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Der verfluchte dritte Mann: Kriminalroman

©2017 150 Seiten

Zusammenfassung

Der verfluchte dritte Mann
Krimi von Thomas West



Der Umfang dieses Buchs entspricht 125 Taschenbuchseiten.



Ein ganz normaler Fall entpuppt sich überraschend als unlösbares Rätsel. Wer hat auf die beiden Ganoven geschossen, die gerade von der Polizei hochgenommen wurden? Ein ominöser dritter Mann kommt ins Spiel, ohne dass es eine Spur zu ihm gibt. Wer versucht, den neu ernannten Captain McDaniel, wie auch Trevellians Kollegen Milo Tucker, zu töten? Trevellian und seine Kollegen vom FBI stehen vor vielen Fragen, doch alle Spuren laufen ins Leere.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der verfluchte dritte Mann

Krimi von Thomas West

Der Umfang dieses Buchs entspricht 125 Taschenbuchseiten.

Ein ganz normaler Fall entpuppt sich überraschend als unlösbares Rätsel. Wer hat auf die beiden Ganoven geschossen, die gerade von der Polizei hochgenommen wurden? Ein ominöser dritter Mann kommt ins Spiel, ohne dass es eine Spur zu ihm gibt. Wer versucht, den neu ernannten Captain McDaniel, wie auch Trevellians Kollegen Milo Tucker, zu töten? Trevellian und seine Kollegen vom FBI stehen vor vielen Fragen, doch alle Spuren laufen ins Leere.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.

© by Author

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

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postmaster@alfredbekker.de

1

„Da wären wir wieder, Tywell.‟ Der Uniformierte schob den Rollstuhl bis an die Pritsche heran. „Trautes Heim, Glück allein.‟ Er pflanzte sich vor dem hageren Mann im Rollstuhl auf und betrachtete sein eingefallenes Gesicht. „Schätze, du kommst wie immer allein zurecht.‟

Immer noch zuckte dieses abfällige Grinsen um die Lippen des Wärters. Wenn auch längst nicht mehr mit dem unverhohlenen Spott, wie in den ersten beiden Jahren.

„Auch die Rolle des Sklaventreibers scheint irgendwann ihren Reiz zu verlieren‟, dachte Dennis Tywell. Er wich dem Blick des anderen nicht aus. Schweigend taxierten sich die Männer. Ein allabendliches Ritual. Sei über drei Jahren inzwischen. Tywell hasste Richard Moore, und Richard Moore hasste ihn.

„Also dann – träum′ was Schönes.‟ Der Uniformierte drehte sich um und verließ die Zelle.

Sekunden später fiel donnernd die schwere Tür hinter dem Mann im Rollstuhl zu. Dann das vertraute Rasseln des Schlüsselbundes und das zweimalige, metallene Schnappen des Türschlosses.

Tywell wartete fast eine halbe Stunde. Regungslos saß er in seinem Rollstuhl und starrte durch das vergitterte Fenster in den Abendhimmel. Irgendwann flammte das Neonlicht über ihm an der Decke auf.

Tywell schlug die Decke von seinen Oberschenkeln zurück und nahm das Buch hoch. Das Buch, durch das er den Tod aus seiner Zelle tragen wollte.

Es war eine Ausgabe des amerikanischen Strafgesetzbuches, eine dicke Schwarte von fast zwölfhundert Seiten. Fast liebevoll wog Tywell den Band in seinen Händen. Er wog ungefähr drei Pfund.

Jetzt flackerte die Andeutung eines Lächelns über sein leblos wirkendes Gesicht. Ganz legal hatte er das Gesetzbuch in seine Zelle gebracht. Der Gefängnisdirektor hatte den Antrag genehmigt.

Tywell schlug das dicke Buch auf. Behutsam blätterte er die Seiten um. Ab und zu unterbrach er sich und lauschte hinter sich zur Zellentür.

Auf Seite achthundert fand er, was er suchte: Ein kleines, schwarzes Rechteck, nicht viel größer als ein Dominostein und eingelassen in ein aus dem Papier herausgeschnittenes Rechteck gleicher Größe. Innen auf der Seite, und ziemlich weit unten.

Tywell hebelte die Kassette mit dem langen Nagel seines kleines Fingers heraus. Er ließ das Buch auf die Pritsche fallen und rollte seinen Stuhl an den kahlen Tisch unter dem Zellenfenster. Bücher, handbeschriebene Papiere, Stifte und zwei Packen Kopierpapier bedeckten die abgeschabte Tischplatte. Hinten an der Wand ein Monitor. Unter dem Tisch ein PC-Tower. Ein kalifornisches Boulevardblatt hatte Dennis Tywell fünfhunderttausend Dollar für seine Memoiren geboten.

Er zog die Schublade des Tisches auf, holte ein Diktiergerät heraus und legte die Kassette ein. Eine verzerrte Stimme erklang. Als würde eine Comicfigur sprechen. Onkel Dagobert oder Daniel Düsentrieb.

„Ich habe lange nachgedacht‟, sagte die Stimme, „ich übernehme die Sache. Weitere Informationen auf vereinbartem Weg.‟

Tywell ließ die knochige Hand mit dem Diktiergerät sinken. Sein Unterkiefer schob sich vor, seine Augen wurden schmal, er atmete scharf und kurz durch die Nase aus – etwas, das von fern an ein Lächeln erinnerte, zerrte an seinen Gesichtszügen.

Mit einem Knopfdruck spulte er die Kassette zurück und führte das Diktiergerät dicht an seine Lippen. „Ich wusste, dass Sie es tun würden‟, flüsterte er. „Schon als ich Sie das erste Mal sah, wusste ich, dass Sie töten können.‟

Er drückte auf >Stopp<. Und neigte lauschend den Schädel. Seine dichten, grauen Locken fielen ihm auf die Schulter. Hinter ihm, vor der Zellentür, Schritte. Und fluchende Männerstimmen. Dann schlug eine Tür zu, ein Schlüsselbund rasselte, Schritte und Flüche entfernten sich.

Tywell hob wieder das Gerät und drückte erneut die Aufnahmetaste. „Hier nun die Adresse, über die Sie an den ersten Teil Ihres Honorars kommen. Und vor allem die Namen der Männer, um die es geht ...‟

2

Es war verdammt heiß dafür, dass der Juni noch nicht einmal zwei Tage alt war. Unter unseren kugelsicheren Westen und Sturmmasken schwitzten wir den Morgenkaffee wieder heraus.

„Wenn die Show hier vorbei ist, geb′ ich dir irgendwo ein Bier aus‟, sagte mein Partner.

Typisch Milo, so ein Satz. Jeder hat so seine Mechanismen, um mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Milo sprach in solchen Situationen immer von der Zeit danach, und neigte dazu, die Lage zu verharmlosen. Dabei steckten wir ganz schön in der Klemme, und dass wir noch Gelegenheit zu einem Bier haben würden, schien mir keineswegs selbstverständlich.

Wir lagen auf dem Flachdach einer Tankstelle an der Flatbush Avenue in Brooklyn. Etwa zwanzig Meter vor uns, auf der Flatbush Ave, stand ein Autokorso aus Streifenwagen, Ambulanzen und Zivilfahrzeugen unseres FBI-Distrikts.

Hinter einem der Wagen stand unser Kollege Clive Caravaggio mit dem Mikro eines Autotelefons in der Hand. Er verhandelte mit den beiden Männern, die vor etwas mehr als zwei Stunden die Tankstelle überfallen hatten. Bevor sie hatten flüchten können, waren die Cops aufgetaucht, und jetzt hatten sich die Kerle mit sechs Geiseln unter uns in der Tankstelle verschanzt.

Links von uns, einen Steinwurf weit entfernt, dröhnte der Verkehr über den Brooklyn-Queens Expressway. Hinter uns breitete sich ein großer Hof voller Gebrauchtwagen aus. Durch sie hindurch hatten wir uns an das flache Gebäude geschlichen. Jetzt lagen wir seit einer geschlagenen Stunde auf dem Dach, und die Mittagssonne brannte gnadenlos auf uns herab.

Noch ließ unser Einsatzbefehl auf sich warten.

„Sie haben den Tankwart herausgeschickt.‟ Orrys Stimme in den Kopfhörern unserer Walkie-Talkies. Er hielt uns über den Stand der Verhandlungen auf dem Laufenden. „Verdammt noch mal, was macht denn der Kerl da? Er schraubt die Einfüllstutzen der unterirdischen Benzintanks auf!‟

„Kann ihn niemand von euch daran hindern?‟, flüsterte Milo.

„Einer der beiden Räuber hält ihn mit einer Maschinenpistole in Schach‟, antwortete Orry Medina.

„Pfeifen Sie den Mann zurück, Edwards!‟ Das war jetzt Clives aufgeregte Stimme in unseren Kopfhörern. „Wenn die Dämpfe sich entzünden, fliegt der ganze Laden in die Luft!‟

„Dann solltet ihr möglichst schnell mit dem Fluchtwagen hier aufkreuzen.‟ Die heisere Männerstimme gehörte demjenigen der beiden Räuber, den wir hatten identifizieren können – Ron Edwards, ein über vierzigjähriger Texaner mit einem endlosen Vorstrafenregister. Einer von den Leuten, denen ein Menschenleben etwa soviel wert war, wie ein löchriges Paar Socken. Keiner von uns zweifelte daran, dass Edwards von seiner Waffe Gebrauch machen würde.

„Und vor allem sollten Eure Scharfschützen jetzt mehr als zurückhaltend sein‟, sagte der kaltblütige Bursche meckernd.

Milo stützte die Stirn auf den Kiesbelag des Daches. „Muss das sein!‟, stöhnte er.

Jetzt tauchte der Tankwart in unserem Blickfeld auf. Mit steifen Knien näherte er sich einer der drei Zapfsäulen am Rand der Tankstelle. Er hängte die Zapfpistole ab und verspritzte Benzin um sich. Bald glänzte der Asphalt um die Zapfsäule herum tiefschwarz. Regenbogenfarbige Lichtreflexe schillerten in der Mittagssonne.

„Ach, du Schande!‟, flüsterte ich und legte mein Schnellfeuergewehr neben mir ab. Es war klar, dass eine Schießerei hier, im Bereich der Tankstelle, nun ausgeschlossen war. „Wäre ich bloß Politiker geworden...‟

„Die Entscheidung ist abgehakt, Partner‟, flüsterte Milo. Er bog das Mikro seines Walkie-Talkies gegen seinen Mund. „Was zum Teufel machen wir jetzt, Orry? Mit gezielten Schüssen ist ja hier wohl nichts mehr zu holen!‟

Stille am anderen Ende der Leitung. Plötzlich ein Schlag, und Metall scheuerte über den Asphalt. Ich sah auf – der Tankwart hatte den Zapfschlauch fallen lassen und rannte auf die Flatbush Ave zu. Dort ging er Sekunden später hinter einem Streifenwagen in Deckung. Der Mann nutzte den Umstand aus, dass Edwards und sein Komplice sich mit einer potentiellen Feuerwalze umgeben hatten und wohl kaum auf ihn schießen würden.

„Scheißkerl!!‟, brüllte Edwards. Milo lüftete seine Kopfhörer. Keine halbe Minute später dröhnender Schusslärm unter uns im Inneren der Tankstelle. Dann das Scharren einer sich öffnenden Schiebetür. Etwas schlug dumpf auf dem Steinboden auf. „Sein Kassierer! Sag′ ihm das, Bulle!‟ Edwards Stimme überschlug sich. „Ihr macht keinen Mist mehr! Sonst glaubt hier der nächste daran! Ist das klar? Und jetzt den Fluchtwagen! In zwei Minuten steht er vor der Tür! Oder ihr bekommt die zweite Leiche!‟

Sekundenlanges Schweigen folgte. Dann Clives Stimme. „Okay, Edwards. Der Wagen kommt.‟

Endlich meldete Orry sich. „Gruß vom Chef. Er empfiehlt euch den Rückzug und hätte größtes Verständnis dafür, wenn ihr seiner Empfehlung folgen würdet.‟ Mehr nicht.

Ich wandte meinen Kopf zu meinem Partner. Durch die Sehschlitze seiner Sturmmaske sah ich das helle Blau seiner Iris zwischen den zusammengekniffenen Lidern. „Kommen, ob verstanden‟, forderte Orry Medina. Milo deutete ein Nicken an. Er hatte den gleichen Gedanken wie ich.

„Hör zu, Orry‟, sagte ich, „wir versuchen′s ohne Schusswaffen. Schickt den Wagen und macht ein bisschen Lärm da unten. Damit sie nichts mitkriegen, wenn wir uns an den Dachrand schieben.‟

„Verstanden. Viel Glück.‟

Fast synchron angelten Milo und ich unsere Kampfmesser aus dem Gürtel. Wir steckten die Klingen zwischen die Zähne und begannen uns behutsam nach vorn zu bewegen.

Ein heller PKW löste sich aus dem Autokorso auf der Flatbush Ave und rollte langsam auf die Tankstelleneinfahrt zu. Sirenen von Ambulanzen und Streifenwagen heulten auf. Die Fahrzeuge entfernten sich. Zentimeter um Zentimeter näherten wir uns dem Dachrand über dem Eingang zur Tankstelle.

Vorsichtig spähte ich über die Dachkante nach unten. Über einem umgestürzten Außenaschenbecher lag die verkrümmte Leiche eines jungen Mannes in blauem Overall. Um seinen Kopf herum breitete sich ein Blutlache aus.

Der Fluchtwagen rollte in den Bereich der Zapfsäulen. Ich zog mich zurück.

„Du musst uns jetzt jede Bewegung dort unten schildern, Orry‟, flüsterte ich in mein Mikro. „Ohne dein exaktes Kommando könnte die Sache schiefgehen ...‟

Behutsam zogen Milo und ich die Beine an und gingen in die Hocke. Wir mussten von einem Moment zum anderen absprungbereit sein. Milo nahm das Messer aus dem Mund. „Zwei Bier‟, flüsterte er.

„Was ist los?‟ Orrys Stimme.

In dem Moment hielt der Fluchtwagen, und wir hörten unter uns das Geräusch einer sich öffnenden Tür. „Sie kommen!‟ Orrys sprach plötzlich gepresst und tonlos. „Sie schieben zwei der Geiseln vor sich her. Zwei ziehen hinter sich aus der Tür. Sie schauen sich nach allen Seiten um ...‟

Der Fahrer des Fluchtwagens stieg aus. Er war nur mit einer Badehose bekleidet. Beide Arme hielt er über den Kopf verschränkt. Rückwärts laufend und mit schneller werdenden Schritten entfernte er sich in Richtung Straße.

„... Sie schauen nach oben. Ihr seid für sie nicht zu erkennen.‟ Hastig und leise sprach Orry. „Jetzt sind sie draußen ... Jetzt! Jetzt!‟

Wir schnellten hoch und sprangen. Im Fallen registrierte ich zwei bewaffnete Männer. Ich umklammerte den rechten und schlug hart auf dem Boden auf. Neben mir stürzten zwei Geiseln auf den Asphalt. Eine Frau schrie in höchsten Tönen. Mit aller Kraft drückte ich den Schädel des überraschten Banditen auf den Boden. Sein Körper erschlaffte unter mir. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Milo seinen Gegner bereits mit Handschellen versorgte.

Ich sprang auf und wollte aufatmen. Von der Straße her sah ich schon einige unserer Leute aus der Deckung springen. In dem Augenblick dröhnte ein Schuss auf und schlug krachend in eine der Zapfsäulen ein.

„Schnell in den Shop!‟, brüllte ich. Noch ein Schuss. Der Mann, der bis jetzt reglos neben Milo gestanden war, riss plötzlich die Arme hoch und sackte zusammen.

Ich drückte die drei Geiseln hinter mir ins Innere der Tankstelle. Meinen Gefangenen zerrte ich mit hinein. Milo schlug die Tür zu. Wieder ein Schuss! Und noch einer! Und dann warf sich plötzlich eine Feuerwand von außen gegen das Schaufenster.

„Da lang!‟, schrie Milo. Er zeigte auf eine Tür, die in einen an der Rückwand der Tankstelle gelegenen Raum führte. Ein kleiner Lagerraum – wir stürzten hinein. Hinter uns ein ohrenbetäubender Knall. Glas splitterte. Die Druckwelle fegte uns in die Toilettenräume. Dann eine glühende Hitzewelle. Mit den Füßen trat Milo die Toilettentür zu.

Ich riss das kleine Fenster des gekachelten Raumes auf. Nichts wie hinaus. Nacheinander nahm ich die vier überlebenden Geiseln in Empfang, und unsere Gefangenen. Milo schob sich als letzter durch das Fenster nach außen.

Wir rannten über den Parkplatz und warfen uns hinter der letzten Parkreihe in Deckung. Ein gewaltige Explosion zerriss die heiße Luft. Wir bedeckten unsere Köpfe mit den Armen. Vor uns prasselte ein Hagel glühender Trümmerteile auf die Autodächer und Kühlerhauben.

Dann nur noch das Rauschen der Flammen. Keuchend streifte ich die Sturmhaube vom Gesicht. Auch Milo hatte sich seiner Maskerade entledigt. Große, schwarze Flecken an den Stellen seines Gesichtes, die die Maske für Augen und Mund ausgespart hatte.

„Welcher gottverdammte Idiot hat hier geschossen ...‟, flüsterte er.

3

„Herzlichen Glückwunsch – Captain McDaniel!‟ Der frisch gebackene Deputy Inspector Henry Lenton hob sein Sektglas. Und der frisch gebackene Captain George McDaniel stieß mit ihm an.

„Herzlichen Glückwunsch!‟, wiederholten die anderen Uniformierten im Büroraum des ersten Polizeireviers am Ericsson Place. Die Männer tranken.

„Also Jungs.‟ McDaniel räusperte sich. „Ich bin kein großer Redner, das wisst ihr ja ...‟ Er versuchte seinen langen, schlaksigen Körper zu organisieren. Was um Himmels Willen macht man in einer solchen Situation mit der Hand, die sich nicht an einem Sektglas festklammern kann? Wo guckt man hin? Welche Stellung nimmt man ein?

McDaniel nestelte nervös an der Brusttasche seines blauen Uniformhemdes herum. „Ich wollt′ euch einfach sagen – unser guter Henry hat seine Sache verdammt anständig gemacht, hier auf dem Revier.‟ Seine Züge verzerrten sich zu einem unsicheren Grinsen. „Seine Fußstapfen, in die ich jetzt treten muss, kommen mir irgendwie zu groß vor.‟ Die Männer um ihn herum grinsten. Die meisten jedenfalls.

„Nun ja – ich werd′ schon irgendwie hineinwachsen.‟ Er legte seine schweißnasse Hand auf den Griff seiner Dienstwaffe. Das verlieh ihm eine gewisse Sicherheit. „Jedenfalls wird es hier keine großen Neuerungen geben. Außer einem neuen Chef eben.‟ Wieder ein unsicheres Grinsen. „Ich erwarte von euch den gleichen Einsatz wie Henry ihn in den zwölf Jahren als Chef hier im ersten Revier von uns allen gefordert hat ...‟ Seine Gestalt straffte sich, als würde er sich gerade erst bewusst machen, dass er in Zukunft dieses Revier leiten und deswegen eine halbwegs respektable Figur machen musste.

„Tja – und natürlich weiß ich, dass einige von euch ...‟, seine Stimme wurde heiser, und er musste sich wieder räuspern. „... Dass einige von euch mindestens genauso gut für diesen Posten taugen wie ich. Und – wie soll ich sagen – was weiß ich, warum die Leute von der Departmentsleitung ausgerechnet mich ... jedenfalls, wenn es Schwierigkeiten gibt, kommt zu mir und lasst uns reden.‟

Er wandte sich dem kleineren und wesentlich älteren Henry Lenton zu. „Und dir, Henry, noch einmal im Namen aller vielen Dank. Du warst ein guter Boss, ein verdammt guter Boss, möcht′ ich sagen. Alles Gute für die Zukunft ...‟

Beifall brandete auf, und McDaniels Züge entspannten sich. Er gehörte zu den Cops, die eine Wohnung voller Schwerbewaffneter stürmten, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber ein paar Worte vor mehr als drei Leuten zu sprechen – da machte er sich schier in die Hosen. Er war sichtbar erleichtert, dass diese Hürde endlich hinter ihm lag. Auf einen Zug trank er sein Glas leer.

Die Cops feierten ihren neuen und ihren scheidenden Chef bis nach Mitternacht. Die Kollegen, die Innendienst hatten, stiegen nach dem ersten Glas auf Cola um. Diejenigen, die Streife fahren mussten, zogen sich paarweise zurück.

George McDaniel ging als letzter. Langsam schlenderte er die Varick Street hinunter. Er wusste, dass Linda auf ihn wartete. Und zunächst steuerte er auch die Metro Station an. Doch wie von selbst gingen seine Beine an der Rolltreppe vorbei, die zum Bahnsteig hinabführte. Er bog in die Franklin Street ein und betrat die nächstbeste Kneipe.

Der Barkeeper zog die Augenbrauen hoch, während der Uniformierte sich auf einen Barhocker schwang. Die Bestellung des Cops – einen Kaffee – bedachte er mit einem geringschätzigen Blick.

McDaniel merkte es nicht mal. Sein neuer Status machte ihm mehr zu schaffen, als er sich eingestehen wollte.

„Captain ...‟, murmelte er, „... Captain McDaniels. Captain ...‟ Wie fremdartig das klang. Jahrelang war er einfacher Officer gewesen. Fünf Jahre lang Sergeant, und vor drei Jahren hatten sie ihn zum Lieutenant gemacht. Nach der Sache mit dem Überfall auf den Geldtransporter der McArthur-Bank. Er hatte den Kopf der Bande gestellt. Er und ein FBI-Mann.

Und jetzt Captain ...

McDaniel war nicht besonders ehrgeizig. Nie gewesen. Schon in der Schule nicht. Sonst wäre er jetzt vermutlich beim FBI oder sonst wo. Und klar – Cop hatte er immer werden wollen. Seit er ein kleiner Junge war. Seit ein Junkie den Zeitungskiosk seines Großvaters überfallen und den alten Mann erschossen hatte. Seitdem.

Und jetzt sollte er Verantwortung übernehmen. Ein Revier leiten. „Warum nicht‟, murmelte er und schlürfte seinen Kaffee.

„Was meinste?‟ Der Wirt guckte ihn verblüfft an.

„Gib mir ′n Whisky zum Kaffee.‟ McDaniel fummelte eine Schachtel Chesterfield ohne Filter aus dem Uniformhemd und steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen.

Auf dem Gehaltszettel würde sich die Veränderung schon sehen lassen können. Linda jedenfalls freute sich. Und Ricky, sein Sohn, murrte schon lange über den alten Ford, von dem McDaniel sich nicht trennen wollte. Und nicht zu vergessen Mary-Anne. Es ging auf die Dauer ganz schön ins Geld, sich eine Freundin zu halten.

Gegen zwei fing der Wirt an, die Stühle auf die Tische zu stellen. „Macht ihr schon dicht?‟, wunderte McDaniel sich. Er hatte den Überblick über seine Whiskys verloren. Der Wirt brummte irgend etwas Zustimmendes, und der frischgebackene Captain bezahlte.

Für den Heimweg nach East Village gönnte er sich ein Taxi. „Bin ja immerhin Captain jetzt‟, murmelte er, als er die Tür des Cabbys öffnete. Er ließ sich in den Rücksitz des Wagens fallen, lallte seine Adresse und schlief sofort ein.

„Wir sind da, Mister!‟ Von fern bohrte sich die Stimme des Taxifahrers in sein benebeltes Hirn.

McDaniels riss die Augen auf. „Schon da?‟ Er presste sein Gesicht an das Fenster. Tatsächlich – der flache Klinkerbau auf der anderen Straßenseite war sein Haus. Ein Einfamilienhaus mit Vorgarten unter zahllosen anderen Einfamilienhäusern mit Vorgärten in dieser Gegend. Nicht besonders aufregend. Aber seines. Jedenfalls in knapp zehn Jahren. Wenn er den Kredit für das Haus abgestottert haben würde.

Er drückte dem Fahrer dreizehn Dollar in die Hand – elf Dollar fünfzig plus Trinkgeld – und stieg aus. Gähnend streckte er sich und sah den sich entfernenden Rücklichtern des Cabbys hinterher. Dann überquerte er die Straße.

Zuerst nahm er den aufheulenden Motor überhaupt nicht wahr. Erst als ein Scheinwerferpaar unvermittelt aus der Dunkelheit aufblendete, fuhr er herum: Ein kleiner Lieferwagen raste direkt auf ihn zu.

Wie weggeblasen die Müdigkeit und der Alkoholnebel. McDaniel hechtete an den Straßenrand, rollte sich ab und zog seine Dienstwaffe. Zwei Schüsse jagte er den Rücklichtern hinterher.

Er lag noch bäuchlings mit der Waffe im Anschlag auf dem Asphalt, als nach und nach die Lichter in einigen der Einfamilienhäuser mit Vorgärten angingen. Und auch als Linda im Nachthemd über den Gartenweg auf die Straße eilte, lag er noch so da und starrte in die Dunkelheit, die den Lieferwagen verschluckt hatte ...

4

„Ich sag′ nichts! Kein Wort sag′ ich mehr!‟, brüllte Edwards.

Milo packte ihn am Kragen seiner Jeansweste und riss ihn von seinem Stuhl. „Du machst dir Illusionen über deine Lage, Edwards.‟ Er sprach leise und mit einem drohenden Unterton. „Wenn du uns nicht verrätst, wer eure Komplizen sind, die das Feuer eröffnet haben, dann hängen wir dir den zweiten Toten auch noch an!‟

Er zog den Mann so nah an sein Gesicht, dass gerade noch ein Blatt Papier zwischen die beiden Nasen gepasst hätte.

„Also los!‟, brüllte Milo. „Wie heißt der Scheißkerl, der geschossen hat?!‟

Edwards zuckte zusammen. „Verflucht – es gibt keinen dritten Mann! Wie oft soll ich das noch sagen, du Scheißbulle! Es gibt niemanden außer Larry und mir! Ich will meinen Anwalt! Ich sag kein Wort mehr ohne meinen Anwalt!‟

Ich legte meinem Partner die Hand auf den Arm. Er ließ Edwards auf den Stuhl sinken und gab Orry ein Zeichen. Der packte den Geiselgangster und zerrte ihn aus dem Verhörraum.

„Es hat keinen Sinn, Milo‟, sagte ich, „uns bleibt nichts anderes übrig, als seinen Anwalt zu holen.‟

Milo grunzte etwas Zustimmendes und ging zum Telefon. Natürlich war er stinksauer auf Edwards und seinen Komplizen. Genau wie ich. Schlimm genug, dass sie den jungen Kassierer der Tankstelle kaltblütig erschossen hatten. Aber dadurch, dass ihre Komplizen das Feuer eröffnet hatten, war eine der Geiseln angeschossen worden und in den Flammen ums Leben gekommen. Zwei Häuser auf dem Nachbargrundstück waren niedergebrannt, und unser Mann, der das Fluchtfahrzeug vor die Tankstelle gefahren hatte, lag mit schweren Brandverletzungen auf einer Intensivstation.

Und dass wir beide und die anderen Geisel noch lebten, war mehr als Glück.

„Milo hier. Würden Sie mal eben nachschauen, welcher Anwalt Ron Edwards vertritt, Mandy?‟ Während er auf die Antwort wartete, kam Orry zurück ins Verhörzimmer. „Danke‟, sagte Milo. Er notierte eine Nummer in seinen Tischkalender und legte auf. „Eine Kanzlei in SoHo – Baxter und Partner. Ich ruf′ gleich mal an.‟ Er tippte erneut eine Nummer in den Apparat.

„Was meinst du?‟ Orry setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch Edwards gesessen hatte. „Lügt er, oder sagt er die Wahrheit?‟ Er legte die Beine auf den Tisch.

„Schwer zu sagen.‟ Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn es Komplizen von Edwards waren, hätten sie mit der Schießerei ja den Tod ihrer Partner in Kauf genommen. Das macht mich stutzig.‟

„Aber von unseren Leuten hat keiner geschossen.‟

„Liegen denn die Ergebnisse der Ballistik schon vor?‟ Die Staatsanwaltschaft hatte die Dienstwaffen sämtlicher an dem Einsatz beteiligten Cops und FBI-Beamten beschlagnahmt. Wenn einer von unseren Leuten die verhängnisvollen Schüsse abgegeben haben sollte, würde derjenige sich in Kürze einen Job bei einer Wach- und Schließgesellschaft suchen können. Oder bei einem Privatdetektiv.

Orry schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, Jesse – die Mühlen unseres Zentrallabors mahlen zwar gründlich, aber langsam.‟ Sorgfältig zupfte er ein paar Flusen von der Hose seines pinkfarbenen Seidenanzugs.

„Sind die Projektilhülsen in der Tankstellengelände gefunden worden?‟, wollte ich wissen.

Orry grinste müde. „Was für ein Tankstellengelände? Da gibt es nur noch einen glühenden, mit Schaum bedeckten Krater. Ich glaube nicht, dass die Jungs von der Spur sich schon hinein getraut haben.‟

Milo legte den Hörer auf. „Sie schicken einen ihrer Anwälte‟, sagte er. Er setzte sich auf den Schreibtisch. „Wenn ihr mich fragt: Es waren Komplicen von Edwards. Vielleicht sogar der Kopf einer organisierten Bande.‟

„Und warum sollte dieser fiktive Bandenhäuptling seine eigenen Leute gefährden?‟, hakte ich nach. „Er hätte doch sehen müssen, dass die Tankstelle mit Benzin überflutet und der Zugang zu den Tanks geöffnet ist.‟

„Ganz einfach‟, sagte Milo, „der dritte Mann lag irgendwo in einem der Nachbargebäude auf der Lauer, um seinen Männern Feuerschutz zu geben. Als er sah, dass das Spiel verloren war, und die zwei in unseren Verhörräumen landen würden, hat er sie geopfert. Und damit zwei Mitwisser mundtot gemacht.‟

„Abenteuerliche Theorie.‟ Orry Medina setzte eine skeptische Miene auf.

„Ohne eine Theorie kommen wir nicht weiter‟, hielt Milo dagegen. „Außerdem gibt es die unglaublichsten Dinge.‟

Wenigstens in diesem Punkt sollte er Recht behalten.

5

George McDaniel starrte in seine Kaffeetasse. Er hatte kaum geschlafen diese Nacht. Der Beinahe-Zusammenstoß hatte ihn total aufgewühlt.

Ein Hand legte sich auf seinen Arm. „Iss was, Georgie – bitte!‟ Linda sah ihn mit ihren großen, braunen Augen an. Eine Mischung aus Zärtlichkeit und Besorgnis lag auf ihren Gesichtszügen.

In solchen Augenblicken erinnerte sie ihn an seine Mutter. Dann gratulierte er sich innerlich, Linda geheiratet zu haben.

„Heut′ morgen reicht mir ein Kaffee‟, krächzte er heiser. Sein Schädel brummte. Ricky, sein fünfzehnjähriger Sohn, saß ihm gegenüber am Tisch und musterte ihn grinsend.

„Du hast getrunken gestern Abend!‟ Ihre Brauen wanderten vorwurfsvoll zusammen. Ein weinerlicher Ausdruck verzerrte ihr eigentlich hübsches Gesicht. „Gib es zu, Georgie! Wie viel hast du getrunken?!‟

Es gab auch andere Augenblicke, in denen seine Frau ihn an seine Mutter erinnerte – wenn sie jeden Drink mitzählte, den er trank, und jede Zigarette, die er rauchte. Wenn sie zeterte und keifte, weil er mit dreckigen Schuhen in die frisch geputzte Wohnung kam, oder weil er sich irgendeine CD, ein Computerspiel, oder sonst etwas Spaßiges gekauft hatte, was ihrer Meinung nach völlig überflüssig war ...

„Lass mich in Ruhe, Linda‟, knurrte er. „Natürlich habe ich was getrunken. Man wird ja schließlich nicht jeden Tag zum Captain befördert.‟

Ricky ließ den Löffel in seine Müslischüssel fallen und stand auf. „Schönen Tag dann!‟ Der ironische Unterton in seiner Stimme verriet, dass er diese Situationen kannte. Wenn alles schief ging, würde hier in den nächsten Minuten der übliche Krieg abgehen. Etwas, worauf er gerne verzichtete. Er schnappte sich seine Schulsachen und verschwand im Hausflur.

„Sieh zu, dass du pünktlich zum Mittagessen kommst!‟, rief seine Mutter ihm nach. Keine Antwort, außer der ins Schloss fallenden Haustür.

Linda wandte sich wieder ihrem Mann zu. „Du hast mir versprochen, gleich nach der Feier nach Hause zu kommen!‟, zeterte sie. „Und nicht so viel zu trinken hast du mir auch versprochen!‟

McDaniel schlürfte seinen Kaffee und stellte auf Durchzug. Sein Schädel brummte fürchterlich.

„Wenn du dich an deine Versprechen gehalten hättest, wärst du heute Nacht nicht fast in dieses Auto gerannt!‟ Wenn ihre Stimme bloß nicht immer diesen keifenden Klang annehmen würde! „Und dann schießt du auch noch hinter dem Wagen her!‟ Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „O Gott! Was sollen die Nachbarn denken!‟

„Ist mir scheißegal, verdammt!‟ Er knallte seine Tasse auf den Unterteller und stand auf. „Ich war in dem Moment einfach geschockt!‟, rief er. „Für mich war das ein ... ein ...‟ Er ruderte mit den Armen, weil ihm das richtige Wort nicht einfallen wollte. „Ein Überfall! Genau – ein Überfall!‟

„Ein Überfall!‟, äffte sie ihn nach. „Mach dich doch nicht lächerlich, Georgie!‟ Sie lief hinter ihm her zur Garderobe. „Du warst angetrunken und hast nicht aufgepasst, als du die Straße überqueren wolltest!‟

George McDaniel schlüpfte in seine Uniformjacke und setzte die Dienstmütze auf. „Kann sein.‟ Er beugte sich zu Linda herunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.

„Pass auf dich auf!‟, rief sie ihm nach, als er am Haus entlang zur Garage ging. „Kommst du zum Abendessen?‟

„Nein, es wird spät heute Abend.‟ Er setzte sich hinter das Steuer alten dunkelblauen Fords und fuhr los. Linda stand an der Tür und winkte. Mechanisch hob er die Hand.

Je weiter die East Village mit seinem Haus hinter ihm zurückblieb, desto leichter wurde ihm. Ein Phänomen, das sich im letzten halben Jahr noch verstärkt hatte. Und das ihn beunruhigte.

„Ein Unfall‟, murmelte er. „So ein Quatsch! Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht ein Mordversuch war ...‟

Andererseits hatte Linda natürlich recht. Er war betrunken gewesen. Seine Kollegen würden die Sache unter Umständen genauso sehen wie seine Frau.

Trotzdem nahm er sich vor, heute in einer ruhigen halben Stunde die Dienstberichte der vergangenen Monate durchzusehen. Wenn irgend jemand versucht haben sollte, ihn absichtlich über den Haufen zu fahren, dann würde er diesen Jemand unter seiner Kundschaft suchen müssen.

6

Am späten Vormittag rief Mandy in unserem Büro an. „Edwards hat mit seinem Anwalt gesprochen, Jesse.‟

„Halten Sie den Mann auf, Mandy – wir würden auch gern ein wenig mit ihm plaudern.‟

„Es ist eine Frau, Jesse.‟ Mandy senkte die Stimme. Demnach war Edwards Anwältin bei ihr im Vorzimmer.

„Wir kommen sofort.‟ Ich legte auf. „Edwards Anwältin. Willst du sie auch kennenlernen?‟

„Wie alt ist sie?‟ Milo stand auf und folgte mir zum Aufzug.

„Sieh sie dir einfach an, Partner.‟ Ich wusste, dass Milo seit einigen Wochen solo war. In solchen Zeiten neigte er zu einem besonders ausgeprägten Interesse am anderen Geschlecht.

Die große Frau, die wir im Vorzimmer des Chefs trafen, war höchstens Anfang dreißig. „Das sind Mr. Tucker und Mr. Trevellian‟, stellte Mandy uns vor.

„Freut mich.‟ Sie reichte uns nacheinander die Hand. „Spooth, Angela Spooth.‟ Ihr Händedruck fühlte sich warm und kräftig an. „Sie wollten mich sprechen?‟ Ihr Gesichtsausdruck und ihre Stimme waren eher kühl, professionell eben. Das blonde Haar trug sie ziemlich kurz. Ein akkurater Pagenschnitt umrahmte ihr etwas herbes scharf geschnittenes Gesicht. Ihre grünen Augen funkelten hellwach.

„Ja, es wäre schön, wenn Sie ein wenig Zeit für uns übrig hätten.‟ Milo lächelte sein charmantestes Lächeln, und seine Stimme klang wie Samt. Das war einer von diesen Momenten, in denen ich ihn beneidete.

Und prompt legte sich ein bezauberndes Lächeln auf ihr Gesicht. „Gern, Mister Tucker. Was kann ich für Sie tun.‟ Mich beachtete sie überhaupt nicht mehr.

Wir führten sie in ein freies Büro. Schon auf dem Weg dorthin verstrickte Milo die Frau in eine heitere Plauderei. Mir blieb der Blick auf den berauschenden Anblick ihrer Rückseite. Sie war nicht einmal einen halben Kopf kleiner als Milo und trug ein graues Nadelstreifenkostüm mit einem atemberaubend kurzen Rock. Ihr wiegender, energischer Gang strahlte eine Erotik aus, die mir ein Flattern unter dem Zwerchfell verursachte.

Milo bot ihr einen Platz und setzte sich ihr gegenüber an die Schmalseite des Schreibtisches. Ich blieb stehen. „Wir glauben, dass Ihr Mandant einen oder mehrere Komplizen gehabt hat ...‟

„... die das Feuer auf Sie und die Geisel eröffnet haben‟, unterbrach sie mich. „Ich weiß.‟

„Und was halten Sie von dieser Theorie?‟, fragte Milo.

Sie strich ihren Rock glatt und setzte einen geringschätzigen Blick auf. „Edwards ist ein mieser Straßenräuber, der vor keiner Gewalttat zurückschreckt. Warum sollte er nicht mit Leuten verkehren, die ähnlich gefährlich sind? Und warum sollten solche Leute nicht im Hintergrund eines solchen Überfalls stehen?‟

„Warum verteidigen Sie ihn dann, wenn Sie ihn für so mies und gefährlich halten?‟, wunderte ich mich.

Sie zuckte mit den Schultern. „Die Kanzlei, die ich vertrete, ist leider nicht in der bevorzugten Situation, sich ihre Fälle aussuchen zu können.‟ Jetzt war sie wieder ganz der kühle Profi. „Das Gericht hat uns den Fall angetragen. Und ich bin erst ein Jahr bei Baxter und Partner. Also halte ich den Mund und spiele die Pflichtverteidigerin.‟

Sie zog eine Schachtel Benson & Hedges heraus. „Darf man hier rauchen?‟

„Klar‟, beeilte sich Milo zu sagen.

„Und als Verteidigerin werde ich natürlich darauf bestehen, dass der von Ihnen behauptete dritte Mann wohl kaum auf seine eigenen Komplizen schießen würde.‟ Sie zündete sich ihre Zigarette an. Milo holte einen Aschenbecher aus dem Aktenregal und stellte ihn vor sie auf den Schreibtisch. „Danke, Mr. Tucker.‟ Er erntete einen verheißungsvollen Augenaufschlag.

„Was hat er Ihnen gegenüber denn ausgesagt, Mrs. Spooth?‟, bohrte ich weiter.

„Als Edwards Anwältin werde ich den Teufel tun und mich hier über die Aussagen meines Mandanten verbreiten.‟ Sie sagte das, ohne die Stimme zu heben. Sachlich und kühl blieb sie und dachte nicht daran, meinem forschenden Blick auszuweichen. „Jedenfalls können Sie davon ausgehen, dass er in der strittigen Frage mir gegenüber keine anderen Aussagen gemacht hat, als Ihnen gegenüber.‟

„Tja, das hilft uns nicht weiter‟, sagte ich. „Glauben Sie, dass er lügt?‟

Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. „Ich bitte Sie, Mr. Trevellian! Solche Leute wie Edwards lügen doch, wenn sie den Mund aufmachen! Ich habe mir abgewöhnt, in meiner Arbeit als Anwältin nach Lüge und Wahrheit zu fragen – das ist Ihr Job, und der des Richters und der Geschworenen.‟

Ich schluckte meine Enttäuschung herunter. Blödsinn, von Edwards Anwältin überhaupt irgend etwas Erhellendes erwartet zu haben. Gegen Abend, spätestens morgen, würden die Ergebnisse des ballistischen Labors und der Spurensicherung vorliegen. So lange mussten wir uns eben noch gedulden.

„Wenn Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo ich zu erreichen bin.‟ Angela Spooth drückte ihre Zigarette aus und erhob sich.

„Ich bringe Sie zum Aufzug.‟ Milo, der Kavalier – phantastisch, wie er seine Eroberungsstrategie entfaltete.

„Gerne‟, lächelte die herbe Lady. „Auf Wiedersehen, Mr. Trevellian.‟

„Bye‟, winkte ich.

Der Aufzug war keine zehn Schritte entfernt. Dennoch brauchte Milo fünf Minuten, bis er zurückkehrte. „Hey, Partner, was machst du für ein nachdenkliches Gesicht?‟ Er schlug mir bestens gelaunt auf die Schulter.

„Je länger ich über die Theorie vom dritten Mann nachdenke, desto unwahrscheinlicher erscheint sie mir‟, sagte ich, „ich fürchte, wir werden eine Überraschung erleben, wenn die Laborergebnisse unsere Mailbox erreichen.‟

Milo spielte mit einer Visitenkarte, während er mir zuhörte. „Ihre Karte?‟, staunte ich. Er nickte. Und strahlte. „Aber du weißt doch, wo sie zu erreichen ist?‟, wunderte ich mich.

„Aber nicht, wenn ich sie abends anrufen will.‟ Triumphierend hob er die Karte hoch. „Die Privatadresse ...‟

7

Sein erster Tag als Captain war vor allem anstrengend. Henry Lenton, sein Vorgänger, nahm die Übergabe in der ihm eigenen Gründlichkeit vor, die McDaniel immer an seinem Vorgesetzten verflucht hatte.

Jede Akte wurde durchgesehen, jeder Vorgang in aller Breite erläutert, jeder Dienstweg besprochen, und jeder Furz mit bedeutungsschwangeren Sätzen zum Staatsakt hochstilisiert. Als wollte Lenton noch einmal alles aufbieten, um seine Wichtigkeit zu demonstrieren.

George McDaniel nickte zustimmend, stellte ab und zu eine kurze Frage und schrieb ansonsten brav mit. Als Henry Lenton am späten Nachmittag endlich das Spalier der grüßenden Cops durchschritt, um das erste Revier endgültig zu verlassen, atmete sein Nachfolger auf.

Umringt von den Cops seiner Dienststelle stand er auf der Vortreppe des Reviers und sah zu, wie Lenton das Taxi am Straßenrand bestieg. Das Seitenfenster wurde heruntergelassen, und der scheidende Captain winkte noch einmal heraus.

Beflissen winkten die Männer zurück. Solange, bis das Cabby in die Varick Street einbog.

Seufzend ließ McDaniels den Arm sinken. „Okay, Jungs – rührt euch. Fangen wir noch mal neu an. Geht an die Arbeit, aber macht keinen Stress. Und bevor die Nachmittagsschicht in den Feierabend geht, kann sie bei mir im Büro vorbeikommen. Ich geb′ einen aus.‟

Die Gesichter der Cops hellten sich auf. „Wird gemacht, Sir.‟

McDaniel wandte sich der Flügeltür zu, die ins Revier hineinführte. „Und schminkt euch dieses dämliche >Sir< ab. Ich bin George, und wer das aus irgendeinem Grund nicht über die Lippen bringt, sagt einfach >Captain<. >George< oder >Captain<, okay?‟

„Alles klar, Sir‟, entfuhr es einigen.

Grinsend verzog sich George McDaniel in sein Büro. Manches würde er sicher schlechter machen, als Henry Lenton. Den ganzen bürokratischen Mist zum Beispiel – da gab es wohl niemanden, der dem neuen Deputy Inspector so schnell das Wasser reichen konnte. Und McDaniel fehlte dazu auch jegliche Spur von Ehrgeiz. Aber mit der steifen Atmosphäre, mit dem förmlichen Umgangston und dem verdammten hierarchischen Getue würde er ein für alle mal aufräumen in seinem Revier. Die Jungens sollten ihn nicht wegen seines Dienstranges als Boss akzeptieren, sondern weil er der beste Cop war, den man sich denken konnte.

Er nahm sich seine Dienstberichte aus den letzten Monaten vor. Sorgfältig ging er sie durch. Nichts Aufsehenerregendes darunter: Ein Dutzend Dealer, die er mit Tom Hastings, seinem Partner, verhaftet hatte, ein paar Autodiebe, die sie geschnappt hatten, zwei illegale Bordelle, die er ausgehoben hatte, und die Jugendgang aus Chinatown, die ihr Revier nach SoHo hinein ausweiten wollte ...

Er lehnte sich zurück und dachte nach. Das war vor drei Monaten gewesen. Sie hatten die Gang beim Überfall auf eine Nachtbar in eine Falle gelockt. Der Anführer war dabei ums Leben gekommen. Er, McDaniel hatte den Schuss abgegeben.

Die meisten der Gangmitglieder saßen auf Rikers Island und durchliefen ein Spezialprogramm, um sich ein paar Jahre Knast zu ersparen. Ein absoluter Härtedrill. Der Großteil der Häftlinge, die ihn durchstanden, kam völlig umgekrempelt wieder zurück von der Gefängnisinsel.

Einigen allerdings war damals nichts nachzuweisen gewesen. Sollten die etwa Rache für ihren Anführer nehmen?

„Vielleicht, vielleicht auch nicht‟, murmelte George McDaniel. Er schlug das Berichtsbuch zu und stellte es zurück in den Aktenschrank. „Diesen Schlitzaugen ist alles zuzutrauen ...‟

Oder ob einer seiner Kollegen es auf ihn abgesehen hatte? Aus Neid – er war bei Weitem nicht der einzige im Revier, der für den Posten als Boss im Gespräch gewesen war.

Oder Linda? Man hatte ja schon die unwahrscheinlichsten Dinge gelesen.

„Idiot!‟, zischte McDaniel. „Hast zu viel Krimis gesehen.‟ Er wischte seine Grübeleien beiseite.

Ein Blick auf die große Wanduhr über der Tür des Büros: Gleich sechs. „Ich bin jetzt zwar Captain, aber deswegen muss ich nicht gleich übertreiben‟, dachte er und beschloss, Feierabend zu machen.

Die Nummer, die er kurz darauf in sein Handy tippte, konnte er im Schlaf wählen. Eine Frauenstimme meldete sich. „Walisher?‟

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738912135
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
mann kriminalroman
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Titel: Der verfluchte dritte Mann: Kriminalroman