Fuß öffnete sie die Tür ganz und ging hinein. Es musste ein sehr rücksichtsvoller Einbrecher gewesen sein. Jedenfalls schien es auf den ersten Blick so, als hätte er kaum Unordnung gemacht.

Joanne stellte die Einkaufstüten im Flur ab. Eine Sekunde lang dachte sie daran, dass der Täter vielleicht in der Wohnung war. Sie lauschte, hörte aber nichts.

Sie würde trotz allem die Polizei verständigen. Das Telefon stand im Wohnzimmer, also ging sie auf direktem Weg dorthin. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Notruf-Nummer. Während Sie wenig später einem Beamten vom Einbruchsdezernat zu schildern versuchte, was geschehen war, fiel ihr Blick auf Walt Brannigans Schreibtisch und seinen Büroschrank.

Das war es also gewesen, was der Einbrecher gesucht hatte. Dort war alles durchwühlt. Und dennoch - das Chaos hielt sich Grenzen. Wer immer auch hier gewesen war - er hatte ganz genau gewusst, was er wollte. Für den vergoldeten Füllfederhalter auf dem Schreibtisch hatte er sich zum Beispiel überhaupt nicht interessiert.

"Wir werden jemanden bei Ihnen vorbeischicken!", sagte die gestresst klingende Männerstimme am Telefonhörer.

"Tun Sie das!", erwiderte Joanne und legte auf. Sie atmete tief durch und wandte ein wenig den Kopf. Dann ließ ein Geräusch sie erstarren. Namenloses Entsetzen hatte auf einmal von ihr Besitz ergriffen. Mit den Augenwinkeln sah gerade noch etwas wie eine schemenhafte Gestalt und eine Bewegung.

Sie hob schützend die Hand, aber es ging zu schnell. Der Schlag war wuchtig genug, um sie hart zu Boden schlagen zu lassen. Mit dem Kopf kam sie dabei gegen die harte Kante des niedrigen Wohnzimmertisches. Einen Moment lang war sie wie weggetreten. Ihr war schwarz vor den Augen. Schwindel erfasste sie. Alles begann sich zu drehen, während ihre Rechte den Kopf berührte. Dunkel nahm sie wahr, dass sie aus einer Wunde blutete.

Sie wollte sich herumdrehen und erheben, aber bevor es soweit war, kam der zweite Schlag.

10

Joanne Carter öffnete die Augen. Ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie Bount Reiniger sah. Sie lag in einem Krankenhausbett und hatte einen dicken Verband um den Kopf.

"Wie geht's Ihnen?", fragte Bount.

"Den Umständen entsprechend", meinte sie. "Der Arzt meinte, ich hätte Glück gehabt. Wenn der Kerl etwas fester zugeschlagen hätte, würden wir uns jetzt nicht mehr unterhalten können. Ich werde wohl noch eine ganze Weile hier in dieser Klinik bleiben müssen."

Bount nickte.

"Sind Sie sicher, dass es ein Mann war?" Sie zuckte mit den Schultern und versuchte sich aufzurichten, blieb aber doch in Kissen. Sie stöhnte etwas und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. "Mein Schädel hat, glaube ich, in meinem ganzen Leben noch nicht so gebrummt! Ich hoffe, das geht irgendwann wieder vorbei!"

"Bestimmt."

Sie seufzte. "Um ehrlich zu sein, Mister Reiniger: Ich habe nicht viel von dem Täter gesehen. Die Leute vom Einbruchsdezernat waren auch schon hier, um mich zu befragen. Ich konnte ihnen leider nicht weiterhelfen..."

"Aber Sie sind sich sicher, dass es ein Mann war?" Sie sah Bount etwas hilflos an. "Ich nehme es an", meinte sie.

"Hängt der Einbruch mit Walts Tod zusammen?" Bount nickte entschieden. "Das könnte durchaus sein. Seine Unterlagen sind das einzige, an dem der Täter interessiert gewesen ist."

"Wie reimen Sie sich das zusammen, Mister Reiniger?"

"Keine Ahnung. Ich weiß auch nicht genau, was fehlt. Mit einer Ausnahme. Da war eine Karte von Vermont..." Sie nickte. "Ich erinnere mich."

"Sie haben sie nicht irgendwohin getan?"

"Nein. Sie müsste dort liegen, wo Sie sie hingelegt haben, Mister Reiniger!"

"Dann hat sie der Einbrecher mitgenommen."

"Und warum?"

"Eine gute Frage. Hatte Ihr Freund in letzter Zeit in Vermont zu tun?"

"Vor einiger Zeit war er mal für zwei Tage dort."

"Hatte das mit seiner Arbeit im Ingenieur-Büro zu tun?"

"Ja. Jedenfalls hat er das gesagt. Die Sache hat ihn eine Weile ziemlich beschäftigt. Ich erinnere mich jetzt, dass er zwei Nächte über seinen Berechnungen gesessen hat."

"Worum ging es?"

"Ich habe ihn nicht gefragt. Warum auch? Für mich waren das alles nur Hieroglyphen, aber ich konnte mir ja denken, dass es um eine Brücke gehen musste. Es war auch nicht das erste Mal, dass Walt Arbeit mit nach Hause genommen hat..." Eine Schwester kam herein. Das charmante Lächeln verschwand augenblicklich, als sie Reiniger sah. "Miss Carter ist heute schon einmal befragt worden", stellte sie mit einem sehr bestimmten Unterton fest. Sie hatte ihre schlanken Arme in die geschwungenen Hüften gestemmt und wirkte sehr entschlossen. "Ich muss Sie bitten zu gehen, Lieutenant!" Bount grinste. So schnell, konnte man zum Polizei Lieutenant aufsteigen. "Eine Frage noch, Miss Carter: Sagt Ihnen der Name Arnold Parker etwas?"

Joanne überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.

"Nein. Nicht, dass ich wüsste."

"Wie ist Ihre Dienstnummer?", forderte die Schwester indessen. "Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten über Sie beschweren."

"Tun Sie das ruhig", lächelte Bount.

11

Während Bount hinter dem Steuer seines champagnerfarbenen 500 SL saß, meldete sich June von der Agentur aus.

"Ich hoffe du hast gute Nachrichten", meinte Bount.

"Ich habe etwas herumtelefoniert, Bount. Rutland, Vermont, so war der Name des Ortes, den Brannigan angekreuzt hatte."

"Es gibt nicht viele größere Städte in Vermont", erwiderte Bount. "Ich habe nur kurz hingesehen, aber ich glaube nicht, dass ich mich täusche."

"Die Firma P. McGreedy ist jedenfalls für eine Brückenkonstruktion in Rutland verantwortlich... Ich bin zwei Dutzend Stadtverwaltungen in Vermont durchgegangen, aber es scheint das einzige Projekt von McGreedy in diesem Staat gewesen zu sein. Doch die Brücke steht seit acht Jahren!"

"Das ist wirklich interessant", meinte Bount. "Ich frage mich, was Walt Brannigan bei einer Brücke zu suchen hatte, an der wohl kaum noch gebaut wurde..."

Eine Viertelstunde später stellte Bount seinen Wagen in der Nähe von Pamela McGreedys Privatadresse in Greenwich Village ab. Es war jetzt halb sechs. Pamela würde vermutlich bald nach Hause kommen und dann würde sie sich ein paar Fragen von Bount gefallen lassen müssen.

Wen jemand in Brannigans Unterlagen herumgewühlt und nur bestimmte Sachen mitgenommen hatte, dann gestattete das nur eine Schlussfolgerung: Der Täter war ein Fachmann. Jedenfalls, was Brücken anging, nicht so sehr, was den Einbruch betraf, denn der Trug alles andere als die Handschrift eines Profis. Die Tür war mit einem Stemmeisen geknackt worden. Plumper ging es kaum noch.

Bount hatte die Tür gerade zugeschlagen, da hörte er hinter sich eine ziemlich unfreundliche Stimme.

"Können Sie nicht lesen!", rief ein Mann aus einem Buick heraus. "Ich bin Arzt, das da vorne ist mein Parkplatz! Was glauben Sie, was passiert wenn es einen Notfall gibt und ich erst um drei Häuserblocks laufen muss, um zu meinem Wagen zu kommen! Dann tragen Sie die Verantwortung!" Bount hob beschwichtigend die Hände. "Ist ja gut!", meinte er. "Ich fahre ein Stück weiter!"

Aber der Mann beruhigte sich noch lange nicht. Er schien wirklich sehr ärgerlich zu sein. "Es ist immer dasselbe! Und immer sind es Leute wie Sie, mit dicken Karossen! Sie glauben wohl, dass die Straße Ihnen gehört! Mercedes, BMW, letztens sogar ein blauer Ferrari!"

Bount hatte schon die Hand an der Fahrertür seines SL gehabt, jetzt ging er um den Buick herum zu dem heruntergekurbelten Fenster. Der Mann schien wirklich Arzt zu sein. Auf seinem Beifahrersitz war seine halb geöffnete Tasche aus der ein Stethoskop herausschaute. Daneben eine Packung mit Einweghandschuhen.

"Sagten Sie gerade etwas von einem blauen Ferrari?" Ferraris waren nicht gerade ein Auto für Jedermann. Aber Walt Brannigan hatte einen gefahren. Einen, mit derselben Farbe. Blau.

"Was soll das? Machen Sie nun Platz und stellen Ihre verdammte Angeber-Karre woanders hin oder muss ich Sie erst abschleppen lassen?"

Bount hielt ihm seine Lizenz unter die Nase und meinte dann: "Es ist sehr wichtig, Mister! Es geht um Mord! Ich suche mir einen anderen Parkplatz, aber sagen Sie mir, wann Sie hier einen blauen Ferrari gesehen haben!"

Er atmete tief durch.

"Meine Praxis ist im zweiten Stock. Kommen Sie dort hin, dann reden wir weiter!"

Bount nickte. "Okay."

12

"Der Ferrari ist am Zwölften dieses Monats hier gewesen", berichtete der Arzt, an dessen Praxis-Tür der Name Max Jeffers stand. "Ein Dienstag... Ich hatte schon den Abschleppwagen bestellt, aber als der eintraf, war der Wagen weg. Die Nummer habe ich mir auch aufgeschrieben." Der Zwölfte!, durchzuckte es Bount. Das war der Tag gewesen, an dem Walt Brannigan Amok gelaufen war.

"Um wie viel Uhr war das?"

"Halb fünf, glaube ich. Warten Sie..." Er blätterte in seinem Terminkalender herum. "Ich musste zu einem Notfall. Ein Kind mit Blinddarmreizung. Ich bin raus zu meinem Wagen und der Kerl hatte mich zugestellt, so dass ich weder vor noch zurück konnte!"

Also war Walt Brannigan vor seinem Amoklauf noch bei Pamela McGreedy gewesen. Und Pamela konsumierte vermutlich dasselbe Zeug, das aus Brannigan einen Berserker gemacht hatte...

"Ich danke Ihnen sehr", meinte Bount und wandte sich zum Gehen.

Dr. Jeffers blickte auf und fragte dann: "Was hat der Kerl denn verbrochen?"

"Er lebt nicht mehr", erwiderte Bount.

13

Als Bount wenig später Pamela McGreedys Wohnungstür erreichte, kam ihm jemand entgegen, den er sehr wohl kannte. Es war Frank Hernandez, dessen Gesicht ein bisschen die Farbe verlor, als er Bount sah. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

"Was machen Sie denn hier, Reiniger? Sie können das Schnüffeln nicht lassen, was?"

Bount grinste schief.

"Was dagegen?"

"Wie man's nimmt!" Hernandez' Augen verengten sich ein wenig. Er musterte Bount abschätzig und ging dann wortlos an ihm vorbei. Er hatte kaum drei Schritte hinter sich gebracht, da ließ ihn Bounts Stimme herumfahren.

"Was glauben Sie, weshalb jemand eine Landkarte von Vermont stehlen könnte, die man an jeder Tankstelle bekommen kann?"

Frank Hernandez schien wie vom Blitz getroffen. Er wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm buchstäblich in der Kehle stecken.

Bount kam einen Schritt auf ihn zu. Er wusste nicht, was er getroffen hatte, aber es musste etwas sein.

"Was soll die Frage?", knurrte er dann.

"Es wird Sie wohl kaum überraschen, dass in Brannigans Wohnung eingebrochen wurde..."

"Keine Ahnung, wovon Sie sprechen..."

Bount zuckte die Achseln. "Irgendwie kann ich daran nicht so recht glauben..."

Hernandez hob den drohend den Zeigefinger. In seinen Augen funkelte es böse. "Wollen Sie mir irgendetwas unterstellen? Oder was soll das Ganze?"

"Warum verlieren Sie denn gleich die Nerven?" Es lag Hernandez wohl noch etwas auf den Lippen, aber er verkniff es sich. Er ging wortlos den Flur entlang und Bount wandte sich Pamelas Wohnungstür zu.

Er musste dreimal klingeln, ehe sie öffnete. Sie trug Jeans und einen ziemlich knappen Pullover. Aber sie sah darin genauso hübsch aus wie im formellen Büro-Dress. Sie war einfach eine ungewöhnlich attraktive Frau. Und eine Lügnerin, und zwar gar keine schlechte.

Sie schenkte Bount ein entzückendes Lächeln, als sie ihm öffnete.

"Bount Reiniger! Das ist eine Überraschung!"

"Wirklich?"

"Kommen Sie herein! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie meine Privatadresse in Ihre Ermittlungen mit einbeziehen." Sie zuckte die Schultern. "Aber ich habe auch nichts dagegen. Wollen Sie etwas trinken?"

"Das, was Sie mir zuletzt eingeschenkt haben, war jedenfalls nicht reiner Wein!"

Bount ging hinter ihr her in die Wohnung. Als sie dann wieder ansah, war ihr keine Reaktion anzusehen. "Wovon sprechen Sie, Bount?"

"Davon, da Sie mich angelogen haben."

"Bount, ich..."

"Kurz bevor Walt Brannigan Amok lief, war er noch hier. Das ist sicher. Seine Ferrari hat da unten am Straßenrand einen Arzt zugeparkt, der ziemlich sauer war. Und ich wette mit Ihnen, dass Sie im Umkreis einer Meile der einzige Mensch ist, den er hier kannte!"

"Ich hatte gehofft, Sie wären einfach nur so hier..."

"Was wollte Brannigan kurz vor seinem Amoklauf hier?"

"Finden Sie es so ungewöhnlich, dass man sich nach Büroschluss noch auf eine Tasse Kaffee trifft?"

"Der Kaffee scheint ihm nicht bekommen zu sein."

"Er war hier, weil er mir noch ein paar Unterlagen vorbeigebracht hat, die er dringend mit mir besprechen wollte. Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich Brannigan zum letzten Mal gegen Mittag gesehen habe..."

"...weil Sie dann zu einer Baustelle gefahren sind."

"Sie haben ein gutes Gedächtnis." Sie nickte. "Genau so war's, Bount!"

"Und warum haben Sie mir erst etwas anderes erzählt, als ich Sie fragte, wann Sie Brannigan zum letzten Mal gesehen haben?"

"Haben Sie eine Zigarette, Bount?"

"Warum weichen Sie mir wieder aus?"

Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie wand sich noch, aber sie schien langsam zu begreifen, dass sie in der Klemme saß. Bount gab ihr eine von seinen Zigaretten. "Ich habe wohl einfach vergessen, es zu erwähnen", sagte sie leichthin.

Bount gab ihr Feuer.

"Wenn Sie schon lügen, dann denken Sie sich etwas Besseres aus, Pamela! Sie können mich vielleicht einmal aufs Kreuzt legen, aber ein zweites Mal würde ich Ihnen das nicht empfehlen!"

"Bount, das ist alles ein Missverständnis!"

"Ach, ja?"

"Brannigan war hier. Aber er war völlig normal, als wir hier zusammen saßen!" Sie machte eine hilflose Geste und rang nach den passenden Worten. "Ich meine, es deutete nicht das geringste darauf hin, dass er kaum eine halbe Stunde später wie ein Verrückter auf Passanten schießen würde..."

"Wie kam die Droge in ihn hinein? Zufällig dasselbe Zeug, das Sie bevorzugen..."

"Von mir hatte er es nicht!"

"Ach, wirklich?"

"Warum glauben Sie mir nur nicht?"

"Als Brannigan hier her kam, war er noch Herr seiner selbst. Er konnte Autofahren und hatte keine Schwierigkeiten, den Weg vom Büro zu Ihrer Wohnung zu finden. Aber auf dem Rückweg passierte etwas, das mehreren Menschen das Leben gekostet hat!"

"Das tut mir Leid, aber ich habe nichts damit zu tun!"

"Brannigan wurde das Zeug gewaltsam eingetrichtert. Er hatte vermutlich keine Ahnung, was es war und wie es wirkte... Hatten Sie einen Komplizen, Pamela?"

"Was?" Ihre Fassung war jetzt dahin. Sie schüttelte stumm den Kopf.

"Ich nehme an, dass es Hernandez war. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie es allein schaffen konnten, Brannigan zu überwältigen..."

"Und warum sollte ich so etwas tun? Warum sollte ich meinen besten Mann in den Tod schicken?"

Sie wandte sich ab und ging zum Fenster. Ihre Finger zitterten, als sie die Zigarette zum Mund führte und hinausblickte.

"Eine gute Frage", meinte Bount.

Sie drehte sich herum und zischte: "Sie haben doch sonst auf alles eine Antwort!"

"Vermont", sagte Bount einfach nur.

"Was soll das?"

"Hernandez reagierte ganz merkwürdig, als ich ihn vorhin traf und ihm von einer Landkarte von Vermont erzählte, die bei einem Einbruch mitgenommen wurde!"

"Jetzt wollen Sie mir auch noch einen Einbruch anhängen?"

"Ihnen oder jemand anderem aus dem Ingenieur-Büro P. McGreedy. Denn derjenige, der in Brannigans Wohnung eingestiegen ist um ein Haar seine Lebensgefährtin erschlagen hätte, hat sich nur für Brannigans Unterlagen interessiert!" Sie war jetzt still.

"Das wusste ich nicht", sagte sie dann, nach einer Weile.

"Was wussten Sie nicht?", hakte Bount nach. Aber sie wich aus. Als sie aufblickte, erklärte sie: "Waren Sie schon bei der Polizei mit Ihrem Wissen?"

"Wollen Sie mich wieder kaufen?"

Sie zuckte die Achseln. "Jeder Mensch ist käuflich, Bount. Jemand wie Sie müsste das doch wissen! Bohren Sie in dieser Vermont-Sache nicht mehr herum. Mit dem Brannigans Tod hat das nichts zu tun."

"Da bin ich mir nicht so sicher. Und warum sollte ich Ihnen ausgerechnet jetzt glauben, wo Sie mir doch die Zeit nur Lügen erzählt haben?"

"Als Walt meine Wohnung verlassen hatte, stand noch hier am Fenster. Und ich habe gesehen, wie er sich unten mit zwei Männern unterhalten hat...!"

"Und das ist dann passiert?"

Sie zuckte die Schultern. "Ich weiß es nicht. Ich habe mich abgewandt. Es interessierte mich in dem Moment nicht, verstehen Sie? Ich konnte ja nicht, wissen, dass man Walt etwas verabreichen und ihn dann hinter das Lenkrad setzen würde."

"Haben Sie die Männer erkannt?"

"Nein", murmelte sie kopfschüttelnd. Dann meinte sie: "Sie glauben mir nicht, stimmt's?"

"Wundert Sie das?"

Sie atmete tief durch und sagte dann: "Okay, Bount! Ich werde Ihnen jetzt sagen, wie es wirklich war!" Der verzog das Gesicht.

"Ich bin gespannt!"

14

"Wenn Sie mit dieser Sache zur Polizei gehen sollten, werde ich behaupten, dass diese Unterhaltung nie stattgefunden hat, Bount!"

Bount lächelte dünn. "so etwas in der Art habe ich mir schon gedacht", murmelte er.

"Sie hatten schon den richtigen Riecher", meinte sie dann.

"Es geht um die Brücke in Rutland, Vermont. Als unser Büro daran gearbeitet hat, waren wir noch ganz am Anfang... Sie können sich denken, wie das ist, wenn man als Anfänger in einen Markt hineinkommen möchte! Da geht knochenhart zu! Kurz und gut: Uns ist in unserer Konstruktion ein Fehler unterlaufen..."

"Die Brücke steht doch schon seit Jahren", warf Bount ein. Sie nickte. "Ja, so ist es. Wahrscheinlich wäre nie jemand auf die Sache gestoßen..."

"Vorausgesetzt, sie stürzt nicht eines Tages ein!"

"Man merkt, dass Sie nichts davon verstehen, Bount!"

"Dann erklären Sie es mir!"

Sie machte sich einen Drink und bot Bount auch einen an. Aber der lehnte ab. "Es ist gut möglich, dass die Brücke zwanzig Jahre steht, ohne, dass es Grund zu Beanstandungen gibt!"

"Wenn es nicht auch die andere Möglichkeit gäbe, hätten Sie nicht solche Kopfschmerzen deswegen", sagte Bount sachlich. "Sie und Hernandez."

"Hernandez hat damals den Fehler gemacht. Und Brannigan kam darauf, weil er unglücklicher Weise die alten Pläne hervorgekramt hat, um sie als Vorbild für ein anderes Projekt zu benutzen." Sie hob hilflos die Hände. "Er bestand darauf, die Stadt Rutland zu informieren, weil er meinte, das Risiko wäre zu groß, dass das Material der Dauerbelastung nicht standhält..." Sie lächelte schwach. "Aber Risikoabschätzungen sind sowieso ein heikles Gebiet..." Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas uns blickte Bount offen an. "Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet hätte? Die Schadensersatzansprüche wären noch das Geringste gewesen! Wir hatten fast wieder von vorne anfangen müssen! Der gute Ruf, den P. McGreedy in den letzten Jahren sich erworben hat - er wäre dahin gewesen. Die Top Aufträge wären in den nächsten Jahren an uns vorbeigegangen. Und von Frank Hernandez hätte sich wohl kaum noch jemand eine Brücke berechnen lassen!"

"Darum ging es also hier bei Ihnen, als Walt Brannigan bei Ihnen vorbeischaute. Es hat nicht lange gedauert, nicht wahr?" Pamela nickte.

"Wir haben ihm Geld angeboten. Wir haben ihm gesagt, dass er doch auch das Schicksal der Firma mit berücksichtigen müsste. Wirklich alle Register sind gezogen worden."

"Wir?", echote Bount.

"Ja, Frank war auch dabei. Aber Walt war nur gekommen, um uns mitzuteilen, dass er sich endgültig entschieden hätte. Er war kein sehr entschlussfreudiger Mann. Fast zwei Wochen hat er die Sache vor sich hergeschoben und darauf herumgebrütet."

"Was für ein Glück für Sie, dass er nicht mehr lebt!"

"Hören Sie auf, Bount!"

Sie war jetzt wirklich zornig. "Glauben Sie, ich würde Ihnen das erzählen, wenn ich Walt umgebracht hätte? Glauben Sie, ich würde zugeben, dass Frank und ich die Gelegenheit dazu hatten, genau das mit ihm zu machen, was Sie vermuten!"

"Sie haben es nur zugegeben, als Ihnen nichts anders übrig blieb!"

Sie trat auf Bount zu und blieben nahe vor ihm stehen. Ihre vollen Brüste hoben sich und senkten sich. "Ich will, dass mir glauben, Bount!" Ein paar Locken waren ihr in die Stirn gefallen. Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie sie zur Seite.

"Nichts lieber als das", erwiderte Bount indessen.

"Ich habe mit Walts Tod nichts zu tun!"

"Und der Einbruch?"

"Das war Frank Hernandez! Er hat einfach die Nerven verloren! Ich habe ihm noch ausdrücklich gesagt, er soll nichts unternehmen. Aber er wusste es natürlich besser, dieser Idiot!"

"Was ist passiert, nachdem Brannigan gegangen ist?" In ihren Augen leuchtete es. "Sie glauben mir also?"

"Eigentlich will ich wenigstens das Ende Ihrer Story erfahren, bevor ich mich da festlege."

"Von den beiden Kerlen da draußen habe ich Ihnen ja erzählt. Es fällt mir übrigens ein, dass einer ziemlich groß war und rote Haare hatte. Von den Gesichtern konnte ich von oben natürlich nichts sehen."

Bount hob die Augenbrauen.

"Rote Haare?"

"Ja. Ein Stoppelschnitt. Man konnte die Kopfhaut sehen. Hernandez ist dann übrigens gleich gegangen." Sie verengte ein wenig die Augen. "Warum schauen Sie mich so an, Bount?" Bount verzog das Gesicht. "Ich habe mir gerade überlegt, dass Sie mir diesmal vielleicht doch die Wahrheit sagen!" Sie hatte plötzlich ihre schlanken Arme um seinen Hals gelegt. Er spürte den Druck ihrer Brüste gegen seinen Oberkörper.

"Was wird das?", fragte Bount lächelnd. "Ein Bestechungsversuch der charmanten Art?"

"Ich möchte, dass wir uns mal wiedertreffen, wenn Sie mich nicht mehr für eine Mörderin halten!"

"Warum nicht!" Er nahm ihre Arme und löste sich von ihr.

15

Frank Hernandez bewohnte ein Penthouse. Als er die Tür öffnete und Bount Reiniger vor sich sah, schlug sie augenblicklich wieder zu. Oder besser: Er versuchte es. Aber Bount hatte blitzschnell reagiert und seinen Fuß hineingestellt. Hernandez atmete tief durch. "Soll ich die Polizei rufen?", rief er. "Ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten!"

"Rufen Sie ruhig die Polizei! Sie nehmen mir damit etwas ab, was ich vielleicht sonst selbst tun müsste!"

"Sie sind ein Bluffer, Reiniger!"

Bount grinste. "Ich lasse es sehr gern drauf ankommen. Sie auch?"

"Sie sind verrückt!"

"Zumindest die Jungs vom Einbruchsdezernat werden früher oder später den Weg zu Ihnen finden, Hernandez!" Bount zuckte die Achseln. "Sie hätten nicht in Brannigans Wohnung einsteigen sollen, Hernandez. Und vor allem hätten Sie Joanne Carter nicht so behandeln dürfen..."

Hernandez war ziemlich perplex.

Seine Augen sahen Bount ungläubig an und er ließ es sich auch gefallen, dass der Privatdetektiv beim Eintritt in die Wohnung drei Schritte vor ihm her ging.

"Sie reimen sich da nur irgendeine Story zusammen, Reiniger!", presste Hernandez einen Augenblick später heraus. Es klang allerdings nicht so, als wäre er selbst sonderlich überzeugt von dem, was er sagte. Seine Nasenflügel bebten.

"Ich wette, Sie haben nicht den Hauch eines Beweises für das, was Sie da erzählen!"

Bount winkte ab. "Kommen Sie mir nicht auf die Tour, Hernandez. Ich hatte ein intensives Gespräch mit Pamela McGreedy."

"Was Sie nicht sagen!"

"Sie war sehr gesprächig..."

Hernandez verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse.

"Ich sagte doch, das ist alles nur Bluff!"

"Soll ich von der Vermont-Story anfangen? Von der Brücke, bei der Sie sich verrechnet haben? Von dem kurzen Gespräch in Pamela McGreedys Wohnung, in dem Sie und Pamela Brannigan erfolglos versucht haben umzustimmen. Kurze Zeit später spielte er verrückt. Vermutlich wussten Sie nichts von der Pistole, die er bei sich hatte. Sie dachten, er baut einen Unfall..."

"Das ist eine Unterstellung!", zischte Hernandez. Bount ging ein paar Schritte und sah dann zwei gepackte Koffer hinter dem Tisch stehen. "Ich sehe, Sie wollten gerade verreisen..."

"Ein paar Tage Urlaub", meinte Hernandez dazu. "Ich habe ein Ferienhaus auf Long Island und jede Menge Überstunden, von denen ich jetzt ein paar abfeiern werde."

"Wird es Ihnen zu heiß in New York City?"

"Ich habe mit dem Einbruch nichts zu tun!"

"Und mit Brannigans Tod?"

"Machen Sie sich nicht lächerlich, Reiniger!"

"Und Sie haben auch nie eine Brücke für die Stadt Rutland in Vermont gemacht, was?"

"Hat Pamela Ihnen das mit dem Einbruch erzählt?"

"Ja."

"Sie will sich doch nur selbst schützen, indem sie mich anschwärzt!"

Bount nickte. "Dasselbe habe ich mir auch gesagt!" Hernandez hob die Schultern und schien nicht ganz zu begreifen. "Und was wollen Sie dann bei mir?"

"Draußen haben zwei Kerle auf Brannigan geartet, nachdem er Pamelas Wohnung verlassen hatte. Haben Sie die angeheuert, damit sie Brannigan mit etwas voll pumpen, das ihn auf die eine oder andere Art ins Jenseits befördern würde?"

"Sie sind verrückt, Reiniger!"

"Glauben Sie mir, es wird kein besonderes Problem sein, zumindest einen der beiden aufzutreiben..."

Hernandez war ziemlich blass geworden. Bount ging zum Telefon und nahm den Hörer ab.

"Wen rufen Sie an?"

"Die Polizei. Das Einbruchsdezernat. Die werden sich freuen, wenn ich ihnen den Einbrecher präsentieren kann. Man wird die ganze Geschichte mit der Brücke aufrollen..." Hernandez hatte sich kaum merklich zur Seite bewegt. Eine schnelle Bewegung und ehe Bount die Nummer in den Apparat tippen konnte, sah der Privatdetektiv mit den Augenwinkeln den kurzen Lauf einer Revolvermündung.

"Legen Sie den Hörer wieder auf!", sagte Hernandez. Seine Waffe war ein Kleinkaliber, aber deshalb nicht weniger tödlich. Vermutlich war der Ingenieur nicht unbedingt ein routinierter Schütze. Doch Bount hatte keine Lust, es darauf ankommen zu lassen.

Stattdessen sagte der Privatdetektiv ruhig: "Sie sollten die Liste Ihrer Dummheiten nicht noch verlängern, Hernandez!" Seine Zähne blitzten, als er das Gesicht zu einer Maske verzog. "Keine Sorge, Reiniger! Ich weiß sehr genau, was ich tue! Und Sie lassen mir leider keine andere Wahl... Die Hände nach oben!"

Bount gehorchte. Die Automatic aus dem Schulterholster zu reißen wäre Selbstmord gewesen. Dazu stand Bount einfach zu sehr im Schussfeld. Keine drei Meter lagen zwischen ihm und Hernandez. Da hatte selbst ein Stümper hervorragende Chancen, etwas zu treffen.

Hernandez Arm hob sich. Die Waffe zeigte jetzt direkt auf Bounts Kopf. Der Zeigefinger spannte sich nervös um den Abzug.

Bount blieb so gelassen, wie das in dieser Lage möglich war.

"Glauben Sie, Sie können etwas gewinnen, wenn Sie mich erschießen?", fragte er.

"Jedenfalls bin ich erledigt, wenn ich es nicht tue!", erwiderte Hernandez. "Der Einbruch, die Sache mit der Brücke... Das wird mir beruflich das Genick brechen! Aber dafür habe ich nicht all die Jahre hart gearbeitet, um nach oben zu kommen. Jetzt, wo ich es geschafft habe, können Sie nicht im Ernst erwarten, dass ich das alles kampflos aufgebe!"

"Es wird auch so herauskommen...", meinte Bount, aber das schien Hernandez nicht im Geringsten zu überzeugen.

"Meinen Sie?", lachte er heiser. "Brannigans Unterlagen habe ich vernichtet, Pam wird nichts sagen, weil sie nicht so dumm ist, sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Bleiben nur noch Sie, Reiniger! Sie würden nicht Ruhe geben, wenn ich Sie am Leben ließe!"

"So wie Brannigan!"

"Jetzt spielt es ohnehin keine Rolle mehr, was Sie denken, Reiniger!"

Hernandez Augen hielten Bount fixiert, während er ein paar Schritte seitwärts ging. Er beugte sich vorsichtig zu seiner Stereo-Anlage hinunter und stellte sie an.

Stampfender Disco-Sound dröhnte im nächsten Moment durch die Wohnung. Bount konnte sich an einer Hand ausrechnen, was nun folgen würde. Der dumpfe Rhythmus würde das Schussgeräusch des Kleinkalibers verschlucken. Hernandez drückte ab.

Aber Bount hatte damit gerechnet und sich einen Sekundenbruchteil zuvor hingeworfen, so dass die Kugel über ihn hinwegpfiff. Bount rollte sich herum, riss die Automatic heraus und rettete sich dann erst einmal hinter die massive Ledercouch.

Hernandez feuerte noch zweimal schnell hintereinander, einer ging in die Couch, der andere zerstörte eine Stehlampe. Dann tauchte Bount blitzartig seiner bescheidenen Deckung hervor und brachte die Automatic in Anschlag. Hernandez stand indessen schon halb in der Wohnungstür.

"Fallenlassen!", rief der Privatdetektiv, aber Hernandez entschied sich anders und drückte noch ein letztes Mal ab. Doch Bount war schneller. Hernandez erwischte es am rechten Unterarm, sein Schuss ging in die Decke. Ächzend rannte er davon.

Mit einem Satz war Bount über die Couch gestiegen. Er spurtete hinaus, während die Disco-Musik noch immer mit ohrenbetäubender Lautstärke vor sich hin stampfte. Hernandez hatte es geschafft, in den Aufzug zu kommen. Es gab keine Möglichkeit, ihn zu stoppen, bevor er nicht am Ziel angekommen war. Und das war vermutlich das Erdgeschoss. Bount blieben nur die Treppen. Ungefähr ein Dutzend Stockwerke lagen vor ihm und das war auch für jemanden von Bounts guter Kondition kein Pappenstiel.

Als Bount das Erdgeschoss erreichte, war der Aufzug natürlich längst dort. Aber von Hernandez war nirgends eine Spur zu sehen. Bount lief hinaus ins Freie. Mit einem schnellen Blick sondierte er die Lage und sah er Hernandez in einem Wagen sitzen. Hernandez ließ gerade den Motor an. Eine Sekunde lang trafen sich die Blicke der beiden Männer. Bount rechnete damit, dass Hernandez das Steuer seines Wagens herumreißen und sich dann in den Verkehr hineindrängen würde, um so schnell wie möglich davonzukommen.

Aber er tat etwas ganz anderes.

Er setzte den Wagen mit ruckartig in Bewegung ließ ihn auf den Bürgersteig schnellen. Einige Passanten liefen auseinander. Hernandez hielt direkt auf Bount zu.

Der Privatdetektiv rettete sich durch einen Sprung zur Seite. Er rollte herum und wollte Hernandez einen Schuss in die Reifen verpassen, aber da stand plötzlich eine Frau in der Schussbahn, die Bount entsetzt anstarrte.

Hernandez ließ den Wagen unterdessen aufheulen.

Rücksichtslos drängte er sich in den Verkehr. Jemand hupte und irgendwo berührten sich auch ein paar Stoßstangen. Hernandez fuhr wie der Teufel.

Mit quietschenden Reifen sah man ihn dann noch um die nächste Straßenecke biegen.

16

"Du hast es geschafft, Bount!" Captain Toby Rogers ließ eine Mappe auf geräuschvoll den Schreibtisch fallen. "Die Akte ist wieder offen, die Ermittlungen sind erneut aufgenommen!" Bount lächelte kurz. Aber es lag kein Triumph darin. Nicht einmal Zufriedenheit, denn die Sache war noch nicht abgeschlossen.

"Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, Toby!" Rogers lachte dröhnend.

"Nein!", meinte er ironisch. "Da wir hier unter chronischer Unterbeschäftigung leiden, bin ich froh über jedes bisschen an zusätzlicher Arbeit für meine Leute!"

Seit gut zwölf Stunden wurde nach Frank Hernandez gefahndet - bislang ohne Erfolg. Inzwischen hatten die Leute vom Einbruchsdezernat Fotos von Hernandez in Joanne Carters Nachbarschaft herumgezeigt und es gab tatsächlich ein paar Zeugen, die ihn wiedererkannten. Er hatte Handschuh getragen, was bei der warmen Witterung mehr als auffällig war. Außerdem war in seiner Wohnung das Stemmeisen gefunden worden, mit dem man die Tür aufgebrochen hatte. Winzige Farbspuren bewiesen das einwandfrei.

"Auf die Dauer hat der Kerl keine Chance", meinte Rogers.

"Er ist verwundet und wird sich irgendwo seinen Arm behandeln lassen müssen! Wir werden ihn sicher kriegen."

"Davon bin ich überzeugt!", erwiderte Bount. Rogers hob die Schultern. "Fragt sich nur, wer ihn am Ende bekommt: Wir oder die Kollegen vom Einbruch!" Bount nickte. "Auf Mord wird man ihn wohl nur schwer festnageln können..."

"Man hat etwas von diesem neuen Zeug in seiner Wohnung gefunden!", gab Rogers zu bedenken. "DSE wird es, glaube ich, abgekürzt."

"Ja, in gewissen Kreisen scheint dieser Stoff zur Zeit die Runde zu machen."

"Hernandez hatte die Gelegenheit und ein Motiv. Was will man mehr von einem Mörder, Bount?" Bount zuckte die Achseln. Dasselbe galt ebenfalls für Pamela McGreedy. Für sie sprach nur, dass sie Bount gegenüber ausgepackt hatte. Vielleicht war das aber auch nur ein geschickter Schachzug gewesen, um von sich abzulenken.

Aber da war noch eine andere Sache...

"Pamela McGreedy will gesehen haben, wie zwei Männer auf Brannigan gewartet und ihn in Empfang genommen haben... Mit einem davon bin ich wahrscheinlich schon einmal zusammengetroffen. Jedenfalls paßt die Beschreibung. So viele Riesen mit kurzgeschorenen roten Haaren gibt es nun auch wieder nicht."

Rogers legte die Stirn in Falten und lehnte sich zurück. "Was soll das für einer sein?"

"Ein Schläger. Er heißt Bill O'Mara und arbeitet für einen Mann namens Arnold Parker. Und der verkauft genau das Zeug, das Brannigan verabreicht wurde." Er grinste. "Ich war bei Hayes im Rauschgiftdezernat. Die waren ziemlich zugeknöpft, aber immerhin weiß ich jetzt, dass die beiden dort keine Unbekannten sind."

"Und wie bringst du das zusammen?"

"Vielleicht ist das Ganze nur ein Märchen von Miss McGreedy. Sie könnte den rothaarigen Bill im Mega Star gesehen haben. Dann hat sie ihn mir beschrieben, um mich auf eine falsche Fährte zu setzen. Die andere Möglichkeit ist, dass Hernandez ihn und einen zweiten Mann für ein paar Dollar angeheuert hat, um die Sache durchzuziehen..."

"...um sich nicht selbst die Hände schmutzig machen zu müssen!"

"So ist es."

Dann klingelte das Telefon auf Rogers’ Schreibtisch und er nahm ab. Als der Captain dann kurze Zeit später wieder auflegte, berichtete er: "Das war Hayes vom Rauschgift!"

"Und?" Bount verschränkte die Arme vor der Brust.

"Wir sollen O'Mara in Ruhe lassen. Die haben diesen Parker, für den er arbeitet schon seit längerem im Auge und wollen über ihn an die höheren Chargen herankommen." Er grinste.

"Das soll ich übrigens insbesondere auch dir noch einmal klarmachen - wenn ich dich das nächste Mal sehe!"

"Na, dann hast du mich eben nicht gesehen, Toby!"

"Du willst denen doch wohl nicht in die Suppe spucken, Bount! Du bringst eine Operation in Gefahr, die mit dem FBI zusammen durchgeführt wird und lange vorbereitet ist! Halt dich da besser heraus! Bill O'Mara wird mit dem ganzen Schwarm ins Netz gehen. Dann können wir ihn befragen."

"Verstehe", murmelte Reiniger.

"Es geht nicht anders, Bount!"

Bount erhob sich und wandte ich zum Gehen. Rogers hatte natürlich recht. Außerdem lag gegen O'Mara ja auch nichts Greifbares vor, wenn man von Pamela McGreedys Aussage absah. Und welches Spiel Pamela wirklich spielte, darüber war Bount sich noch nicht ganz im Klaren.

"Warum hat dieser Hayes mir das eigentlich nicht selbst gesagt?"

Rogers kam nicht mehr dazu, Reinigers Frage zu beantworten. Die Tür ging auf und einer seiner Detectives kam herein. "Was gibt es, Brian?", knurrte der Captain.

"Ich sollte Ihnen doch Bescheid sagen, sobald uns dieser Hernandez ins Netz gelaufen ist!"

Rogers sprang auf. "Wo ist er jetzt?"

"Beim Arzt."

17

"Scheint, als säßen Sie ziemlich tief drin, Hernandez", stellte Rogers fest. Bount stand etwas abseits und hatte dem Verhör bisher mehr oder weniger schweigend zugehört. Es war nicht viel dabei herausgekommen. Hernandez saß auf seinem Stuhl, zupfte nervös an der Bandage an seinem rechten Unterarm herum und blickte immer erst fragend zu seinem Anwalt, bevor er einen Ton von sich gab. Über die Angaben zur Person hinaus, war das auch nicht allzuviel.

"Was den Einbruch betrifft ist die Beweislage doch ziemlich klar!", meinte Rogers, wobei er beschwörend mit den Armen wedelte. "Geben Sie es doch einfach zu!" Der Anwalt schüttelte den Kopf und Hernandez kniff die Lippen aufeinander.

"Sie waren es auch, der Brannigan dieses Teufelszeug gegeben hat, um ihn umzubringen!" Rogers versuchte, Hernandez endlich aus der Reserve zu locken. "So etwas nennt man Mord, Mister Hernandez! Und Sie hatten ein Motiv und waren am Tatort."

"Das sind Unterstellungen!", griff der Anwalt ein. Rogers achtete nicht auf ihn, sondern hielt den Blick auf Hernandez gerichtet.

"Ich habe Brannigan nicht umgebracht", murmelte er dumpf.

"Warum nehmen Sie Pamela McGreedy nicht fest? Wenn ich Motiv und Gelegenheit hatte, dann hatte sie es auch!"

"Vielleicht holen wir das noch nach", meinte Rogers kühl.

"Schließlich könnte es ja auch sein, dass Sie das zusammen durchgezogen haben...!"

Jetzt mischte sich Bount ein.

"Kennen Sie einen Mann namens Bill O'Mara?"

"Nein."

"Sagen Sie nichts, Mister Hernandez!", wies der Anwalt seinen Mandanten an. "Glauben Sie mir, es ist besser so!"

"O'Mara hat rotblondes Haar und eine Narbe am Kinn. Ich wette, Sie sind ihm schon begegnet..."

"Glauben Sie, ich habe jemanden angeheuert?"

"Wäre doch auch möglich, oder etwa nicht?"

"Ich sagte schon, ich habe mit der Sache nichts zu tun!"

"So einfach können Sie sich da nicht herauswinden!", meinte Bount.

"Das werden wir sehen!"

18

Eine trübe Dunstglocke hing über dem Central Park, als Bount Reiniger hinaus aus dem Fenster seines Büros blickte und an seiner Zigarette zog. Hinter sich hörte er June hereinkommen.

"Sieht aus, als würden wir ziemlich auf der Stelle zu treten!", meinte sie.

Bount nickte. "Ja. Hernandez schweigt eisern. Ich kann es ihm noch nicht einmal verdenken."

"Glaubst du, dass er es war?"

"Nicht ohne Komplizen."

"Du denkst an diesen O'Mara?"

"Ja."

June musterte ihren Boss einen Augenblick lang und meinte dann ziemlich spitz: "Diese Pamela McGreedy scheinst du schon von deiner Liste gestrichen zu haben, habe ich recht?"

"Du irrst dich!"

Auf dem Schreibtisch hatte Bount die Bilder ausgebreitet, die Walt Brannigan für seine Therapiestunden angefertigt hatte.

"Ich hatte die Sachen hier in meiner Schublade und habe sie mir noch einmal angesehen", meinte der Privatdetektiv dazu. June lächelte nachsichtig.

"Und du glaubst, dass du durch diese Bilder der Wahrheit auf die Spur kommst?"

Bount nahm eines der Bilder heraus und zeigte es ihr. "Was siehst du?"

June nahm das Bild und runzelte die Stirn. "Vier Männer!", sagte sie dann. "Einer liegt am Boden, ein zweiter hat die Hände hoch."

"Es stellt wohl den Überfall dar, der vor Jahren auf Brannigan verübt wurde. Der mit den erhobenen Händen ist er selbst, der am Boden Liegende ist soeben erschossen worden. Und nun schau dir mal die Täter an!"

"Er scheint sehr schnell und flüchtig gemalt zu haben..."

"Er hat eine Narbe am Kinn, June!"

"Das könnte auch ein Klecks sein!"

"Richtig, wenn nur auf einer Zeichnung zu sehen wäre, dann hättest du recht. Aber Brannigan hat die Szene während seiner Therapie mehrfach gemalt. Und dieser Punkt da vorne fehlt auf keiner einzigen! Und auf zwei Bildern hat der mit der Narbe zusätzlich rote Haare!"

"Könnte Zufall sein, Bount!"

Bount Reiniger zuckte die Achseln. "Ja, aber es könnte auch heißen, dass dieser Bill O'Mara einer der Kerle war, die ihn damals überfallen haben!"

June hob die Schultern, während ihr Blick noch einmal über Brannigans Bilder glitt. "Warum sollte dieser O'Mara Brannigan nach all den Jahren umbringen?"

"Eine gute Frage June..."

19

Dr. Aaron Stanley war ein Mann mit einem braunen Haarkranz. Aber sein Bart war völlig ergraut und deshalb sah er zehn Jahre älter aus, als er in Wirklichkeit war. Bount traf ihn beim Bowling - und er schien alles andere, als begeistert davon zu sein, dass ihn dabei jemand störte.

"Sie sind Reiniger? Der Kerl, dessen Assistentin dauernd mein Telefon klingeln lässt?"

"So ist es."

"Lassen Sie sich von meiner Sekretärin einen Termin geben!"

"Ich will keine Stunden bei Ihnen nehmen, sondern ihnen ein paar Fragen stellen. Es geht um Walt Brannigan."

"Ich habe der Polizei doch schon alles gesagt!" Er kniff die Augen etwas zusammen, griff nach seinem Bier und wischte sich eine Sekunde später den Schaum aus dem Bart. "Aber Sie sind Privatdetektiv, und ich wüsste wirklich nicht, was ich für Sie tun kann! Sie wollen etwas über Walt Brannigan wissen, aber Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich irgendeinem dahergelaufenen Schnüffler Auskünfte über einen Patienten von mir geben werde!"

"Ihre Diagnose war beginnende Paranoia, nicht wahr?"

Stanley legte die Stirn in Falten. "Woher wissen Sie das?"

"Das tut nichts zur Sache. Ich will keine Details aus seiner Krankengeschichte wissen. Ich suche seinen Mörder... Ihm wurde in einer hohen Dosis ein synthetisches Rauschmittel verabreicht. Dann hat man ihn hinter das Steuer seines Wagens gesetzt, damit er sich an der nächsten Kreuzung den Hals bricht. Es hätte wie ein Unfall ausgesehen..."

"Aber Brannigan hatte eine Waffe!", stellte Stanley fest.

"Das hat er Ihnen also erzählt."

"Ich habe es gehört, nachdem er..." Dr. Stanley sprach nicht weiter und zuckte mit den Schultern. Dann faltete er die Hände vor dem kleinen, aber festen Bauch, den er über dem Gürtel mit sich herumtrug. "Ich weiß nicht, wie ich Ihnen da helfen kann!"

"Wann ist Brannigan das erste Mal zu Ihnen gekommen?"

"Vor einem halben Jahr."

"Hatte das vielleicht einen besonderen Anlass?" Stanley wandte sich halb herum und murmelte: "Sie glauben doch nicht im Traum, dass ich Ihnen darauf eine Antwort gebe?" Aber Bount ließ nicht locker. "Brannigan hatte ein traumatisches Erlebnis. Er wurde vor acht Jahren überfallen, sein Begleiter erschossen. Ich nehme an, Sie haben darüber geredet!"

"Wie kommen Sie darauf?"

Bount hatte eine Mappe unter dem Arm, die er jetzt hochhob.

"Ich möchte Ihnen etwas zeigen", sagte er. "Ich schlage vor, wir gehen dort drüben zu dem Tisch!"

"Was soll das sein?"

"Bilder, die Walt Brannigan in Ihren Sitzungen angefertigt hat."

"Es stimmt, ich arbeite mit Bildern. Aber ich glaube kaum, dass die für Ihre Hände bestimmt sind!"

Darauf ging Bount nicht ein. "Er hat immer wieder den Überfall dargestellt!"

Sie gingen zum Tisch. Bount breitete Brannigans Bilder aus.

"Ich kenne die Sachen", murmelte Stanley. Die Angelegenheit schien ihn auf einmal doch zu interessieren. "Es muss ein furchtbares Erlebnis gewesen sein. Die Täter hat man nie gefasst, wie er mir sagte."

"Aber das liegt Jahre zurück, Mister Stanley! Warum ist er vor einem halben Jahr zu Ihnen gekommen? Warum nicht vorher?"

"Das ist nichts Ungewöhnliches. Manche Leute warten jahrelang und schieben ihre Probleme vor sich her oder wollen sie nicht wahrhaben! Ich erlebe das tagtäglich in meiner Praxis!"

"Einer der Täter wird rothaarig porträtiert. Und dieser Klecks dort könnte eine Narbe darstellen. Eine Art Halbkreis..."

"Er erwähnte eine Narbe, ja. Dieses rothaarige Gesicht verfolgte ihn in seinen Träumen."

"War das derjenige von den beiden, der damals geschossen hat?"

"Ja."

"Kurz bevor Brannigan Amok lief, ist er mit zwei Männern gesehen worden. Einer davon war rothaarig."

Dr. Stanley hob die Augenbrauen. "Merkwürdig...", murmelte er

"Hat er über diesen Mann, der ihn damals überfallen hat, noch irgendetwas gesagt?"

"Nein. Aber ich habe in meiner Praxis noch ein paar Bilder, die Brannigan gemalt hat, auf denen er noch deutlicher zu sehen ist. Aber es ist fraglich, ob Sie damit etwas anfangen können."

"Ich möchte sie trotzdem gerne sehen..." Er seufzte. "Das sind vertrauliche Unterlagen! Wenn ein Polizist mit einem entsprechenden Papier vor meiner Praxistür steht, werde ich sie herausrücken, vorher nicht!"

"Verstehe..."

"In meinem Job muss man vorsichtig sein", fuhr Dr. Stanleys dann fort. "Glauben Sie es kommt noch jemand zu mir, wenn es die Runde macht, dass persönliche Dinge bei mir nicht in guten Händen sind? Dann kann ich dicht machen!"

Bount packte Brannigans Bilder ein und wandte sich dann zum Gehen.

"Tut mir Leid, Sie beim Bowling gestört zu haben!" Aber Stanley winkte ab. "Vergessen Sie's! Glauben Sie mir, ich bin eine Menge gewöhnt, aber diese Sache ist mir schon nahe gegangen!"

Keine zwei Schritte hatte Bount zwischen sich und den Psychologen gebracht, da ließ ihn Dr. Stanleys Stimme abrupt stoppen. "Steht es fest, dass Brannigan diese Drogen nicht selbst genommen hat?"

Bount drehte sich halb zu ihm herum und nickte.

"Inzwischen ist das amtlich. Er ist noch einmal einer gerichtsmedizinischen Untersuchung unterzogen worden. Das Zeug ist ihm mit einer Spritze gegeben worden, die so angesetzt worden ist, dass er sie sich unmöglich selbst geben konnte, selbst wenn er ungewöhnlich gelenkig gewesen wäre!" Bount musterte ihn kurz. Da kochte noch etwas in Dr. Stanleys Kopf. Bount konnte es ihm deutlich ansehen. Aber er schien noch mit sich zu ringen, ob er den Dampf herauslassen sollte. "Warum fragen Sie?", hakte schließlich Bount nach. Stanley zuckte nachdenklich mit den Achseln

"Hey, Aaron! Machst du eigentlich noch mit?", rief ein kleiner, drahtiger Mann, der offenbar zu Stanleys Bowling Brüdern gehörte.

"Einen Moment noch!", fauchte der Psychologe unwirsch. Er trat nahe an Bount heran und fuhr dann in gedämpften Tonfall fort: "Vielleicht sollte ich es Ihnen doch erzählen... Aber eines sage ich Ihnen, wenn Sie glauben, mich irgendwo vorführen zu können, dann werde ich alles abstreiten!"

"Reden Sie schon!"

"Als Walt Brannigan zu mir kam, behauptete er, er hätte einen der Täter zufällig in einem Kaufhaus getroffen. Seitdem litt er wieder unter Alpträumen."

"Hat er ihn danach noch einmal gesehen?"

"Ja. Mehrfach. Aber immer nur, wenn niemand dabei war, der das hätte bestätigen können. Ich hielt das für eine Projektion seiner Ängste. Außerdem habe ich ihm geraten, zur Polizei zu gehen, wenn er wirklich davon überzeugt wäre, den Mann gesehen zu haben, der damals seinen Begleiter erschossen hat."

"Aber bei der Polizei ist wohl nicht gewesen", erwiderte Bount.

Stanley lächelte knapp. "Ich weiß", sagte er. "Er meinte, dass ihm niemand glauben würde. Er schob es immer wieder vor sich her. Vermutlich fürchtete er, dass sich herausstellen würde, dass er sich alles nur eingebildet hatte, dass er im wahrsten Sinn des Wortes anfing, Gespenster zu sehen..."

"Aber dieser Mann existiert", stellte Bount fest.

"Mag sein, aber für Brannigan war er zum Symbol seiner unbestimmten Ängste geworden."

Bount begann zu verstehen. Jemand sah ein Gesicht für wenige Sekunden im Menschengewühl eines Kaufhauses. Schon in der nächsten Minute war er sich nicht mehr hundertprozentig sicher und bekam Angst, für verrückt gehalten zu werden.

20

Alles läuft auf Bill O'Mara hinaus!, dachte Bount. Und der war im Augenblick tabu. Zumindest für Rogers und seine Leute.

Bount ging trotzdem ins Mega Star. Es konnten ihm kein Cop und kein FBI-Mann verbieten, hier seinen Drink zu nehmen. Falls O'Mara ihm hier über den Weg laufen sollte, so hatte Bount nicht das Geringste dagegen.

Aber weder von O'Mara, noch von seinem Boss Arnold Parker war an diesem Abend etwas zu sehen. Die beiden schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Vielleicht hatte Parkers' Geschäft' heute gewissermaßen Ruhetag.

Dafür traf er jemand anderen. Pamela McGreedy schenkte Bount ein säuerliches Lächeln, als sie ihn entdeckte und drehte dann demonstrativ den Kopf zur Seite, um ihn nicht zu sehen. Einen Augenblick später war Bount bei ihr.

"Ich bin nicht besonders gut auf Sie zu sprechen, Bount!", meinte sie, wobei ihr nicht anzusehen war, wie ernst sie das wirklich meinte.

Bount zuckte die Achseln. "Das tut mir leid."

"Das glaube ich nicht!"

"Warum so unfreundlich?"

"Ich war nett zu Ihnen, Bount! Ich habe Ihnen gesagt, was ich wusste und sie hetzen die Meute auf mich."

"Nicht auf Sie, Pam!"

"Auf Hernandez oder auf mich, das ist dasselbe."

"Für seine Kurzschlussreaktion kann ich doch nichts, das müssen Sie zugeben!"

"Heute waren ein paar Detectives bei mir! Und ich habe das dumpfe Gefühl, dass es nicht das letzte Mal war. Ich wurde aufgefordert, die Stadt nicht zu verlassen!" Bount lächelte dünn. "Und Sie werden es überleben, Pam!" Sie winkte ab. "Was wissen Sie schon!", zischte sie dann. Sie wandte sich ab. Bount nippte an seinem Drink. Plötzlich wirbelte sie herum. "Sind Sie meinetwegen hier?"

"Ich bin hier, um einen Drink zu nehmen!"

"Erzählen Sie mir nichts! Sie sind hier, weil Sie mir kein Wort geglaubt haben!"

"Schon verwunderlich, wie wichtig es Ihnen ist, was ich glaube!"

Ihre Gesichtszüge wurden jetzt etwas weicher. "Sie interessieren mich eben, Bount!"

"Weil ich in der Brannigan-Sache herumrühre und Sie das beunruhigt?", grinste Bount.

Sie schüttelte energisch den Kopf. Ihr Augenaufschlag war gekonnt.

"Nein", murmelte sie. "Damit hat das nichts zu tun..."

"Wo ist eigentlich Ihr Freund Parker?"

"Wer soll das sein?"

"Der Kerl mit der Pomade im Haar."

Sie zuckte die Achseln. "Ich habe nicht die geringste Ahnung!"

"Er war noch nicht hier!"

"Er kommt nicht jeden Tag." Sie zündete sich eine Zigarette an. Bount gab ihr Feuer. Sie hob die Augenbrauen, als sie fragte: "Was wollen Sie von ihm?"

"Von ihm? Nichts. Ich suche den Kerl, der sein Schatten ist. Vielleicht haben Sie ihn schon einmal gesehen. Er ist rothaarig."

Sie blickte auf. Ihr Gesicht veränderte sich und drückte so etwas wie Erleichterung aus.

"Dann glauben Sie mir also das mit den zwei Männern, die Walt in Empfang genommen haben?"

"Ich weiß es nicht."

Der Blick ihrer dunklen Augen ruhte einen Augenblick nachdenklich auf Reiniger, dann nickte sie.

"Das kann ich Ihnen nicht übel nehmen", meinte sie dann. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. "Vielleicht gehen wir trotzdem noch woanders hin", meinte sie dann. "Auch wenn Sie sich noch nicht entschieden haben, ob ich vielleicht eine Mörderin bin!"

Bount hob die Schultern. "Warum nicht?", lachte er. Vielleicht tauchten weder Parker noch sein Wachhund O'Mara auf. Und wenn er den beiden nicht begegnete, dann ging Bount damit auch gleichzeitig einigen Schwierigkeiten aus dem Weg.

21

Sie gingen hinaus in die Nacht.

"Fahren wir zu mir?", fragte Pamela.

"Meinetwegen. Sind Sie mit dem Wagen da?"

"Ja, er steht da vorne." Sie lächelte. "Sie kennen ja den Weg."

"Bis gleich", nickte Bount.

Einen Augenblick später sah Bount sie einsteigen und davonfahren. Seinen eigenen Wagen hatte er in einer nahen Seitenstraße abgestellt, keine zwei Minuten Fußweg entfernt. Die Seitenstraße war nur mäßig beleuchtet. Eine Straßenlaterne flackerte und schien offenbar kurz vor dem endgültigen Aus zu stehen. Beide Straßenseiten waren mit Parkern besetzt und Bount konnte von Glück sagen, dass man ihn nicht einfach zugestellt hatte.

Kaum hatte Bount den Schlüssel in die Fahrertür seines 500 SL gesteckt, da peitschten zwei Schüsse kurz hintereinander durch die Nacht. Bounts Rechte ging instinktiv zum Schulterholster und zog die Automatic heraus. Er blickte sich um, konnte aber nichts sehen.

Dann kam ein Wagen aus einer engen Einfahrt heraus, über die man vermutlich zum Hintereingang des Mega Star gelangen konnte. Es war ein BMW, aber irgendetwas stimmte mit ihm nicht. Jedenfalls bog das Fahrzeug nicht ab, sondern fuhr quer über die Straße und rammte seitwärts in einen parkenden Buick. Eine Hupe dröhnte durch die Nacht.

Bount setzte zu einem Spurt an. Einen Moment später hatte er den BMW erreicht. Er sondierte zunächst die Lage, aber, aber nirgends war jemand zu sehen.

Dann riss er die Beifahrertür des BMW auf und schaltete die Wagenbeleuchtung ein.

Der Fahrer lag über das Steuerrad gebeugt. Seine Stirn drückte auf die Hupe. Vom Gesicht hatte Bount nur eine Seitenansicht, aber die genügte. Es war Arnold Parker. Zwei Schüsse hatten den Dealer getroffen, einer in den Bauch, der andere hatte ihn von hinten an der Schulter erwischt. Offenbar hatte er sich nach der Kugel in den Bauch noch ins Auto schleppen und losfahren können.

Aber jetzt war er mausetot.

Bount durchsuchte kurz die Taschen des Dealers und fand ein Notizbuch, das er flüchtig durchblätterte. Eine Seite riss er sich heraus. Die Eintragung bestand schlicht aus einem fürchterlich hingeschmierten und kaum leserlichen 'Bill' und einer Nummer. Wahrscheinlich eine Telefonnummer.

Vermutlich war es Bill O'Maras Nummer. Auf dem Rauschgiftdezernat hatte man Bount erzählt, dass O'Mara unbekannt verzogen war. Vielleicht war das nur ein Ablenkungsmanöver. Ein Trick, um ihn von dem Rotschopf und damit von Parker - fernzuhalten. Aber wenn es die Wahrheit war, konnte diese Nummer Gold wert sein.

Parker war tot - und wer immer ihn auch auf dem Gewissen haben mochte - die Pläne des Rauschgift-Dezernats waren damit durchkreuzt. Parker würde keine großen Hintermänner mehr verraten können. Sein Mund war für immer verschlossen. Bount kam aus dem Wagen heraus und hörte ein Geräusch, das ihn herumfahren ließ.

Bount sah eine schemenhafte Gestalt, die zur Hälfte im Schatten stand. Es war Bill O'Mara. Als der Rotschopf Bount sah, zögerte er nicht eine Sekunde, riss die Waffe hoch, die er in der Rechten hielt und feuerte wild drauflos. Bount sah das Mündungsfeuer aufblitzen und duckte sich hinter das Heck des BMW, während die Kugeln Löcher ins Blech rissen.

Was in O'Maras Kopf vor sich ging, konnte man sich leicht denken. Jemand hatte seinen Boss erschossen und jetzt sah er einen Mann bei dessen Leiche, den er für einen Gorilla der Konkurrenz hielt. Der Fall musste ihm klar erscheinen. Als das Feuer etwas verebbte, tauchte Bount aus seiner Deckung hervor, und brachte seine Automatic in Anschlag. Bount ballerte einmal in O'Maras Richtung. Der Rotschopf feuerte noch einmal zurück und dann machte es 'klick!'. Er hatte seine Waffe leergeschossen und rannte nun davon. Bount kam hinter dem BMW hervor und spurtete hinterher.

Die Jagd ging durch die Einfahrt, aus der BMW gekommen war.

O'Mara war sicher stark wie ein Bär, aber kein sehr schneller Läufer. Bount holte zusehends auf. O'Mara begann zu keuchen. Aus der Jackentasche fingerte er dabei ein Ersatzmagazin für seine Pistole.

Er drehte sich halb herum und sah, dass Bount ihn einholen würde. O'Mara hielt an, schob das Magazin in den Pistolengriff und ballerte einen Sekundenbruchteil später los.

Bount duckte sich hinter einen Pulk von Mülltonnen. Die Projektile, die die Blechtonnen schrammten, verursachten eine ganz eigene Art von Musik. Dann rannte O'Mara weiter und erreichte den Wendehammer mit Parkplatz, der sich vor dem Hintereingang des Mega Star befand. Dabei ballerte er mehr oder weniger ungezielt nach hinten.

Bount konnte sich denken, was O'Maras vorhatte.

Er wollte im Dämmerlicht des Mega Star zwischen den vielen Menschen untertauchen. Und wahrscheinlich war das auch das Aussichtsreichste, was der Rothaarige im Moment versuchen konnte.

Einen Augenblick später sah Bount ihn durch den Hintereingang verschwinden. Es würde alles andere, als leicht sein, ihn da drinnen aufzutreiben. Aber vielleicht war es die letzte Gelegenheit, bevor O'Mara ganz abtauchte. Schließlich hatte man seinen Boss umgebracht und er hatte sicher keine Lust, ebenso zu enden.

Bount hatte den Wendehammer zur Hälfte überquert, da sah er mit den Augenwinkeln einen Mann zwischen zwei parkenden Wagen auf dem Asphalt liegen. Ein leises Röcheln war zu hören.

Wer immer er auch sein mochte, einfach liegen lassen konnte man ihn schlecht. Bount ging zu ihm, hielt dabei aber den Finger straff um den Abzug der Automatic gelegt, denn nur wenige Zoll neben dem Kerl lag etwas auf dem Boden, das wie eine MPi aussah.

Der Mann blickte auf.

Das eigentlich weiße Hemd unter seinem Jackett war rot eingefärbt. Er blutete auch aus dem Mund. Bount beugte sich über ihn, aber da schien jede Hilfe zu spät zu kommen. Er würde sterben, und seinem Blick nach wusste er das auch. Er sank nach hinten, seine Augen erstarrten.

In seinem Rücken hörte Bount dann ein Geräusch. Er drehte den Kopf und blickte in die blanke Mündung eines 38er Special.

Eine Sekunde lang hing alles in der Schwebe. Ein nervös wirkendes Augenpaar fixierte Bount.

"Keine Bewegung und Waffe weg!"

Drei, vier Bewaffnete stürmten zusätzlich heran. Allesamt mit schussbereiten Waffen. Bount hatte nicht den Hauch einer Chance.

"Polizei!", rief einer von ihnen und holte seine Marke hervor. Bount ließ die Automatic auf den Asphalt fallen und hob langsam die Hände. "Seid ihr vom Rauschgift?"

"Mund halten!", zischt jemand. "Sie haben das Recht zu schweigen..."

Bount kannte den Spruch auswendig. Ein paar Sekunden später waren seine Hände mit Handschellen zusammengekettet, während einer der Männer versuchte, Reinigers Lizenz so zu halten, das etwas Licht darauf fiel.

Der Mann war klein und untersetzt. Zwischen Nase und Stirn hatte er eine markante Falte, die seinem Gesicht etwas Unfreundliches gab. Auf seinem Kopf waren kaum noch Haare. Sozusagen als Ausgleich dafür hatte er sich die Koteletten stehen lassen.

"So, Privatdetektiv sind Sie also...", murmelte er und trat nahe an Bount heran.

"Reiniger... Ich habe Ihren Namen schon einmal gehört!"

"Kann gut sein. Ich habe oft mit der New Yorker Polizei zusammengearbeitet!"

Der Glatzkopf lachte heiser und bleckte dabei die Zähne. Er war ein bissiger Hund, das war Bount gleich klar.

"Was Sie nicht sagen, Reiniger! Diesmal scheinen Sie aber auf der anderen Seite zu stehen!"

Bount kniff die Augen zusammen. "Was soll das heißen?" Der Glatzkopf deutete auf den Toten. "Vielleicht erklären Sie uns mal, was hier passiert ist!"

"Denken Sie, dass das auf mein Konto geht?" Der Glatzkopf zuckte die Achseln. "Ich glaube gar nichts. Aber wenn wir jemanden antreffen, der sich mit einer Automatic in der Hand über einen Toten beugt, der gerade ein paar Kugeln abgekriegt hat, dann wird man ja wohl mal fragen dürfen, oder?"

"Meine Kugeln waren es nicht."

"Wird sich herausstellen, Reiniger!"

Ein schlaksiger Kerl, der offenbar auch zu den Polizisten gehörte kam heran. "Lieutenant! Dahinten liegt Parker in seinem Wagen. Auch erschossen!"

Der Glatzkopf bleckte die Zähne. Er hatte nicht eine Sekunde den Blick von Bount abgewandt. "Sieh an!", zischte er. "Geht der auch auf Ihr Konto?"

"Nein."

"Und sonst haben Sie nichts dazu zu sagen?"

"Ich war nicht dabei, als es passierte!"

"Sehr witzig!"

Sie nahmen Bount in die Mitte und führten ihn ab.

22

"Nehmen Sie dem Mann die Handschellen ab!", befahl Captain Hayes vom Rauschgiftdezernat, als man Reiniger in das Büro geführt hatte.

Der Glatzkopf machte ein Gesicht, als wäre sein Vorgesetzter so etwas wie ein Gespenst.

"Aber Captain!"

"Hören Sie schwer? Ich kenne den Mann! Er wird mir schon nichts tun!", erwiderte Hayes unwirsch. Dann nahm er einen Schluck aus dem Pappbecher mit schwarzem Kaffee, den er in der Linken hielt und verzog anschließend das Gesicht zu einer Grimasse.

Bount rieb sich die Handgelenke, nachdem seine Hände wieder frei waren und setzte sich dann auf den freien Stuhl. Hayes schickte den Lieutenant hinaus und meinte dann: "Das ist Cunningham. Er ist neu zu uns versetzt worden und sehr ehrgeizig."

Bount grinste schief. "Habe ich gemerkt. Er scheint etwas übereifrig zu sein!"

Hayes zuckte dazu nur mit den Schultern. "Sie sind gewarnt worden, Reiniger!", gab er zu bedenken.

"Ich habe sowohl Parker als auch O'Mara in Ruhe gelassen!" Bount erzählte in knappen Worten, was passiert war und Hayes nickte schließlich.

"Parkers Konkurrenz scheint uns einen Strich durch die Rechnung gemacht zu haben", murmelte Hayes dann. "Ein Mann namens Buzzati, dessen Gorillas äußerst brutal vorgehen steckt vermutlich dahinter. Aber ob man das je wird beweisen können, ist fraglich."

Das Telefon klingelte. Hayes nahm ab, gab einige Jas von sich und legte nach ein paar Sekunden wieder auf. Dann wandte er sich an Bount. "Sie können gehen, Reiniger."

"Was ist passiert?"

"Tun Sie einfach, was ich sage und seien Sie froh, dass hinter diesem Schreibtisch nicht Cunningham sitzt!"

"Was ist mit O'Mara?"

Hayes die Augenbrauen. "Wovon sprechen Sie?"

"Ist er immer noch tabu, nachdem Parker tot ist?"

"Was haben Sie gegen den Mann?"

"Nichts Persönliches. Nur, dass er vielleicht ein Mörder ist!" Hayes lehnte sich zurück und musterte Bount nachdenklich.

"Ach, ja?" Dann schüttelte er den Kopf und meinte: "Dass O'Mara kein Heiliger ist, kann ich mir auch denken, aber..."

"Ich glaube, dass O'Mara zusammen mit einem zweiten Mann jemandem eine Spritze verabreicht hat, die in hoher Dosis das Zeug enthielt, mit dem Parker dealte. Das Opfer ist wenig später Amok gelaufen und erschossen worden."

"Ich habe davon gehört", murmelte Hayes. "Diese Brannigan Sache, nicht wahr? Sie sollten mit ihrem Freund Rogers darüber reden, nicht mit mir!"

Bount zuckte die Achseln. "Sie sind es doch, der die Hand über O'Mara hält! Also ist es vielleicht doch besser, mit Ihnen zu reden, finden Sie nicht?"

Hayes winkte ab. "Sie reden Unfug, Reiniger! Sagen Sie mir, weswegen O'Mara so etwas tun sollte?"

"O'Mara hat Brannigan vor Jahren überfallen und seinen Begleiter dabei erschossen."

"Davon steht nichts in O'Maras Akten."

"Die Täter wurden nie gefasst. Die Sache ist im Sande verlaufen. Aber dann haben die beiden sich offenbar zufällig wiedergetroffen! O'Mara könnte Brannigan umgebracht haben, weil dieser ihn identifizieren konnte."

Hayes verzog das Gesicht und schüttelte energisch den Kopf.

"Zu weit hergeholt, Reiniger! Ich glaube nicht daran!"

"Wenn er es nicht war, dann ist er zumindest ein wichtiger Zeuge!"

"Lassen Sie ihn in Ruhe, Reiniger! Und wenn Sie diesmal nicht auf mich hören, dann werde ich Ihnen ganz empfindlich auf die Finger klopfen! Und zwar so, dass Ihnen auch Ihr Freund Rogers nicht mehr helfen kann!"

Bount erhob sich. Er konnte es nicht ausstehen, auf diese Weise unter Druck gesetzt zu werden. Irgendetwas war hier faul, das sagte ihm sein Spürsinn ganz deutlich.

Hayes erhob sich auch, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und funkelte Reiniger mit seinen hellblauen Augen wütend an.

"Was glauben Sie, wie schnell eine Lizenz weg sein kann, Reiniger! Wir haben Sie ja nicht irgendwo aufgegriffen, sondern an einem Ort, an dem gerade eine Schießerei stattgefunden hatte! Wer weiß, welche Rolle, Sie wirklich dabei gespielt haben... Man kann das so oder so auslegen, wenn Sie verstehen, was ich meine..."

Bount verstand es nur zu gut. Er blieb trotzdem gelassen.

"Sagen Sie mir einfach, was mit diesem O'Mara ist!", erwiderte er. "Alles, was Sie gegen die Hintermänner dieses Arnold Parker unternehmen wollten, ist doch erst einmal geplatzt. Und O'Mara ist doch nur ein bezahlter Schläger, der seinem Boss den Rücken freihält - wobei er ganz offensichtlich im entscheidenden Moment nicht so richtig auf Draht war." Hayes atmete tief durch. Eine Sekunde später hatte Bount den Zeigefinger seines Gegenübers dicht vor dem Gesicht. "Ich habe Sie jedenfalls gewarnt!"

Bount lächelte dünn. "Ich habe es gehört!"

"Verschwinden Sie! Und laufen Sie unseren Leuten nicht wieder über den Weg!"

"Was ist mit meiner Kanone?"

"Die können Sie sich abholen, wenn sie ballistisch untersucht wurde!"

"Sie wissen, dass das absurd ist!"

"Mir ist jedenfalls wohler dabei, wenn Sie eine Weile ohne Knarre herumlaufen!"

23

Als Bount bei Pamela McGreedy auftauchte, war es schon kurz nach zwei.

"Ich wette, Ihre Klienten lassen Sie nie so lange warten!", meinte sie. Pamela trug einen Seiden-Kimono, der den größten Teil ihrer langen Beine frei ließ.

Bount lächelte matt.

"Sie sind ja auch nicht meine Klientin!"

"Ich habe es ihnen angeboten!"

"Und ich habe es abgelehnt." Er hob die Schultern. "Wollen wir wirklich wieder damit anfangen?"

Sie gingen in die Wohnung. Sie ging vor ihm her und dabei glitt Bounts Blick an ihrer perfekten Figur entlang.

"Was ist passiert?", fragte sie dann.

"Eine Schießerei, zwei Tote, eine unerfreuliche Unterhaltung mit einem Police-Captain und jetzt bin ich erst einmal meine Kanone für eine Weile los!" Bount zuckte die Schultern und fügte dann ironisch hinzu: "Nichts besonderes, also! Sie werde sich Ihre Muntermacher übrigens demnächst woanders besorgen müssen."

"Wieso?"

"Der Kerl mit dem Schmieröl im Haar ist tot!" Pamela sah Bount verwundert an. "Warum sagen Sie mir das, Bount?"

Bount zuckte die Achseln. "Nur so. Ich dachte, es interessiert Sie vielleicht. Sie sprachen von einem Rothaarigen, der Brannigan zusammen mit einem zweiten Mann erwartet hat."

"Ja", nickte sie.

"Wie sah der Zweite aus?"

"Ich erinnere mich nicht."

"War es Parker?"

"Der mit der Pomade im Haar?" Sie schüttelte den Kopf.

"Nein. Das wäre mir sicher aufgefallen."

"Irgendetwas muss ihnen doch zu dem Kerl einfallen, Pam!

Ganz gleich, was es auch ist! Jede Kleinigkeit kann wichtig sein!"

Sie trat an ihn heran. Ihre Arme legten sich um seinen muskulösen Nacken. Es war ein harter Tag für Bount gewesen, aber die körperliche Nähe dieser außergewöhnlichen Frau brachte auf einen Schlag einen Teil seiner Lebensgeister zurück. "Ist das denn so wichtig, Bount?", fragte sie dann nach einer Pause.

Bount zuckte mit den Schultern.

"Ich dachte, ich soll Ihnen glauben", murmelte er. Sie sah ihn offen an und schien einen Moment lang nachzudenken. "Er hatte eine Mütze auf", sagte sie. "Von hier oben habe ich sonst auch nichts von ihm sehen können."

"Was für eine Mütze?"

"Eine Schiebermütze aus dunkelrotem Leder." Dann spürte Bount ihre vollen Lippen auf den seinen. Irgendetwas verursachte ein seltsames, raschelndes Geräusch. Im nächsten Moment bemerkte Bount, dass Pamelas Kimono zu Boden geglitten war.

24

Am nächsten Morgen war das Wetter scheußlich. Es begann zu nieseln, als Bount den champagnerfarbenen Mercedes am Straßenrand abstellte. Die Nummer, die Bount aus Parkers Notizbuch hatte, gehörte zu einer Adresse in dieser Straße. Bount stieg aus und sah zu, so schnell wie möglich durch die Nässe zu kommen. Ein paar Minuten später stand er vor einer Wohnungstür im 4. Stock eines etwas heruntergekommenen Altbaus. An Parkers schlechter Bezahlung für O'Maras Gorilla Dienste lag es wohl kaum, dass er hier wohnte. Vermutlich wollte er einfach nicht auffallen. Und dazu war dies genau die richtige Adresse. Die Fluktuation unter den Mietern war groß, kaum einer kannte den anderen. Wer etwas Besseres fand, verschwand so schnell wie möglich auf Nimmerwiedersehen.

O'Mara hatte hier nicht einmal einen Postkasten. Bount ging die Treppe hinauf. Die Wände waren beschmiert, der Fahrstuhl defekt.

Als Bount dann wenig später vor O'Maras Tür stand, drückte er die Klingel, ohne zu wissen, ob sie auch funktionierte. Dann klopfte er. Vielleicht war O'Mara gar nicht mehr dort und längst untergetaucht. Bount öffnete schließlich die Tür mit einem kleinen Drahtstück.

Bevor der Privatdetektiv eintrat, zog er einen 38er Revolver unter dem Jackett hervor, den er ersatzweise bei sich trug. Auf seine Automatic musste er wohl noch eine ganze Weile warten, denn Hayes würde es mit der Untersuchung der Waffe wohl kaum besonders eilig haben.

Aber ohne Waffe die Wohnung von Bill O'Mara zu betreten, das wäre unter Umständen glatter Selbstmord gewesen. Wie leicht der Kerl zur Waffe griff, hatte er ja bereits unter Beweis gestellt.

Die Wohnung bestand aus zwei Räumen, Küche und Bad. Und was Bount auf den ersten Blick mitbekam, sah nicht danach aus, als wäre hier jemand überstürzt abgereist. Der Privatdetektiv sah sich ein bisschen im Wohnzimmer um. Aber er fand nichts, wovon er glaubte, dass es ihn weiterbringen konnte. Immerhin wirkte das Bett im Schlafzimmer benutzt und im Bad war noch seine Zahnbürste. Vielleicht war O'Mara nur kurz weg.

Bount setzte sich in einen der Sessel im Wohnzimmer und wartete. Ein Foto fiel ihm dabei auf, dass O'Mara in einen Rahmen getan hatte. Es zeigte ihn zusammen mit einer sehr hübschen, dunkelhaarigen Frau, deren Gesicht Bount schon einmal gesehen zu haben glaubte. Im Moment hatte er allerdings keine Ahnung, wo das gewesen war.

Ungefähr eine Dreiviertelstunde dauerte es, dann tat sich etwas an der Tür. Jemand kam in großer Eile herein und durchquerte den Flur mit wenigen Schritten. Er rannte ins Schlafzimmer und schien dort ein paar Sachen zusammenzusuchen. Jedenfalls stand er einen Moment später mit einer halboffenen Reisetasche in der Wohnzimmertür. Es war O'Mara.

Als Bount erblickte, erstarrte er von einer Sekunde zu nächsten zu einer Art Salzsäule. Der Anblick der Mündung des 38er Revolvers in Reinigers rechter Hand schien ihn völlig zu lähmen.

"Die Tasche fallen lassen und an die Wand!", befahl Bount. Eine Sekunde lang nur schien O'Mara mit dem Gedanken zu spielen, seine eigene Waffe herauszureißen. Aber schien einzusehen, dass er keine Chance hatte. Die Tasche plumpste auf den Boden. Er drehte sich und stellte sich an die Wand.

"Was soll das?", murmelte, während Bount von hinten an ihn heran trat. "Warum knallen Sie mich nicht einfach ab? Sie haben es doch gestern schon mal versucht!"

"Ich will Sie nicht abknallen!", erwiderte Bount kühl. "Es sei denn, Sie zwingen mich dazu!"

O'Mara blickte etwas verwirrt drein.

"Was wollen Sie dann?"

"Erst einmal Ihre Waffe!"

Bount zog sie ihm aus dem Hosenbund heraus.

"Und was jetzt?", knurrte O'Mara.

"Drehen Sie sich um und setzen Sie sich in den Sessel da vorne!"

Er gehorchte und blickte Bount dabei giftig an. Als er saß, musste der Rotschopf unwillkürlich schlucken. Der Mann hatte Angst. Vor all Dingen wohl deshalb, weil er Reiniger noch immer für einen Killer der Konkurrenz hielt.

Wahrscheinlich konnte Bount in dieser Beziehung sagen, was er wollte. O'Mara würde es kaum glauben.

"Bringen Sie's schon hinter sich! Bei Parker waren Sie auch nicht so zimperlich!"

"Ich habe Ihren Boss nicht umgebracht!", stellte Bount sachlich fest, ohne dass das auf sein Gegenüber großen Eindruck machte.

O'Mara lachte heiser. "Nein, du vielleicht nicht persönlich... Aber du warst dabei!"

"Mein Name ist Bount Reiniger! Ich bin Privatdetektiv. Mit den Leuten, mit denen Sie sich ansonsten Schießereien liefern, habe ich nichts zu tun!"

Der Rothaarige runzelte die Stirn. "Ich verstehe nicht..."

"Sie heißen Bill O'Mara..."

"Na, und?"

Bount holte ein ausgeschnittenes Zeitungsfoto aus der Jackentasche und hielt es O'Mara hin. "Kennen Sie den Mann?"

"Nie gesehen!"

"Sie haben überhaupt nicht hingeschaut!" Jetzt schaute er hin. Und er verlor den letzten Rest an Gesichtsfarbe. Er atmete tief durch und meinte dann: "Was soll das ganze eigentlich?"

"Der Mann hieß Walt Brannigan - aber ich nehme an, dass Sie das wissen."

"Sie irren sich!"

"Jemand hat Sie gesehen, als sie Ihn zusammen mit einem Komplizen in Empfang genommen haben. Er wolle in seinen Ferrari steigen, aber Sie haben dafür gesorgt, dass er vorher noch eine Spritze bekam! Es sollte wie ein Unfall aussehen..." Er schluckte und gestikulierte mit den Händen. Er wollte schon aufspringen, aber Bount hielt ihm den Lauf des 38er unter die Nase und das beruhigte ihn wieder.

O'Mara grinste schwach. "Warum sollte ich so etwas tun?", fragte er. "Wie gesagt, ich kenne diesen Mann überhaupt nicht!"

"Sie haben ihn vor acht Jahren überfallen."

"Das ist nicht wahr!"

"Zusammen mit einem Komplizen!"

"Sie erzählen hier nur irgendetwas!" O'Mara schnappte nach Luft. Die Sache ging ihm viel näher, als er zugeben wollte.

"Bei dem Überfall kam jemand ums Leben!" Bount zuckte die Achseln. "Vielleicht hat Ihnen so etwas damals ja noch etwas ausgemacht... Jedenfalls haben Sie dann Brannigan zufällig in einem Kaufhaus wiedergetroffen. Nach all den Jahren hat er Sie erkannt. Und das bedeutete sein Todesurteil, nicht wahr? Sie haben vermutlich eine ganze Weile gebraucht, bis Sie Brannigan ausfindig gemacht hatten. Aber Sie haben es schließlich geschafft. Das Risiko war Ihnen einfach zu groß..."

"Sie sind verrückt!"

"So? Brannigan hat Sie porträtiert. Für seinen Therapeuten hat er die Szene des Überfalls immer wieder gemalt. Ihr Gesicht ist gut zu erkennen. Ihre roten Haare, die Narbe..."

"Sie bluffen..."

Bount lächelte dünn. "Darauf würde ich mich an Ihrer Stelle nicht verlassen!"

"Was wollen Sie denn? Die Polizei verständigen? Mich festnehmen lassen?" Er lachte, aber in diesem Lachen schwang schon so etwas wie Verzweiflung mit.

"Warum nicht?"

"Kein Gericht wird mich verurteilen!"

"Das muss man abwarten."

O'Mara beugte sich etwas vor und hob die Hände. "Hören Sie, Mister, wir können uns bestimmt einigen..." Bount verzog das Gesicht. "Sie können mich nicht kaufen!"

"Das glaube ich nicht!", erwiderte O'Mara. "Jeder hat seinen Preis. Auch Sie!"

"Und Sie glauben, ihn bezahlen zu können?"

"Wie viel wollen Sie?"

"Wer war Ihr Partner?"

O'Mara stierte Bount an, als hätte er ein Gespenst vor sich.

"Ich glaube, ich habe mich verhört!"

"Der Mann, der Ihnen geholfen hat, Brannigan zu töten! Der mit der dunkelroten Mütze..."

O'Maras Blick gefror zu Eis. Und für Bount war stand es nun endgültig fest, dass er tatsächlich einen von Brannigans Mördern vor sich hatte.

Im nächsten Moment klingelte es an der Tür.

25

Bount musterte O'Mara fragend, aber der wirkte genauso verwirrt. Seine Finger krampften sich in die Sessellehnen.

"Wer kann das sein?"

"Ich weiß es nicht. Ich erwarte niemanden."

"Gehen Sie zur Tür."

Er schüttelte den Kopf. "Sie wollen, dass jemand anderes Ihre Arbeit erledigt, was?"

"Ich will nur, dass Sie durch den Spion schauen." Es klingelte jetzt bereits zum zweiten Mal. Bount spannte den Hahn des Revolvers. O'Mara stand auf und dann gingen Sie zur Wohnungstür. Bount warf einen kurzen Blick durch den Spion. Draußen stand der Kerl mit der dunkelroten Schiebermütze. Von seinem Gesicht konnte man nur die obere Hälfte sehen, da er den Kragen seines Long-Jacketts hochgeschlagen hatte.

Der Mann blickte sich um und schien nervös zu sein.

"Es ist Ihr Partner", flüsterte Bount. "Überzeugen Sie sich selbst!"

O'Mara gehorchte und nickte dann.

"Was soll ich machen?"

"Mach auf, Bill! Ich bin's! Logan!", kam es indessen von draußen durch die Tür. "Verdammt noch einmal, ich weiß, dass du da bist!"

Bount stellte sich so neben die Tür, dass man ihn nicht sehen konnte, wenn geöffnet wurde. Er machte O'Mara ein Zeichen, das ihm bedeuten sollte, den Kerl hereinzulassen. Die Revolvermündung hielt Bount dabei in Kopfhöhe auf O'Mara gerichtet.

"Einen Moment!", rief der Rothaarige. "Ich komme!" O'Mara machte die Tür auf und hatte dann nicht einmal mehr eine volle Sekunde zu leben.

Dreimal kurz hintereinander gab es ein Geräusch, das Ähnlichkeit mit einem verhaltenen Niesen hatte und von einer Pistole mit Schalldämpfer herrührte. O'Mara bekam zwei Kugeln in den Oberkörper, die dritte durchschlug seinen Hals. Er taumelte rückwärts und schlug dann der Länge nach hin, während in seinen erstarrten Zügen blankes Unverständnis stand.

Der Killer machte sich mit schnellen Schritten davon. Bount setzte ihm nach. Der Kerl drehte sich herum und feuerte sofort, als er den Privatdetektiv aus der Wohnungstür treten sah. Logan schoss schnell und ungezielt. Die Kugeln pfiffen über Bount hinweg und kratzten an den kahlen Wänden. Bount nahm Deckung in einer Türnische und setzte zu einem Spurt an, nachdem der Geschosshagel abebbte.

Dann ging es ins Treppenhaus. Logan rammte rücksichtslos eine Frau zur Seite, die mit zwei vollen Einkaufstaschen auf dem Weg nach oben war. Die Frau stolperte. Der Inhalt ihrer Papiertaschen verteilte sich über die Stufen.

Als Logan seinen Verfolger auftauchen sah, schoss er sofort los. Bount blieb nichts anderes übrig, als in Deckung zu gehen. Indessen packte Logan die Frau, riss sie hoch, und hielt sie wie einen Schutzschild vor sich. Die Frau zitterte. Sie wagte es nicht, sich zu wehren.

Als Bount aus seiner Deckung hervorkam, wusste er, dass diese Runde an seinen Gegner ging. Bount konnte nichts tun, als zusehen, wie Logan die Frau vor sich her zog. Die Waffe hatte der Kerl dabei nicht auf seine Geisel gerichtet, sondern auf Bount.

Er schoss ein paar mal. Bount duckte sich. Dann war Logans Pistolenmagazin leer. Er fluchte leise vor sich hin, zog die Frau mit sich und hetzte mit ihr hinab.

Als er das nächste, niedrigere Stockwerk erreicht hatte, ließ er seine Geisel los und hetzte den Flur entlang und lud dabei seine Waffe nach.

Bount spurtete hinterher. Als er den Flur erreichte, sah er Logan gerade eine Tür eintreten.

"Stehen bleiben!", rief Bount mit angelegter Automatic. Sie schossen fast gleichzeitig. Bount warf sich seitwärts in Deckung, während Logan in die Wohnung hineinstürmte. Als Bount kurze Zeit später die Wohnung erreichte, stand ihm ein ziemlich aufgeregter Mann gegenüber. Er stand im Unterhemd da und hielt eine Eisenstange in der Hand, während sich eine Frau und zwei Kinder an der Küchentür herumdrückten.

"Wo ist der Kerl?", fragte Bount knapp.

Der Kerl erwiderte etwas in einer Sprache, die Bount noch nie gehört hatte, geschweige denn auch nur ein einziges Wort davon verstand.

Aber der Mann wirkte sehr entschlossen, trotz des 38ers in Bounts Hand.

Er wollte seine Familie schützen. Was sollte er auch von zwei Bewaffneten halten, die nacheinander durch seine Wohnung stürmten?

Er nahm die Eisenstange mit beiden Händen und kam sogar noch einen Schritt näher. Die Frau rief etwas, eines der Kinder schrie.

Hier ist Endstation!, dachte Bount. Der Mann mit der Eisenstange stand da wie ein Stier.

Bount lief zurück auf den Flur und rannte dann die Treppen hinunter. Bount konnte such denken, was Logan gemacht hatte. Er hatte die Feuerleiter genommen, die sich irgendwo an der Hinterfront des Gebäudes befinden musste.

Im Erdgeschoss gab es einen Hinterausgang.

Bount stürmte hinaus und kam in einen Hinterhof, in dem ein Müllcontainer und mehrere abgestellte Wagen standen. Der Mann, den O'Mara Logan genannt hatte, hatte die Feuerleiter noch nicht bis nach unten geschafft. Gut anderthalb Stockwerke fehlten ihm noch.

Bount grinste.

Der Kerl schien nicht schwindelfrei zu sein. Sein Gesicht war aschfahl, und er bewegte sich nur sehr langsam.

Bount hob den 38er und kam näher.

"Keine Bewegung!", rief er zu dem Kerl namens Logan hinauf.

"Ich mache alles, was Sie sagen!", kam es zurück. Logan schien einer Panik nahe zu sein.

Er klammerte sich mit beiden Händen fest. Die Pistole hatte er offenbar eingesteckt, aber so konnte er sie ohnehin nicht herausziehen.

"Und jetzt schön langsam herunterkommen!", wies Bount den Killer an.

"Nicht schießen!", rief dieser. "Ich komme!" Es ging in Zeitlupe vorwärts. Bount hielt ihn dabei genau im Auge. Logan war ein gerissener Kerl. Wenn er eine Chance witterte, würde er sie sofort nutzen.

Er sollte diese Chance bekommen...

26

Bount nahm die Bewegung nur mit den Augenwinkeln war und wirbelte herum. Aber es war zu spät. Er blickte in ein giftig funkelndes Augenpaar und eine Revolvermündung.

"Polizei! Waffe weg!"

Es war niemand anderes, als der glatzköpfige Cunningham, der da in der geöffneten Hintertür stand. Annähernd im selben Moment fasste Logan den letzten Rest an Mut zusammen und gelangte von der Feuerleiter auf einen der schmucklosen Balkons.

"Da oben, Cunningham! Da ist O'Maras Mörder!" Cunningham kam näher und schüttelte den Kopf. "Der Trick ist so alt wie nur sonst was, Reiniger! Glauben Sie wirklich, ich falle darauf herein? Ihre Waffe!"

Cunningham spannte den Revolverhahn. Er meinte es ernst und soviel war Logan nun auch nicht wert, dass Bount sich für ihn ein Loch in den Kopf schießen lassen wollte.

"Sie sind ein verdammter Idiot, Cunningham!", knurrte Bount ärgerlich.

"Ach, ja? Aber Sie halten sich für sehr schlau, was?" Cunningham lachte heiser. "Das kostet Sie Ihre Lizenz, Reiniger! Und wer weiß! vielleicht auch noch mehr als das!" Cunningham konnte es dann doch nicht lassen und wandte einen flüchtigen Blick die Hauswand hinauf. Aber von Logan war natürlich längst nichts mehr zu sehen.

Cunningham grinste schief.

"Sehen Sie!", meinte er triumphierend. "Da ist niemand! Und da war auch nie jemand."

"Wahrscheinlich spaziert er jetzt gerade seelenruhig durch das Treppenhaus!"

"Hören Sie auf damit, Reiniger!"

Bount sah ihn offen an. Und dabei fragte er sich, wie es kam, dass dieser bissige Hund hier so schnell aufgetaucht war. Vielleicht hatte jemand wegen den Schüssen die Polizei gerufen. Aber Cunningham gehörte zur Drogenfahndung, die war sicher nicht die erste Adresse, die dann gerufen worden wäre.

"Sie haben diesen Kerl nur erfunden!", zischte Cunningham indessen.

Bount verdrehte die Augen. "Warum sollte ich so etwas tun?"

"Weiß ich noch nicht. Aber ich werde es herauskriegen, Reiniger!" Er bückte sich und nahm Bounts 38er an sich. "Was suchen Sie hier?"

Bount zuckte die Achseln.

"Ich wette, dass Sie darauf auch schon eine Antwort parat haben."

"Ich war oben bei O'Mara! Jemand ihn durchsiebt!"

"Ja, und Sie haben gerade dafür gesorgt, dass mir der Kerl durch die Lappen gegangen ist!"

"Ist doch seltsam, Reiniger. Ich finde Sie in der Nähe von Arnold Parkers Leiche und jetzt bei dem toten O'Mara. Ich frage mich, was Sie mit der Sache zu tun haben!" Bount nickte. "Ja, und Sie waren auch immer schnell zur Stelle!"

"Ich mache meinen Job!"

"Ach, ja? Und wie kommt es dann, dass Ihnen und Ihren Leuten Bill O'Mara nach der Schießerei hinter dem Mega Star nicht in die Arme gelaufen ist?"

"Die Fragen stelle ich, Reiniger!", knurrte Cunningham ärgerlich zwischen den Zähnen hindurch.

"Einige Ihrer Leute sind genau aus dem Hintereingang gekommen, in den O'Mara gerade verschwunden war! Wenn Sie Parker beobachtet haben, müssten Sie doch wissen, dass O'Mara für ihn arbeitete. Warum haben Sie ihm nicht wenigstens ein paar Fragen gestellt?"

"Mund halten!"

"Ich glaube auch kaum, dass Sie zufällig hier und jetzt aufgetaucht sind, Cunningham!"

Bount griff in seine Jackentasche, um seine Zigaretten herauszuholen, aber das machte Cunningham nur nervös. Er hob den Revolverlauf. "Keine Dummheiten!"

"Sie sollten mich jetzt besser gehen lassen!"

"Das könnte Ihnen so passen! Meine Leute kommen gleich und Sie werden solange hier bleiben!" Er trat nahe an Bount heran. "O'Mara war unser Spitzel!"

27

"Du wirst nichts mehr in der Sache unternehmen!", dröhnte Captain Rogers aufgebracht. "Deine Lizenz ist vorläufig eingezogen worden und alles, was du jetzt tust, kann dich nur tiefer hineinreiten!"

Rogers hatte nach Dienstschluss noch bei Bount Reiniger in der Seventh Avenue vorbeigeschaut. Und jetzt ging er aufgebracht in Bounts Büro auf und ab und redete auf seinen Freund ein. "Du kannst froh sein, dass man dich auf freiem Fuß gelassen hat, Bount! Deine Lage ist alles andere als rosig! Du solltest dich auf einiges gefasst machen!"

"Ich weiß", nickte Bount. "Gerade deshalb werde ich nicht stillsitzen - ob mit Lizenz oder ohne!"

Rogers wandte sich an June March, die am Fenster lehnte.

"Mach du es ihm klar, June, vielleicht hast du ja mehr Erfolg!" June zuckte die Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Das glaube ich kaum", meinte sie.

"Ich muss diesen Logan finden", meinte Bount.

"Außer dir hat ihn niemand gesehen, Bount", gab Rogers zu bedenken.

"Was ist mit der Frau, die der Kerl auf der Treppe als Geisel genommen hat?"

"Wir suchen nach ihr, Bount. Aber im Haus ist angeblich niemand überfallen worden und gemeldet hat sie sich auch nicht. Vermutlich will sie nichts mit der Polizei zu tun haben. Du kannst dir ja denken, warum. Ich tippe auf fehlende Papiere oder so etwas."

"Und die Leute, durch deren Wohnung dieser Logan geflüchtet ist?"

"Das sind Ungarn. Bis wir einen vernünftigen Dolmetscher und eine vernünftige Aussage haben, kann es ein bisschen dauern."

Bount steckte eine Zigarette zwischen seine Lippen. Er wusste selbst, dass es nicht gut für ihn aussah.

Für Cunningham stand fest, dass Bount in der Sache drinsteckte, auch wenn sich bei den Laboruntersuchungen herausstellen sollte, dass sein 38er nicht die Waffe war, die O'Mara getötet hatte.

Bount konnte Cunningham seinen Verdacht noch nicht einmal wirklich übel nehmen. Vermutlich hätte er selbst genauso gedacht.

"Diesen Logan zu finden ist nicht so einfach, wie du denkst!", erläuterte indessen Rogers. "Du weißt ja nicht einmal, ob das nun sein Vor-oder Zuname ist. Er könnte auch falsch sein."

"Was ist mit dieser Syntho-Drogenszene?", meinte Bount. Aber Rogers schüttelte den Kopf. "Keiner, der sich Logan nennt und auf den deine Beschreibung passt. Das muss aber nichts heißen. Vielleicht ist er bisher einfach noch nicht genug aufgefallen!"

"Schöne Aussichten!"

"Du wirst dir unsere Fotosammlung noch einmal eingehend ansehen müssen, Bount!"

"Inzwischen kann der Kerl sonst wo sein!"

"Lass mich nur machen, Bount!", meinte Rogers. "Es ist ein Mordfall, deshalb kann ich mich um die Sache kümmern, auch wenn ich Hayes dabei ab und zu dazwischen funken muss." Bount blies den Zigarettenrauch heraus und wischte sich dann mit der flachen Hand über das Gesicht.

"O'Mara war Polizei-Spitzel", murmelte der Privatdetektiv dann. "Darüber müsste es doch Unterlagen geben!"

"Bekomme ich morgen. Aber ich würde mir nicht allzuviel Hoffnungen machen, dass wir so auf die Spur von diesem Logan kommen."

"Und O'Mara? Gibt es über den wenigstens etwas?"

"O'Mara hat als Kleinkrimineller angefangen. Wir wissen nicht viel über ihn, was eigentlich nur heißen kann, dass er zu den Cleveren gehört. Für Parker hat er seit einem halben Jahr gearbeitet."

"Und seit wann bedient er die Polizei?"

"Seit ein paar Monaten. Parker war drauf und dran in der Unterwelt-Hierarchie aufzusteigen. Er hätte O'Mara mit hinaufgezogen und dann wären seine Informationen sehr wertvoll geworden. Hayes sagte mir, dass Parker kurz davor war, sich mit den Herstellern zu treffen und direkt mit ihnen zu verhandeln. Das wäre die Chance gewesen, vielleicht den ganzen Ring hochgehen zu lassen."

Bount lehnte sich zurück.

"Ich habe sie nicht vermasselt!"

"Arnold Parker hat sich eine Menge Feinde gemacht, Bount!", stellte Rogers fest. "Da gibt es zum Beispiel einen Mann namens Buzzati, vor dem er ziemlich viel Angst zu haben schien! Vielleicht war dieser Logan einer von dessen Leuten!" Bount schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht. Dann hätten O'Mara und dieser Logan nicht gemeinsam Walt Brannigan umgebracht!"

"Das stimmt."

"Außerdem - warum sollte dieser Buzzati jemanden wie O'Mara umbringen, wo sich dessen Boss doch schon im Jenseits befand!"

"Vielleicht suchen wir in der falschen Schublade", meinte Bount dann, während er sich erhob.

Rogers hob die Augenbrauen. "Du meinst, dass Logan vielleicht gar nicht in diese Szene hineingehört!"

"Einen Mord begeht man nicht, um jemand anderem einen Gefallen zu tun. Nicht einmal einer wie dieser Logan würde das tun."

"Aber für ein paar Scheine werden Morde begangen!"

"Dann hätte O'Mara sich einen Profi nehmen können. Aber er hat die Sache selbst durchgezogen - mit Stoff, an den er über seinen Boss leicht herumkommen konnte. Warum dieses Risiko?"

"Wir können O'Mara nicht mehr fragen, Bount", erwiderte Rogers. "Und ich weiß im Augenblick auch nicht, worauf du eigentlich hinaus willst?"

"Das will ich dir sagen: Dieser Logan muss selbst ein Motiv gehabt haben, Brannigan umzubringen!"

"Du meinst, er war bei dem Überfall vor acht Jahren der zweite Mann?"

"Ja."

"Und weshalb hat dieser Logan dann O'Mara umgebracht seinen alten Partner und Komplizen?", mischte sich jetzt June ein. "Da sehe ich beim besten Willen keinen Sinn drin!" Rogers blickte auf die Uhr, wandte sich an Bount und meinte dann: "Wie auch immer! Ich denke, ich werde mein Überstunden-Konto für dich noch ein bisschen erhöhen müssen, Bount!"

28

In einer Stunde würde die Sonne aufgehen.

Bount Reiniger saß hinter dem Lenkrad seines champagnerfarbenen Mercedes, den er gegenüber dem Mega Star abgestellt hatte und blickte über die Straße. Vor einer halben Stunde hatte das Mega Star dicht gemacht. Jetzt kamen nach und nach die Angestellten.

Und dann sah Bount sie.

Eine langbeinige Dunkelhaarige, die auf ihren hochhackigen Schuhen überraschend schnell zu laufen wusste.

Bount stieg aus und ging über die Straße. Dabei blickte er sich um und sondierte die Lage. Er hatte nicht die geringste Lust, irgendjemandem vom Rauschgift-Dezernat über den Weg zu laufen.

Bount hatte sie eingeholt, als sie gerade den Schlüssel in die Tür eines Hondas steckte.

"Miss..."

Sie wirbelte herum und verlor vor den Schlüssel. Er klimperte auf die Bürgersteig-Platten. Bount trat ein paar Schritte näher, hob ihn auf und gab ihn ihr.

"Danke", stammelte sie.

"Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten", begann Bount. Aber sie schien alles andere, als begeistert davon zu sein.

"Nein, danke!", erwiderte sie kühl. "Solche Angebote kenne ich! Ich rate Ihnen, mich in Ruhe zu lassen, sonst schreie ich!" Und mit einer schnellen Bewegung hatte sie in die Tasche ihres dünnen Mantels gegriffen und eine Dose mit Reizgas herausgeholt. Bount reagierte blitzschnell, packte ihr Handgelenk und nahm ihr mit einem raschen Griff die Dose ab. Ihr Mund stand offen. Bevor sie schreien oder sonst etwas tun konnte, sagte Bount: "Es geht um Bill O'Mara! Wahrscheinlich wissen Sie schon, dass er erschossen wurde!"

"Woher wissen Sie, dass..." Ihre Stimme stockte. Ein Kloß schien ihr im Hals zu sitzen.

"Ich habe Sie zusammen mit O'Mara auf einem Bild gesehen. Es war in seiner Wohnung. Sie zwei auf dem Jahrmarkt. Ich wusste sofort, dass ich Sie schon einmal gesehen hatte, auch wenn ich es da noch nicht für wichtig hielt. Schließlich ist es mir doch noch eingefallen. Es war hier im Mega Star, wo ich Sie zum ersten Mal gesehen habe..."

"Ich habe bei Bill angerufen", sagte sie matt. "Es hat sich niemand gemeldet. Dann bin ich hingefahren. Überall war Polizei und hat nach Spuren gesucht..." Sie brach plötzlich ab und schluckte. Unwillkürlich rann ihr eine Träne über das Gesicht und verwischte das Make-up.

"Er hat Ihnen viel bedeutet, nicht wahr?", vermutete Bount, nachdem er einen Moment lang geschwiegen hatte.

"Ja, obwohl wir uns noch nicht lange kannten." Ein gezwungenes, fast verzweifeltes Lächeln flog über ihr hübsches Gesicht, das jetzt so traurig wirkte. "Wir waren richtig verliebt..." Sie blickte auf. "Wer sind Sie?"

"Mein Name ist Reiniger, ich bin Privatdetektiv." Bount sah das Misstrauen in ihr aufsteigen. Und er konnte sie nur zu gut verstehen.

"Sie wollen doch sicher etwas von mir!"

"Ich bin hinter dem Kerl her, der Bill O'Mara umgebracht hat."

Ihre Augen wurden schmal. "Warum?"

"Ist das nicht gleichgültig? Ich denke, dass wir dasselbe wollen - und das ist das einzige, was im Moment zählt." Der Blick, mit dem sie ihn dann bedachte, war eine einzige Frage. "Woher weiß ich, dass Ihnen trauen kann?" Bount zuckte die Achseln.

"Sie wissen es nicht", erwiderte er. "Aber ich weiß es von Ihnen genauso wenig!"

Einen Moment lang zögerte Bount, dann gab er ihr die Reizgasdose zurück. Sie verstand die Geste.

"Ich hoffe, Sie kriegen den Kerl!", erklärte sie mit einer Stimme, die vor Wut vibrierte.

"Unterhalten wir uns woanders, Miss..."

"Lopez. Marcia Lopez."

29

Sie gingen zusammen in einen der ersten Coffee-Shops, die um diese Zeit geöffnet hatten, und frühstückten. Marcia hatte eine harte Nachtschicht im Mega Star hinter sich. Der rabenschwarze Kaffee machte sie wieder hellwach. Aber nicht nur der.

"War die Polizei Sie schon befragt?", erkundigte sich Bount. Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Und ich habe mich auch nicht gemeldet!"

"Das verstehe ich nicht..."'

"Meine Einwanderungspapiere sind nicht echt. Und ich will nicht, dass man das alles überprüft - und das wird man sicher, wenn ich erst einmal in der Sache drinhänge."

"Sie hängen längst drin. Die Polizei wird das Foto finden!"

"Ja, aber ob sie mich finden wird, ist eine andere Frage." Sie atmete tief durch und wirkte auf einmal sehr nachdenklich, fast mutlos. Schließlich meinte sie: "Ich glaube nicht, dass es von meiner Aussage abhängt, ob Bills Mörder gefasst wird oder nicht. Und glaube auch nicht, dass es viel nützen wird, was ich Ihnen sagen kann."

"Warten wir's ab!"

Sie schob ihr Frühstück ein Stück von sich. Irgendwie schien ihr der Appetit vergangen zu sein. Nur den Kaffee trank sie noch aus, dann steckte sie sich eine Zigarette zwischen die vollen Lippen. "Er hat sich auf Sachen eingelassen, die zu groß für ihn waren. Verstehen Sie, was ich meine?" Bount horchte auf. "Was wissen Sie darüber?"

"Kaum etwas." Ihr Schulterzucken war fast wie eine Entschuldigung. "Und um ganz ehrlich zu sein: So genau wollte ich das auch gar nicht wissen. Irgendwelche krummen Sachen waren es sicher - und da ist es besser, man weiß von nichts."

"Haben Sie mal den Namen Logan gehört?" Sie überlegte kurz, dann nickte sie. "Da wäre höchstens ein Kerl zu erwähnen, den Bill mal auf einer von diesen Parties getroffen hat, auf die er mich mitnahm. Er kannte den Kerl von früher her. Ein alter Freund, hat er mir später gesagt."

"Was wissen Sie noch über Logan?", hakte Bount nach.

"Nicht viel. Nur, dass die beiden sich offenbar längere Zeit aus den Augen verloren hatten." Sie zuckte mit den Schultern.

"Ist dieser Logan so wichtig?"

"Ja", nickte Bount.

"Ich schätze, er war etwas ganz ähnliches wie Bill!", meinte Marcia. "Einer, der für andere die Drecksarbeit macht."

"Sie wissen nicht zufällig, für wen Logan arbeitet?"

"Nein."

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Bount überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass Logan Bill O'Maras Mörder war. Aber er ließ es dann. Er durfte keine Zeit verlieren und genau das würde passieren, wenn er ihr das jetzt auf die Nase band. Sie würde es früh genug erfahren.

"Wussten Sie, dass Bill auch mit der Polizei zusammengearbeitet hat?", versuchte Bount den Faden an anderer Stelle wieder aufzunehmen.

Jetzt war sie wirklich überrascht.

"Nein, das ist mir neu!"

"Es war aber so."

"Ich kann es irgendwie nicht so ganz glauben."

"Weshalb?"

"Er hat in letzter Zeit immer nur von seinem großen Geschäft geredet. Ein Geschäft, das so groß wäre, dass er sich zurückziehen könnte." Sie lachte bitter. "Mein letztes Ding, so hat er es immer genannt!"

"Haben Sie eine Ahnung, was das gewesen sein könnte?" Sie schüttelte bedauernd den Kopf.

"Keine Ahnung!"

"Denken Sie nach! Vielleicht haben Sie irgendeine Kleinigkeit aufgeschnappt, die damit zusammenhängen könnte!"

Ihr Blick war nach innen gekehrt. Sie schüttelte nochmals den Kopf, aber dann blitzte es auf einmal in ihren ausdrucksstarken dunklen Augen.

"Einmal - das ist erst ein paar Tage her! - da habe ein Stück von einem Telefongespräch mitgekriegt. Es war Zufall. Bill wurde angerufen und ich war gerade bei ihm. Er hat mich rausgeschickt, aber Sie wissen ja, wie das ist..."

"Was haben Sie gehört?"

"Einen Namen. Jesper & Smith."

"Klingt wie eine Firma. War das alles?"

"Ja. Und nachdem er aufgelegt hatte, war er unwahrscheinlich guter Laune. Er meinte, dass wir beide bald ein neues Leben anfangen könnten. Ein Haus am Meer fände er schön." Sie begann zu schluchzen.

30

"Jesper & Smith! Ich hab's!", rief June am nächsten Morgen und schüttete dabei fast den Inhalt ihrer Kaffeetasse über die Computertastatur.

Bount hob die Augenbrauen.

"Und?", fragte er. "Was ist das für eine Firma?"

"Eine, die es schon lange nicht mehr gibt!", erklärte June ihm.

"Was?" Das sah gefährlich nach einer Sackgasse aus. June wandte sich zu ihrem Chef herum. "Ich erinnere mich jetzt auch, den Namen schon einmal gehört zu haben. Und zwar in Zusammenhang mit irgendeinem Umwelt-Skandal. Jesper & Smith war ein kleineres Chemieunternehmen. Heute gibt es nur noch eine Industriebrache mit leeren Hallen und jeder Menge Giftmüll, der verhindern wird, dass das Gelände in den nächsten dreißig Jahren von irgendjemandem gekauft wird!" Bount fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und schüttelte dann verzweifelt den Kopf. "Ich verstehe das nicht", meinte er.

"Was könnte O'Mara für ein Geschäft gemeint haben, das mit dem Namen Jesper & Smith verbunden ist!"

"Bodenspekulation scheidet wohl aus. Die Sanierungsmaßnahmen übersteigen den Verkaufswert des Grundstücks."

Bount zuckte die Achseln.

"Vielleicht fahre ich einfach hin und sehe mir das ganze mal an. Vielleicht bin ich dann schlauer!"

"Soll ich Toby Bescheid sagen?"

Bount grinste.

"Toby tut, was er kann, um diesen Logan zu finden. Was ich mache, braucht er nicht zu wissen. Das bringt ihn nur selbst in Schwierigkeiten." Er zuckte die Achseln. "Andererseits kann auch niemand von mir erwarten, dass ich den ganzen Tag nicht aus dem Haus gehe, oder? Ob nun mit Lizenz oder ohne... Außerdem habe ich einen ganz bestimmten Verdacht!"

31

Die riesenhaften, fast mannsgroßen Buchstaben, die zusammengezogen Jesper & Smith Ltd. bedeuteten, mussten aus weitaus besseren Tagen kommen.

Bount hatte seinen Mercedes unauffällig in der Nähe des Firmengeländes abgestellt. Die letzten paar hundert Meter ging er zu Fuß. Die meisten Gebäudekomplexe wirkten verfallen und ziemlich heruntergekommen.

Aber ganz so verlassen, wie es auf den ersten Blick schien, war das Gelände wohl doch nicht.

Bount fand frische Reifenspuren von mehr als einem halben Dutzend Fahrzeugen auf dem unbefestigten Untergrund. Wenig später erreichte er das erste Gebäude. Es war eine einfache Fabrikhalle. Die Tore standen offen. Innen herrschte kahle Leere. Anscheinend war alles ausgeschlachtet worden, was transportabel war.

Ein Geräusch ließ Bount plötzlich aufhorchen.

Schritte.

Bount presste sich an die Betonmauer der Halle, während ein hochaufgeschossener Kerl um die Ecke schlenderte. In der Rechten schlenkerte er lässig mit einer MPi herum, zwischen den Fingern der Linken hatte er eine Zigarette. Aber er war nicht so richtig auf Draht und das rettete Bount das Leben. Als der Kerl seine MPi in die Höhe riss, hatte Bount ihm schon den Arm zur Seite gebogen. Die innerhalb eines Sekundenbruchteils folgende Gerade, ließ den Wächter mit einem dumpfen Ächzen zu Boden gehen. Er rührte sich nicht mehr und Bount nahm ihm die Waffe ab.

Was immer auch hier auf dem ehemaligen Gelände von Jesper & Smith zu finden war - es musste sehr wichtig sein, wenn jemand bewaffnete Posten abstellte, um es zu bewachen. Bount umrundete die Halle. Dahinter kamen andere Gebäudekomplexe, vor allem ehemalige Lager- und Büroräume. Und Labors, wie die alten Hinweisschilder verrieten.

In den ehemaligen Laborräumen schien Betrieb zu sein. Zwischen den verschieden Gebäuden war ein Schotterplatz, auf dem einige Wagen abgestellt waren. Zwei weitere Bewaffnete patrouillierten auf und ab.

Als Bount einen Wagen heranfahren hörte, schnellte er seitwärts und versteckte sich hinter einem Pulk halb durchgerosteter Fässer.

Der Wagen war ein geräumiger Chevrolet. Er parkte bei den anderen und zwei Männer stiegen aus.

Einer davon war Logan. Er wirkte gutgelaunt.

Der andere Mann hatte hellblondes, sehr schütteres Haar, das sich deutlich von seiner höhensonnengebräunten Haut abhob. Seinem Verhalten nach, war er hier der Boss.

"Ist da drinnen alles klar?", fragte der Blonde an einen der Posten gewandt.

Der Mann nickte.

"Wird wohl alles in Ordnung gehen!"

Der Blonde ging an den bewaffneten Wachhunden vorbei in Richtung Tür. "Komm, packt mit an!", knurrte er dabei. "Ich habe es verdammt eilig heute! Das Zeug soll in den Kofferraum!"

Einen Moment später waren alle vier in dem Gebäude verschwunden. Bount kam hinter den Fässern hervor und nutzte die Gelegenheit, um sich näher an das Gebäude heranzupirschen.

Er konnte sich gerade noch hinter einer Ecke verbergen, als bereits einer der Kerle durch die Tür kam. Er schleppte einen Karton und brachte ihn in den Kofferraum des Chevys. Was sich darin befand, war nicht schwer zu erraten. Wenn hier nicht alles täuschte, dann wurden an diesem Ort genau die synthetischen Drogen hergestellt und entwickelt, die dann von Leuten wie Arnold Parker in Umlauf gebracht wurden. Idealere Voraussetzungen konnte man sich auch kaum denken. Die alten Laborräume von Jesper & Smith wieder funktionsfähig zu machen, war sicher nicht allzu schwierig gewesen. Niemand scherte sich darum, was auf diesem Gelände geschah. Und im Notfall konnte man leicht Hals über Kopf alle Zelte abbrechen und verschwinden. Die Spur würde dann erst einmal zu denjenigen führen, in deren Besitz das Grundstück rein rechtlich im Moment war, aber nicht zu den wirklichen Hintermännern.

Plötzlich fühlte Bount etwas Hartes in seinem Rücken.

"Nicht bewegen!", sagte eine sonore Bassstimme. Jemand nahm ihm die MPi aus der Hand und tastete ihn nach weiteren Waffen ab. Bount konnte den anderen nur mit den Augenwinkeln sehen. Es war ein Schwarzer.

"Wenn du nur die kleinste unüberlegte Bewegung machst, dann knall ich dich über den Haufen!", knurrte er. "Und jetzt gehst du schön vor mir her, kapiert?"

Bount nickte leicht.

Der Schwarze brachte Bount zur Vorderfront des Gebäudes. Inzwischen waren zwei weitere Kartons in den Kofferraum des Chevys geladen worden. Der Blonde stand unruhig da und trat von einem Fuß auf den anderen.

Dann blitzte es wütend in seinen hellblauen Augen.

"Wer ist das?", fauchte er, als sein Blick auf Bount fiel.

"Keine Ahnung!", erwiderte der Schwarze.

"Ich kenne den Mann!", meldete sich jetzt Logan zu Wort, der gerade aus der Tür getreten war. Logans Augen wurden schmal, als er Bount musterte. "Er hat mich überrascht, als ich die Sache mit O'Mara erledigt habe!"

Der Blonde wandte sich zu Logan herum und verzog das Gesicht. "Dann bist dafür verantwortlich, dass wir jetzt ein Problem haben!"

"Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte, Mister Crane!", erwiderte Logan schwach.

Der Blonde zuckte den Schultern. "Sorg dafür, dass das Problem verschwindet!", knurrte er zu Logan. "Die Leiche könnt ihr in eines der Fässer da drüben packen! Was dann übrigbleibt, wird wohl kaum noch genug für eine Identifizierung sein!" Logan nickte und zog seine Pistole unter der Jacke hervor. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er die Waffe hob und auf Bounts Kopf richtete.

32

Irgendetwas lenkte Logan ab. Aber nicht nur ihn allein. Jedenfalls riss er seine Waffe herum, während irgendwo im Hintergrund etwas gerufen wurde.

Es war eine Warnung, aber die ging in den ersten Schüssen unter, die Logan in wilder Panik abfeuerte.

Bount stürzte sich auf ihn und riss ihm den Arm hoch, so dass die Kugeln in die Luft gingen. Die beiden wälzten sich über den Schotter, während der Blonde Angst um sein Leben bekam und in Panik geriet.

"Nicht schießen!", rief er, als ihm klar wurde, dass er und seine Leute umringt waren. Sie saßen in der Falle.

"Polizei! Hände hoch und Waffen fallen lassen!", rief jemand. Jetzt gab Logan ebenfalls auf. Bount konnte ihm die Pistole abnehmen und erhob sich. Als er aufblickte, sah er unter den Männern, die jetzt aus ihren Deckungen hervorkamen auch einen, dessen Gesicht er inzwischen nur zu gut kannte. Es war niemand anderes als Cunningham.

Bount musste grinsen, als der Lieutenant auf ihn zukam. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich mal freuen würde, Sie zu sehen, Cunningham! Diesmal haben Sie mir das Leben gerettet!"

Cunningham nickte. "Was geht hier eigentlich vor?", fragte er.

"Ihre Leute werden hier das Labor finden, in dem synthetische Drogen hergestellt werden. Diese Leute hier sind diejenigen, an die Sie durch O'Mara herankommen wollten." Bount klopfte ihm auf die Schulter. "Vielleicht kriegen Sie einen Streifen dazu, Cunningham!"

"Abwarten."

"Wie kommt es eigentlich, dass Sie so schnell zur Stelle waren, Lieutenant?"

Cunningham hob die Augenbrauen. "Wir hatten den Auftrag, Sie zu beschatten, Reiniger! Ich war fest davon überzeugt, dass Sie ein doppeltes Spiel spielen!" Er grinste breit. "Wir haben mit einem Scanner Ihr Autotelefon abgehört. Ihre Assistentin hat Sie kurz angerufen und uns dabei ungewollt verraten, in welche Einöde Ihre Reise gehen sollte, Reiniger!"

"Und da haben Sie Verdacht geschöpft und gleich eine große Mannschaft mobilisiert!"

"Jeden Streifenwagen, den ich kriegen konnte!"

"In Wahrheit war es Ihr Spitzel, der ein doppeltes Spiel getrieben hat!", erwiderte Bount.

Cunningham verzog das Gesicht. "O'Mara?"

"Er wusste, was an diesem Ort geschieht. Ich weiß nicht, wie, aber er hat es herausgekriegt und versucht, dieses Wissen zu Geld zu machen... Doch das war mindestens zwei Nummern zu groß für ihn!" Bount deutete auf Logan. "Fragen Sie ihn mal, wie viel man ihm dafür gegeben hat, dass er seinem Ex-Partner ein paar Kugeln in den Körper jagte!"

Cunningham atmete tief durch. Sein Blick blieb noch immer misstrauisch.

Bount wollte an ihm vorbei gehen, aber der Lieutenant hielt ihn am Arm.

"Moment!", rief er. "Bevor ich Sie hier weglasse, will ich erst einmal haarklein wissen, was Ihre dubiose Rolle bei der Sache eigentlich ist!"

Bount zuckte die Achseln.

33

"Was glaubst du wohl, wer zur Beförderung vorgeschlagen wurde?", meinte Rogers ein paar Tage später bei einem Drink in Bount Reinigers Residenz.

Bount lächelte. "Du sprichst von Cunningham?"

"Von wem sonst, Bount? Es zwar noch ein Gerücht - aber eins, aus sehr sicherer Quelle!"

Bount zuckte die Achseln. "Ich hoffe nur, dass er sein Jagdfieber in Zukunft nicht mehr an mir auslässt!"

"Was willst du denn, Bount? Deine Lizenz hast du ja zurück! Und wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre und dich nicht so gut kennen würde, dann wäre ich vielleicht auch auf die Idee gekommen, dass du in der Sache auf irgendeine Art und Weise drinsteckst!" Rogers trank sein Glas aus und fuhr dann fort: "Ich habe vor einer Stunde noch mit dem Staatsanwalt gesprochen."

Bount hob die Augenbrauen. "Und?"

"Diesem Logan Craig wird schwer nachzuweisen sein, dass er an dem Brannigan-Mord wirklich beteiligt war. Er wird es versuchen, aber er riskiert damit einen Schlag ins Wasser."

"Ja", bestätigte Bount. "Das fürchte ich auch. Aber man wird ihn trotzdem wegen Mordes verurteilen, denn was O'Mara angeht, ist die Sache ja wohl hieb und stichfest." Für Joanne Carter würde das allerdings nur ein schwacher Trost sein. Rogers nickte indessen. "Die Waffe, die er bei der Festnahme bei sich trug ist eindeutig die, mit der O'Mara durchlöchert wurde. Die Kerle schieben sich jetzt gegenseitig die Schuld zu und versuchen jeweils das Beste für sich selbst herauszuholen."

"Das dürfte die Arbeit für den Staatsanwalt erleichtern!"

"Dieser Crane, der das Labor betrieben hat, wird eine ganze Armee von Anwälten daran setzen, ihn wieder herauszuhauen! Du weißt ja, wie das ist, Bount." Rogers zuckte die Achseln. "Ich bin kein Jurist, aber diesmal dürfte das schwierig für ihn werden!"

ENDE

Mord am East River

von Alfred Bekker

Ein neuer Fall für Bount Reiniger, New York Citys besten Ermittler: Ein junger Hacker wird ermordet, der sich in eine Firma gehackt hat, die Raketenbauteile herstellt. Kurz darauf stirbt einer der Geschäftsführer dieser Firma. Wie hängen die beiden Fälle zusammen? Bount muss Kopf und Kragen riskieren, um das herauszufinden.

1

Ted Hughes hatte Todesangst. Er saß stumm und nachdenklich vor dem Computerschirm, dessen Licht sein Gesicht noch grauer erscheinen ließ, als es im Augenblick ohnehin schon war. Seine Finger gingen wie mechanisch über die Tastatur, aber das, was sich da auf dem Schirm tat, interessierte ihn jetzt nicht mehr wirklich. Er hatte andere Sorgen. Er stand auf und fingerte nervös nach einer Schachtel Zigaretten. Dann ging er zum Fenster, griff nach dem Feuerzeug in seiner Hosentasche und zündete sich eine an. Er bemerkte das Zittern seiner Hände und erschrak.

Nur ruhig bleiben!, dachte er. Ruhig bleiben und kühlen Kopf bewahren! Er blickte aus dem Fenster. Draußen war es Nacht, aber auf der Straße herrschte noch immer reger Betrieb. Ted wusste, dass die Sache, auf die er sich da eingelassen hatte, zu groß für ihn war. Aber jetzt war es zu spät.

Ich hätte es vorher wissen müssen!, dachte er. Aber vielleicht hatte er es insgeheim sogar gewusst und die Wahrheit nur mehr oder weniger erfolgreich verdrängt. Er zog an seiner Zigarette und ließ sie in dem Halbdunkel, dass in dem Zimmer herrschte, aufglimmen.

Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken und herumfahren. Beinahe wäre ihm dabei der Glimmstängel auf den Teppichboden gesegelt. Er schluckte. Mein Gott!, dachte er. Ich bin schon völlig hysterisch! Er ging wieder zum Bildschirm. Da er keinen Aschenbecher fand, wandte er sich erneut herum und erstarrte dann zur Salzsäule.

Eine dunkle Gestalt stand da in der Tür. Ted konnte das Gesicht nicht sehen. Es befand sich im Schatten.

Dafür sah Ted etwas anderes, etwas, das ihm den Puls bis zum Hals trieb. Er wich zurück und stieß dabei gegen den Tisch, auf dem sein Computer-Equipment aufgebaut und verkabelt war.

Alles ging sehr schnell. Zwei Sekunden dauerte es. Kaum länger.

Die Gestalt im Schatten winkelte den rechten Arm an. Dann blitzte es. Ein trockenes 'Plop!' war zu hören. Ted bekam die Kugel aus der Schalldämpferpistole mitten in die Stirn. Er taumelte zurück, rutschte am Tisch entlang zu Boden und räumte dabei den Bildschirm und eine Diskettenbox ab. Indessen machte der Killer Licht. Er verlor nicht einen einzigen Augenblick, steckte die Waffe weg und begann zu suchen.

2

Bount Reiniger, der bekannte New Yorker Privatdetektiv, hatte Glück gehabt, gleich einen Parkplatz zu finden, auf dem er seinen champagnerfarbenen Mercedes 500 SL abstellen konnte. Es war zwar eine Frage von Zentimetern gewesen, aber Bount ging das Risiko ein.

Er stieg aus und schlug sich den Mantelkragen hoch. Ein verdammt frostiger Abend war das. Und der Wetterbericht behauptete, dass die Quecksilbersäule noch weiter in den Keller sacken würde.

Der Privatdetektiv sah noch einmal nach der Hausnummer und nickte stumm. Hier muss es sein!, dachte er. Fast einen ganzen Monat lang war er hinter dem Kerl hergewesen. Und jetzt hatte er Name und Adresse.

Er hieß Ted Hughes und wohnte im fünften Stock.

Reiniger kam ins Treppenhaus und wollte den Aufzug nehmen. Aber der war defekt, wie ein Hinweisschild freundlicherweise verriet. So musste er laufen, aber das war halb so schlimm. Schließlich hatte er eine gute Kondition. Viel ärgerlicher war etwas ganz anderes. Als er vor Ted Hughes' Wohnungstür stand, bemerkte, dass sie einen kleinen Spalt weit offen stand.

Das konnte alles Mögliche bedeuten, nur wahrscheinlich nichts Gutes und so ging Bount auf Nummer sicher. Er griff unter Mantel und Jackett nach der Automatik, die er im Schulterholster trug und lud die Waffe mit einer energischen Bewegung durch.

Von drinnen war ein Geräusch zu hören.

Bount schob die Tür ein Stück auf und kam in einen dunklen Flur. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er, dass im Nachbarraum Licht brannte. Aber das Licht ging aus und das konnte kein Zufall sein.

Bount sah einen Mündungsblitz aufleuchten, aber da war kein Schussgeräusch. Der Privatdetektiv warf sich flach auf den Boden, rollte sich herum und ließ die Automatik loskrachen. An der Tür, die von dem Flur aus vermutlich ins Wohnzimmer führte, war nichts mehr zu sehen. Nur Finsternis. Bount war blitzschnell wieder auf den Beinen und presste sich gegen die Wand.

"Kommen Sie heraus!", rief Bount. "Sie sitzen in einer Mausefalle!"

Keine Antwort.

Bount tastete sich bis zum Türrahmen vor und riskierte schließlich einen Blick. Er sah, dass die Balkontür offen stand. Mit der Waffe im Anschlag stürmte Bount in den Raum, aber da war niemand mehr zu sehen. Er machte Licht und sah Ted Hughes' Leiche am Boden liegen. Jedenfalls nahm er an, dass es Hughes war, denn gesehen hatte er ihn bis dahin noch nicht. Aber er passte einfach zu genau auf die Beschreibungen, die man ihm geliefert hatte. Ein junger Kerl, neunzehn oder zwanzig, lang, schlaksig, mageres Gesicht, unreine Haut und dicke Brille. Die Brille war ihm heruntergerutscht und hing nur noch an einem Ohr. Seine Augen blickten starr und kalt ins Nichts. Die Kugel hatte mitten auf der Stirn ein kleines, rundes Loch produziert, aus dem jetzt langsam Blut sickerte. Ein Profi!, dachte Bount. Oder jedenfalls ein sehr guter Schütze. Wenn im Flur mehr Licht gewesen wäre, hätte es mich wahrscheinlich erwischt!

Bount ging durch die Balkontür hinaus. Aber er hatte kaum seine Nase vorgestreckt, da pfiff ihm bereits wieder eine Kugel um die Ohren. Reiniger duckte sich. Das Projektil durchschlug eine Fensterscheibe und ließ sie in tausend Scherben zerspringen.

Der Killer, der Ted Hughes offenbar auf dem Gewissen hatte, war von dessen Balkon auf den der Nachbarwohnung und von dort aus auf das Flachdach des niedrigeren Hauses nebenan gelangt. Jetzt stand er neben einem dicken Schornstein und schoss ein paar Mal in Bounts Richtung, so dass dem Privatdetektiv nichts anderes übrig blieb, als den Kopf einzuziehen. Dann tauchte Reiniger hervor und feuerte mit der Automatik zurück. Aber er wusste nur zu gut, dass es fast unmöglich war, den Kerl in seiner Deckung zu erwischen. Bount hörte er ein klackerndes Geräusch. Es verriet ihm, dass sein Gegenüber die Flucht über die Dächer fortsetzte. Bount folgte ihm. Er schwang auf den Nachbarbalkon und dann auf das Flachdach. Die Automatik hielt er dabei schussbereit in der Rechten, aber er brauchte sie nicht, denn es war niemand zu sehen.

Aber Bount war klug genug, vorsichtig zu bleiben. Schließlich hatte er es vermutlich mit einem Mann zu tun, der Erfahrung in seinem Geschäft hatte und nicht die geringsten Skrupel kannte. Der Kerl würde vermutlich das Risiko scheuen, aber in dem Moment, in dem er die Chance hatte, sein Gegenüber zu töten, würde er nicht den Bruchteil einer Sekunde lang zögern, es auch zu tun.

Das Dach zog sich ziemlich lang hin. Bount kam bis zum Schornstein und sah den Flüchtenden am Schrägdach des angrenzenden Hauses empor krabbeln. Wenigstens konnte er sein Schießeisen nicht gleichzeitig benutzen, denn er brauchte beide Hände, um die Steigung zu bewältigen.

Bount setzte nach. Sein Spurt war gewaltig und er holte auf. Der Killer drehte sich herum. Bount sah sein Gesicht im Mondlicht. Es war hartgeschnitten und kantig - und jetzt zu einer Grimasse verzogen. Der Mann keuchte. Als er sah, dass er keine Chance hatte, den First zu erreichen, bevor Bount ihn zu fassen kriegte, hielt er an und griff wieder nach der Waffe. Das Dach war sehr steil und durch die Stellen mit gefrorener Nässe ziemlich tückisch für jemanden, der darauf herumzulaufen versuchte. Der Killer hatte also alles andere als einen sicheren Stand, als er den Schalldämpfer seiner Pistole auf Bount richtete.

Dennoch - sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Er fühlte sich überlegen und glaubte, die Sache wäre gelaufen. Der Finger spannte sich um den Abzug. Eine Kugel mehr oder weniger in irgendeinem Schädel, welche Rolle spielte schon für einen wie ihn?

Der Schuss ging los, aber der Killer hatte sich verrechnet. Die Kugel ging in den klaren Nachthimmel.

Bount hatte sich hingeworfen und nach dem Fuß des Killers gelangt.

Wenn er ihn verpasst hätte, wäre der Privatdetektiv ein toter Mann gewesen. Aber Bount verpasste ihn nicht.

Als er den Fuß des Killers zu fassen bekam, verlor dieser das Gleichgewicht. Beide rollten sie die Steigung hinunter und bevor der Killer wieder auf den Beinen war, hatte Bount ihm die Waffe aus der Hand gekickt. Sie flog ein paar Meter über das Flachdach. Der Killer machte ein ziemlich grimmiges Gesicht, als Bount ihm die Automatik unter die Nase hielt.

"Schön ruhig!", warnte Bount. "Oder du bekommt eine Kugel in den Kopf!"

Der Killer atmete tief durch. Ein begehrlicher Blick ging zur Seite, in jene Richtung, in die seine Pistole geflogen war. Aber es war aussichtslos, sie zurückzubekommen.

Der Kerl war klug genug, es auch gar nicht erst zu versuchen.

"Wer bist du?", fragte Bount.

Um das Gesicht des Killers spielte ein zynischer Zug. Er hatte nicht die Absicht, irgendetwas zu sagen. "Na schön", meinte Bount. "Du bist nicht sehr gesprächig, was?"

"Wundert dich das?", brummte er.

Bount lächelte dünn.

"Die Polizei wird das Puzzle schon Stückchen für Stückchen zusammensetzen. Ich weiß nicht, wie viele Schädel du vorher schon durchlöchert hast, aber dieser Mord wird dir das Genick brechen."

Der Killer verzog das Gesicht.

"Abwarten!", knurrte er.

Bount zuckte mit den Schultern und machte eine eindeutige Bewegung mit der Automatik. "Zieh deinen Mantel aus!", sagte er.

Der Killer kniff die Augen ein wenig zusammen.

"Es ist kalt", brummte er.

"Du kannst den Mantel gleich wieder anziehen, ich will nur überprüfen, was du außer deinem Schießeisen vielleicht noch so an tödlichen Spielzeugen bei dir hast!"

Er zuckte mit den Schultern und begann damit, den Mantel aufzuknöpfen. Bount fixierte ihn dabei mit den Augen. Nicht eine Sekunde durfte er diesen Mann aus den Augen lassen, das wusste er.

"Bist du ein Bulle?", fragte der Killer.

"Die Fragen stelle ich! Das solltest du inzwischen gemerkt haben!"

"Nein", murmelte er. "Wenn du ein Bulle wärst, hättest du mir sicher schon deine Marke gezeigt und die Rechte vorgelesen - damit es am Ende nicht einen Verfahrensfehler gibt, den die Verteidigung ausnutzen kann!"

Bount winkte ab.

"Dein Fall ist so eindeutig, dass du damit auch nichts mehr herausholen würdest!"

"Warten wir's ab!"

Der Unterton, mit dem er das sagte, gefiel Bount nicht. Der Killer zog den Mantel aus. Es war ein dunkler Wollmantel, der ganz nach Schurwolle oder Cashmere, auf jeden Fall aber elegant und teuer aussah. Dieser Mann hatte also sein blutiges Auskommen...

Er nahm den Mantel hoch und warf ihn zu Boden. Aber gleichzeitig kam aus seinem Jackett-Ärmel blitzschnell ein Messer heraus, das er Bount entgegenschleuderte.

Es war ein gut gezielter Wurf.

Den Bruchteil einer Sekunde hatte Bount, um die Linke hochzureißen und die Klinge abzufangen. Das Messer zerschnitt dabei schmerzhaft seine Hand. Es blutete schrecklich. Der Killer setzte sofort nach schnellte blitzartig nach vorne. Bount wollte ihm einen Schuss ins Bein verpassen, aber dazu kam er nicht mehr. Ein Karate-Tritt ließ seine Automatik über das Flachdach segeln, ein zweiter Fußtritt traf ihn mitten auf dem Solar Plexus.

Bount blieb einen Augenblick lang die Luft weg. Er war dem K.O. sehr nahe und taumelte rückwärts, konnte sich aber halten. Er verengte die Augen ein wenig und sah, wie der Killer zu dem am Boden liegenden Messer gesprungen war, das Bount abgewehrt hatte.

Der Killer hob es auf, wog es in der Rechten und kam dann langsam näher, Bount machte sich auf das Schlimmste gefasst. Zu seiner Automatik zu rennen, war aussichtslos. Sobald Bount losspurtete, würde sein Gegner ihm das Messer einfach in den Rücken schleudern.

Es blieb dem Privatdetektiv also nichts anderes übrig, als den Messer-Mann ruhig zu erwarten und zu versuchen, seinen Angriff so gut es ging abzuwehren. Die Blicke der beiden Männer begegneten sich und es war beiden klar, dass dies ein Kampf auf Leben und Tod war - zumindest von Seiten Killers aus.

Der Kerl kam heran und ließ die Messerklinge giftig vorschnellen, so dass Bount ausweichen musste. Ein paar Mal ging das so und Bount musste immer weiter zurückweichen. Der Killer lächelte siegesgewiss.

"Mach's mir nicht so schwer!", zischte er. "Es hat doch sowieso keinen Zweck..."

Bount merkte, dass sein Gegner ihn immer mehr an den Rand des Daches drängte. Ein paar Meter noch, dann würde Bount nicht mehr zurückweichen können, aber der Killer trieb ihn unbarmherzig vor sich her.

Dann schnellte das Messer zum entscheidenden Stoß auf Bount zu. Der Privatdetektiv bog dem Kerl den Arm zur Seite, so dass der Stoß ins Leere ging. Der Killer fiel zu Boden und riss Bount dabei mit sich. Sie rollten übereinander und bewegten sich dabei gefährlich auf den Rand des Daches zu. Unten brauste der Verkehr.

Bount gewann schließlich die Oberhand, packte den rechten Unterarm seines Gegenübers und schlug diesen roh gegen die Betonkante, die sie beide noch vom Abgrund trennte. Es fehlte nicht viel und der Arm wäre gebrochen gewesen, aber der Killer war eine harte Nuss. Zweimal musste Bount die Übung wiederholen, dann erst löste sich der Griff um das Messer. Die Klinge segelte in die Tiefe, aber im selben Moment gelang es dem Killer, Bount auszuhebeln und wegzustoßen. Der Killer war derjenige, der schneller wieder auf den Beinen war. Er rannte davon und Bount setzte nach.

Der Killer lief den Weg zurück, den er gekommen war und Bount war ihm auf den Fersen und holte auf.

Dann hatte der Kerl den Balkon von Ted Hughes' Nachbarwohnung erreicht und sprang durch die gläserne Balkontür. Von drinnen waren Stimmen zu hören.

Augenblicke später hatte auch Bount den Balkon erreicht und wollte gerade durch die zerschlagene Tür treten, da bekam er einen furchtbaren Hieb, der ihn nach hinten taumeln und mit dem Hinterkopf gegen das gusseiserne Geländer schlagen ließ. Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen. Ihm war schwindelig und hundeelend. Bount wollte sich wieder hochrappeln, aber der Versuch endete damit, dass er völlig zusammensackte.

3

"Bleiben Sie, wo Sie sind!"

Die helle Frauenstimme schnitt wie ein Messer durch die Finsternis und bewahrte Bount vielleicht davor, vollends in die Bewusstlosigkeit hinüberzugleiten. Für einen Moment war er ziemlich weggetreten gewesen, aber jetzt wurde es besser. Der Killer war über alle Berge, soviel dämmerte ihm.

Er blickte auf und sah eine junge Frau, die mit zitternden Händen einen Baseballschläger hielt.

"Haben Sie damit zugeschlagen, Miss? Wenn man danach geht, wie sehr mir meine Rippen im Moment wehtun, dann haben Sie mir ganz schön einen verpasst!"

"Ja! Und ich werde ich noch einmal tun, wenn Sie sich rühren, bis die Polizei da ist!"

Bount befühlte seinen Hinterkopf, mit dem er gegen das Geländer geknallt war. Bohrende Kopfschmerzen ließen ihn das Gesicht etwas verziehen.

"Sie brauchen keine Angst zu haben", erklärte er.

"Ihr Freund hat mich über den Haufen gerannt. Ich wollte zum Fenster, um zu sehen, was da draußen auf dem Dach los ist! Sie haben sich die falsche Wohnung für einen Einbruch ausgesucht, Mister! Ich habe weder Geld noch Schmuck!"

"Erstens hätte ich mir sicher eine andere Gegend für einen Einbruch ausgesucht, eine, die in dieser Hinsicht vielversprechender ist..." Bount machte eine kurze Pause und rieb sich über das Gesicht. Er war noch nicht wieder hundertprozentig da.

Die junge Frau hob die Augenbrauen, aber der Baseballschläger in ihren schlanken, aber kräftigen Armen blieb eine latente Drohung.

"Und zweitens?", fragte sie.

"Zweitens ist der Kerl, der durch Ihre Wohnung gestürmt ist, nicht mein Freund. Noch nicht einmal mein Partner."

"Kann man leicht behaupten."

"Der Mann ist ein Mörder", sagte Bount ruhig. "Ihr Nachbar - Ted Hughes - ist von ihm erschossen worden. Ich kam leider zu spät, um ihn noch zu retten!"

Bount griff in die Innentasche, um seine Private Eye-Lizenz herauszufingern. Er warf sie ihr hin. "Hier, Sie können doch sicher lesen!"

Einen Augenblick lang sah sie Bount misstrauisch an. Dann bückte sie sich, nahm den Ausweis und entspannte sich etwas.

"Bount Reiniger, Privatdetektiv", murmelte sie. Sie zuckte mit den Schultern. "Wie gesagt, ich habe die Polizei schon gerufen. Die wird dann alles klären!"

"Tun Sie mir einen Gefallen und rufen Sie auch gleich die Mordkommission." Bount versuchte ein Lächeln. "Ich verspreche Ihnen auch, dass ich mich nicht vom Fleck rühre." Sie musterte Bount noch ein paar Sekunden lang prüfend, warf noch einen Blick auf die Lizenz und gab sie Bount zurück.

"Sie wissen, wie viel Gewalt es in den Straßen gibt. Und dies hier ist nicht gerade die beste Gegend!"

"Ich weiß."

"Einmal dem Falschen vertraut und schon ist man das Haushaltsgeld los oder tot."

"Ich will weder Ihr Leben, noch Ihr Geld. Nur ihr Telefon. Und wenn ich eine falsche Bewegung mache, dann können Sie mir ja immer noch auf die Finger hauen."

Sie atmete tief durch. "Na gut."

4

"Du siehst ja ziemlich ramponiert aus, Bount!", dröhnte Toby Rogers, Captain des Morddezernats C/II von Manhattan, als er seinen alten Freund Bount Reiniger erblickte.

Bount lächelte schwach. Er hatte sich inzwischen notdürftig die Messerwunde an der Hand verbunden.

"Ließ sich leider nicht vermeiden", brummte er. "Und zu allem Überdruss ist mir der Kerl auch noch durch die Lappen gegangen!"

Rogers’ Grinsen ging von einem Ohr zum anderen.

"Schon lange her, dass dir so etwas passiert ist, was?" Bount deutete auf die junge Frau.

"Der Kerl hatte leider einen unschlagbaren Verbündeten!", meinte er.

Die Frau errötete. "Tut mir schrecklich leid", meinte sie. "Ich konnte ja nicht wissen, dass..."

"Schon gut", erwiderte Bount. "Hätte ja auch noch schlimmer kommen können!" Er wandte sich an Rogers. "Sind die Leute von der Spurensicherung schon über die Nachbarwohnung hergefallen?"

"Sind noch unterwegs, Bount. Was wird hier eigentlich gespielt? Das hörte sich am Telefon ja ziemlich dramatisch an..."

"Lass uns rübergehen!"

Der ziemlich korpulente Polizei-Captain zuckte die breiten Schultern. "Wie du willst!"

Wenig später waren sie in der Wohnung von Ted Hughes. Es war kein schöner Anblick, den jungen Mann dort so liegen zu sehen.

"Das Werk eines Profis, nicht wahr?", schloss der dicke Rogers, wobei er es sichtlich vermied, allzu oft zu dem toten Hughes hinzusehen.

Bount nickte. "Das war auch mein erster Gedanke", meinte er. "Wie schon am Telefon erwähnt - ich bin dem Killer noch begegnet!"

"Hast du sein Gesicht gesehen?"

"Ich würde ihn wiedererkennen - wenn es das ist, worauf du hinaus willst, Toby!"

"Und was hast du hier zu suchen, Bount?"

"Ich war hinter Hughes her. Leider kam ich zu spät."

"Was wolltest du von Hughes?"

Bount machte eine unbestimmte Geste und fragte dann zurück: "Sagt dir der Name Jupiter Electronics etwas?" Toby überlegte ein paar Sekunden und schüttelte dann sehr energisch den Kopf. "Nein, Bount. Tut mir leid."

"Ein aufstrebendes Elektronik-Unternehmen, das sich in den letzten Jahren von sich reden gemacht hat."

"Und diese Firma ist dein Klient!", schloss der Captain.

"So ist es. Ein Hacker ist in die EDV der Firma eingedrungen und hat sich dort wahrscheinlich großzügig bedient." Toby Rogers hob die Augenbrauen. "Kommt so etwas nicht jeden Tag vor? Einige dieser Computer-Kids sollen doch schon bis in die Großrechner von Pentagon und NASA vorgedrungen sein!"

"Mag sein", räumte Bount ein. "Aber dieser Hacker könnte eventuell wirklich großen Schaden angerichtet haben. Es geht um Produktdaten für Raketenbauteile... Es war gar nicht so einfach in diese Hackerkreise einzudringen, aber schließlich habe ich dort die Spur von Hughes gefunden. Er hat sich einem dieser Leute nämlich anvertraut damit geprahlt, dass er bei Jupiter Electronics hineingekommen ist. Bis heute dachte ich, dass es sich bei Ted Hughes einfach nur um einen Freak handelt, der das ganze mehr oder weniger als Sport betrachtet und sich gar nicht darüber im Klaren ist, was er da tut."

"Und das denkst du jetzt nicht mehr."

"Richtig."

In diesem Moment kamen zwei Männer von der Spurensicherung.

"Ihr seht ja, was es hier zu tun gibt", meinte Rogers. Die beiden knurrten etwas Unverständliches vor sich hin. Wahrscheinlich hatten sie eigentlich längst frei und waren alles andere als begeistert davon, zu dieser späten Stunde noch einmal ran zu müssen.

"Sieht aus, als hätte der Killer hier etwas gesucht", meinte Rogers. "Fragt sich nur, was!"

Bount deutete auf Hughes' Computeranlage. "Ich möchte wissen, was auf den Disketten ist!", meinte er.

"Erst sind meine Leute dran."

"Ich weiß. Aber ich hoffe, du vergisst mich nicht!" Bount klopfte seinem Freund auf die Schulter. "Mach's gut", meinte er. "Das wird sicher noch 'ne lange Nacht..." Toby Rogers’ Stirn legte sich in tiefe Falten.

"Und wohin willst du dich jetzt verflüchtigen?"

"Ich muss noch einmal auf das Dach des Nachbarhauses. Da liegt irgendwo meine Automatik herum. Und dann geht's nach Hause."

"Na, meinetwegen. Aber morgen kommst du zu mir und siehst dir Fotos an! Wenn das wirklich ein Profi war, dann haben wir ihn vermutlich auch in der Kartei."

5

"Sie haben gute Arbeit geleistet, Mister Reiniger", erklärte Ross Malrone, einer der leitenden Angestellten von Jupiter Electronics, während er nervös seine Zigarette in den Aschenbecher drückte. "Schließlich war es ja nicht so einfach, den Kerl aufzutreiben."

"Das ist allerdings wahr", meinte Bount.

"Natürlich interessiert uns, ob dieser Hacker die Daten abspeichern konnte, die er gestohlen hat", warf Gary Soames ein, ein dicklicher Mann in einem viel zu knappen weinroten Jackett, das ihm vielleicht vor zehn Jahren noch gepasst hätte. Bount machte eine unbestimmte Geste. "Alles, was Ted Hughes besaß, wird im Augenblick von der Polizei unter die Lupe genommen. Auch seine Disketten und Festplatten."

"Was wollen wir eigentlich?", meinte Soames. "Dieser Hacker kann ja nun schließlich keinen Schaden mehr anrichten. Das ist doch die Hauptsache, oder vielleicht nicht?"

"Schon", brummte Malrone.

"Na, also! Ich schlage vor, dass wir dem Aufsichtsrat berichten, dass die Sache abgeschlossen ist." Soames zuckte mit den Schultern. "Zivilrechtlich werden wir gegen den Jungen wohl nicht mehr vorgehen können..."

"Mister Soames, das ist pietätlos!", meinte Grace Manninger, die in ihrem eng sitzenden, grauen Kostüm und den schlichten, aber sehr exquisiten Accessoires dem Leitbild einer dynamischen Managerin entsprach. "Und im Grunde ist der Schaden ja jetzt auch begrenzt", fügte sie hinzu. Sie lächelte Bount Reiniger geschäftsmäßig an. "Das Loch ist gestopft und damit ist Ihr Auftrag beendet, Mister Reiniger!" Reiniger zuckte mit den Schultern.

"Wie Sie meinen."

"Wir werden auf Ihren Scheck noch etwas drauflegen", meldete sich Soames zu Wort. "Wie gesagt, Sie haben hervorragende Arbeit geleistet."

Aber Bount Reiniger schien anderer Ansicht zu sein. Er erhob sich von seinem Platz und meinte: "Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie Sie, die Sie hier sitzen, zufrieden sein können! Ich bin es jedenfalls nicht!"

Gary Soames zupfte nervös an seinem weinroten Jackett und musterte den Privatdetektiv misstrauisch.

"Was wollen Sie damit sagen?"

"Nun, ich habe es in dem Bericht, den ich Ihnen geliefert habe, doch schon angedeutet! Ted Hughes wurde wahrscheinlich von einem Profi-Killer ermordet und..."

"Ja, das überaus tragisch, Mister Reiniger. Aber was hat das mit Jupiter Electronics zu tun?", unterbrach der dickliche Soames den Privatdetektiv. Er machte auf einmal einen merkwürdig gereizten Eindruck.

"Hughes wäre nicht der erste Hacker, der gezielt angeworben wurde", meinte Bount. "Der KGB hat so etwas schon versucht. Warum sollte es nicht auch zum Beispiel einer Ihrer Konkurrenten tun? Es geht ja schließlich um Produktdaten von Raketenbauteilen - und diese Ware ist mindestens so heiß wie Rauschgift!"

"Worauf wollen Sie hinaus, Mister Reiniger?", fragte Grace Manninger deutlich unbefangener als ihr Kollege Soames. Reiniger machte eine unbestimmte Geste. "Nun", meinte er. "Wer es einmal versucht, wird vielleicht weiterbohren. Wenn ich Sie wäre, würde ich der Sache auf den Grund gehen und herauszufinden versuchen, wer dahintersteckt!"

"Das ist ganz allein unsere Entscheidung!", erklärte Soames und Bount wusste, dass die Sache damit gelaufen war. Gegen Ignoranz war kein Kraut gewachsen. Da war nichts zu machen. Er lächelte dünn.

"Am Ende ist es allerdings auch Ihre Firma, die die Zeche bezahlen muss. Aber das müssen Sie wissen!"

6

Als Bount wenig später in seinem champagnerfarbenen 500 SL saß, konnte er sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Und daran konnte auch der Scheck in seiner Innentasche kaum etwas ändern.

Bount fühlte sich wie einer, den man hinausexpediert und mit ein paar Extra-Dollars geschmiert hatte, um ihn möglichst schnell loszuwerden.

Er zuckte mit den Schultern, ließ den Motor an und fädelte sich in den Verkehr ein. Vielleicht wollten die Leute von Jupiter Electronics einfach kein Aufsehen. Das konnte ihnen nur schaden und würde die Kurse ihrer Aktien in den Keller treiben.

Für Bount war die Sache damit erledigt.

Jedenfalls fast, denn sein nächster Weg würde ihn zum Morddezernat Manhattan C/II führen.

Als Bount eine Viertelstunde später Toby Rogers’ Büro betrat, verzehrte der dicke Captain gerade sein zweites Frühstück.

Rogers hob die Kaffeetasse zur Begrüßung, konnte aber nichts weiter, als einen unterdrückten Laut von sich geben, da er den Mund voll hatte. Übervoll.

Bount grinste.

"Schon gut, Toby. Ich kann mir denken, was du sagen willst!"

Toby drückte den Bissen etwas schneller herunter, als er es eigentlich wohl vorgehabt hatte und ächzte dann: "Auch einen Kaffee?"

"Wenn er richtig stark ist!"

"Ist er. Zum Schlafen hatte ich kaum Gelegenheit."

"Ich auch nicht. Mein Schädel hat gebrummt!"

"Oh, tut mir Leid."

"Ist schon besser geworden."

Bount bekam eine Tasse mit rabenschwarzem Kaffee in die Hand gedrückt.

"Hier, Bount! Und setz dich gar nicht erst, wir gehen rüber zu Lieutenant Carey."

Lieutenant Carey war zierlich, brünett und eine sehr attraktive junge Frau. Sie schenkte Bount ein entzückendes Lächeln, aber ihr Blick verriet auch, dass sie jemand mit starkem Willen und viel Durchsetzungskraft war.

"Ah, Sie müssen Bount Reiniger sein!", meinte sie. "Der Captain hat mir gesagt, dass Sie heute vorbeikommen würden."

"Allerdings glaube ich, dass wir noch nicht das Vergnügen hatten."

"Ich habe von Ihnen gehört, Mister Reiniger."

"Ich hoffe nur Gutes!"

"Was dachten Sie denn!"

"Zur Sache!", forderte Rogers und deutete auf den Computerschirm, der vor Lieutenant Carey auf dem Tisch stand.

"Ich habe alles vorbereitet", sagte Carey und warf dabei ihre Haare in den Nacken. "Die Killer-Parade kann beginnen. Ich hoffe nur, dass es überhaupt ein Bild von ihm gibt!" Und dann drückte Carey auf die Tasten. Ein Bild nach dem anderen ließ Bount über sich ergehen. Manchmal waren es nicht einmal Fotografien, sondern nur Phantombilder.

Aber der Mörder von Ted Hughes war nicht darunter. Toby Rogers musterte angestrengt das Gesicht seines Freundes und schien jedesmal innerlich zu seufzen, wenn dieser wieder den Kopf schüttelte.

Als Bount seinen Kaffee geleert hatte, waren sie dem Killer noch immer nicht einen Millimeter mehr auf den Pelz gerückt. Die Zeit ging quälend langsam dahin, aber bei so einer Sache musste man Geduld haben. Eine zweite und eine dritte Tasse Kaffee schüttete Bount in sich hinein. Schließlich waren sie endlich durch.

"Das sind alle?", fragte Bount.

"Findest du nicht, dass es viel zu viele sind?", raunte Toby zurück.

Bount zuckte mit den Schultern. "So kann man es natürlich auch sehen!"

"Das waren nur die, von denen wir Bilder haben!" Das war Carey. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum. "Die wirklich geschickten Profikiller sorgen dafür, dass sie nie fotografiert oder erkennungsdienstlich behandelt werden!" Toby Rogers ballte die Hände unwillkürlich zu Fäusten. "So ein verdammter Mist!", schimpfte er. "Außer dem Gesicht dieses Kerls haben wir kaum etwas in der Hand!"

"Was ist mit der Tatwaffe?", fragte Bount. "Deine Leute müssten sie auf dem Dach des Nachbarhauses gefunden haben!"

"Richtig."

"Und?"

"Das übliche, Bount. Die Seriennummer ist abgefeilt. Wahrscheinlich hat der Kerl sich das Eisen extra für seinen Auftrag besorgt und hätte sie anschließend in den East River geworfen oder anderswo verschwinden lassen. Wir sind mit der Überprüfung noch nicht durch, aber wenn der Mann clever war, dann kommen wir mit der Pistole nicht viel weiter! Einmal benutzt und dann weg damit, so machen die Brüder das!"

"Und das Messer?", fragte Bount. "Ich sage dir, der konnte damit umgehen wie nur wenige!" Er hob seine bandagierte Linke. "Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte er mich damit erledigt!"

Rogers atmete tief durch, blickte erst Bount an und dann den Bildschirm. "Gehen wir doch einmal die Killer durch, von denen wir kein Bild haben, Lieutenant!"

"Ist einer dabei, der mit dem Messer arbeitet?"

"Einen Moment, haben wir gleich." Lieutenant Careys flinke Finger flogen über die Tastatur. Vier Namen blieben auf dem Schirm stehen.

"Vielleicht ist unser Mann ja dabei!", meinte Bount.

"Wir werden sie überprüfen."

"Viel Erfolg!"

Toby Rogers runzelte die Stirn. "Ich dachte, du ermittelst in dieser Sache?"

"Meine Aufgabe war es, den Hacker aufzutreiben, der in die EDV von Jupiter Electronics hineingekommen ist. Das habe ich gemacht."

"Glaubst du, dass die beiden Sachen zusammenhängen?" Bount zuckte mit den Schultern. "Warum nicht? Es könnte aber auch etwas ganz anders dahinterstecken." Bount lachte und klopfte Toby Rogers mit der flachen Rechten auf die Schulter.

"Du wirst es schon heraus bekommen!" Er wandte sich an Carey. "Wiedersehen, Lieutenant!"

Reiniger wandte sich schon zum Gehen, aber Rogers war sofort bei ihm und packte ihn am Arm. "Hey, so einfach kommst du mir nicht davon?"

"Was ist denn noch? Überprüft doch erst einmal die vier Namen da auf dem Schirm!"

"Erzähl mir, was du über diesen Ted Hughes herausgefunden hast! Außerdem brauchen wir dich noch für das Phantombild."

"Ich weiß nur, dass er in einschlägigen Hacker-Kreisen als ganz besonders talentiert gilt."

"Wovon lebte er?"

"Er hat neue Computer-Spiele für ein halbes Dutzend Zeitschriften besprochen!"

Rogers kratzte sich am Hinterkopf. "Zahlen diese Blätter so miese Honorare oder weshalb lebte er in so einer Gegend?"

"Ich schätze, dass er möglichst preiswert wohnen wollte und sein ganzes Geld in das Equipment gesteckt hat. Ich kenne mich ja nun ein bisschen in dieser Szene aus. Das ist dort nichts Ungewöhnliches."

"Hatte er eine Freundin? Und Bekannte, Freunde?"

"Ich glaube nicht, dass es viele waren. Zumindest nicht außerhalb der Szene. Von einer Freundin weiß ich nichts. Habt ihr übrigens schon überprüft, was auf Hughes' Disketten war?"

"Ja. Spiele und selbstgeschriebene Programme."

"Nicht zufällig etwas, das mit Bauteilen für Raketen zu tun hat?"

"Nein, bis jetzt nicht. Aber du kannst dich darauf verlassen, dass wir alles noch einmal unter die Lupe nehmen werden!" Bount nickte.

Die beiden Freunde gingen ein Stück zusammen, und als sie weit genug von Lieutenant Carey entfernt waren, meinte Bount: "Für einen Lieutenant ist sie noch ziemlich jung, oder?"

"Stimmt. Aber sie ist verdammt gut. Sowohl am Computer, wie auch auf dem Schießplatz."

"Ich sehe sie hier zum ersten Mal."

"Sie ist auch erst seit letzter Woche hier - und ich fürchte, sie wird mir nicht allzu lang erhalten bleiben." Bount runzelte die Stirn. "Weshalb?"

"Weil sie Karriere machen wird. Überall, wo sie bis jetzt war, war sie ziemlich bald die Beste. Wenn nichts dazwischen kommt, wird sie die Leiter hinauffallen!"

7

Für den Mittag hatte Reiniger sich mit June March, seiner attraktiven Assistentin, zum Essen verabredet. Bount hatte einen Tisch im 'Windows of the World', reservieren lassen, das im obersten Stockwerk des World Trade Center zu finden war. Der Blick, den man von hier aus hatte war an einem so kalten und klaren Tag geradezu fantastisch.

"Womit habe ich das denn verdient?", fragte June, die ihre blonde Mähne durch ein paar Nadeln gebändigt und kunstvoll hochgesteckt hatte.

Bount hob die Augenbrauen. "Was meinst du?"

"Na, dass du mich in diesen Luxusladen ausführst! Ich schätze, hier herrscht Krawattenzwang. Jedenfalls habe ich noch niemanden ohne Schlips gesehen."

"Gut beobachtet. Es ist tatsächlich so, ohne Schlips kommt hier keiner herein." Er hob das Glas. "Ich dachte mir, nach dem letzten Fall könnten wir beide einmal einen anderen Anblick vertragen, als den von flimmernden Computerschirmen..."

"...und pickeligen, dickbebrillten Jungs, die nichts Besseres zu tun haben, als mit diesen Dingern Unfug zu treiben!"

Bount nippte an seinem Glas und lächelte. "Das mit den Pickeln und den dicken Brillen ist ein Vorurteil, June!"

"Ach! Sag bloß, es sind auch welche in der Szene, die Kontaktlinsen tragen!" Sie nahm einen Schluck. "Was ist eigentlich mit dem Killer? Ist Toby und seine Mannschaft ihm schon auf der Spur?"

Bount machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Im Augenblick stehen vier Namen zur Auswahl und am Ende könnte sich herausstellen, dass keiner von ihnen unser Mann ist. Es gibt kein Bild von ihm in den Akten."

8

Bount und June ließen sich Zeit beim Essen und so dauerte es gut zwei Stunden, ehe sie sich auf den Weg in die 7th Avenue machten, an deren nördlichen Ende der Privatdetektiv seine Residenz hatte. Bount Reinigers Büro und Wohnung lagen in einer Traumetage mit Blick auf den Himmel über dem Central Park. Der Aufzug trug die beiden hinauf, aber schon als sie die aufgebrochene Tür sahen, war klar, dass hier etwas nicht in Ordnung war.

Bount holte mit einer schnellen, sicheren Bewegung die Automatik aus dem Schulterholster und bedeutete June wortlos, etwas zurückzubleiben. Dann schob er mit dem Fuß die Tür etwas weiter auf und trat mit der Pistole im Anschlag ein. Es machte den Eindruck, hätte ein Orkan durch die Agentur gewütet. Alles war durchwühlt worden und nun herrschte grenzenloses Chaos.

Bount durchquerte leichtfüßig den Flur und warf einen kurzen Blick in jeden Raum. Aber von dem unfreundlichen Besucher, der das hier verursacht hatte, war nichts mehr zu sehen.

Inzwischen war June ihm gefolgt. Bount steckte die Waffe ein, ließ sich auf einer Couch nieder, deren Polster mit einem Messer zerschnitten waren, und atmete einmal tief durch.

"Wir hatten Besuch!", meinte er.

"Ich hoffe, es fehlt nichts!" June ließ den Blick schweifen, aber Bount schüttelte den Kopf.

"Ein gewöhnlicher Räuber war das nicht! Alles, was sich zu Geld machen lässt, scheint noch da zu sein." Er deutete auf den halb offenen Safe. "Nur das bisschen Bargeld ist weg!" June verschränkte die Arme vor der Brust.

Bount erhob sich wieder, zog seinen Mantel aus und warf ihn in einen Sessel. Einen Augenblick später stand Bount vor den abschließbaren Metallschränken, in denen die Ermittlungsunterlagen der Agentur aufbewahrt wurden. Die Schränke waren allesamt gewaltsam aufgebrochen worden und dabei war der Einbrecher war alles andere als zimperlich vorgegangen.

"Scheint, als wäre eine neue Büroausstattung fällig, was?", meinte June, die neben ihn getreten war.

Bount machte eine Handbewegung und deutete auf die Schränke. "Vielleicht war er daran interessiert!"

"Du meinst, es könnte irgendjemand sein, gegen, den wir mal ermittelt haben?"

"Wenn wir wissen ob und was fehlt, werden wir schlauer sein! Du könntest übrigens die Polizei anrufen. Kann ja nicht schaden, wenn die sich die Sache auch einmal ansehen!"

9

Der Mann vom Einbruchsdezernat hieß McGuire und trug eine dicke Hornbrille, die seinem blassen, schmalen Gesicht eine Struktur gab. Er rückte mit zwei Kollegen an, aber viel kam bei der Spurensuche nicht heraus. Keine Fingerabdrücke oder dergleichen, nichts was der Täter unbeabsichtigt zurückgelassen hatte. Es war zum Verzweifeln.

"Fehlt irgendetwas außer dem Bargeld, Mister Reiniger?", fragte McGuire. Der Privatdetektiv zuckte die Achseln.

"Wir sind noch nicht ganz durch."

"Der Täter hat scheinbar irgendetwas Bestimmtes gesucht und in großer Eile gearbeitet - das sind wohl Tatsachen", meinte McGuire. "Haben Sie sich mit irgendjemandem angelegt? So etwas passiert einem wie Ihnen doch schon mal, oder?"

"Ach, hören Sie auf!"

"Wir nehmen die Sache zu Protokoll, aber machen Sie sich nicht allzu große Hoffnungen. Wissen Sie, wie viele Einbrüche jeden Tag in New York passieren?"

"Ich weiß schon, was Sie mir damit sagen wollen. Sie sind überlastet und haben einen Haufen ungelöster Fälle!" McGuire machte eine hilflose Geste. "Was erwarten Sie von mir? Wunder? Was ist mit ihrer Kundenkartei?"

"Durchgewühlt, aber das Interesse des Einbrechers scheint gleichmäßig verteilt gewesen zu sein. Ich glaube nicht, dass dort etwas fehlt."

McGuire kratzte sich am Kinn und meinte dann ziemlich unvermittelt: "Sind Sie eigentlich versichert, Mister Reiniger?"

"Ja."

"Dann vergessen Sie die Sache am besten." Es dauerte noch ein bisschen, dann hatten die Leute vom Einbruchsdezernat ihre Arbeit beendet. Sie waren schnell verschwunden und Bount konnte sich an zwei Fingern ausrechnen, dass bei den Ermittlungen nicht viel herauskommen würde. Ein Vorgang in den Akten, das würde davon bleiben. Sonst nichts.

"Denk doch mal nach, Bount", schnitt Junes Stimme in sein Bewusstsein. "Könnte dieser Einbruch nicht mit der Geschichte von gestern Abend zusammenhängen?"

"Du meinst..."

"Dieser Killer, ja genau!"

"Aber dieser Mann weiß von mir nicht mehr als ich von ihm! Jeder kennt vom anderen das Gesicht, das ist alles!" June trat etwas näher an ihn heran und blickte zu ihm auf.

"Der Unterschied ist der, dass dein Bild ab und zu mal in der Zeitung steht, während er peinlich darauf bedacht sein muss, dass es kein Bild gibt!"

Bount schüttelte den Kopf.

"Nein, das ist mir zu sehr an den Haaren herbeigezogen."

10

Zwei Tage später sah es in Bount Reinigers Residenz schon wieder ganz passabel aus. Die beschädigten Möbel waren erneuert worden und Bount und June hatten sich alle Mühe gegeben, Wohnung und Office wieder in ihren Urzustand zu versetzen.

Die Klientin, die Bount an diesem Morgen aufsuchte, war ohne Anmeldung gekommen und machte einen ziemlich verzweifelten Eindruck. Sie war nicht älter als fünfundzwanzig und hatte aschblondes, gelocktes Haar, das zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengefasst war. Ihre Kleidung war sportlich und praktisch, verriet aber doch Stil.

"Sie sind Mister Reiniger?", fragte sie, obwohl sie das längst erraten hatte. Bount bot ihr einen Platz an und nickte.

"Ja, der bin ich, Miss..."

"Hughes. Charlene Hughes"

Bount hob die Augenbrauen und sie musterte ihn mit ihren graugrünen Augen. Ihr feingeschnittenes Gesicht machte einen angestrengten, etwas traurigen Eindruck. Das Lächeln, das über ihre Lippen flog war kurz und flüchtig.

"Was möchten Sie von mir?"

"Mein Name kommt Ihnen bekannt vor, nicht wahr?"

"Nun..."

"Sie vermuten richtig. Ich bin die Schwester von Ted Hughes, dem Mann, den Sie im Auftrag von Jupiter Electronics im Visier hatten."

"Woher wissen Sie das?"

"Ich habe mit seinen Freunden aus der Hacker-Szene gesprochen. Und außerdem war ich bei Jupiter Electronics."

"Wissen Sie auch, was Ihr Bruder dort angerichtet hat?"

"Man hat es mir nicht gesagt. Aber worum soll es schon gehen? Er wird sich in die EDV hingehackt haben. Jupiter Electronics stellt das her, was eine Rakete intelligent macht, was ihr sagt, wo ihr Ziel ist und dafür sorgt, dass sie es auch über Tausende von Kilometern hinweg noch sicher findet! Also wird es um irgendetwas gegangen sein, das damit zusammenhängt. Da habe ich richtig kombiniert, oder?"

"Ja, ganz genau", bestätigte Bount. "Ich frage mich, was Sie von einem Detektiv wollen, wenn Sie doch selbst schlau genug sind, um Sinn in die Sache zu bringen und sich das Nötige zusammenzureimen?"

"Mein Bruder ist ermordet worden. Deshalb bin ich bei Ihnen, Mister Reiniger."

"Nennen Sie mich ruhig Bount."

"Meinetwegen."

"Leider bin ich zu spät gekommen, um Ihrem Bruder noch helfen zu können", sagte Bount mit Bedauern "Manchmal spielt das Leben so. Hätte ich auf meinem Weg ein bisschen öfter grün bei den Ampeln gehabt, so hätte ich ihn vielleicht noch retten können!"

"Ich mache Ihnen nicht den geringsten Vorwurf, Bount." Bount Reiniger lehnte sich etwas zurück, holte seine Zigaretten hervor und bot seinem Gast ebenfalls eine an. Aber Charlene Hughes lehnte ab.

Bount meinte: "Die Polizei ermittelt in der Sache. Ein Profi hat Ihren Bruder auf dem Gewissen."

"Ja, und man hat mir gesagt, wie toll die Chancen sind, dass die Polizei den Kerl erwischt."

Bount zuckte die Achseln. "Glauben Sie, meine sind größer?"

"Ich weiß nicht. Aber ich möchte auch nichts unversucht lassen. Außerdem interessiert mich dieser Killer gar nicht in erster Linie."

"Sondern?"

"Ich will, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die diesen Kerl geschickt haben!" Sie atmete tief durch. "Ich bin Geschäftsführerin einer gutgehenden Boutique in der Bronx und habe einige Rücklagen. Um Ihr Honorar brauchen Sie sich also keine Sorgen zu machen!"

Bount lächelte dünn. "Mache ich mir auch nicht. Haben Sie einen Verdacht, wer hinter dem Mord stecken könnte?"

"Ted war ein verschlossener Mensch. Er war nicht sehr gesprächig."

"Es ging um Produktdaten für Raketenbauteile - und die sind so wertvoll wie Rauschgift oder Gold. Er könnte versucht haben, diese Sachen zu verkaufen. Interessenten gibt es rund um den Globus! Es könnte sein, dass er dabei jemandem in die Quere gekommen ist!"

Aber Charlene schüttelte ganz energisch den Kopf. "Sehen Sie, Mister Reiniger, Sie kannten Ted nicht."

"Ich weiß nur wenig über Ihren Bruder, das ist richtig. Und alles nur zweiter Hand."

"Sein Leben war der Computer. Früher war es für ihn eine Art Sport in alle möglichen EDV-Anlagen einzudringen, Datenbanken anzuzapfen, sich bei Versandhäusern Sachen zu bestellen, ohne dafür bezahlen zu müssen..." Ja, dachte Bount. Aber am Ende hat er doch bezahlen müssen. Und zwar sehr teuer. "Wie reimen Sie sich die Sache zusammen, Charlene - nachdem Sie meine Version nicht akzeptieren können."

"Ted stand in letzter Zeit sehr unter Druck. Er wollte nicht darüber reden, obwohl ich es mehrmals versucht habe. Er war nicht wie sonst, Bount, da bin ich mir sicher!"

"Sie glauben, Ted handelte nicht aus eigenem Antrieb, als er in die EDV von Jupiter Electronics eindrang?"

"Ja."

"Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?"

"Vor einer Woche. Ich bin bei ihm vorbeigefahren, weil ich mir Sorgen um ihn gemacht habe. Unsere Unterhaltung war nicht sehr ausführlich. Ted hat mich gleich an der Tür wieder weggeschickt."

"Warum?"

"Er hatte jemanden zu Besuch und war sehr nervös. Das war schon merkwürdig. Wenn er sonst mal Freunde da hatte - was selten genug vorkam - hat er sie nie versteckt. Ich habe dann im Auto gesessen und gewartet. Eine Viertelstunde später kam ein gutgekleideter Mann."

"Wie sah er aus?"

"Dunkler Teint, Schnurrbart und nicht größer als eins siebzig."

Bount lächelte. "Sein Autokennzeichen haben Sie nicht zufällig auch aufgeschrieben?"

"Er hat ein Taxi benutzt. Ich bin dann noch einmal hinauf zu Ted gelaufen und habe ihn zur Rede gestellt. Er hat mich beschworen, ihn in nächster Zeit nicht mehr aufzusuchen. Zu meiner eigenen und seiner Sicherheit. Mehr hat er nicht gesagt." Sie seufzte. "Ich hätte früher zu Ihnen kommen sollen, nicht wahr? Ich mache mir Vorwürfe."

"Machen Sie sich nicht selbst verrückt, Charlene!"

"Übernehmen Sie den Fall?"

"Ich tue immer mein Bestes, aber ich kann niemandem Wunder versprechen."

11

In der Tiefgarage, in der Bount seinen 500 SL abgestellt hatte, herrschte eine Art Dämmerlicht. Er hatte ein paar Leuten, die er bei seinen Ermittlungen in der Hacker-Szene kennen gelernt hatte, einen Besuch abgestattet, aber plötzlich schien niemand mehr mit Bount reden zu wollen.

Vielleicht hatte Ted Hughes' Ableben ihnen einen solchen Schrecken eingejagt, dass sie plötzlich die Sprache verloren hatten. Hughes war ja auch kaum der Einzige von ihnen, der in krummen Sachen drinsteckte.

Es waren ein paar verlorene Stunden für Bount gewesen. Bount öffnete die Tür des Mercedes und stieg ein. Er hatte noch nicht einmal den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt, da spürte er etwas Hartes im Nacken. Er erstarrte mitten in der Bewegung.

"Nicht umdrehen!", raunte ihm eine Männerstimme ins Ohr. "Sonst haben Sie ein Loch um Kopf!"

"Was wollen Sie?", fragte Bount gelassen.

"Erst einmal nur, dass Sie still sitzen bleiben!" Bount schielte zum Rückspiegel. Aber der Kerl, der hinter dem Fahrersitz emporgekommen war, trug bis zur Nase einen Wollschal und darüber eine Mütze. Immerhin konnte Bount sehen, dass der Kerl blaue Augen hatte, aber das nützte ihm im Moment kaum etwas.

Eine Hand langte nach der Automatik, die Bount im Schulterholster trug, und nahm ihm die Waffe ab.

"Und nun?", fragte Bount.

"Wir machen eine kleine Ausfahrt. Ich werde Ihnen sagen wohin. Tun Sie einfach nur, was ich Ihnen sage." Bount zuckte mit den Schultern.

"Ich schätze, mir bleibt ohnehin nichts anderes übrig!"

"Fahren Sie los."

Bount lenkte den Wagen aus dem Parkhaus heraus und reihte sich in die rollende Blechlawine ein.

"Die nächste rechts und dann links!", befahl der Mann mit den blauen Augen knapp.

"Sie sind der Boss!"

"Wenn Sie das einsehen, leben Sie länger, Reiniger!"

"Oh, meinen Namen kennen Sie auch!"

"Maulhalten!"

"Vielleicht sagen Sie mir einfach, worum es geht!"

"Ich sagte: Maulhalten!"

Dann herrschte eine ganze Zeitlang eisiges Schweigen. Erst als Bount erneut abbiegen sollte, meldete sich der Entführer wieder zu Wort. In der Zwischenzeit hatte er mit seiner freien Hand das Magazin aus Bounts Automatik gefingert und ließ die Patronen herausrieseln. Dann warf er die Waffe auf den Boden. Die Fahrt ging über die George Washington Bridge nach New Jersey hinüber. Und dann waren sie waren sie auch bald am Ziel. Der Mann mit den blauen Augen lotste Bount auf einen offenbar stillgelegten Schrottplatz. Nicht nur die abgestellten Wagen, sondern auch die Kräne und Pressen hatten Rost angesetzt und waren vermutlich kaum noch funktionsfähig.

"Halten Sie an, Reiniger!"

Bount gehorchte.

"Und was nun? Haben Sie sich diesen Ort ausgesucht, um mich ungestört erschießen zu können?"

"Wäre schon möglich." Er lachte hässlich. "Beunruhigt Sie dieser Gedanke?" Er drückte Bount den Lauf seiner Waffe jetzt besonders heftig in den Nacken. "Denken Sie immer daran, dass Ihr Leben hier nichts wert ist. Ich kann hier mit Ihnen anstellen, was immer mir beliebt. Keiner würde einen Schuss oder einen Schrei hören. Wissen Sie, wie weit der nächste Mensch entfernt ist, der Ihnen helfen könnte? Eine Meile, zwei Meilen... Vielleicht noch weiter."

Unweit der eingerosteten Schrottpresse war eine Holzbaracke, in der vermutlich früher das Büro untergebracht gewesen war.

Zwei Kerle kamen jetzt hinter der Baracke hervor und gingen schnellen Schrittes direkt auf den Wagen zu. Beide trugen Motorradhelme mit heruntergelassenen Visieren. Von ihren Gesichtern waren kaum die Augen zu sehen. Dafür konnte Bount um so besser die Ketten und Schlagringe sehen, die sie in ihren behandschuhten Händen hielten. Vor der Motorhaube des 500 SL blieben die beiden stehen. Einer setzte seinen Fuß auf die Stoßstange, der andere drückte den Stern nieder.

"Ich verabscheue Gewalt", sagte der Mann mit den blauen Augen Bount direkt ins Ohr. Es klang allerdings wenig glaubwürdig. "Es hängt alles von Ihnen ab, Reiniger! Ich hoffe, Sie sind kooperativ!" Einer der beiden behelmten Gorillas strich jetzt provozierend mit dem Schlagring über die Motorhaube und kratzte den Lack herunter. "Sie haben etwas an sich gebracht, dass Ihnen nicht gehört, Mister Reiniger..." Bount hob die Augenbrauen.

"Das ist mir neu!"

"Es geht um Daten, vermutlich auf einer Diskette gespeichert. Sie waren in Ted Hughes' Wohnung."

"Alles, was in der Wohnung an Datenträgern war, befindet sich jetzt bei der Polizei!"

Der Mann mit den blauen Augen lachte heiser.

"Aber Sie waren eher dort und haben sich bedient. Das wollen Sie doch nicht im Ernst abstreiten, Reiniger!" Bount verzog das Gesicht zu einem müden Lächeln. "Es ist interessant, dass Sie überhaupt davon wissen, dass in Ted Hughes' Wohnung war!"

Langsam wurde der Kerl sauer.

"Nun ist es aber genug! Heraus damit, wo ist das Zeug?"

"Stecken Sie hinter dem Einbruch in meine Wohnung?"

"Ich habe keine Lust, meine Frage ein zweites Mal zu stellen!"

Reiniger zuckte ungerührt mit den Schultern und erwiderte sachlich: "Ich habe keine Ahnung, worum es geht!"

"Um das Know-how für bestimmte Raketenbauteile. Wenn Sie denken, dass Sie handeln können, Reiniger, dann vermuten Sie völlig falsch. Ihr Leben, das ist alles, was wir Ihnen bieten können. Wenn Ihnen das nicht genug ist, können wir es auch nicht ändern!"

"Ich glaube eher, dass Sie mich in jedem Fall töten werden"

"Und wissen Sie, was ich glaube, Reiniger? Sie brauchen erst eine Abreibung, um zu begreifen, welches Spiel hier gespielt wird!" Er winkte den beiden Gorillas zu, und die hatten schon lange ungeduldig auf ihren Auftritt gewartet. Die Fahrertür des 500 SL wurde aufgerissen und Bount herausgezerrt. Er bekam einen mörderischen Hieb mit der Kette und taumelte auf den hart gefrorenen Boden. Inzwischen kletterte auch der Mann mit den blauen Augen aus dem Mercedes heraus, die Waffe nach wie vor im Anschlag.

Bount richtete sich halb auf. Die drei Kerle standen um ihn herum. Im Hintergrund war eine kalte, kraftlose Wintersonne am Himmel. Das Rasseln der Kette mischte sich mit den Schreien einiger Krähen, die oben auf dem Kran Platz genommen hatten.

"Sagen Sie uns einfach, wo das ist, was wir haben wollen. Sie haben keine andere Chance, Reiniger!", knurrte der Mann mit den blauen Augen. Bei ihm klang das wie die Verkündung eines Todesurteils. Er hob den Revolver, richtete die Waffe auf Bount und spannte den Hahn. "Mischt ihn noch ein bisschen auf, Leute!", zischte er unter seinem Schal hervor.

12

Einer der Helm-Gorillas holte zu einem Schlag mit seiner Kette aus und trat dabei einen Schritt vor. Im letzten Moment konnte Bount zur Seite weichen. Der Schlag traf ihn nicht voll, und die Kette glitt seitlich ab. Bount bekam sie zu fassen und nutzte die Gelegenheit. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Kerl zu sich heran, rammte ihm das Knie in den Magen und gab ihm einen kräftigen Stoß. Der Mann mit den blauen Augen sah seinen Komplizen auf sich zu taumeln und konnte deshalb nicht schießen. Als er dann doch losballerte, hatte Bount sich hinter einen rostigen Packard gerettet, dessen Dach an der Fahrerseite ziemlich plattgedrückt war.

Bount kauerte in seiner Deckung, während zwei Schüsse durch das dünne Blech hindurchschlugen, um dann in den von Ratten angefressenen Polstern steckenzubleiben.

"Na, los, hinterher!", rief der Kerl mit den blauen Augen.

"Aber fangt ihn möglichst lebend. Wir wollen noch etwas von ihm wissen!"

Bount hörte schnelle Schritte.

Einer der Gorillas hatte den Packard umrundet und stand drohend mit dem Schlagring vor ihm. Bount wusste, dass er nicht warten durfte, bis die anderen auch bei ihm waren. Er schnellte aus seiner kauernden Stellung empor, packte blitzartig den Schlagarm seines Gegners und drehte ihn roh herum. Dann schleuderte Bount den behelmten Kopf seines Gegners mit voller Wucht gegen die Beifahrertür des Packard, die daraufhin eine weitere Beule aufwies. Bount ließ den Mann los. Der Kerl war etwas benommen, was nach diesem Schlag auch nicht verwundern konnte. Er sackte in sich zusammen und hielt sich dabei den Kopf, während Bount sich unter einem Buick hinwegrollte, sich dann wieder hoch rappelte und in geduckter Haltung die Reihen der abgewrackten Blechruinen entlangrannte, die ein unübersichtliches Labyrinth bildeten. Ein Schuss wurde ihm hinterhergeschickt, ging aber ins Nichts. Bount sah den Kerl mit den blauen Augen hinter sich herhetzen. Die beiden Helm-Gorillas hatten sich inzwischen noch nicht von der Abreibung erholt, die Bount ihnen verpasst hatte und so hatte er es jetzt nur noch mit dem Blauäugigen zu tun. Aber der hatte einen Revolver.

Bount erreichte inzwischen einen der angerosteten Kräne. Er ließ den Blick über die Blechwüste schweifen und suchte mit den Augen nach seinem Gegner.

Ein paar Sekunden später und Bount hatte ihn gefunden. Bount sah gerade noch, wie der Kerl hinter einem geräumigen Lieferwagen hervortauchte, an dem sämtliche Türen und Reifen fehlten, und erneut den Revolver loskrachen ließ. Das Projektil kratzte an der dicken Rostschicht des Krans.

Bount setzte zu einem Spurt in Richtung der Baracke an, während rechts und links die Schüsse in den hartgefrorenen Boden gingen.

"Bleiben Sie stehen, oder ich zerschieße Ihnen Ihre Beine!", rief der Mann mit den blauen, dessen Schal inzwischen etwas nach unten gerutscht war. Aber Bount hörte nicht auf ihn. Er hatte mitgezählt und wusste, dass sein Gegner den sechsschüssigen Revolver erst nachladen musste. Und bis dahin war Bount längst bei der Baracke.

Die Tür stand auf.

Bount warf einen kurzen Blick ins Innere. Er sah einen Tisch, der umgestürzt war. Zwei herausgebrochene Tischbeine lagen auf dem Boden, auf dem auch jede Menge Papier zu finden war. Formulare, die hier wohl schon jahrelang lagen. Selbst die Ratten hatten kaum Geschmack an ihnen gefunden. Bount ging hinein, nahm sich eines der Tischbeine und presste sich dann neben einem der eingeschlagenen Fenster an die Wand. Er brauchte gar nicht erst hinauszusehen, um zu wissen, dass sein Verfolger sich näherte. Bount hörte Schritte. Der Mann mit den blauen Augen musste gesehen haben, dass Bount bei der Baracke verschwunden war. Ob der Privatdetektiv sich auch wirklich in ihrem Inneren versteckte, konnte der Kerl nicht wissen, denn der Eingang war auf der anderen Seite gelegen.

Aber es lag nahe.

Bount konnte davon ausgehen, dass sein Gegner in der Baracke nach ihm suchen würde. Fragte sich nur, ob der Kerl seinen Revolver durch das Fenster oder durch die Tür steckte. Er kam durch die Tür.

Bount zögerte nicht einen Augenaufschlag lang und schlug mit dem Tischbein zu, noch ehe der Kerl gemerkt hatte, wohin der Hase lief. Bount erwischte ihn am Kopf, das Blut schoss dem Entführer aus der Nase und er taumelte rückwärts. Ächzend ging er zu Boden und noch ehe er wieder alle Sinne beieinander hatte, war Bount über ihm und nahm ihm die Waffe ab.

Bount wog sie in der Hand.

Eine 38er Special, wie er angenommen hatte. Der Mann mit den blauen Augen hielt sich die Nase und versuchte, die Blutung zu stillen. Er schluckte und atmete heftig. Der Blick, den er Bount hinaufsandte, konnte töten.

"So hat sich das Blatt gewendet!", stellte Bount fest, holte ein Taschentuch hervor und ließ es zu dem Mann mit den blauen Augen hinuntersegeln, dessen Schal jetzt gänzlich heruntergerutscht war. Bount schätzte ihn auf fünfunddreißig oder vierzig. Er war sich ziemlich sicher, ihm noch nie begegnet zu sein. Aus den Augenwinkeln sah Bount, wie sich die beiden Gorillas von ferne näherten. Als sie sahen, was geschehen war und dass derjenige, den sie sich eigentlich zum Opfer auserkoren hatten, nun die Waffe in der Hand hielt, erstarrten sie. Aber nur einige Sekunden lang. Dann machten sie plötzlich, dass sie so schnell wie möglich davonkamen. Bount unternahm nichts dagegen. Schließlich hatte er ja denjenigen, der ohne Zweifel der Kopf dieser Aktion war. Kurz hintereinander wurden dann in einiger Entfernung zwei Motorräder gestartet.

"Ihre Komplizen brausen davon!", stellte Reiniger fest.

"Verfluchte Hunde!", zischte der am Boden liegende Entführer, der sich jetzt aufsetzte. Er blickte in den Lauf seines eigenen 38ers und fragte dabei: "Was haben Sie mit mir vor, Reiniger?"

"Wer sind Sie?"

"Kein Kommentar."

Bount packte den Mann am Arm und zog ihn hoch, so dass er einen Augenblick später wieder auf zwei Beinen stand. Er hielt sich noch immer die Nase. "Ich glaube, da ist was gebrochen", stöhnte er.

Bount zuckte die Achseln. "Seien Sie froh, dass Sie an mich geraten sind und nicht an jemanden Ihrer Sorte." Der Privatdetektiv durchsuchte die Taschen seines Gegenübers. Er fand etwas Munition für den 38er und einen Führerschein, ausgestellt auf den Namen Frank Thompson.

Bount steckte das Dokument ein.

"Ich nehme mal an, dass Sie nur für irgendjemand anderen den Laufburschen spielen, Thompson!"

"Erwarten Sie darauf wirklich eine Antwort?"

"Wer so eine Entführung durchziehen kann, sollte wenigstens über einen Funken Verstand verfügen. Und wenn Sie die Sache noch mal durchdenken, werden Sie feststellen, dass es auch für Sie das Beste ist, wenn Sie auspacken."

Frank Thompson verzog das Gesicht. "Was können Sie mir denn bieten?"

"Vielleicht lasse ich Sie laufen!"

"Und wenn mir das zu wenig ist?"

"Dann machen wir eine kleine Fahrt zur Polizei. Mordkommission und Einbruchsdezernat werden sich darum reißen, wer Sie als erster in die Mangel nehmen darf!"

"Haben Sie noch ein Taschentuch?"

"Nein."

Er schluckte und sah Bount nachdenklich an. "Wieso Mord?" Bount zuckte mit den Schultern. "Wenn Sie wirklich glauben, Sie könnten der Polizei weismachen, dass Sie nicht mit dem Tod von Ted Hughes zu tun haben... Bitte! Versuchen Sie Ihr Glück!"

"Ich habe Hughes nicht umgebracht!"

"Sie haben sich aber für etwas interessiert, von dem Sie glauben, dass ich es aus Hughes' Wohnung mitgenommen habe! Das macht Sie zu einem Verdächtigen erster Klasse!" Bount machte eine unbestimmte Geste und lächelte dünn, während er mit Befriedigung wahrnahm, wie Frank Thompson immer unsicherer wurde. Reiniger setzte noch einen drauf. "Sie wissen doch, wie das ist. Wenn die Sie erst einmal in den Fingern haben, wird man sie so schnell nicht wieder loslassen. Selbst wenn Sie nichts damit zu tun haben - man wird sich an den halten, den man in der Zelle sitzen hat!"

Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf Thompsons Gesicht.

"Sie bluffen!", meinte er, glaubte aber wohl selbst nicht so recht daran. Bount blieb hartnäckig.

"Ich will einen Namen."

"Wie wollen Sie sichergehen, dass ich Sie nicht hereinlege!"

"Das würde Ihnen schlecht bekommen, verlassen Sie sich drauf! Meine Beziehungen zur New Yorker Polizei sind ausgezeichnet und wenn ich denen einrede, dass man Sie unbedingt einfangen muss, werden Sie binnen Kurzem per Großfahndung gesucht."

Frank Thompson dachte einen Augenblick lang nach. Dann schüttelte er entschieden den Kopf.

"Nein", sagte er. "Mich legen Sie nicht herein!"

"Sie sind nicht in einer Position, in der man pokern sollte, Thompson!"

"Ich pokere nicht!"

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738912494
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
alfred bekker krimis seiten

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: 19 Alfred Bekker Krimis auf 2300 Seiten