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Gemordet wird immer wieder: Vier Krimis

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2017 600 Seiten

Zusammenfassung

Gemordet wird immer wieder: Vier Krimis
von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 524 Taschenbuchseiten.

Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Dieses Buch enthält folgende vier Krimis:

Killer Angel

Ein Sarg für den Prediger

Ein Ermordeter taucht unter

Central Park Killer

ALFRED BEKKER ist ein Schriftsteller, der vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.

Cover: Steve Mayer.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Gemordet wird immer wieder: Vier Krimis

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 524 Taschenbuchseiten.

Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Dieses Buch enthält folgende vier Krimis:

Killer Angel

Ein Sarg für den Prediger

Ein Ermordeter taucht unter

Central Park Killer

ALFRED BEKKER ist ein Schriftsteller, der vor allem durch seine Fantasy-Romane und Jugendbücher einem großen Publikum bekannt wurde. Daneben schrieb er Krimis und historische Romane und war Mitautor zahlreicher Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton Reloaded, John Sinclair und Kommissar X.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

KILLER ANGEL

von Alfred Bekker

1

Mein Name ist Murray Abdul.

Ich gebe zu, ich bin feige. Eigentlich wurde ich mit dem Vornamen Mohammed geboren, aber den zu tragen, ist in den Vereinigten Staaten von Amerika – immerhin meinem Heimatland – derzeit eine gute Methode, um sich schnell unbeliebt zu machen. Aber hat nicht selbst der große und mutige Barack Obama es zeitweise vorgezogen, sich Barry zu nennen?

Allerdings hat er seinen Mut irgendwann wiedergefunden. Ich hingegen habe mich an 'Murray' gewöhnt. Nur meine Eltern nennen mich noch beim Namen des Propheten.

Aber vielleicht ist das mit der Gewöhnung auch nur eine Ausrede meinerseits. Es ist einfach so: Wenn jemand Mohammed Abdul heißt, dann vermutet jeder einen arabischen Terroristen, einen fanatischen Gotteskrieger mit der Kalaschnikow in der Hand oder zumindest einen fiesen Black Muslim Aktivisten, der gegen die weiße Rasse wettert und in ihr Gottes Fluch für die Welt sieht. Niemand erwartet jemanden wie mich.

Jemanden, der so weiß ist wie seine irischstämmige Großmutter, die damals den Mut hatte, einen syrischen Einwanderer zu heiraten. Jemanden, der sogar Sommersprossen hat und es an Blässe mit jedem hautkrebsgefährdeten Angelsachsen aufnehmen kann. Ich bin kein Irrer mit einem Sprengstoffgürtel, sondern ein Agent des SPECIAL CASE FIELD OFFICE, einer Spezialabteilung des FBI.

Manchmal passen Klischees eben nicht so richtig.

Das hat meinen Chef, den ehrenwerten und schlitzäugigen Mr. Jay Chang Lee, nicht davon abgehalten, mir sozusagen als obligatorischen Toleranztest für Araber und Islamisten einen Partner zuzuteilen, der schwul und Jude ist.

Eine doppelte Provokation für jeden Muslim, so scheint er zu denken.

Macht aber nichts.

Lew Parker ist ein prima Kerl.

Wir verstehen uns blendend.

2

Cal Slater sah das Licht am Ende des Lincoln-Tunnels, der Union City in New Jersey mit Manhattan verband. Der Tunnel führte tief unter dem Hudson hindurch und tauchte in Manhattan hinter der Eleventh Avenue wieder an die Oberfläche.

Slater kniff die Augen zusammen, als er aus dem Tunnel herausfuhr.

Das gleißende Tageslicht blendete ihn etwas.

Er wusste nicht, dass sein Gesicht im selben Moment im Zielfernrohr einer Präzisionswaffe sichtbar wurde. Das Fadenkreuz genau auf seiner Stirn...

Slater atmete tief durch, dachte an den Termin in einer Anwaltskanzlei in Midtown Manhattan, den er vor sich hatte. Er kannte die Strecke wie im Schlaf.

Nur gut hundertfünfzig Meter führte die Straße durch das Freie, um dann erneut durch einen Tunnel zu führen. Slater hob den Blick.

Oberhalb der Tunneleinfahrt war die 39.Straße West. Gegen das grelle Sonnenlicht, dieses kalten klaren Tages konnte er den Kerl mit dem Gewehr nicht sehen, der dort oben stand und ihn im Visier hatte.

Nur Sekunden waren vergangen, seit sein BMW den Ausgang des Lincoln Tunnel passiert hatte.

Ein Geschoss ließ die Frontscheibe zerbersten und drang ihm mitten in die Stirn. Ein kleines, rundes Loch bildete sich etwas oberhalb der Augen. Ein roter Punkt, der rasch größer wurde.

Die Wucht des Projektils ließ Slaters Schädel mit einem Ruck gegen die Nackenstütze schlagen, die nicht richtig eingestellt war. Sein Hals war bereits seltsam verrenkt, als der zweite Schuss den Kiefer durchschlug und im Sitzpolster der Hinterbank steckenblieb, nachdem er die Nackenstütze zerfetzt hatte.

Der BMW brach aus seiner Bahn.

Die Hände des Toten verkrampften sich um das Lenkrad. Und der Fuß drückte noch immer auf das Gas.

Der Wagen schrammte gegen einen Lieferwagen, der zu bremsen versuchte und ins Schleudern geriet.

Ein Sportcoupe jagte diesem von der Seite in den Laderaum. Das Blech knickte ein wie Pappe. Reifen quietschten. Mit einem Knall fuhren weitere Fahrzeuge auf. Ein Sattelschlepper konnte gerade noch ausweichen, drängte dadurch eine Limousine von der Fahrbahn, so dass beide einen Augenblick später in den Leitplanken hängenblieben.

Der BMW jagte indessen mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.

Wie ein Geschoss.

Am Steuer eine Leiche.

Die Kurve, mit der die Fahrbahn unter der 39.Straße herführte, konnte er natürlich nicht mehr nehmen. Frontal knallte der Wagen gegen eine Betonbarriere. Der Motorbereich des BMW faltete sich in Sekunden zusammen, als bestünde er aus Zeitungspapier. Mit einem ungeheuren Knall wurde der Wagen gestoppt.

Oben, auf der 39. Straße stand eine Gestalt und beobachtete in aller Seelenruhe das Geschehen. Der Mörder verzog das Gesicht.

Das Präzisionsgewehr verstaute er in einem Futteral. Dann griff er in die Innentasche seiner abgewetzten Lederjacke und holte eine Sprühdose mit schwarzer Farbe hervor.

Mit schnellen, sicheren Bewegungen sprühte er gekonnt einen Schriftzug auf den Asphalt.

KILLER ANGELS stand dort im nächsten Moment in großen, zackigen Lettern.

Und etwas kleiner darunter:

WIR SIND ÜBERALL!

Ein Chevy hielt am Fahrbahnrand.

Der Mörder lief mit ein paar schnellen Schritten auf den Wagen zu und stieg ein. Mit quietschenden Reifen fuhr der Chevy davon und war Augenblicke später im Verkehrsgewühl verschwunden.

"Alles okay?", fragte der Fahrer.

Der Mörder atmete tief durch.

"Ich glaube schon", sagte er.

"Wir machen jetzt einen Bogen und fahren dann zurück zum Theater District..."

"Warum?"

"Weil ich den Wagen von dort habe. Ich stelle ihn wieder genau an die Stelle, wo er stand!"

"Der Besitzer wird sich freuen!"

"Wenn jemand den Wagen gerade beobachtet hat und die Polizei bei dem Kerl auftaucht, wohl nicht mehr!" Ein irres Kichern folgte. Den Fahrer schien diese Vorstellung sehr zu amüsieren.

Der Mörder zuckte hingegen nur die breiten Schultern.

3

Am Ausgang des Lincoln Tunnels war der Teufel los, als Lew und ich dort eintrafen. Mein Freund und Kollege Lew Parker saß am Steuer eines Mercedes, den wir von der Fahrbereitschaft des FBI-Districts New York zur Verfügung gestellt bekommen hatten. Es war eine große Limousine. Lew stellte sie am Straßenrand ab. Der Ausgang des Lincoln-Tunnels war in beide Richtungen gesperrt worden. Und das würde sicherlich noch ein paar Stunden so bleiben. Wir stiegen aus.

Ich schlug mir den Mantelkragen hoch.

Ein verdammt kalter Wind wehte vom Hudson River herüber und ließ einem die Nase innerhalb weniger Augenblicke krebsrot frieren.

Zahlreiche Einsatzwagen von City Police, Highway Patrol und Feuerwehr drängten sich auf dem Asphalt. Dazu kamen noch etliche medizinische Rettungsteams und Beamten der Scientific Research Division, dem zentralen Erkennungsdienst der verschiedenen Polizeiabteilungen der Stadt New York, der auch vom FBI-District häufig in Anspruch genommen wurde.

"Das sieht ja furchtbar aus", murmelte Lew mit gerunzelter Stirn.

Ich nickte nur.

Gegenüber einem uniformierten Cop zeigten wir unsere FBI-Dienstausweise.

Der Officer nickte knapp.

"Schlimme Sache, Sir", meinte er.

"Wieder ein Anschlag dieser Gang, die sich die KILLER ANGELS nennt?", fragte ich. Viel hatte man uns nicht gesagt. Die Nachricht hatte uns erreicht, nachdem wir gerade unser Büro im FBI-Gebäude an der Federal Plaza betreten hatten. Wir waren sofort losgefahren.

"Wird Zeit, dass mit dieser Terror-Bande endlich aufgeräumt wird, wenn Sie mich fragen", meinte der Officer. "Sehen Sie sich doch an, was die hier angerichtet haben!" Er deutete hinauf zur 39. Straße. "Dort oben hat der Kerl gestanden und abgedrückt. Wahllos - irgendein Auto. Nur um seinen Mut zu beweisen oder weil er BMWs nicht leiden konnte..." Der Officer atmete tief durch.

Als Streifenpolizist war er sicher einiges gewohnt. Das war kein Job für zartbesaitete Gemüter.

Aber das hier nahm ihn sichtlich mit.

"Ich kann verstehen, wenn jemand reich sein möchte und einen Geldtransport überfällt, weil er das für seine große Chance hält. Ich kann auch verstehen, wenn jemand im Streit jemanden erschlägt, weil ihm einfach eine Sicherung durchbrennt. Mein Gott, aber das hier..." Er schüttelte den Kopf. "Es ist so völlig sinnlos."

Da konnte ich ihm nur zustimmen.

Ich nickte.

Er sagte: "Ich hoffe, der Kerl kriegt, was er verdient!"

"Das hoffe ich auch", erwiderte ich.

Ich blickte zu einem Lieferwagen, der aussah wie ein zerdrückter Blechsarg.

Einige Männer waren gerade damit beschäftigt, jemanden aus dem Schrotthaufen herauszuschneiden.

Eine Blutlache war auf dem kalten Asphalt zu sehen. Sie war schon angetrocknet.

Eine Tragödie, dachte ich. Die Wut des Officers konnte ich nur zu gut verstehen.

"Fünf Tote", raunte er mir zu. "Und es ist noch nicht klar, ob von den Verletzten alle überleben werden..."

4

Captain Logan Jakes, Leiter der Mordkommission Midtown Manhattan II, trat auf uns zu. Das Walkie-Talkie ragte ihm aus der Manteltasche. Das Haar war ungekämmt, und er hatte garantiert noch nicht gefrühstückt. Sein Gesicht wirkte grau.

"Hallo, Murray", begrüßte er mich knapp. Ich kannte ihn von verschiedenen Einsätzen her. Lew begrüßte er mit einem Kopfnicken. "Die Spurensicherer werden noch eine ganze Weile zu tun haben, aber es sieht ganz nach einer dieser verfluchten Mutproben aus, mit denen die KILLER ANGELS ihre neuen Mitglieder aufnehmen." Er deutete auf den Blechhaufen, der vor diesem Attentat einmal ein BMW gewesen war. Einige Mitarbeiter der Spurensicherung machten sich dann an dem Wagen zu schaffen.

"Weiß man schon, wer das Opfer war?", fragte ich.

"Nein. Wir müssen die Leiche erst mühsam aus dem BMW herausschneiden. Ich glaube auch nicht, dass Sie das weiterbringen würde. Das Opfer ist völlig willkürlich ausgesucht worden. Der Kerl stand da oben auf der 39.Straße und hat sich irgendeines der Fahrzeuge herausgepickt, die gerade aus dem Lincoln Tunnel herausgeschossen kamen."

Ich nickte.

Näheres würde sich wohl in den Berichten finden. Sowohl in jenem des Gerichtsmediziners als auch in dem, was die Ballistiker herausfinden würden.

Wir folgten Captain Jakes bis zu dem BMW.

Ein furchtbarer Anblick.

Ich notierte mir die Nummer. Mochte der Teufel wissen, wozu ich die mal brauchen würde.

Jakes atmete tief durch und meinte dann düster: "Vor zwei Wochen stand ich das letzte Mal hier. Fast genau an derselben Stelle und aus demselben Anlass..."

"Ich weiß", sagte ich.

"Es ist kaum zu fassen! Diese Brüder sind wirklich dreist geworden! Zweimal hintereinander an derselben Stelle!" Er zuckte die breiten Schultern. "Vielleicht war das ja eine Tat, durch die ganz besonderer Mut bewiesen werden sollte", meinte er dann mit ätzendem Unterton.

"Wir tun, was wir können, um die Täter zu fassen", erklärte Lew. "Aber schließlich können wir nicht einfach in die Bronx fahren und alle Leute verhaften, die seltsame Lederjacken tragen..."

"Das sollte auch kein Vorwurf sein", erwiderte Captain Jakes. "Aber wenn man so etwas sieht, dann kann man schon die Wut bekommen..." Er deutete hinauf zur 39. Straße. "Ich nehme an, Sie wollen noch die Stelle sehen, von der aus geschossen wurde..."

"Ja", nickte ich.

"Der Täter kann kein schlechter Schütze gewesen sein", stellte Jakes dann fest.

"Wie kommen Sie darauf?", meinte Lew. "So ein BMW ist doch kein kleines Ziel!"

"Nein, aber beweglich. Der Schütze hatte nur wenige Sekunden Zeit, den Wagen zu erwischen, bevor er in der Unterführung der Neunundreißigsten verschwunden gewesen wäre. Wo er den BMW getroffen hat, ist schon beinahe unwichtig. Selbst wenn es nur ein Reifen ist, ist eine Katastrophe vorprogrammiert. Mehr oder weniger jedenfalls."

"Nehmen wir unseren Wagen?", fragte Lew. Captain Jakes nickte. "Mit meinem ist mein Lieutenant gerade unterwegs."

Wir stiegen in den Mercedes.

Diesmal saß ich am Steuer. Wir passierten die Unterführung und mussten dann einen Bogen fahren, um schließlich auf die 39. Straße zu gelangen, eine Einbahnstraße in Richtung Hudson. Die Stelle, an der der Killer auf sein Opfer gelauert hatte, war schwerlich zu verfehlen, denn auch dort befanden sich jede Menge Einsatzfahrzeuge der City Police. Eine Fahrbahn war gesperrt.

Der Verkehr wurde um die Stelle herumgeleitet.

Wir hielten am Straßenrand und stiegen aus.

Wenig später standen wir drei dann genau an jener Stelle, von der aus der Täter seinen wunderbaren Ausblick gehabt hatte. Genau auf den Ausgang des Lincoln Tunnels. Jakes sagte: "Es sieht so aus, als hätte der Mörder den BMW-Fahrer getroffen. Das bedeutet, dass er ihn ziemlich bald erwischt haben muss, nachdem der Wagen aus dem Tunnel herauskam. Sonst wäre der Winkel zu ungünstig geworden..." Ich blickte auf die Schrift, die mit einer Sprühdose auf den Boden gebracht worden war.

"Der Schriftzug der KILLER ANGELS ist gut getroffen", meinte Lew.

"Ich möchte so schnell wie möglich Abzüge von den Fotos haben, die die Spurensicherung hoffentlich davon gemacht hat."

"Schmiererei!", meinte Logan Jakes leichthin.

"Abwarten", erwiderte ich. Jede Kleinigkeit konnte am Ende den entscheidenden Hinweis bedeuten.

Einer der Police Officers trat jetzt zu uns und wandte sich an Jakes.

"Captain, ich habe hier den Polizeichef in der Leitung." Jakes nickte.

"Ich komme schon", sagte er und folgte dem Officer bis zu dessen Einsatzwagen.

Lew sah ihm kurz nach.

"Scheint, als würde man auch in den höheren Etagen nervös, Murray."

"Wundert dich das?"

"Nicht wirklich", erwiderte Lew. "Schließlich breiten sich diese KILLER ANGELS in der Bronx wie eine Seuche aus, Häuserblock für Häuserblock, Straßenzug für Straßenzug. Es erinnert an einen Guerilla-Krieg."

Wir wechselten einen kurzen Blick.

Ja, es war ein Krieg, den die KILLER ANGELS führten. Ein Krieg gegen die Polizei, die Bürger, verfeindete Gangs und jeden Crack-Dealer zwischen 150er und 180er Straße, der die Frechheit besaß, ihnen nicht mindestens die Hälfte seines Gewinns abzugeben.

Die South Bronx, Harlem und Teile von Brooklyn waren die Orte in New York, in denen Drogen und Armut offen regierten. Jugend-Gangs, die ein paar Straßenzüge regierten waren nichts ungewöhnliches. Und dass solche Gangs die Finger nach dem ausstreckten, was ihnen Profit versprach, war leider auch an der Tagesordnung.

Als Drogenhändler konnte man in der Bronx immer noch mehr verdienen als in jedem der spärlich gesäten Jobs, die es hier gab. Sehr viel mehr.

Aber die KILLER ANGELS waren nicht irgendeine Gang. Nicht eine der vielen Banden, von denen manche ganz offen agierten und dafür sorgten, dass sich in gewissen Straßenzügen die City Police nur in Mannschaftsstärke und mit der Pump Gun im Anschlag aus dem Wagen traute.

Aber die KILLER ANGELS waren in jeder Hinsicht etwas besonderes. Besser ausgerüstet, besser bewaffnet und besser organisiert als alle anderen, die sie Straße für Straße vor sich hertrieben.

Natürlich hatten wir unsere Informanten vor Ort. Und so wussten wir zumindest in ganz groben Umrissen, was vor sich ging. Alle Erkenntnisse deuteten in eine ganz bestimmte Richtung...

Die KILLER ANGELS arbeiteten vermutlich für jemanden, der den Crack-Handel unter seine Kontrolle bringen wollte, indem er einen äußerst blutigen Feldzug gegen die Konkurrenz führte.

Jemand mit viel Geld.

Sehr viel Geld.

Um wen es sich dabei handelte, davon hatten wir keine Ahnung. Vermutlich auch der Großteil der Crackhandler und die niederen Chargen der KILLER ANGELS nicht. Vielleicht kannten sogar die Anführer nur irgendwelche Mittelsmänner. Dieser Unbekannte im Hintergrund hielt sich auf diese Weise völlig aus der Schusslinie. Und die ANGELS machten nicht nur die Drecksarbeit für ihn, sondern trugen auch das volle Risiko.

Ich sah noch einmal hinunter zum Eingang des

Lincoln-Tunnels, der für den bislang unbekannten BMW-Fahrer zur Todesfalle geworden war.

So tragisch dieses Ereignis war, im Grunde war es nichts weiter als eine Fußnote in einem grausamen Drogenkrieg, mit dem der Mann am Steuer des BMW mit Sicherheit nicht das Geringste zu tun gehabt hatte.

Lew trat neben mich.

"Was denkst du?", fragte er. "Irgendwas schwirrt dir doch im Kopf herum."

Ich lächelte matt.

"Bist du Telepath?"

"Nein, aber ich kenne dich eine Weile, Alter."

"Leicht untertrieben, was?"

"Vielleicht ein bisschen..."

Eine Pause entstand. In Gedanken ging ich nochmal alles durch. Lew hatte das ganz richtig erkannt. Da war in der Tat etwas, was mich beschäftigte.

"Dies ist nicht der erste derartige Anschlag der KILLER ANGELS", meinte ich vorsichtig. "Aber bislang haben sie nie zweimal hintereinander am selben Ort zugeschlagen..." Lew hob die Augenbrauen.

"Und? Was folgerst du daraus, Murray?" Ich zuckte die Achseln.

"Nichts", sagte ich. "Es ist mir eben nur aufgefallen und ich frage mich, ob es dafür vielleicht irgendeinen vernünftigen Grund geben könnte."

Lew machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Ein vernünftiger Grund?", zitierte er mich. Er schüttelte energisch den Kopf. "Entschuldige, Murray, aber in diesem Zusammenhang klingt das etwas merkwürdig..."

5

Pat Borinsky stand am Fenster des ziemlich heruntergekommenen Brownstone-Hauses und schob die Gardine zur Seite. Er überprüfte kurz den Sitz des riesigen Magnum-Revolvers, den er auf dem Rücken im Hosenbund trug.

Sein Bruder Cyrus flegelte sich derweil in einem der ziemlich durchgesessenen Ledersessel und versuchte gerade verzweifelt, eine Dose Budweiser zu öffnen, nachdem er so ungeschickt gewesen war, den Henkel abzubrechen. Cyrus fluchte unflätig, als er sich die Jeans besudelte. Er hielt die Dose über den niedrigen Glastisch, auf dem Spuren eines weißen Pulvers zu sehen waren.

Backpulver.

Zusammen mit Kokain konnte man es aufkochen und bekam dann Crack. Ein gutes Geschäft, denn die Konsumenten hatten keine Möglichkeit, hernach zu kontrollieren, wie hoch der Anteil des Backpulvers war.

Und oft war bereits das Kokain gepanscht gewesen. Crack war ein Teufelszeug. Viel billiger als Heroin und Kokain, aber genauso suchterzeugend. Die Droge der kleinen Leute, die sich reines Koks nicht leisten konnten.

"Was gibt's da zu sehen?", fragte Cyrus an seinen Bruder gewandt, nachdem er die halbe Budweiser-Büchse leergetrunken hatte.

Pat kniff die Augen zusammen.

"Unser Kunde", sagte er.

"Na fein. Das Geschäft war heute ja auch ziemlich mau!" Pat beobachtete einen Ford, der am Straßenrand hielt. Ein Mann stieg aus. Mittlerer Jahrgang, Bauchansatz, kaum noch Haare auf dem Kopf. Er zog sich den Mantelkragen hoch und blickte sich nervös um.

"Was ist das für einer?", fragte Cyrus.

"War noch nie hier", erwiderte Pat. "Wenn du mich fragst: Kleiner Angestellter, der dem Stress nicht gewachsen ist. Wohnt in Queens! Seiner Telefonstimme nach ein Feigling." Cyrus lachte schallend.

"Hartes Urteil", meinte er.

"Ich täusche mich selten."

"Bild dir nur nichts drauf ein!"

Pat beobachtete jetzt, wie der Kunde auf die Haustür zukam. Das kleine verwilderte Rasenstück, das eigentlich mal ein Vorgarten gewesen war, durchschritt er mit langen, ausholenden Schritten. Wieder sah er sich um. Die Nervosität war ihm ins Gesicht geschrieben. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Umschlag heraus.

Dann bückte er sich und steckte den Umschlag in den Briefschlitz.

"Ich gehe mal an die Tür und zähle nach", sagte Cyrus. Pat beobachtete derweil den Kunden.

Er ging zurück in Richtung Wagen. Nachdem er sich abermals umgedreht hatte, wandte er sich an eine der überquellenden Mülltonnen. Er öffnete sie und nahm eine Zeitung heraus. Ein Exemplar der New York Daily News. Er öffnete es, holte etwas heraus, das er sogleich in der Manteltasche verschwinden ließ und stieg dann in seinen Wagen ein.

Cyrus rief indessen aus dem Flur, der zur Tür hinführte: "Das Geld stimmt!"

"Okay..."

Im anderen Fall hätte Pat den Kunden mit einem gezielten Schuss in den Reifen stoppen können.

Aber so etwas kam eigentlich nie vor. Das Risiko, von den Kunden geprellt zu werden war gering, weil die wussten, was ihnen dann blühen konnte, sofern der Dealer sie in die Finger bekam.

Aber das Risiko, verurteilt zu werden wurde auf diese Weise minimiert. Ab und zu wurden solche Crack-Häuser zwar von der DEA oder den entsprechenden Abteilungen der City Police gestürmt und die Dealer festgenommen. Aber wenn die Polizei nicht sehr sorgfältig war, kam nichts Gerichtsverwertbares dabei heraus. Schließlich konnte ja jeder das Rauschgift in die Mülltonne gelegt haben. Und zur Haustür war der Kunde vielleicht nur gegangen, um zu sehen, ob er an der richtigen Adresse war.

Man brauchte geschickte Anwälte, aber mit etwas Kleingeld war das kein Problem.

Cyrus kehrte in das Wohnzimmer zurück. Er legte den Umschlag auf den Tisch.

Pat atmete tief durch.

Es klang beinahe erleichtert.

"Was ist los?", fragte Cyrus.

"Ich hatte ein schlechtes Gefühl", sagte Pat.

"Wieso?"

"Bei Neukunden muss man immer aufpassen. Kann immer ein Cop sein..."

"Wir sind vorsichtig", sagte Cyrus. Und das bedeutete insbesondere, dass sich im ganzen Haus nicht ein einziges Gramm Crack oder Kokain befand.

Nicht jetzt.

"Vor den Cops habe ich keine besondere Angst", sagte Pat. "Die sind an die Gesetze gebunden... Ich mache mir mehr Sorgen um die, die sich ihr eigenes Gesetz machen..."

''Scheiße!'

''Ein wahres Wort!''

''Naja...''

''Ist doch wahr!'

Ein Motorengeräusch ließ Pat aufhorchen.

''Verdammt, was ist das?“

„Bin ich Hellseher?“

„Idiot.“

Pat sah aus dem Fenster, konnte aber noch nichts sehen. Dann sah er einige Motorräder die Straße entlangrasen. Sie achteten auf niemanden, sondern gingen einfach davon aus, dass sie Vorfahrt hatten. Schwarz lackierte Motorräder, auf die in Airbrush-Technik martialische Embleme aufgebracht waren. Hier und da war in zackigen Großbuchstaben der Schriftzug KILLER ANGELS zu lesen.

Die Helme waren ebenfalls schwarz, die Visiere heruntergelassen und mit getönter Sichtscheibe ausgestattet, so dass von den Gesichtern der Fahrer nicht das Geringste zu sehen war.

Auf der Stirn trugen diese Helme ein weißes Kreuz.

"Ich hoffe nicht, dass die zu uns wollen", meinte Pat. Sein Bruder war bereits durch eine Tür in einen Nebenraum verschwunden und kehrte mit einem Pump Action Gewehr zurück. Cyrus hatte die Situation sofort erfasst.

"Natürlich wollen diese Bastarde zu uns", zischte er zwischen den Lippen hindurch. "Sie wollen Krieg, darauf kannst du Gift nehmen! Sollen sie ihn bekommen..." Pat hatte den Magnum-Revolver nicht gezogen. Stattdessen machte er eine Handbewegung, mit der er seinen Bruder dazu brachte, auf der Stelle stehenzubleiben.

"Ganz ruhig, Cy. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, dann hängen unsere Skalps als Trophäen an diesen Feuerstühlen..."

"Scheiß Latinos!", zischte Cyrus zwischen den dünnen Lippen hindurch. Er lud die Pumpgun mit einer energischen Bewegung durch.

Pat blieb am Fenster und blickte hinaus. Er beobachtete die Motorradfahrer. Mindestens ein Dutzend zählte er. Und sie fuhren wie eine Eskorte!

Drei, vier Limousinen rauschten dann heran. Alles Wagen der Luxusklasse. Mercedes oder BMW.

Kein Toyota oder Honda und schon gar kein koreanischer Wagen. Die KILLER ANGELS mochten keine Asiaten, das war allgemein bekannt. Daher verabscheuten sie auch entsprechende Autofabrikate. Für die Besitzer war das natürlich nur ein Vorteil, denn natürlich waren all diese Fahrzeuge nie käuflich erworben worden.

Wenn sie einen schönen Schlitten brauchten, dann fuhr einer von ihnen einfach Midtown Manhattan oder in den Financial District und holte sich einen.

Kostenfreie Lieferung für Selbstabholer, so pflegten sie das zynisch zu nennen.

Pat begann zu schwitzen.

Die Tatsache, dass die Gang mit einer ganzen Armee angerückt war, konnte nichts Gutes bedeuten. Eine Augenblick lang kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, die Gegend zu verlassen, als diese Gestalten im schwarzen Lederdress hier auftauchten.

Die Motorradfahrer bezogen Stellung.

Sie zogen ihre Waffen.

Automatik-Pistolen, Uzi-Maschinengewehre und vor allem Pumpguns, die sie Patrouillen der City Police abgenommen hatten. Es war ein buntes Gemisch. Eine furchteinflößende Truppe, die bestens ausgerüstet zu sein schien.

Einige nahmen ihre Helme ab.

Und jetzt konnte man sehen, wie jung sie waren. Das Durchschnittsalter konnte kaum über zwanzig liegen. Nur die Anführer, die waren deutlich älter. Vielleicht bis dreißig Jahre alt. Die Türen der Limousinen gingen auf. Überall gingen Bewaffnete in Stellung.

"Wir haben keine Chance", meinte Pat Borinsky. "Wir können nicht einmal flüchten..."

"Ich frage mich, wer die schickt", knurrte Cyrus.

"Kann uns egal sein. Wir können es so oder so nicht mit ihnen aufnehmen."

"Ich werde ein paar Leute zusammentrommeln!", meinte Cyrus. Der Angstschweiß stand ihm bereits auf der Stirn. Seine Augen glänzten.

Er griff zum Telefon. Dann knallte er den Hörer wieder auf die Gabel.

"Tot", sagte er tonlos.

Im nächsten Augenblick brach das Inferno los.

Aus Dutzenden von Waffen wurde unaufhörlich gefeuert. Scheiben gingen zu Bruch. Pat warf sich in Deckung. Cyrus machte einen Satz zum Fenster hin. Er wollte zurückschießen, aber mehr als eine ungezielte Bleiladung konnte er nicht loswerden. Dann musste er schleunigst den Kopf einziehen. Schritte waren zu hören.

Von allen Seiten kamen Sie.

Etwas flog durch die Scheibe.

Eine Handgranate.

Es war das Letzte, was Pat sah. Dann gab es eine gewaltige Detonation. Pat wurde völlig zerrissen. Selbst Spezialisten würden später Schwierigkeiten haben, ihn noch zu identifizieren.

Cyrus hechtete sich kurz bevor die Granate explodierte seitwärts. Er krümmte sich zusammen, während der ohrenbetäubende Lärm der Explosion den Raum erfüllte. Im nächsten Moment spürte er einen höllischen Schmerz im Rücken. Irgendein Splitter musste ihn dort erwischt haben. Der Schmerz breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Seine Hände hielten noch immer die Pumpgun umklammert. In seinem Mund schmeckte er Blut. Er versuchte, sich auf dem Boden herumzudrehen. Es tat höllisch weh.

Ein röchelnder Laut entrang sich seinen Lippen. Er hörte ein Krachen, so als wenn Holz barst.

Jemand brach die Haustür auf.

Dann Schritte auf dem Flur.

Cyrus Borinsky blickte auf und sah über sich eine schlanke, hochaufragende und in schwarzes Leder gekleidete Gestalt. Das Gesicht war blass, die Augen dunkelbraun. Das Kinn sprang etwas hervor. Ein zynisches Lächeln spielte um die dünnen Lippen. In der Rechten hielt er eine Automatik.

Dieser Mann war etwa dreißig. Er wurde flankiert von zwei jüngeren Männern, von denen einer mit einem Sturmgewehr und der andere mit einer Automatik bewaffnet war.

Cyrus erkannte den blassgesichtigen Mann mit den dunklen Haaren, der auf ihn in diesem Moment wie eine Verkörperung des Todes selbst wirkte.

Einmal war er ihm kurz begegnet.

Das war Killer-Joe.

Unter diesem Namen war er in der Bronx bekannt. Wie er wirklich hieß, wusste niemand hier. Er war skrupellos und eiskalt. Und seine jugendlichen Anhänger blickten ehrfurchtsvoll zu ihm auf. Er war ihr Vorbild. Und eines Tages würde vielleicht einer dieser jungen Kerle ihm hinterrücks eine Kugel in den Schädel jagen, um sich selbst an die Spitze zu setzen.

Aber soweit waren die noch nicht.

Killer-Joe beugte sich herab. Im Gegensatz zu seinen Leuten trug er keine Handschuhe. Die martialischen Symbole, die er sich auf die Handrücken hatte tätowieren lassen, waren deutlich zu sehen.

In seinen Augen blitzte es.

"Ihr hättet auf mich hören sollen, Borinsky!" Cyrus Borinsky antwortete mit einem Röcheln.

Er wollte die Pumpgun hochreißen und eine volle Bleiladung in das zynische Gesicht dieses blassen Todesengels jagen. Aber Hände und Arme gehorchten dem Crack-Dealer nicht mehr. Ausgespielt, dachte er.

Aus und vorbei.

Joe lachte rau.

"Ich hoffe, dass möglichst viele Leute in der Gegend davon hören, auf welch erbärmliche Weise du verreckt bist, Borinsky! Und vielleicht werden sie dann endlich begreifen, wie es jedem ergeht, der nicht kapiert, wer hier in der Gegend mit Crack dealen darf und wer nicht! Vielleicht rettest du auf diese Weise noch ein paar Leben, Borinsky! Gefällt dir der Gedanke?"

Killer-Joe nahm seine Automatik und setzte sie an Cyrus Broninskys Schädel. Cyrus schloss die Augen.

Aber dann entschied Joe sich anders.

Er wandte sich an den links von ihm stehenden jungen Mann.

"Mach du das, Alberto!"

"Ich?"

"Hast du es mit den Ohren?"

"Aber..."

"Das am Lincoln-Tunnel war doch nur Spielerei! Jetzt kannst du zeigen, dass du einer von uns bist, Al! Na, los! Leg ihn um und sieh ihm dabei in die Augen..."

Alberto schluckte.

Killer-Joe trat zur Seite.

Alberto hob seine Automatik, zielte und drückte ab. Er verschoss beinahe die Hälfte des Magazininhalts.

6

Es war früher Nachmittag, als Lew und ich auf dem Weg waren, um uns mit Paul Morales zu treffen. Morales war einer unserer Informanten. Er war einer der wenigen Geschäftsleute, die es in der South Bronx bis heute ausgehalten hatten. Er besaß einen Drugstore und einen Coffee Shop. Außerdem einen Zeitungskiosk. Jahrzehntelang hatte er Schutzgelder an die jeweils dominierende Gang gezahlt. Jetzt zahlte er immer noch, aber seit seine Frau bei einer Schießerei zwischen verfeindeten Jugendbanden durch einen Querschläger ums Leben gekommen war, war ihm alles egal.

Die Täter waren nie gefasst worden.

Und vermutlich würde man sie auch nie vor Gericht stellen. Möglicherweise lebten sie sogar schon gar nicht mehr, sondern hatten bei irgendeiner bewaffneten Auseinandersetzung ihr Leben ausgehaucht, ohne je einen normalen Job gehabt zu haben.

Jedenfalls war Morales bereit, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen.

Denn wenn herauskam, dass er mit dem FBI kooperierte, dann war er ein toter Mann.

Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche.

Unser Treffpunkt war ein Café in der Mott Street in Little Italy. Weit ab von der Bronx. Und ein Ort, an dem es extrem unwahrscheinlich war, ein Mitglied der KILLER ANGELS anzutreffen.

"Wenn Morales das Risiko aufnimmt, sich mit uns zu treffen, muss er etwas anzubieten haben", war Lew überzeugt. Ich zuckte die Achseln.

"Es ist doch immer dasselbe. Die großen Tiere schirmen sich derart ab, dass man nur schwer an sie herankommt..."

"Wir kriegen sie, Murray!"

"Optimist!"

Wir parkten den Wagen am Straßenrand. Die letzten Meter bis zu Antonio's Café, wo wir uns mit Morales verabredet hatten, gingen wir zu Fuß.

Es war ein kleiner, gemütlicher Laden. So, wie man sich Little Italy im Bilderbuch oder im Reiseführer vorstellte. Wir gingen hinein.

Paul Morales saß zusammengekauert in einer Ecke und trank einen Espresso. Ein kleiner, schmächtiger Mittfünfziger mit braunen Hundeaugen und herabhängenden Wangen. Er war hager und seine faltige, aschgraue Haut ließ ihn älter erscheinen als er war.

"Mr. Morales?", sagte ich.

Morales blickte auf.

Wir zeigten ihm unsere Ausweise.

Er prüfte sie eingehend. Dann atmete er tief durch.

"Ich dachte Ihr Kollege Agent Schlesinger würde..."

"Der ist zur Zeit auf einem Lehrgang", sagte ich. "Aber Sie können davon ausgehen, dass wir über alle Informationen verfügen, über die auch Agent Schlesinger verfügt."

"Gut", sagte er etwas gedehnt. "Wenn Sie es sagen, Mr. Abdul." Er beugte sich etwas vor. "Ich bin immer ganz gut informiert. Viele in unserer Gegend würden niemals mit der Polizei reden, weil sie viel zu viel Angst haben. Aber mit mir reden sie..."

Sein Tonfall bekam etwas Verschwörerisches.

"Was haben Sie anzubieten?", fragte ich.

"Ein Foto", raunte er leise.

"Zeigen Sie mal her!"

Er griff in die Innentasche seines kleinkarierten Jacketts und holte ein Polaroid-Foto heraus. Die Qualität war nicht besonders. Ein paar in schwarzes Leder gekleidete Männer waren darauf zu sehen. Im Hintergrund eine himmelblaue Corvette, die aussah, als wäre sie gerade einem Zuhälter aus Harlem gestohlen worden.

Das geschmackvoll auf der Kühlerhaube angebrachte Imitat eines Rinderhorns würde vermutlich als Trophäe an einer Harley enden.

Lew und ich sahen uns das Bild nacheinander an. Die Brisanz, die darin offenbar lag, war auf Anhieb weder ihm noch mir richtig klar.

"Sehen Sie den Mann mit den dunklen Haaren? Sieht etwas älter aus als die anderen..."

"Ja", nickte ich.

"Das soll angeblich dieser mysteriöse Joe sein - der Anführer der KILLER ANGELS."

"Killer-Joe!", entfuhr es Lew.

"Genau", bestätigte Morales.

Es kursierten einige Gerüchte, um wen es sich bei diesem Joe handelte. Aber Tatsache war, dass er sich bisher hervorragend abgeschirmt hatte. Es gab kein Foto von ihm, nur ein paar vage Beschreibungen, die außerdem noch widersprüchlich waren.

Ich blickte nochmal auf das Foto.

Die Qualität des Bildes war schlecht. Aber vielleicht konnten unsere Innendienstler etwas Vernünftiges daraus machen. Rastern, vergrößern, elektronisch bearbeiten. Und wenn man es dann mit den unzähligen Bildern unserer Datenbanken und Archive verglich, stieß man vielleicht auf einen Bekannten.

Wenn wir Glück hatten.

"Erinnert mich irgendwie an den jungen Alain Delon", murmelte ich nachdenklich. "Wer hat das Bild geschossen?"

"Keine Ahnung. Es wurde mir zugespielt von jemandem, der entsprechende Kontakte hat und bisher immer sehr vertrauenswürdig war."

"Und sonst?", hakte Lew nach. "Was wird so geredet?" Morales zuckte die Achseln.

"Nicht viel. Alle sind sehr schweigsam und wenn Sie mich fragen, dann bedeute das nichts Gutes..."

"Scheint im Augenblick 'ne richtige Eintrittswelle bei den KILLER ANGELS zu geben", stellte ich fest. "Zumindest, wenn man nach der Zahl dieser sogenannten Mutproben geht." Morales hielt mir seinen dürren Zeigefinger entgegen, als wäre es die Klinge eines Klappmessers.

"Mr. Abdul, wenn Sie dort aufgewachsen wären und mitbekommen würden, dass Ihre Altersgenossen tolle Wagen fahren, coole Klamotten tragen und die Taschen voller Geld haben, ohne je dafür gearbeitet zu haben, dann würden Sie auch dazugehören wollen... Die bieten den Kids doch genau das, was sie wollen und was die meisten von ihnen vermutlich auf anderem Weg nie bekommen würden - ohne abgeschlossene Schulausbildung."

Ich erwiderte nichts.

Antonio, der Inhaber des Cafés trat heran. Morales' Blick flackerte nervös. Lew bestellte einen Kaffee, ich einen Espresso. Antonio musterte uns einen Augenblick lang, ehe er ging.

Als er weg war, beugte ich mich etwas vor.

"Wir glauben, dass die KILLER ANGELS von jemandem benutzt werden. Jemand, der im Hintergrund bleibt und die Fäden zieht."

"Das wäre schon möglich."

"Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?"

"Sollte ich etwas erfahren, werde ich es Sie wissen lassen, Mr. Abdul!"

"Tun Sie das!"

Er sah auf die Uhr.

Dann meinte er plötzlich: "Ich sitze schon viel zu lange hier herum. Ich nehme an, der Staat bezahlt meine Rechnung hier..."

Ich nickte. "Das geht in Ordnung."

Er erhob sich. Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm, ehe er nach seinem Mantel griff und mit einer zwischen den Lippen hindurchgepressten Verabschiedung den Raum verließ.

"Was hältst du von ihm?", erkundigte sich Lew. Antonio kam und servierte uns, was wir bestellt hatten.

Ich zuckte die Achseln.

"Ich weiß nicht..."

"Keine Ahnung, wieso, Murray, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich ziemlich wichtig zu machen versucht..."

Ich steckte wortlos das Polaroid in die Innentasche. Mein Espresso war noch zu heiß, um ihn zu trinken. Da klingelte es in meiner Manteltasche. Mein Handy. Ich nahm den Apparat heraus, klappte ihn auf und hielt ihn ans Ohr. Es war die Zentrale.

Es hatte eine regelrechte Hinrichtung in der Bronx gegeben. Die KILLER ANGELS hatten kurzen Prozess mit zwei Crack-Dealern gemacht, die offenbar nicht nach ihrer Pfeife hatten tanzen wollen.

Es konnte nicht schaden, dort vorbeizuschauen.

7

Schwer zu sagen, wie die korrekte Adresse lautete, in der das Crack-Haus lag. Irgendein besonders schlauer Witzbold hatte vor kurzem sämtliche Straßenschilder in der Gegend abmontiert und in anderer Reihenfolge wieder angebracht. Lustig war das für niemanden. Aber andererseits kannte man sich in dieser Gegend entweder aus, oder man machte einen weiten Bogen um die South Bronx.

Wir machten keinen Bogen.

Es war ein Tatort wie viele andere. Vielleicht war das Aufgebot an uniformierten Beamten etwas größer und ihre Bewaffnung etwas schwerer. Beamten mit kugelsicheren Westen bezogen Stellung und sicherten die Umgebung ab. Man konnte nie wissen.

Ein Lieutenant erläuterte uns den Stand der Ermittlungen. Die Opfer hießen Pat und Cyrus Borinsky. Sie waren Crack-Dealer gewesen und hatten es offenbar abgelehnt nach der Pfeife der KILLER ANGELS zu pfeifen.

Jedenfalls sprach einiges dafür, dass sie hinter dieser Hinrichtung standen. Schließlich befanden wir uns hier mitten in ihrem Gebiet, wie sie es bezeichneten.

"Das ganze wird ausgehen wie das Hornberger Schießen", sagte der Lieutenant nicht ohne Ärger in der Stimme. "Meine Leute gehen gerade von Haus zu Haus und befragen Zeugen. Aber glauben Sie, von denen wird irgendeiner den Mund aufmachen?"

"Trotzdem müssen wir mit größter Sorgfalt vorgehen", meinte ich. "Selbst wenn es erst scheint, als würde nichts dabei herauskommen... Jede Kleinigkeit kann uns am Ende weiterbringen..."

Einige Trauben von Schaulustigen aus der Umgebung hielten sich in sicherem Abstand und beobachteten die Aktivitäten der Polizei.

Ein junger Mann fiel mir auf.

Er hatte dunkles Haar und einen Oberlippenbart. Im rechten Ohr hing ein Ring, der in der kalte Wintersonne blitzte. Sein Gesicht wirkte nachdenklich.

Er starrte wie gebannt auf die beiden Metallsärge, mit denen die Leichen weggeschafft wurden.

"Heh, was ist los, Murray?", hörte ich Lews Stimme. Ich antwortete nicht.

Im selben Moment drehte der junge Mann sich ruckartig um und lief davon. Er setzte zu einem Spurt an, ehe er nach ein paar Dutzend Metern anhielt. Er atmete tief durch und wischte sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht.

Ich fragte mich, was mit dem Jungen los war.

Was hatte der Anblick der Metallsärge in ihm ausgelöst?

Ich hörte auf meinen Instinkt und folgte dem Mann.

"Wo willst du hin, Murray?"

"Einen Moment."

Ich hätte es nicht erklären können. Nicht einmal Lew. Den jungen Mann hatte ich bald eingeholt. Ich fühlte die Blicke der Schaulustigen auf mir. Misstrauische Blicke. Der junge Mann stand in Gedanken versunken da. Eine tiefe Furche hatte sich mitten auf seiner Stirn gebildet. Dann drehte er mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf in meine Richtung.

Wir wechselten einen Blick.

Ich sah den Gedanken an Flucht deutlich in seinen Augen.

"Was wollen Sie?", fragte er.

Ich holte meinen Ausweis und betete meinen Spruch herunter.

"Agent Abdul, FBI!"

Ein Muskel zuckte unruhig in seinem Gesicht.

Er hielt mir die ausgestreckten Hände hin. "Ich weiß, ich habe das Recht zu schweigen..."

"Hören Sie auf mit dem Quatsch!", erwiderte ich. Er verzog das Gesicht.

"Habt ihr Cops etwa euren Spruch geändert? Komisch - die, mit denen ich zuletzt zu tun hatte, waren wohl noch nicht auf dem neuesten Stand..."

"Ich habe nur ein paar Fragen", sagte ich. Er grinste.

"Ah, jetzt kommt ihr auf die schleimige Tour und tut so, als wärt ihr Sozialarbeiter! Und dabei habt ihr die Handschellen schon griffbereit am Gürtel hängen..."

"Du glaubst wohl, dass du dich auskennst", erwiderte ich.

"Natürlich!"

Lew war mir indessen gefolgt.

Er stand neben mir.

Dem jungen Mann mit dem Ohrring schien das nicht zu behagen. Das unruhige Flackern in seinen Augen gefiel mir nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass beinahe die gesamte Muskulatur seines Körpers angespannt war.

"Wie heißt du?", fragte ich.

Er wirkte wie erstarrt.

Und dann machte er eine Dummheit.

Er griff plötzlich unter seine Lederjacke. Blitzartig riss er etwas heraus. Im gleichen Moment hatten Lew und ich unsere Pistolen gezogen.

Der junge Mann grinste.

Er hatte keine Waffe in der Hand, sondern einen Führerschein. Den warf zu uns herüber.

Ich hob ihn auf.

"Das war lebensgefährlich, was Sie da gemacht haben", stellte Lew fest.

"Ohne ein gewisses Risiko hat man nicht das Gefühl, dass man wirklich lebt", erwiderte der junge Mann. Ich sah in den Führerschein. Er hieß Alberto Marias. Es war eine Adresse in East Harlem angegeben, die vermutlich nicht mehr stimmte. Marias öffnete die Lederjacke.

"Ich bin unbewaffnet", erklärte er.

"Warum machst du so etwas?", fragte ich.

"Ich wollte sehen, wie schnell du bist, G-man!"

"Red' nicht so einen Unfug!"

"Gefällt dir die Antwort nicht? Dann gib dir selber eine bessere!"

Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Meine Pistole steckte ich wieder ins Gürtelholster zurück.

Ich gab ihm den Führerschein zurück.

"Zufrieden?", fragte er.

Ich ließ mich durch seinen aggressiven Tonfall nicht irritieren.

"Dort in dem Haus sind zwei Männer erschossen worden..."

"Na und?"

"Dafür, dass dich das gar nicht interessiert, stehst du schon eine ziemliche Weile hier herum. Hast du die Opfer gekannt?"

"Ich kenne viele Leute."

"Auch Patrick und Cyrus Borinsky?"

Er zuckte die Achseln. Er wich meinem Blick aus. Sein abweisender Unterton wurde schwächer. Etwas gedämpfter sagte er dann: "Das waren Crack-Dealer. Sieht so aus, als hätte jemand euch Cops die Arbeit abgenommen..."

"So sieht das keiner von uns."

"Ach, nein?", brauste er auf.

"Jedenfalls keiner, der seinen Job ernstnimmt - und das sind die allermeisten."

"Du musst es ja wissen!"

"Hast du eine Ahnung, wer die auf dem Gewissen hat?" Er sah mich an. Und dabei schwieg er einen ziemlich langen Moment lang. Er atmete tief durch. Sein Gesicht bekam einen düsteren Ausdruck.

"Liegt irgendetwas gegen mich vor?", fragte er dann.

"Nicht, dass ich wüsste."

"Bin ich verhaftet?"

"Nein."

"Dann gehe ich jetzt." Er grinste. "Adios, G-man!"

8

"Was wolltest du eigentlich von ihm?", fragte Lew mich einen Augenblick später, nachdem der junge Mann mit schnellen Schritten die Straße entlanglief.

Ich zuckte die Achseln.

"Keine Ahnung. Ich hatte das Gefühl, dass er vielleicht etwas weiß."

"Die wissen hier alle was, Murray! Das Problem ist, dass dir keiner was sagt. Und schon gar nicht, wenn die ganze Nachbarschaft zuschaut."

Ich schaute ihn an.

"Wo du Recht hast, hast du Recht", murmelte ich.

9

Der Porsche hielt vor dem fünfstöckigen Brownstone-Haus, einer Mietskaserne, die noch aus dem letzten Jahrhundert stammte. Die Adresse lag in East Harlem, wie man das Manhattan nördlich der 96. Straße nannte. Es hieß allerdings bei seinen Bewohnern eher El Barrio - das Viertel. Anderthalb Millionen Puertoricaner lebten hier, während es auf der Insel selbst gerade mal dreieinhalb Millionen waren. El Barrio war Latino-Land, unterbrochen nur von einer anglo-weißen Insel, der Columbia-University. Neben den Puertoricanern hatten sich hier auch andere Einwanderergruppen aus der Karibik und Mittelamerika angesiedelt.

Und Alberto Marias kam ursprünglich auch hier her. Obwohl er es immer als einen Makel empfunden hatte. Eine Zeitlang hatte er sich daher auch stets als Al Marias vorgestellt.

Aber seine Herkunft war nicht zu verschleiern. Sie klebte an ihm wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle. So sehr man sich auch Mühe gab, ihn loszuwerden - ein bisschen blieb immer zurück.

Jetzt lebte Alberto weiter nördlich, in der Bronx. Und er hatte das Gefühl, es endlich geschafft zu haben.

Jedenfalls sagte er sich das. Jemand, der mitten an einem Werktag nur so zum Spaß mit einem Porsche durch die Gegend fuhr, der musste es geschafft haben.

Alberto hupte. Zweimal kurz hintereinander.

Er blickte auf die Uhr.

Eigentlich war er ein bisschen spät dran.

Aber Teresa würde schon auf ihn warten.

Es dauerte nicht lange, bis sich der Eingang des Brownstone-Gebäudes öffnete. Teresa war bildhübsch, hatte langes, leichtgelocktes Haar, das ihr lang über die Schulter fiel. Den Mantel trug sie offen. Das knappe, fast hautenge rote Kleid, das ihre kurvenreiche Figur gut zur Geltung brachte, saß ihr wie angegossen. Alberto hatte es ihr gekauft. Sie stand eigentlich nicht darauf, so aufgedonnert herumzulaufen. Aber Alberto mochte es. Und darum trug sie es. Alberto stieg aus und machte ihr die Beifahrertür des Porsche auf.

Sie konnte gar nicht den Blick von dem edlen Fahrzeug abwenden.

Alberto grinste.

"Da staunst du, was?"

"Woher hast du den?"

"Spielt das eine Rolle?"

"Für mich schon."

"Quatsch nicht und setz dich rein." Er zwinkerte ihr zu. "Du musst nicht alles wissen, okay?"

Sie sah ihn nachdenklich an.

Wenig später saßen sie gemeinsam im Wagen. Die Wagenheizung sorgte für angenehme Wärme.

"Ich weiß nicht", murmelte sie.

"Was weißt du nicht? Komm, nimm erstmal eine Prise Schnee, dann wirst du etwas lockerer."

"Nein!" Ihr Tonfall hatte jetzt einen sehr bestimmten Unterton.

Alberto war überrascht.

Und etwas ärgerlich.

"Was ist plötzlich los mit dir?", knurrte er. Er griff über ihre Beine, tätschelte sie kurz und öffnete das Handschuhfach. Er fingerte ein kleines Briefchen mit weißem Pulver heraus. Etwas davon rieselte auf ihre Knie. Alberto machte sich eine Prise des Kokains auf den Handrücken und schnupfte sie dann. Er schloss die Augen anschließend für ein paar Augenblicke.

Dann sah er sie an.

"Jetzt du!"

"Nein!"

"Zier dich nicht so! Du fühlst dich easy hinterher!"

"Nein!"

Er wollte ihr das offene Plastikbriefchen an die Nase halten. Sie wandte den Kopf. "Lass das, verdammt noch mal!" Sie hob abwehrend die Hand und etwas von dem kostbaren weißen Pulver rieselte in der Gegend herum.

"Verflucht!", schimpfte er. "Meinst du, das Zeug gibt es umsonst!"

"Mein Gott, was bist du mies drauf heute, Al!", stellte Teresa fest. Sie atmete tief durch und zog sich dabei den Mantel vorne zu. Alberto wusste, was das bedeutete. Wenn sie ihm diesen Blick verwehrte, hieß das, dass sie wirklich sauer auf ihn war.

Er zuckte die Schultern.

Dann ließ er den Motor an und fuhr los. "Ich weiß auch nicht", sagte er.

"Ist irgendetwas passiert?"

"Was soll passiert sein?"

Natürlich war etwas passiert. Alberto hatte ständig das Bild des Crack-Dealers vor Augen, den er erschossen hatte. Mit dem Schnee in der Nase ließ sich das etwas besser ertragen, so hatte er gedacht. Es war nicht besser geworden.

"Vielleicht setzt du mich besser gleich wieder ab", sagte sie.

"Wieso das?"

"Mir scheint, du bist heute nicht in der richtigen Stimmung..."

"Ich dachte, wir fahren nach Midtown. Ein paar Klamotten für dich kaufen..."

"Ich habe genug Klamotten."

"Ich hätte nie gedacht, dass 'ne Braut das mal zu mir sagen würde!"

"Und ich hätte nie gedacht, mal in einem gestohlenen Porsche nach Midtown Manhattan zu fahren."

Alberto lachte heiser.

"Cool, was?"

"Dreist, würde ich sagen. Und risikoreich."

"Was wäre das Leben schon ohne Risiko, Teresa?" Alberto jagte mit dem Porsche in halsbrecherischer Manier die Straße entlang. Ein Ford musste im letzten Moment ausweichen. Alberto grinste auf eine Weise, die Teresa nicht gefiel. Seine Pupillen wurden groß.

"Lass mich raus", sagte sie unmissverständlich.

"Red' keinen Quatsch, Baby!"

"Al!"

An der nächsten Ecke riss Alberto das Lenkrad herum. Die Reifen quietschten. Das Hinterteil des Porsche schleuderte herum. Und dann trat Alberto das Gas wieder voll durch.

"Das war eine Einbahnstraße, Al!"

"Eine Abkürzung, Teresa!"

Sie verwünschte sich dafür, je in diesen Wagen gestiegen zu sein. Gleich bei der nächsten Ecke, nur ein paar hundert Meter weiter, bog Alberto erneut ein. Immerhin stimmte die Fahrtrichtung jetzt mit dem überein, was die Verkehrsplaner von New York City sich für dieses Stück Asphalt überlegt hatten.

Teresa atmete tief durch.

Das schlimmste war überstanden, dachte sie.

"Du bist unmöglich", sagte sie und wischte sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht.

"Vielleicht", sagte er. Er hatte das Gefühl, dass ihm der Adrenalinstoß gutgetan hatte, den ihm die Höllenfahrt bereitet hatte. Er hatte das vergessen können, was geschehen war. Wenigstens für ein paar Augenblicke. Und jetzt... Jetzt war er wieder vor seinem inneren Auge.

Der zuckende Leichnam.

Alles rot...

Er schloss die Augen viel länger, als man das im Straßenverkehr tun sollte. Er kniff sie förmlich zusammen und schüttelte dann den Kopf.

Du sitzt ganz schön in der Scheiße, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Und er ahnte, dass das voll und ganz der Wahrheit entsprach. Daran konnte man selbst mit reinstem Kokain nichts schön schnupfen.

"Wir machen uns jetzt einen tollen Nachmittag", sagte er.

"Al..."

"Heute Abend kann ich nämlich leider nicht."

"Warum nicht?"

Er schwieg.

Sie wusste, worum es ging. Immer, wenn er auf diese Weise schwieg, ging es darum.

"Du triffst dich mit ihnen - nicht wahr?"

"Na, und? Allein bist du nichts, Teresa. Ein Stück Dreck, ein Fußabtreter... Aber wenn du zu ihnen gehörst, dann..." Er sprach nicht weiter.

In Gedanken vollendete er seinen Satz. Dann musst du bereit dazu sein, ein Killer zu werden...

Er schluckte.

"Hat es was mit der Sache von heute Morgen zu tun? Am Lincoln Tunnel? Vielleicht sind euch die Cops auf den Fersen und nun wird euer allgewaltiger Joe nervös..." Er sah sie an, bis er die Ampel erreichte. Dann stoppte er den Porsche ziemlich abrupt.

"Wovon redest du?"

"Hörst du denn nie Nachrichten oder siehst Lokalfernsehen?"

"Sehe ich so aus, als hätte ich für sowas Zeit?"

"Vielleicht solltest du das mal! Außerdem glaube ich nicht, dass du nichts von dieser verdammten Mutprobe wusstest, die ihr da veranstaltet habt..."

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.

"Warst du der Kerl, der auf den BMW geschossen hat? Al, es hat fünf Tote gegeben!"

Alberto kniff die Lippen zusammen. Sie bildeten jetzt einen dünnen Strich.

"Hör zu, ich will von dem Mist nichts mehr hören! Nimm Schnee, wenn du die Klappe nicht einfach so halten kannst und sei glücklich! Wir haben einen tollen Wagen und viel Geld! Also freu dich, verdammt nochmal und frag mir keine Löcher in den Bauch. Sonst hat es dich auch nur am Rande interessiert, woher das Geld kam, mit dem deine Klamotten gekauft wurden." Sie öffnete die Tür.

"Du kannst dir diesen Fummel sonstwohin stecken!", fauchte sie und stieg aus.

"Teresa!", rief er ihr etwas verwirrt hinterher. Sie sah ihm in die Augen. Die großen Pupillen sprachen für sich. Die Ampel sprang auf grün. Und irgendwo hinter ihnen hupte ein ungeduldiger Fahrer.

"Hasta la vista, Al!", sagte sie und schlug die Tür zu. Sie tänzelte zwischen den Autos hindurch bis zum Bürgersteig. Alberto war so perplex, dass er vergaß, seinen Mund zu schließen.

Dies ist eindeutig nicht mein Tag, ging es ihm durch den Kopf.

10

Mit Hilfe unserer Innendienstspezialisten und einiger Computerabfragen hatten wir bis zum Abend herausgefunden, wer der Mann auf dem Foto war, das Paul Morales uns gegeben hatte. Es handelte sich um Jose Donato, der sich selber Joe Donato nannte. Er hatte ein Dutzend kleinerer Vorstrafen, war in East Harlem großgeworden, hatte sich angeblich als Söldner bei der Contra-Guerilla in Nicaragua verdingt, ehe sich seine Spur im Nichts verlor.

Und jetzt war er offenbar back in town - vorausgesetzt, das Foto war nicht schon uralt.

Im Moment lag nichts gegen ihn vor.

Neben dem amerikanischen Pass besaß er auch einen Kolumbianischen.

"Fragt sich nur, ob dieser Kerl identisch ist mit dem Mann, der in der South Bronx Killer-Joe genannt wird", meinte Lew skeptisch. "Sichergehen können wir da nämlich keineswegs..."

"Das wird sich herausfinden lassen", meinte ich. Es waren eine Menge Gerüchte dort im Umlauf. Und es war gut möglich, dass jemand dieses Foto über Morales lanciert hatte, um mit Joe Donato eine ganz andere Rechnung zu begleichen, die mit unserem Fall nicht das Geringste zu tun hatte. Von unserem Kollegen Walter Stein von der Fahndungsabteilung bekamen wir dann einen wertvollen Hinweis. In der 150. Straße wohnte ein gewisser Greg Rooney, mit dem zusammen Joe Donato eine Zelle geteilt hatte, als man ihn wegen Drogenvergehens und Verstoßes gegen das Meldegesetz für Waffen eine Weile aus dem Verkehr gezogen hatte. Rooney und Donato waren unzertrennlich gewesen, wie ein Anruf beim Direktor der Strafvollzugsanstalt ergab.

"Wenn Donato in der Bronx ist, hat er sich garantiert bei Rooney gemeldet", war der Direktor überzeugt. "Rooney war eine Art Vaterfigur für Donato. All die Gemeinheiten, die Donato bis dahin noch nicht drauf hatte - und das kann nicht viel gewesen sein! - hat Rooney ihm beigebracht." Lew und ich ließen uns von der Fahrbereitschaft einen möglichst unauffälligen Wagen geben. Ein Chevy, der sogar ein paar Roststellen besaß. Wie ein richtiger Gebrauchtwagen.

"Stell dir mal vor, du würdest deinen Sportwagen dort oben in der South Bronx parken", meinte Lew, während wir uns auf dem Weg zur 150. Straße befanden.

Ich grinste.

"Das gäbe einen mittleren Menschenauflauf!"

"Und vermutlich wäre er auch dann weg, wenn wir ihn mit einer langen Kette am nächsten Laternenpfahl anschließen würden!"

Ich fuhr ziemlich schnell. Gerade noch an der oberen Grenze des Erlaubten.

Rooneys Adresse war nicht mehr aktuell. Wir verbrachten einige Zeit damit, uns in der Gegend nach ihm zu erkundigen und zeigten dabei auch Donatos Bild herum. Keinen von beiden wollte irgendjemand kennen.

Rooney fanden wir schließlich doch.

Ein ehemaliger Hausmeister verriet uns, dass er ein paar Blocks weitergezogen war. Vor einem halben Jahr.

Rooneys neue Wohnung lag in einem heruntergekommenen Block, der bestimmt schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Die Fassade blätterte von den Wänden.

In der unteren Etage waren früher einmal Geschäftsräume gewesen. Das war deutlich zu sehen.

Jetzt war das Erdgeschoss mit Brettern vernagelt. Die kleinen Geschäftsleute waren aus der Gegend geflohen. Sie hatten einfach die Nase voll davon, dauernd überfallen zu werden oder das Fell von Schutzgelderpressern über die Ohren gezogen zu bekommen, die dafür oft noch nicht einmal den versprochenen Schutz gewährleisten konnten.

Für viele war das einfach auch finanziell nicht durchzuhalten gewesen. Wenn sich die Schadensfälle häuften, kündigten die Diebstahlversicherungen ihre Verträge. Und dann wurde es eng. Jeder weitere Vorfall konnte dann den Ruin bedeuten.

"Trostlos, zu sehen, wie so ein Straßenzug vor sich hinstirbt", meinte Lew.

Es war wirklich deprimierend.

Wir stiegen aus.

Ich blickte mich um. An der nächsten Ecke lungerten ein paar Kids herum und beobachteten uns mit Gesichtern, die voller Misstrauen waren.

Ein paar hundert Meter weiter befand sich ein Grundstück, das von einem großen Trümmerhaufen gekennzeichnet wurde. Große Betonbrocken lagen auf einem riesigen Haufen, der wie eine bizarre Skulptur der Zerstörung wirkte. Offenbar war hier einer der Blocks vor kurzem abgerissen worden. Mit welchem Hintergedanken auch immer.

Jetzt brannte dort ein Feuer.

Ein paar Obdachlose saßen auf rostigen Fässern um das Feuer herum und wärmten sich die Finger.

Auch ihre Blicke waren auf uns gerichtet.

Wir gehörten nicht hier her und darüber konnten auch noch so viele Rostbeulen in unserem Dienstwagen nicht hinwegtäuschen.

Hier waren wir Outsider, denen man mit einer Mauer des Schweigens begegnete. Für gewöhnlich jedenfalls.

Der Eingang war offen. Das Türschloss herausgebrochen. Lew und ich betraten das Treppenhaus. Der Aufzug war defekt. Auf dem dritten Absatz lag eine benutzte Spritze auf dem Boden. Rooney wohnte im 5. Stock.

Jedenfalls war das die letzte Adresse, die wir von ihm hatten.

Ich klopfte an seiner Tür. Das Türschild war kaum zu lesen, die Klingel defekt.

"Mr. Rooney! Bitte machen Sie auf."

Es kam keine Antwort.

"Mr. Greg Rooney! Hier spricht das FBI! Machen Sie die Tür auf! Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen..." Jetzt waren Geräusche von der anderen Seite der Tür zu hören.

Das Schloss wurde geöffnet.

Dann rief einen Augenblick später eine brüchige, heisere Stimme: "Drücken Sie die Klinke herunter. Sie können hereinkommen..."

Ich öffnete die Tür.

Der Raum, den wir betraten, war mit ziemlich heruntergekommenem Mobiliar ausgestattet. Abgewetzte Polstermöbel, eine klobige Couch und Schränke aus Spanplatte. Die Tapete hatte noch ein poppiges Blumenmuster, wie es vielleicht in den Siebzigern populär gewesen war. Schimmelpilz fraß sich an einigen Stellen die Wände empor. Und es war lausig kalt.

In der Tür zum Nebenraum stand ein Mann in den Sechzigern mit einer abgesägten Schrotflinte in der Hand.

Aus den Augenwinkeln heraus hatte ich ihn hervorspringen sehen und eine Sekunde zu langsam reagiert. Meine Hand war zur Hüfte gegangen, um die Pistole vom Typ Sig Sauer P226 aus dem Gürtelholster herauszureißen.

Lew war schneller gewesen.

Er hatte seine Waffe in Anschlag gebracht und auf den Kerl in der Tür gerichtet.

Es war Greg Rooney.

Ich erkannte ihn sofort von den Fotos wieder, die ich auf dem Computerbildschirm von ihm gesehen hatte. Allerdings musste man schon genau hinsehen. In der letzten Zeit hatte er sich nicht gerade zum Positiven verändert. Er wirkte ungepflegt und ziemlich vernachlässigt. Graue Bartstoppel standen ihm im Gesicht. In der ganzen Wohnung hing ein penetranter Geruch nach Bier und Erbrochenem.

Rooney zitterte.

"Die Waffe weg", sagte Lew. "Es liegt nichts gegen Sie vor. Außer ein paar Fragen, wollen wir nichts von Ihnen!"

"FBI?" Er lachte heiser. In seinen Augen flackerte es unruhig. Er machte einen nervösen Eindruck. Und angesichts der Tatsache, dass er mit seiner abgesägten Schrotflinte vermutlich alle, die sich im Raum befanden einschließlich seiner eigenen Person schwer verletzten konnte, sobald er den Abzug betätigte, war es das beste, ihn nicht unnötig zu reizen.

Lews Waffe und die Schrotflinte. Das war eine Pattsituation.

Keiner der Läufe senkte sich.

"Na, los!", schrie Rooney. "Runter damit!"

"Haben Sie nicht verstanden?", erwiderte ich. "Wir sind..." Er lachte heiser. "Was glauben Sie, mit welchen Tricks schon versucht wurde, hier einzubrechen. Ist aber keinem gut bekommen."

"Ich hole meinen Ausweis, Mr. Rooney..."

"Glauben Sie, dass Sie mich damit beeindrucken können?" Ich griff in die Tasche. Vorsichtig und langsam genug, dass er alles mitverfolgen konnte.

Und dann hielt ich ihm das Ding so hin, dass er es deutlich sehen konnte.

"Bis jetzt ist nichts passiert", gab ich zu bedenken. "Aber falls sie hier Theater machen, könnte man das als Angriff auf zwei Bundesbeamten werten. Und das würde bedeuten, dass Sie den Rest Ihrer Tage hinter Gittern verbringen würden." Er zögerte noch.

Nervös blickte er von einem zum anderen. Er schien es nicht so recht glauben zu können. Dann ließ er schließlich die Schrotflinte sinken.

Aber er behielt sie in der Hand, bereit sie jederzeit wieder hochzureißen.

Lew senkte die P 226 etwas.

Aber auch er blieb auf der Hut.

"Was wollen Sie?", fragte er.

Ich steckte den Ausweis wieder weg.

Stattdessen holte ich einen Computerausdruck heraus. In kalendergroßem Format war darauf das Gesicht von Joe Donato zu sehen.

"Kennen Sie den Mann?"

"Nie gesehen!"

Ich sandte ihm einen eisigen Blick zu. "Wenn Sie glauben, Sie können uns nach Lust und Laune belügen, Mr. Rooney, dann sind Sie schief gewickelt. Wir können die Sache auf mehrerlei Weise regeln. Eine Möglichkeit wäre, Ihnen erstmal die Rechte vorzulesen und Sie mit in die Federal Plaza zu nehmen."

"Weswegen zum Beispiel?"

"Ich wette zum Beispiel, dass Ihr selbstgebastelter Schießprügel nicht registriert ist! Und wer weiß, ob Sie nicht mit den Leuten unter einer Decke stecken, die wir suchen."

Ich trat auf ihn zu.

Wegen der Flinte in seiner Hand war das immer noch ein gewisses Risiko.

Er stellte das Gewehr gegen den Türpfosten.

"Ist sowieso nicht geladen", meinte er. "Kein Geld für Munition. Die letzten Patronen habe ich verfeuert, um die Ratten zu verjagen..."

Ich hielt ihm das Bild noch einmal hin. Er nahm es mit zitternden Fingern.

Dann ging er in den Nebenraum. Es war die Küche. Auf der Anrichte stand eine halbvolle Flasche Whiskey. Er griff nach ihr, führte sie zum Mund und nahm einen Schluck.

"Sie haben einige Zeit im Gefängnis zusammen verbracht", erinnerte ich ihn. "Und sich gut verstanden."

"Und Freunde verrät man nicht, oder?"

"Es geht um Mord."

"Was Sie nicht sagen."

"Joe Donato ist wieder in der Gegend, nachdem er ein paar Jahre untergetaucht war. Das ist doch richtig, oder?"

"Was weiß ich, G-man."

"Er wurde in der Nähe fotografiert."

"Ach was! Und mir hat er immer erzählt, dass außer den Cops niemand ein Foto von ihm besäße..."

"Wo finden wir ihn?"

Er sah mich mit seinen wässrig blauen Augen an. "Ich habe keine Ahnung..."

Über einem der beiden Küchenstühle hing eine Strickjacke. Nachdem ich noch einen Schritt nach vorn gemacht hatte, konnte ich auch sehen, was aus der Seitentasche der Jacke herausragte. Ein Bündel mit Hundertdollarnoten. Ich zog es aus der Jackentasche heraus.

In Rooney Augen blitzte Panik.

"Donato war also hier", stellte ich fest. "Er hat seinen alten Freund nicht vergessen..."

"Wenn Sie mir was anhängen wollen..." Ich schüttelte den Kopf.

"Kein Gedanke", versicherte ich. "Wir wollen nur wissen, wo wir Donato finden können..."

"Ich habe keine Ahnung... Und wenn ich es wüsste, würde ich Ihnen nichts sagen. Schon, um am Leben zu bleiben."

"Da lässt Donato dann keine Freundschaft gelten, was?"

"Würde ich an seiner Stelle auch nicht..." Ich beugte mich zu ihm vor.

Unsere Blicke begegneten sich.

"Es hat keinen Sinn, Murray", hörte ich Lew sagen. Ich wollte es mir im ersten Moment nicht eingestehen, aber es entsprach vermutlich der Wahrheit. Dieser Man hatte einfach zu große Angst. Ich legte das Geld auf die Anrichte.

"Wissen Sie zufällig, ob Donato sich in letzter Zeit einen Namen zugelegt hat?"

"Hören Sie..."

"Ist er - Killer-Joe?"

"Das weiß niemand", sagte er. Ich glaubte ihm nicht. Aber ich spürte die Furcht im Klang seiner Stimme. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Ein Lächeln, das beinahe schon triumphierend wirkte.

"Deswegen sind Sie also hier..." Er kicherte. "Ich mische mich in nichts mehr ein, G-man. In gar nichts. Weder auf die eine noch auf die andere Weise. Ich habe oft genug meine Knochen hingehalten. Jetzt muss Schluss sein..."

11

Grau hatte sich die Dämmerung über die hässlichen Wohnblocks gelegt. Das Feuer auf dem Trümmergrundstück loderte hoch empor.

Auf der anderen Straßenseite befand sich ein fünfstöckiger Klotz, der aussah, als wäre er vom Stadium des Rohbaus übergangslos in jenes der Ruine übergegangen. Ein Bau ohne Fenster und Fassade. Die Betonelemente waren deutlich zu sehen, an einigen Stellen sogar die längst rissig gewordenen Stahlträger im Inneren. Wie die Gräten eines toten Fischs, um dessen Stücke sich längst die Katzen stritten. Irgendein Spekulationsobjekt früherer Tage, dessen Erbauer vermutlich längst im Konkurs waren.

"Der schweigt eisern", sagte Lew von der Seite her und bezog sich damit auf das Gespräch mit Rooney.

"Der Kerl hat Angst", gab ich zu bedenken. "Und er bekommt Geld..."

"Wird wohl nicht so einfach sein, diesen Donato aufzutreiben. Ganz gleich, ob er nun mit diesem Killer-Joe identisch ist, oder nicht."

"Leider wahr."

"Glaubst du, es bringt was, diesen Rooney zu beschatten, Murray?"

"Versuchen kann man's ja. Fragt sich allerdings, ob das Risiko für unseren Agenten noch im Verhältnis zu den Erfolgsaussichten steht..."

Natürlich stand fest, dass weder Lew noch ich uns hier auf die Lauer legen konnten. Denn es war ziemlich sicher, dass wir von unseren Gegnern beobachtet worden waren.

Wenn die KILLER ANGELS ihr Viertel wirklich so im Griff hatten, wie man sagte, dann konnte es gar nicht anders sein. Die ANGELS mussten um ihr Überleben willen auf der Hut sein. Denn ihre Konkurrenz würde es sich nicht ewig gefallen lassen, dass die ANGELS sie wie aufgeschreckte Hühner vor sich hertrieb und Straßenzug für Straßenzug zurückdrängte. Die Gegenreaktion würde kommen.

Früher oder später.

Und dann war hier Krieg.

Wir gingen in Richtung unseres Wagens. Irgend so ein Eckensteher mit einer viel zu großen Wollmütze verschwand in einer Türnische, als er uns sah.

"Heh, da ist einer an unserem Wagen", hörte ich Lew neben mir.

Jetzt sah ich es auch.

Hinter dem vorderen rechten Kotflügel tauchte ein schwarzer Lockenschopf kurz auf, dann duckte der Kerl sich wieder. Er hatte begriffen, dass wir ihn gesehen hatten. Lew hatte die P 226 schon aus dem Holster gezogen. Ich schlug ebenfalls Mantel und Jacke zur Seite, um zur Waffe zu greifen.

Wir schwärmten auseinander.

Lew lief in geduckter Haltung zur Straße und verschanzte sich hinter einem parkenden Buick, der mehr aus Rost als etwas anderem zu bestehen schien. Ich arbeitete mich derweil weiter den Bürgersteig entlang voran.

Der Lockenkopf tauchte wieder hervor, diesmal hinter der Motorhaube.

"Stehenbleiben! FBI!", rief ich.

Zwei dunkle Augen sahen mich an. Es war ein junges Gesicht. Der Junge war höchstens sechszehn oder siebzehn. Ich sah die Unentschlossenheit in seinen Zügen. Er war wohl noch nicht ganz so abgekocht, wie seine älteren Komplizen, mit denen er vermutlich in diesen Straßen unterwegs war.

Einen Augenblick lang zögerte er, dann rannte er davon. Er lief einfach drauflos, quer über die Straße. Ich fluchte ärgerlich vor mich hin.

Ich hasste es, eine Waffe auf halbe Kinder richten zu müssen. Andererseits durfte man sich durch die Jugend nicht täuschen lassen. Die Zahl der Kollegen, die das mit dem Leben bezahlt hatten, wuchs stetig.

Hier gab es Killer, die nicht mal volljährig waren. Und das Crack-Geld sorgte dafür, dass auch ein steter Nachschub an Waffen floss.

Ich setzte zu einem kleinen Spurt an.

Aber der Lockenkopf war schnell. Zu schnell.

Er hatte bereits die andere Straßenseite erreicht und strebte in geduckter Haltung auf die Bauruine zu. Ihn dort aufzutreiben war schier unmöglich. Jedenfalls, wenn man nur zu zweit war, wie Lew und ich. Ich atmete tief durch. Vielleicht war es mein Instinkt, der mich die Waffe nicht zurück ins Gürtelholster stecken ließ.

Lew hatte den Wagen ebenfalls erreicht und musterte das gute Stück.

"Scheint nichts zu fehlen", stellte er fest. "Vielleicht hatte wir Glück und es mit einem Anfänger in der Autoknackerbranche zu tun, Murray!"

"In dem Alter?" Ich schüttelte den Kopf. "Die sind entweder perfekt oder schon so vollgedröhnt, dass sie ein Stück Draht schon gar nicht mit ruhiger Hand in ein Türschloss hineinbekommen würden..."

"Steigen wir ein", sagte Lew.

An einem der Fenster in der großen Bauruine sah ich eine Bewegung.

Mir fiel im gleichen Moment ein, dass ich den Lockenkopf vorne, im Bereich der Motorhaube gesehen hatte.

Er wollte unseren Wagen überhaupt nicht knacken, wurde es mir einen Sekundenbruchteil später siedendheiß klar. Dann hörte ich das tickende Geräusch...

"Deckung! Lew!", rief ich und hechtete seitwärts. Lew begriff sofort und sprang zur Seite.

Ich kam hart auf dem Boden auf und rollte herum. Im selben Augenblick gab es einen ohenbetäubenden Knall. Der Wagen flog in die Luft. Eine enorme Flamme schoss in die Höhe. Die Hitzewelle war mörderisch.

Unser Wagen war nach wenigen Sekunden nichts weiter, als ein Haufen verkohltes Blech.

Ich drehte mich herum und versuchte mich wieder hochzurappeln. Ich sah zu Lew hinüber, der nicht ernsthaft verletzt zu sein schien.

Und dann sah ich den roten Punkt auf meiner Schulter. Ein roter Lichtpunkt, der unruhig hin und her wanderte. Ich wusste nur zu gut, worum es sich handelte.

Der Laserpointer eines hochmodernen Sturmgewehrs, mit dem sich punktgenau zielen ließ.

Der Schütze musste in irgendeinem der Fensterlöcher auf der anderen Straßenseite lauern.

Ich warf mich blitzartig zur Seite. Der Schuss streifte meinen Mantel und zerfetzte das Schulterpolster. Ich verschanzte mich hinter zwei überquellenden Mülltonnen, aus denen ein bestialischer Gestank drang. Kurz hintereinander wurden weitere Schüsse auf Lew und mich abgefeuert. Und die Mülltonen waren kein wirklicher Schutz. Die Projektile gingen so glatt durch das Blech, dass man hinterher vielleicht den Eindruck haben konnte, als hätte die Tonne versehentlich unter einer Stanzmachine gelegen.

Ich feuerte zurück.

16 Schuss konnte man mit der P 226, der offiziellen Dienstwaffe des FBI verschießen.

Mit dem Visier ließ sich sehr gut zielen.

In einem der Fensterlöcher sah ich Mündungsfeuer aufblitzen und schoss dorthin. Lew feuerte auch.

Ein Feuerstoß folgte.

Zwanzig Schüsse innerhalb von zwei Sekunden. Ich presste mich an den Boden, während die Kugeln über mir durch den Mülleimer hindurchfetzten. Der Deckel tanzte auf der Tonne und ging dann scheppernd zu Boden.

Lew befand sich in einer etwas besseren Lage.

Er hatte Deckung hinter einem der parkenden Wagen gefunden. Und der fing jedenfalls den Großteil des Bleiregens ab. Lew feuerte einen Schuss nach dem anderen.

Auf der anderen Seite verebbte der Geschosshagel. Wahrscheinlich nur für kurze Zeit. Bis ein Magazin ausgewechselt war oder der Schütze sich in eine bessere Schussposition gebracht hatte.

Ich zögerte nicht lange.

Lew blickte zu mir hinüber.

"Los!", rief er.

Aber da war ich längst auf den Beinen. Ich hatte mich aufgerappelt und stürmte in geduckter Haltung los. Die erste Etappe ging bis zur Nische einer Haustür, dann zielte ich kurz und feuerte dorthin, wo ich den Schützen zuletzt gesehen hatte. Die Antwort kam postwendend. Die Kugeln kratzten am Putz und ließen mehr als zwei Händevoll davon zu Boden rieseln.

Ich nutzte die Gelegenheit, mein Magazin nachzuladen. Dann feuerte ich erneut.

Ein Schrei war aus dem Fensterloch heraus zu hören. Er war ziemlich laut und hallte in dem leeren Gebäude wider. Es kam kein Schuss mehr.

Ich duckte mich und lief zu Lew.

"Da hat es jemanden erwischt!", meinte er.

"Scheint, als würde irgendjemand unseren Besuch hier nicht besonders schätzen!", erwiderte ich.

"Fragt sich nur, ob die Brüder uns mit ihrer Konkurrenz verwechselt haben, oder ganz gezielt uns vertreiben wollen."

"Das werden wir vielleicht nie erfahren..." Lew griff zum Handy und rief die Zentrale an, deren Nummer er im Menue des Geräts einprogrammiert hatte. Er forderte Verstärkung an.

Dann klappte er das Gerät wieder zu.

"Unsere Leute sind unterwegs", erklärte er. Ich sah ihn an.

"Gib mir Feuerschutz", verlangte ich.

"Was?"

"Ich will wissen, wer das war!"

"Murray, das ist Wahnsinn!"

"Komm schon! Wir stochern doch hier bislang nur im Nebel herum... Und wenn wir in dieser Sache nicht bald einen gewaltigen Fortschritt machen, dann eskaliert hier die Situation..."

Ich wartete Lews Antwort nicht ab.

Statt dessen erhob ich mich und spurtete los.

Ich rannte die Straße entlang. Durch die parkenden Wagen hatte ich zumindest etwas Deckung. Und Lew passte auf. Er beobachtete, ob sich auf der anderen Seite etwas tat und würde sofort feuern, wenn das der Fall war. Aber natürlich konnte man nicht alle Fenster der Ruine auf einmal im Auge behalten. Das war unmöglich.

Ein gewisses Risiko war also dabei.

Ich versuchte auf das rote Leuchten eines Laserpointers zu achten. Unser Gegner war verdammt gut ausgerüstet. Ich rannte bis auf die Höhe eines Grundstücks, auf dem Feuer brannte.

Die Männer, die zuvor um das Feuer gestanden hatten, hatten sich verzogen. Aus sicherer Entfernung beobachteten sie jetzt vermutlich, was weiter vor sich ging. Ich überquerte die Straße. Einen weiten Bogen hatte ich um die Ruine geschlagen. Das war meine einzige Chance.

Ich bog in eine schmalere Seitenstraße ein.

Und dann pirschte ich mich zu dem unverputzten Gemäuer hin, presste mich an die Wand und blickte mich um. Die P 226 hatte ich dabei stets schussbereit im Anschlag.

Wenige Augenblicke später stand ich an der Ecke und konnte die Rückfront der Ruine überblicken. Ein asphaltierter Platz befand sich dort.

Ein Motorengeräusch heulte auf.

Ich sah gerade noch, wie jemand in einen weißen Porsche stieg, dessen Fahrer das Gas voll durchzutreten schien. Der Porsche raste los.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich das Gesicht des Fahrers.

Ein G-man muss ein Gedächtnis für Gesichter haben, sonst ist man in unserem Job aufgeschmissen. Alles kann einem der Computer nicht abnehmen.

Dieses Gesicht erkannte ich sofort wieder.

Es gehörte Alberto Marias, dem jungen Kerl, den ich in der Nähe des Hauses gesehen hatte, in dem die Borinsky-Brüder erschossen worden waren.

Unsere Blicke begegneten sich für einen winzigen Moment und ich wusste, dass auch er mich wiedererkannt hatte. Ich hob die P 226.

Alberto riss das Steuer des Porsche herum. Der Wagen drehte sich mit quietschenden Reifen und fuhr davon. Quer über einen schlecht gepflegten Grünstreifen, der inzwischen nur noch eine Mischung aus Unkraut-Ökotop und Abfallhaufen war. Aus dem Fenster der Beifahrertür ragte ein Gewehrlauf. Im nächsten Moment wurde gefeuert. Ich ging in Deckung. Als der schlecht gezielte Feuerstoß verebbt war, tauchte ich wieder hinter der Ecke hervor und versuchte mein Glück.

Zwei gezielte Schüsse auf den rechten Hinterreifen. Der Fahrer war ein Profi.

Er ließ den Porsche einen Haken schlagen. Die Schüsse kratzten am Asphalt und im nächsten Moment hatte der Sportwagen eine Lücke zwischen zwei Blocks durchfahren und eine Hecke niedergemäht. Dann war er auf der Hauptstraße. Unerreichbar für mich. Der Porsche brauste davon. Ich trat etwas vor und sah mich um. Es war niemand in der Umgebung zu sehen. Ich war mir nicht sicher, ob das wirklich ein beruhigendes Zeichen war. Mein Blick glitt hoch, die langen Reihen der Fensterlöcher entlang.

Ich fragte mich, ob der Junge mit den Locken hier noch irgendwo war. Im Porsche hätte er keinen Platz gehabt. Der Junge hatte zweifellos die Bombe mit dem Zeitzünder an unserem Wagen befestigt.

Auf dem Boden sah ich dann wenig später etwas Dunkelrotes. Blut.

Frisches Blut. Eine richtige Spur führte aus der Bauruine bis zu jener Stelle, an der ich einen Mann in den Porsche hatte einsteigen sehen über den Asphalt. Offenbar war der Schütze verletzt. Aus den Augenwinkel heraus nahm ich dann eine Bewegung war. Sie kam aus der Bauruine. In der Nähe einer Türöffnung war irgendetwas.

Jemand.

Ich wirbelte herum, riss die Pistole hoch.

In der nächsten Sekunde ließ ich sie wieder sinken. Lews Gestalt zeichnete sich im Halbdunkel ab, das im Inneren der Ruine herrschte.

"Alles in Ordnung, Murray?"

Ich zuckte die Achseln.

"Wie man's nimmt!"

In der Ferne waren bereits die Sirenen der City Police-Einheiten zu hören, die man uns hier her geschickt hatte. Unsere eigenen Leute würden etwas länger brauchen, um uns zu erreichen. Aber immerhin brauchten wir nicht zu Fuß zur Federal Plaza zurücklaufen.

12

"Er braucht einen Arzt!", stellte Alberto Marias fest, dessen Gesicht dunkelrot angelaufen war.

Es herrschte Halbdunkel im Raum. Die Vorhänge waren zugezogen. Durch die Tür drang Licht herein. Der Verletzte lag quer über ein Doppelbett. Sein Stöhnen hatte etwas nachgelassen, nachdem Killer-Joe ihm etwas Stoff verabreicht hatte. Die Wunde an der Schulter war notdürftig verbunden. Viel Blut hatte seine Kleider rot getränkt. Aber Joe hatte gleich gesehen, dass es nicht ganz so schlimm war, wie es aussah.

Er drehte sich zu Alberto um.

"Wie stellst du dir das vor, Al?", sagte er leise. Seine Stimme hatten einen wispernden Ton. "Wir können nicht einfach in irgendein Krankenhaus gehen und ihn behandeln lassen. Dann haben wir in zwanzig Minuten den FBI vor der Haustür stehen." Er bedachte Alberto mit einem kühlen Blick. "Zu dumm, dass ihr diese neugierigen G-men nicht erledigt habt..."

"Ich konnte nichts dafür", sagte Alberto. "Ich habe schließlich nur den Wagen gefahren..."

Joe nickte.

"Ich weiß", sagte er. Er klopfte Alberto auf die Schulter.

"Du hättest es besser gemacht, Al."

"Schon möglich", knirschte Alberto Marias zischen den Zähnen hindurch.

"Ich bin sicher!"

"Ach, was!"

"Du wirst Gelegenheit bekommen, es unter Beweis zu stellen. Es gibt eine Menge Arbeit..."

Alberto war mit den Gedanken nicht so ganz bei der Sache. Bilder vermischten sich vor seinem inneren Auge. Er sah Teresas hübsches Gesicht mit der Zornesfalte mitten zwischen den Augen. Sie war wütend gewesen, als sie ihn an der Kreuzung verlassen hatte.

Es war nicht das erste Mal, dass sie so war. Und er war sich immer sicher gewesen, die Sache wieder hinzubiegen. Aber diesmal wusste er es nicht.

Das Bild von Teresas Gesicht vermischte sich mit dem des Crack Dealers, dem er eine Kugel in den Schädel gejagt hatte. Er schloss die Augen.

"Alles in Ordnung?", fragte Joe.

Alberto nickte.

Joe sah ihn nachdenklich an. "Ich brauche jetzt Leute, auf die ich mich hundertprozentig verlassen kann. Verstehst du das?"

"Klar."

"Die Sache beim Lincoln-Tunnel hat große Wellen geschlagen... Wir haben ja schon darüber geredet. Ein paar wichtige Leute sind sehr nervös geworden - und die Cops wollen wir nicht vergessen. Wie man heute gesehen hat, gibt es die ja auch noch."

Alberto wusste nicht, worauf Killer-Joe hinauswollte. Joe ging zum Nachttisch und machte eine Lampe an. Es wurde etwas heller.

Er sah auf den Verletzten, der jetzt in tiefer Bewusstlosigkeit dalag.

"Er würde uns in der jetzigen Situation nur Ärger machen", sagte er.

"Was soll das heißen?"

"Es gibt wichtigere Dinge, als den Einzelnen, Al. Hat dir das noch keiner gesagt?"

Alberto wollte etwas erwidern. Aber er konnte nicht. Er war unfähig auch nur einen Ton herauszubringen. Joe deutete mit dem Finger auf den Verletzten und sagte: "Er wird nicht wieder aufwachen, Al! Ich habe ihm genug Stoff gegeben, dass er friedlich ins Reich der ewigen Träume hinübergleitet... Aber für die anderen brauchen wir noch eine weitere Schusswunde. Sonst wird uns niemand glauben, dass diese FBI-Schweine ihn auf dem Gewissen haben." Joes Blick war stahlhart. "Siehst das auch so, Al?" Die Stimme des Anführers klirrte wie Eis.

Alberto Marias nickte.

"Geh zu den anderen und sag es ihnen. Du siehst heute so blass aus, dass ich die Sache lieber selbst erledige..."

"Okay", murmelte Alberto. Während er hinausging sah er noch, wie Joe eine Pistole zog und einen Schalldämpfer aufschraubte.

Alberto drehte sich nicht um, als er das Schussgeräusch hörte.

Es klang, als ob jemand kräftig in ein Kissen schlug.

13

Wir saßen im Büro von Mr. Jay Chang Lee, dem Chef des FBI-Districts New York im Rang eines Special Agent in Charge. Seine Sekretärin Eileen hatte ihren berühmten Kaffee serviert, der weit über den 26. Stock des FBI-Gebäudes an der Federeal Plaza 26 bekannt war. Ein Kaffee, wie er so schnell kein zweites Mal gebraut wurde.

Eigentlich war es eine Schande, eine solche Köstlichkeit aus Pappbechern genießen zu müssen.

Außer Lew Parker und meiner Wenigkeit waren noch die Special Agents im Außendienst Steven Belmonte, Terry Errenkoah und Fred Ansara anwesend.

Außerdem noch Walter Stein, ein Innendienstler unserer Fahndungsabteilung, Dave Oaknut vom ballistischen Labor und Sam Stonehill vom Erkennungsdienst.

Es gab tatsächlich einiges an interessanten Neuigkeiten.

"Zunächst einmal ist der Fahrer des BMW identifiziert, auf den am Ausgang des Lincoln Tunnels geschossen wurde", erklärte Mr. Lee sachlich. "Es handelt sich um Cal Slater, früher beim Militärischen Abschirmdienst der Navy, jetzt privater Sicherheitsberater für große Firmen und Konzerne. Die Kollegen der City Police waren so freundlich, die Angehörigen zu verständigen. Allem Anschein nach ist Slater nur zufälliges Opfer geworden. Quasi wahllos aus der Schlange der Autos herausgepickt. Es hätte jeden treffen können..."

"Wenn ich daran denke, dass ich kurz zuvor den Lincoln Tunnel wegen einer Dienstfahrt in die andere Richtung durchquert habe", meinte Fred Ansara nachdenklich. "Bei dem Gedanken kann einem schon mulmig werden. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das wahrscheinlich nicht der letzte Vorfall dieser Art war..."

Mr. Lee wandte sich an Dave Oaknut vom ballistischen Labor.

"Vielleicht fahren Sie jetzt fort, Dave!" Agent Oaknut nickte.

Er erhob sich, schaltete einen Tageslichtprojektor ein, mit dem er ein paar Bildfolien an die Wand projizierte. Per Knopfdruck schloss Mr. Lee die Vorhänge so weit, dass der Raum etwas abgedunkelt war.

Ich sah aufmerksam auf die Bilder und computergenerierten Graphiken, die Dave Oaknut uns da präsentierte. Manches davon sah nicht sehr appetitlich aus.

"Der Täter hat sehr präzise geschossen", erklärte Dave sachlich. "Die erste Kugel traf direkt in die Stirn, die zweite fuhr ihm durch den Hals. Er muss zweimal sehr kurz hintereinander geschossen haben, denn nur Sekunden später wäre der Schusswinkel oben von der 39.Straße herunter derart ungünstig gewesen, dass er höchstens noch die Beine hätte erwischen können..."

"Du sagst das, als ob der Täter sehr gezielt diesen Mann umbringen wollte", warf ich ein.

Dave nickte.

"Davon gehe ich aus, Murray. Und ich gehe davon aus, dass es sich um jemanden gehandelt hat, der erstens über eine hochpräzise Waffe und zweitens über eine sehr spezielle Schießausbildung verfügt."

"Kann sich die so ein wildgewordener Straßen-Rambo aus der Bronx nicht auch ausreichend trainieren?", erkundigte sich der flachsblonde Steven Belmonte, der so gar nicht wie das Klischeebild eines Italo-New Yorkers wirkte.

Dave Oaknut wandte den Blick in Stevens Richtung.

"Offensichtlich ist das der Fall", sagte er. "Aber wir sollten jemanden mit militärischer Vergangenheit in Erwägung ziehen..."

"Sieht nicht nach der typischen Klientel einer Gang wie den KILLER ANGELS aus", stellte ich fest.

"Das würde ich nicht so pauschal behaupten", warf Fred Ansara ein.

"Um so eine Spezialausbildung zu bekommen, reicht es nicht, ein paar Monate bei der Army gewesen zu sein", erwiderte ich.

"Und wenn einer dieser Älteren den Kids zeigt, wie man's macht?" Fred Ansara hob die Augenbrauen und warf mir einen Blick zu.

Ich lächelte dünn.

"Eins zu null für dich Fred", sagte ich. Jetzt mischte sich Mr. Lee ein. Er wandte sich direkt an mich. "Sie glauben nicht, dass dies eine Mutprobe der KILLER ANGELS war?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Nein, soweit kann man nach dem bisherigen Erkenntnisstand noch nicht gehen. Aber immerhin gibt es doch einige Dinge, die etwas merkwürdig sind."

"Und die wären?"

"Allein die Tatsache, dass die ANGELS zweimal am selben Tatort zugeschlagen haben. Das will mir einfach nicht aus dem Kopf. Es muss einen Grund dafür geben, schließlich haben sie so etwas bisher immer zu vermeiden versucht." So, wie es aussah, würde diese Frage auch jetzt nicht beantwortet werden können.

Wir lauschten weiter den Ausführungen unseres Ballistikers. Alle Fragen hatte auch der noch nicht geklärt.

"Das Kaliber stimmt überein", sagte Dave. "Aber die Waffe, mit dem der letzte Anschlag verübt worden ist, ist definitiv nicht die, mit der die letzten Attentate durchgeführt wurden."

Das gab meinem Misstrauen neue Nahrung.

Natürlich konnten die ANGELS mehr als ein Präzisionsgewehr in ihrem Besitz haben.

Und doch...

Es war auffällig.

Ein weiteres Mosaiksteinchen in einer Art Puzzle. Ich fragte mich, welches Bild am Ende daraus entstehen würde... Oaknut führte noch aus, dass eine der Waffen, der bei dem Überfall auf die Borinsky-Brüder benutzt worden war, auch bei der Schießerei zum Einsatz gekommen war, in die man Lew und mich am Abend zuvor verwickelt hatte.

Aber das konnte niemanden überraschen.

Nachdem Daves Ausführungen beendet waren, kam Sam Stonehill an die Reihe und trug vor, was es an weiteren Spuren gab. Die Blutspuren von dem verletzten Attentäter wurden einer DNA-Analyse unterzogen, aber dieser genetische Fingerabdruck würde uns erst etwas nützen, wenn wir den Kerl hatten. Im weiten Umkreis wurde jetzt nach jemandem gefahndet, der eine Schussverletzung hatte, und damit vielleicht zum Arzt gehen wollte.

Mr. Lee hörte sich alles mit nachdenklichem Gesicht an. Schließlich kam Walter Stein von der Fahndungsabteilung an die Reihe. Er hatte ein paar interessante Dinge über Joe Donato herausgefunden. Seinen Angaben zu Folge hatte Donato kurzzeitig in den Diensten des Drogenbosses Juan Arkiz gestanden. Er war Kolumbianer, aber besaß auch einen US-Pass.

"Ist Arkiz denn überhaupt noch aktiv?", fragte Lew.

"Soweit man hört, hat der sich doch längst zur Ruhe gesetzt."

"Er ist vorsichtig geworden", erklärte Stein. "So vorsichtig, dass man im Moment wohl schon Mühe hätte, ihm Falschparken nachzuweisen."

"Immerhin wäre es möglich, dass Arkiz der Mann im Hintergrund ist, den wir suchen", erklärte Mr. Lee. "Warum sollte Joe Donato die alte Verbindung nicht einfach wieder aufgenommen haben?"

Das leuchtete jedem ein.

"Ist Donato denn nun mit diesem Killer-Joe identisch oder nicht?", fragte Stein. "Davon hängt eine Menge ab..." Diese Frage richtete sich natürlich in erster Linie an Lew und mich.

"Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch - auch wenn der letzte Beweis noch aussteht", erklärte ich. "Aber wie sollte man sonst die Nervosität dieser Leute begreifen? Nur, weil wir dieses Foto herumgezeigt haben und mit Greg Rooney eine kleine Unterhaltung hatten zwei G-men über den Haufen schießen?" Ich schüttelte den Kopf. "Da muss jemand kalte Füße gekriegt haben..."

"Da braut sich was zusammen", war Mr. Lee überzeugt.

"Steven und Terry, Sie hören sich mal im Dunstkreis dieses Juan Arkiz um. Vielleicht stoßen Sie ja auf etwas..." Mr. Lee wandte sich dann an Lew und mich, ehe er fortfuhr: "Und Sie beide bleiben diesem Donato auf der Spur. Wenn er hier in New York City ist, dann muss man ihn auch aufstöbern können."

"Was ist mit dem persönlichen Umfeld dieses BMW-Fahrers?", fragte ich.

"Dazu ist doch schon einiges gesagt worden", erwiderte Mr. Lee.

"Aber nicht genug."

"Murray, was sollte das bringen?"

"Nach dem Stand der Ermittlungen wäre es doch möglich, dass der letzte Anschlag im Lincoln-Tunnel - anders als seine Vorgänger - nicht von den KILLER ANGELS begangen wurde."

"Die Möglichkeit ist vorhanden", räumte Mr. Lee ein.

"Sie denken an eine Art Trittbrettfahrer, oder?"

"Jemand, der einen Mord begehen will, ohne dass man ihn gleich als Täter verdächtigt!"

"Ich fürchte, Sie verzetteln sich, Murray!"

"Aber ich finde, dass wir diese Seite der Medaille nicht einfach ignorieren können. Die Ungereimtheit, auf die ich vorhin hinwies ist doch eine Tatsache."

"Okay", gab Mr. Lee nach. "Agent Ansara wird sich um diese Richtung der Ermittlungen kümmern."

14

Am Computer überprüfte ich, was über Alberto Marias vorlag. Über das Datenverbundsystem NYSIS waren wir im FBI-District mit den Datenbanken der anderen Polizeiabteilungen online verbunden. Wenn wir Informationen brauchten, die von der City Police, der DEA oder einer anderen Polizeibehörde gespeichert worden waren, dann hatten wir die innerhalb von Augenblicken auf unserem Schirm und konnten sie uns downloaden.

Auf Albertos Kerbholz standen ein paar kleinere Delikte. Körperverletzung, Ruhestörung, ein paar Gramm Kokain, die ihn allerdings als Konsumenten und nicht als Dealer auszuweisen schienen. Letzteres konnte sich natürlich inzwischen geändert haben.

Als er das letzte Mal verhaftet worden war, hatte er noch bei seiner Mutter in East Harlem gewohnt. Auch das war vermutlich nicht mehr aktuell, aber immerhin konnte man dort ansetzen.

"Dann lass uns mal aufbrechen", meinte Lew.

"Ich hoffe, die Fahrbereitschaft rückt noch einen Wagen für uns raus - nach dem, was gestern geschehen ist!" In diesem Moment betrat Agent Fred Ansara das Büro, das Lew und ich uns teilten.

Er hielt einige farbige Computerausdrucke in den Händen. In der Tür blieb er stehen. Lew hatte gerade seine P 226 in den Gürtelholster gesteckt.

"Nanu, Aufbruchstimmung?", fragte Ansara.

"Wir sind schon weg", sagte ich.

"Was ich hier habe, dauert nicht lange. Es wird dich interessieren, Murray. Ich sollte mich doch um das Vorleben dieses BMW-Fahrers kümmern..."

"Ja."

Ich sah ihn aufmerksam an.

Fred grinste und legte die Ausdrucke auf den Schreibtisch.

"Hier, dies kam gerade herein... Scheint, als wären deine Zweifel doch nicht so aus der Luft gegriffen gewesen..." Ich blickte auf das Material. Das Erste, was mir ins Auge fiel, waren Bilder vom Tatort am Lincoln Tunnel. Ein Motiv war mehrfach zu sehen.

Dabei handelte es sich um die gesprühte Aufschrift KILLER ANGELS, von der auch mehrere Detailvergrößerungen bei den Unterlagen waren.

"Worum geht es?", fragte ich.

Fred sagte: "Unser Schriftexperte Dick Burgon hat sich mit seiner Analyse der Farbsprüherei große Mühe gegeben..."

"Und?", hakte ich nach, während ich versuchte, im Schnelldurchgang den Text zu überfliegen.

"Es hat bisher bei allen derartigen Anschlägen solche Sprühereien gegeben. Auch beim ersten Anschlag am Ausgang des Lincoln Tunnels."

Ich erinnerte mich. Im Gegensatz zum zweiten Anschlag, bei dem es den BMW-Fahrer erwischt hatte, hatte der Täter nicht von der 39. Straße aus geschossen, sondern war auf eine der Lärmschutzmauern geklettert, die die Einfahrt in die Unterführung abschirmten.

Ich sah Ansara an.

"Du wärst kaum hier, wenn alles so wäre, wie man es erwarten würde, oder Fred?"

Er nickte.

"Du sagst es, Murray."

"Mach's nicht so spannend!"

Fred Ansara atmete tief durch und machte eine bedeutungsvolle Pause. "Kurz gesagt ist es so: Alle Schmierereien stammen zwar von unterschiedlichen Personen, aber sie enthalten sämtliche charakteristischen Merkmale dieses Schriftzuges. Ich erspare dir, sie alle aufzuzählen..."

"Und beim letzten?", unterbrach ich Ansara etwas ungeduldig. Fred suchte ein bestimmtes Blatt aus den Ausdrucken heraus und zeigte es mir. Es zeigte eine starke Vergrößerung der Sprüherei auf dem Asphalt der 39. Straße, daneben eine Abbildung desselben Schriftzugs, wie er auf die Lärmschutzmauer geschmiert worden war, von der das erste Lincoln-Tunnel-Attentat verübt worden war.

"Siehst du diese drei Spitzen am Querbalken des A in ANGELS?"

"Der, der den letzten Anschlag verübte, hat sie offenbar vergessen", stellte ich fest.

Fred Ansara nickte.

Lew trat zu uns und sah mir über die Schulter.

"Entweder der Kerl, der das hingesprüht hat, hätte vorher noch ein bisschen üben müssen oder du hast Recht mit deiner Vermutung, Murray", meinte Fred.

"Es ist ein Indiz", stellte Lew klar. "Aber mehr auch nicht."

"Richtig", sagte Ansara. "Aber wenn diesen durchgeknallten Kids irgendetwas heilig ist, dann die Symbole ihrer Gang. Vielleicht können die nicht richtig lesen, aber bei so einem Schriftzug kennen die jeden Fliegenschiss..." Ich wandte Fred einen Blick zu. "Vielleicht kommt ja etwas dabei heraus, wenn du dir das Leben dieses BMW-Fahrers mal unter der Lupe ansiehst..."

Lew machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Ich weiß nicht, ob ich mir das wünschen soll", meinte Lew. Ansara hob die Augenbauen.

"Wieso, Lew?"

"Weil wir in dem Fall wieder ganz von vorne anfangen müssten. Und so etwas hasse ich."

"Als ob wir auf dem anderen Gleis unserer Ermittlungen schon so unwahrscheinlich weit wären", erwiderte ich.

15

Dolores Marias, Albertos Mutter, wohnte im Dachgeschoss eines Hauses in der 99. Straße, in dessen Erdgeschoss sich eine Bodega befand. Mrs. Marias war nicht zu Hause. Von einer Nachbarin erfuhren wir, dass sie in der Bodega im Erdgeschoss arbeitete.

Also suchten wir dort nach ihr.

Es war um diese Zeit nicht viel los in der Bodega. Ein paar Männer, die sich leise auf Spanisch unterhielten sahen uns an, als wären wir exotische Tiere. Es kam nicht allzu häufig vor, dass sich Anglo White Americans wie Lew und ich an einen Ort wie diesen verirrten. Und dann meistens im Auftrag irgendwelcher Behörden und als Überbringer schlechter Nachrichten. Kein Wunder, dass man uns nicht gerade gutgelaunte Gesichter zeigte.

Die Gespräche verstummten.

Ich wandte mich an den dicken Mann hinter der Theke. Das einzige, was seinem aufgedunsenen Gesicht eine Struktur gab, war der buschige, blauschwarze Schnurrbart.

Wir zeigten ihm unsere Marken.

Seine Haltung wirkte wie erstarrt.

"Was wünschen Sie, Señores?", fragte er. Er sprach mit starkem Akzent. Aber immerhin sprach er Englisch. East Harlem war nach wie vor ein Latino-Ghetto und es gab hier Leute, die in zweiter oder dritter Generation hier lebten, ohne mehr als drei Wörter Englisch zu kennen. East Harlem war ähnlich wie Chinatown eine Welt für sich. Mit eigenen Gesetzen und eigener Kultur, die sich von der der englischsprachigen Mehrheit so sehr unterschied, dass man kaum glauben konnte, sich immer noch im selben Land zu befinden.

"Arbeitet hier eine gewisse Dolores Marias?", fragte ich.

"Was wollen Sie von ihr?"

"Das muss ich ihr schon selbst sagen. Es sind nur ein paar Fragen..."

Er zögerte, warf dann einen fast hilfesuchenden Blick zu den Männern am Tresen der Bodega.

Dann nickte er und rief ein paar Worte auf Spanisch. Einen Augenblick später kam eine füllige Frau aus einer Tür, die vermutlich zur Küche führte. Der Geruch von Calamares und Tortillas drang in den Schankraum.

"Dolores Marias?", fragte ich.

Sie nickte und sah sich meinen Ausweis mit sichtlichem Respekt an.

"Worum geht es?", fragte sie.

"Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?"

"Nehmen Sie den Nebenraum", schlug der Bodega-Besitzer vor.

16

Der Nebenraum wurde ansonsten vermutlich für illegales Glücksspiel benutzt. Jedenfalls wäre er dazu ideal geeignet gewesen, denn von dort aus führte ein Hinterausgang ins Freie.

Dolores Marias saß in sich zusammengesunken am Tisch. Lew setzte sich ebenfalls. Ich blieb stehen.

"Es geht um Ihren Sohn", sagte ich.

"Alberto!"

"Ja."

"Was ist mit ihm? Was hat er angestellt?"

"Er ist vermutlich Mitglied einer Bande, die sich KILLER ANGELS nennt. Sie werden diesen Namen vielleicht schonmal gehört haben..."

Dolores Marias erbleichte.

Sie hatte diesen Namen gehört.

"Wollen Sie behaupten, er hat etwas mit diesen furchtbaren Vorfällen am Lincoln Tunnel zu tun? Wahllos wehrlose Autofahrer abschießen, als ob es sich um Tontauben handelt..." Sie schüttelte energisch den Kopf. "Das würde er nie tun..."

"Möglich", sagte ich.

Und Lew fragte: "Wissen Sie, wo sich Ihr Sohn jetzt aufhält?"

Sie schluckte.

"Nein", flüsterte sie. "Bei mir wohnt er jedenfalls nicht mehr."

"Besucht er sie ab und zu?", frage Lew. Sie antwortete nicht. Ihr Blick wurde verschlossen. Ihre Hände verkrampften sich und ballten sich zu Fäusten. Ich sah Dolores an. "Vielleicht wissen Sie, wo er sich befindet und wollen es uns nicht sagen. Ich kann mir vorstellen, was in Ihnen vorgeht. Sie wollen Ihren Sohn nicht verraten. Das kann ich verstehen."

"Gar nichts verstehen Sie, Mr. Abdul...", murmelte sie düster.

"Das einzige, was Ihren Sohn betreffend bis jetzt zweifelsfrei feststeht, ist, dass er gestern Abend in einem Porsche saß, der als gestohlen gemeldet wurde, wie wir inzwischen festgestellt haben. Aber er war nicht allein. Bei ihm war ein Kerl, der Minuten zuvor das Feuer auf meinen Kollegen Mr. Parker und mich eröffnet hatte. Ihr Sohn fuhr den Fluchtwagen... Außerdem war er kurz nach der Hinrichtung zweier Drogendealer durch die KILLER ANGELS am Tatort. Das steht auch fest. Bis jetzt sieht es nicht unbedingt so aus, als hätte er schon einen Mord begangen, aber sofern das noch nicht geschehen ist, wird er das möglicherweise noch..."

"Was mein Kollege sagen will ist, dass es für Ihren Sohn vielleicht noch ein Zurück gibt!"

Sie hob stolz den Kopf und strich das Haar zurück. Es war sicher einmal blauschwarz gewesen. Jetzt wurde es von zahlreichen grauen Strähnen durchzogen, die ihm einen silbernen Glanz gaben.

"Sie sind doch nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit hier", stellte sie kühl fest. "Sie wollen meinem Sohn eine Falle stellen und Sie wissen doch genau, wie das ist! Man wird ihn für eine Ewigkeit ins Gefängnis stecken. So einer wie er hat doch nirgends eine Lobby! Es wird den Geschworenen ein Vergnügen sein, ihn abzuurteilen und irgendein Staatsanwalt wird ihn sich als Trophäe ans Hemd stecken!"

"Das kommt drauf an", erwiderte ich. Aber auf dem Ohr schien sie taub zu sein. In ihren Augen glitzerte etwas. Tränen.

Sie wusste über das, was ihr Sohn machte, sehr wohl Bescheid. Mein Instinkt sagte mir das und ich hatte immer gut daran getan, mich auf den zu verlassen.

Lew sagte indessen so sachlich, wie es möglich war: "Diese KILLER ANGELS kontrollieren den Crackhandel in einem Teil der South Bronx. Sie ermordeten ihre Konkurrenten und treiben sie aus dem Viertel, um selbst das Geschäft zu machen. Sie bringen das Rauschgift in die Schulen, Mrs. Marias. Und es gibt andere Eltern, die ihre Kinder genauso lieben, wie Sie Ihren Sohn, deren Kinder durch diesen Stoff zu wandelnden Leichnamen werden. Mumien, die schon tot sind, bevor sie richtig gelebt haben... Unterstützt er Sie mit Geld, Mrs. Marias?"

"Nein", sagte sie. Sie schluckte. "Er hat es mir immer angeboten, aber ich wollte es nicht." Sie schluchzte. "Ich wollte nichts davon. Nicht von diesem Geld..." Dann blickte sie auf und sah uns trotzig an. "Sie sind bei mir an der falschen Adresse. Ich kann Ihnen nicht helfen!"

"Es ist nicht Ihr Sohn, hinter dem wir her sind", sagte ich.

"Ach, nein?"

"Wir suchen den Kopf der Bande und dessen Hintermänner. Diejenigen, die Kids für sich die Drecksarbeit machen lassen und ihnen das ganze Risiko zuschieben. Alberto wird immer tiefer in den Sumpf hineingeraten. Sie werden von ihm verlangen, dass er Straftaten begeht. Nicht nur harmlose Dinge. Sondern einen Mord oder so etwas. Das bindet ihn an die ANGELS, macht ihn zu einem willfährigen Werkzeug... Mrs. Marias, Ihr Sohn kommt da nicht alleine raus! Je eher wir ihn finden, desto besser für ihn!"

"Können Sie mir garantieren, dass er nicht verurteilt wird?" Ich schaute sie an.

Und schüttelte den Kopf.

"Nein, das kann ich nicht. Schon deshalb nicht, weil ich nicht weiß, wie tief er schon drinsteckt..."

"Na, also!"

"Außerdem bin ich nicht der Staatsanwalt. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Man muss immer der erste sein, wenn man irgendeinen Deal machen will. Die letzten beißen die Hunde! Glauben Sie mir, schließlich bin ich bin nicht erst seit gestern in diesem Job!"

"Es tut mir leid", sagte sie und begann dann zu schluchzen. Ich gab ihr eine der Visitenkarten, die das FBI für seine Agenten drucken ließ. "Sie können mich jederzeit anrufen, Mrs. Marias. Wenn der Anruf in der Zentrale ankommt, wird er zu meinem Funktelefon weitergeleitet. Ich hoffe, dass Sie es sich noch überlegen..."

Sie blickte auf die Karte wie auf etwas Unanständiges. Aber dann nahm sie sie doch und steckte sie ein. Ich hielt das für ein Zeichen der Hoffnung.

Aber vielleicht bin ich auch einfach ein hoffnungsloser Optimist.

Wir hörten uns etwas in der Gegend um. Alberto Marias war noch nicht lange genug weg, als dass ihn hier niemand mehr kennen konnte.

Überall zeigten wir sein Bild herum und meistens begegnet uns eine Mauer aus eisigem Schweigen. Einen ihrer Leute würden sie nicht ans Messer liefern, ganz gleich, was er getan hatte.

Außerdem hatten sie zweifellos Angst vor möglichen Racheakten. Besser man hielt den Mund, so schienen die meisten zu denken.

Schließlich bekamen wir aber doch noch etwas Brauchbares. Ein Ladenbesitzer, der angab, von Albertos Freunden früher oft schikaniert worden zu sein, nahm uns in sein Hinterzimmer und berichtete uns dann, dass der junge KILLER ANGEL häufiger in der Gegend auftauchte. Mit wechselnden, aber immer edlen Karossen und viel Geld in der Tasche.

"Er hat gekokst", sagte er. "Glauben Sie mir, hier hat man einen Blick für so etwas. Er hatte immer eine rote Nase. Die Schleimhäute waren vom Schnee zerfressen... Das kommt auf die Dauer vom Schnupfen."

"Wie oft besucht er seine Mutter?", fragte ich.

"In letzter Zeit nicht mehr so häufig. Sie hatte etwas gegen die Typen einzuwenden, mit denen er herumhing... Häufiger war er wegen Teresa in der Gegend."

"Wer ist das?"

"Seine Sandkastenliebe. Schade um sie. Hätte nie gedacht, dass die mal 'ne Dealer-Braut wird. Aber das Geld regiert die Welt. Das ist leider so. Und es ist nunmal so, dass Alberto mehr davon hat, als die meisten Leute hier in der Straße..."

"Wo wohnt diese Teresa?"

"Es ist hier gleich um die Ecke..."

17

Alberto Marias hatte den weißen Porsche inzwischen mit neuen Nummernschildern versehen. Er hoffte, dass er damit noch eine Weile durchkam. Er hatte keine Lust, sich im Moment einen neuen Wagen zu besorgen. Danach stand ihm einfach nicht der Sinn.

Es ging ihm soviel durch den Kopf.

Alles, was er gestern für wichtig gehalten hatte, schien jetzt in Frage gestellt zu sein. Er brauchte jemanden, mit dem er reden konnte. Aber da gab es niemanden. Niemanden, der ihn in diesem Moment verstand.

Er hatte geglaubt, in der Gang das gefunden zu haben, was er immer vermisst hatte. Ein gewisser Schutz und das Gefühl, etwas zu bedeuten. Er hatte Killer-Joe beinahe angebetet. So wie er, hatte er auch werden wollen. Joe hatte es wirklich geschafft. Er machte sich sein eigenes Gesetz und es gab niemanden, der ihm auf der Nase herumtanzen konnte. Niemanden, der das noch wagte.

Die ganze South Bronx zitterte vor Joe.

Aber der Vorfall vom letzten Abend hatte Alberto nachdenklich gemacht. Er ist eiskalt, dachte Alberto. Wenn es um seinen Vorteil ging, dann kannte Joe keine Freunde, wenn er auch sonst viel von Freundschaft redete. Dann machte Killer-Joe seinem Kriegsnamen alle Ehre und ging buchstäblich über Leichen.

Und nicht nur über die der anderen Seite.

Auch die eigenen Leute schonte er nicht, wenn es ihm irgendeinen Vorteil versprach.

Du bist ein Mörder, ging es Alberto durch den Kopf. Und dieses Schwein hat dich dazu gebracht... Der Gedanke erschreckte ihn.

Es sind Tatsachen, Al! Sieh ihnen ins Auge!

Alberto wusste nicht, was er tun sollte.

An einen Ausstieg wagte er nicht einmal im Traum zu denken. Er wusste, was mit sogenannten Verrätern geschah. Und allein die Vorstellung verursachte ihm ein übles Magendrücken. Du hast keine Chance, ging es ihm bitter durch den Kopf. Um die Seiten zu wechseln ist es zu spät... Du hast schon zuviel auf dem Kerbholz!

Er spürte, dass er in einer Sackgasse steckte.

Das Gefühl, keine Luft zu bekommen war immer übermächtiger geworden. Wie in einer Zwangsjacke fühlte er sich. Als erstes wollte er sich mit Teresa aussprechen. Vielleicht würde sie ihn verstehen...

Vielleicht.

Alberto parkte den Wagen am Straßenrand. Er war ziemlich unaufmerksam. Die Gedanken jagten wie grelle Blitze durch sein Gehirn und er war dadurch nachlässig. Um ein Haar hätte er die Stoßstange eines anderen parkenden Fahrzeug gerammt. Nur keinen Ärger!, durchfuhr es ihn.

Er stieg aus.

Den Kragen seiner Lederjacke schlug er hoch. Ein eisiger Wind fegte vom East River her zwischen den tristen Häuserblocks von East Harlem her.

Unter der Achsel hatte er eine große Automatik stecken. Das Magazin war voll.

Killer-Joe hatte ihm gezeigt, wie man damit umging. Joe war ein guter Lehrer gewesen.

Du musst dich entscheiden!, durchfuhr es ihn. Entscheide endlich, welchen Weg du gehen willst! Das hättest du schon längst tun müssen...

Er atmete tief durch.

Und dann blickte er die Fassade des Brownstone-Hauses hinauf, in dem Teresa wohnte.

Bevor er ging, schnupfte er noch eine Prise Kokain.

18

Teresa Villas war eine Schönheit. Aber sowohl ihre Garderobe als auch das Outfit ihrer Wohnung waren um einige Klassen zu luxuriös für ein junge Frau, die einen Aushilfsjob in einem Frisiersalon gerade gekündigt hatte, wie sie uns erzählte. Die Einrichtung war durchweg neu. Moderne Möbel in einem leicht futuristischen Stil. So manches Stück aus Trend-Läden aus der City war darunter.

Sie war stumm wie ein Fisch.

"Ich habe weder mit Drogen noch mit den KILLER ANGELS etwas zu tun", fauchte sie schließlich und warf dabei ihre lockige Mähne in den Nacken. Wenn sie ihr Kinn hob, sah sie ziemlich hochmütig aus. "Und was Alberto betrifft, so habe ich keine Ahnung, wo er steckt oder woher er sein Geld hat..." An der Wand hingen einige Bilder von Alberto.

Eins zeigte ihn auf einer Harley im dunklen Lederdress. Der Helm war auch dunkel und hatte ein weißes Kreuz auflackiert. Er trug ihn unter dem Arm und machte ein Victory-Zeichen in die Kamera. Im Hintergrund waren weitere Gestalten zu sehen, deren Gesichter nichts als kleine dunkle Punkte waren. Ich nahm das Bild von der Wand.

"Was soll das?"

"Sie bekommen es zurück", sagte ich. "Aber im Moment muss ich es beschlagnahmen..."

"Aber..."

Ich ging nicht weiter auf sie ein, sondern gab es an Lew weiter.

Er sah mich fragend an.

"Der Hintergrund könnte interessant sein", meinte ich. "Da sind vereiste Stellen auf der Straße. Vermutlich stammt es also aus diesem Winter..."

In diesem Moment klingelte jemand an der Tür von Teresas Apartment.

Lew und ich zogen beinahe gleichzeitig unsere Pistolen. Lew postierte sich rechts von der Tür, ich links. Ich blickte zu Teresa.

"Machen Sie auf", flüsterte ich.

Sie schluckte. Dann atmete sie tief durch und ging zur Tür. Sie warf einen Blick durch den Spion.

"Bist du es, Al? Lauf weg! das FBI ist hier!", schrie sie. Draußen auf dem Flur waren schnelle Schritte zu hören. Ich schnellte vor, riss die Tür und stürmte hinaus. Vom anderen Ende des Flurs her wurde auf mich gefeuert. Mündungsfeuer blitzte auf. Ich duckte mich instinktiv, während das Projektil dicht über mir hinwegzischte und hinter mir in die Wand schlug.

"Stehenbleiben! FBI!", rief ich, während ich die P 226 hochriss.

Alberto dachte nicht im Traum daran, sich zu ergeben. Er feuerte wild drauflos. Ich warf mich zu Boden, rollte herum, während links und rechts die Kugeln den abgeschabten Bodenbelag durchlöcherten und feuerte dann zurück. Aber Alberto war schon weg. Er war im einzigen Aufzug verschwunden.

Der war zwar alles andere als modern, aber auf jeden Fall würde er nun schneller im Erdgeschoss sein als wir. Ich rappelte mich auf und rannte die Treppe hinunter. Lew folgte mir. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Lew plötzlich stoppte. Er hämmerte mit einem Faustschlag gegen einen in die Wand eingelassenen Sicherungskasten. Abgeschlossen.

Mit einem gezielten Schuss seiner Sig Sauer P226 ließ er den Blechkasten aufspringen. Und dann legte er alle Klappschalter um. In Windeseile geschah das. Überall im Haus verloschen die Lichter und Fernseher.

Aus dem Aufzugsschacht war ein Rumoren zu hören. Dann ein Quietschen von Stahlseilen und das Ächzen von Zahnrädern und Winden.

Ich hatte inzwischen auch angehalten.

Lew folgte mir und grinste.

"Scheint, als hätte ich die richtige Sicherung erwischt!", meinte er. "Jedenfalls ist Albero Marias im Moment so sicher untergebracht wie in einer unserer Gewahrsamszellen..." Ich grinste.

"Da sieht man mal wieder, dass die paar Dienstjahre, die du mir voraus hast, sich bei Gelegenheit doch immer wieder bemerkbar machen!"

19

Juan Arkiz stand im Bademantel am Fenster und blickte hinaus in den Garten. Wächter mit Uzi-Maschinenpistolen und scharfen Hunden patrouillierten dort herum.

Überwachungskameras bewegten sich zwischen den Büschen. Sie reagierten automatisch auf jede Bewegung.

Arkiz' luxuriöses Haus im Norden Yorkville glich einer Festung. Der Vorbesitzer war der Botschafter eines südamerikanischen Diktators gewesen, der ebenso auf äußerste Sicherheit angewiesen war wie Arkiz.

Dann hatte sich im Heimatland des Botschafters der politische Wind gedreht. Er war in Ungnade gefallen und hatte das Anwesen nicht halten können.

Arkiz konnte es günstig erwerben.

Im Garten gab es sogar die Möglichkeit, mit einem Hubschrauber zu landen.

Für alle Fälle.

Bei den Geschäften, die Juan Arkiz betrieb, war er nie sicher davor, vielleicht einmal ganz plötzlich fliehen zu müssen.

Arkiz hob das Glas mit dem zitronengelben Drink und leerte es in einem Zug.

Er war ein Mann in den Fünfzigern. Das dunkle Haar trug er streng zurückgekämmt, was ihm einen zugleich strengen und aristokratischen Ausdruck gab. Er wollte diesen Eindruck erwecken. In Wahrheit stammte er nämlich aus ganz kleinen Verhältnissen.

Ein dünnes Lächeln spielte um Arkiz' Lippen, die bis dahin einen geraden Strich gebildet hatten.

Die Geschäfte liefen gut.

Alle werden sie bald nach meiner Pfeife tanzen, ging es ihm durch den Kopf.

Er hatte große Pläne.

Arkiz drehte sich herum. In dem großen, überbreiten Wasserbett räkelte sich eine junge Frau. Die Decke rutschte zur Seite und gab den Blick auf die geschwungene Linie ihres nackten Rückens frei. Die lange blonde Mähne fiel bis auf das linke Schulterblatt herab.

"Es ist früher Nachmittag, Baby!", sagte Arkiz, nachdem er ihren Anblick eine Weile genossen hatte. "Zeit aufzustehen!" Sie drehte den Kopf.

Ihr Blick war umnebelt.

Sie fasste sich an den Kopf und rieb sich die Schläfen.

"Wie ich sehe, hast du diese wilde Nacht ganz gut überlebt!", grinste Arkiz.

Sie atmete tief durch. Ihre vollen Brüste hoben und senkten sich dabei.

"Aber der Stoff war mies", sagte sie.

"Vielleicht solltest du nicht soviel davon nehmen. So etwas verkauft man, aber nimmt es doch nicht selber. Nur Idioten tun das."

"Danke für die Ratschläge!" Sie verzog ihre Lippen zu einem Schmollmund.

"Keine Ursache."

"Wenn ich dir dann auch mal einen geben dürfte..." Sie erhob sich und hob einzeln ihre Sachen auf, die auf dem Boden verstreut herumlagen.

"Sicher."

"Erschieß deine Lieferanten. Sie bescheißen dich und strecken den Stoff."

"Irrtum, Baby."

"Häh?"

"Ich strecke den Stoff, damit du an deinem Gehirn noch 'ne Weile Freude hast!"

Sie verzog das Gesicht. "Sehr witzig!" Sie zog mit ihren Sachen in Richtung Bad davon.

Arkiz grinste.

Er beobachtete ihre grazilen Bewegungen. Es gab eigentlich keinen Makel an ihrem Körper. Bis auf die zerstörte Nasenschleimhaut durch das Kokain-Schnupfen. Sie hatte oft eine gerötete Nase, aber das ließ sich mit Puder abdecken. Wenn sie erstmal anfängt zu spritzen, werde ich sie ablegen müssen, ging es ihm durch den Kopf. Diese Einstichstellen fand er unappetitlich. So etwas wollte er weder sehen noch anfassen.

An der Tür zum Bad blieb sie stehen und sah ihn an.

"Du brauchst was zum Munterwerden, was?", meinte er. "Bedien dich. Es ist ja genug da..."

Ein Summton erfolgte. Es war das Signal der hausinternen Gegensprechanlage. Wenn ihn jetzt jemand störte, hieß das, dass es wirklich wichtig sein musste.

Arkiz ging zum Nachttisch und schaltete die Sprechanlage ein.

"Was gibt es?", knurrte er.

"Ein Mr. Cardoso möchte Sie sprechen. Sie haben gesagt, dass Sie ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit empfangen würden..."

"Richtig, Garcia!"

Arkiz atmete tief durch. Sein Gesicht wurde sehr ernst.

"Ich komme gleich", murmelte er in das Sprechgerät hinein. Allan Cardoso selbst war ein Mann ohne Bedeutung. Vorgeblich ein Import/Export-Kaufmann, in Wahrheit ein Bote, der im Auftrag südamerikanischer Drogenlieferanten unterwegs war.

Und wenn er hier auftauchte und um eine Unterredung bat, dann schrillten bei Arkiz alle Alarmglocken auf einmal.

20

Zehn Minuten später betrat Juan Arkiz im grauen Zweireiher das weitläufige, ausschließlich in den Farben schwarz und weiß gehaltene Empfangszimmer, in dem er Cardoso hatte warten lassen.

Arkiz kam nicht allein.

Ein großgewachsener Mann mit kantigem Gesicht begleitete ihn. Jack Garcia, sein Vertrauter und Leibwächter. Einer der ganz wenigen Menschen, denen er wirklich über den Weg traute. Cardoso war ein kleiner dicklicher Mann mit listigen Augen. Er hielt eine Aktentasche in der Hand.

Als er Arkiz sah, erhob er sich aus dem schwarzen Ledersessel, in dem er platzgenommen hatte und reichte dem Drogenbaron die Hand.

"Seien Sie gegrüßt, Mr. Arkiz."

Allan Cardoso sprach Englisch. Sein Spanisch war ziemlich 'eingerostet', wie er immer zu sagen pflegte. Schließlich waren bereits seine Eltern in den USA geboren und die wenigen Brocken, die er in seiner Kindheit im Barrio mitgekriegt hatte, reichten für komplizierte Verhandlungen nicht aus.

"Guten Tag, Allan. Behalten Sie platz!" Arkiz musterte sein Gegenüber aufmerksam.

Er setzte sich Cardoso gegenüber. Jack Garcia wandte sich seitwärts, ging bis zum Fenster und lehnte sich gegen die Wand. Er verschränkte die Arme so vor der Brust, dass die Waffe im Schulterholster sich deutlich aus dem enggeschnittenen 500-Dollar-Jackett herausbeulte.

"Einen Drink, Allan?"

"Nein, danke. Sie wissen, mein Magen verträgt nichts mehr..."

"Ah, ja, ich erinnere mich."

"Ich will es kurz machen, Mr. Arkiz. Ich komme gerade aus Bogata... Einige Leute dort, mit denen Sie geschäftlich eng zusammenarbeiten, sind sehr beunruhigt..."

"Beunruhigt?"

Arkiz versuchte, entspannt zu wirken. Er lehnte sich zurück, fingerte ein silbernes Etui aus der Jackettinnentasche heraus und entnahm dem Etui einen schlanken Zigarillo.

Cardosos Knopfaugen fixierten Arkiz mit einem durchdringenden Blick.

"Es geht um Ihren Krieg, den Sie in der Bronx inszenieren..."

Arkiz blieb äußerlich ruhig, zündete sich den Zigarillo an, blies den Rauch hinaus und versuchte Ringe damit zu formen. Aber innerlich kochte er.

"Von welchem Krieg reden Sie?", fragte er.

"Sie brauchen mir gegenüber nicht den Ahnungslosen zu spielen, Mr. Arkiz.

"Glauben Sie..."

"Was ich glaube, spielt überhaupt keine Rolle. Die Leute, in deren Auftrag ich unterwegs bin, sind auch nicht daran interessiert, Ihnen in die Suppe zu spucken. Sie wissen die langjährige, gute Zusammenarbeit zu schätzen."

"Das freut mich zu hören..."

"Es täte ihnen leid, sich andre Partner suchen zu müssen." Arkiz schnellte hervor. Sein Gesicht wurde dunkelrot.

"Soll das etwa eine Drohung sein?"

Die Kontrolle behalten, ging es ihm derweil durch den Kopf. Er versuchte ruhig zu atmen. Einmal musste dies ja eintreten... Arkiz fluchte innerlich.

"Ich will Ihnen keineswegs drohen", sagte Cardoso.

"Ach, und wie soll ich das dann verstehen?" Cardosos Gesicht blieb völlig regungslos. Er wirkte kalt wie ein Fisch.

"Die Leute, für die ich tätig bin, sind an einem ruhigen Markt interessiert. Das, was Sie da veranstalten wird eine Gegenreaktion der Behörden provozieren."

"Scheint, als wüssten die Herren in Bogota genau Bescheid... Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun?"

"Legen Sie ihre Kampfhunde aus der Bronx an die Kette und setzen Sie sich mit Montgomery Carson an einen Tisch."

"Dem Jamaicaner?"

"Ja."

"Hören Sie..."

"Ich weiß, dass Sie Carsons Dealer schon fast komplett aus der Bronx hinausgeworfen haben, aber es glaubt in Bogota niemand, dass Sie in Kürze in der Lage wären, alle Geschäfte der Jamaicaner zu übernehmen. Das bedeutet, dass sich der Krieg endlos fortsetzt und am Ende leiden alle darunter." Arkiz überlegte. Seine Lieferanten lieferten auch an die Jamaicaner, davon konnte er ausgehen. Natürlich war die Position der Lieferanten besser, wenn nicht einer der Importeure zu mächtig wurde und einen zu großen Anteil am Markt beherrschte.

Aber Arkiz war nicht gewillt, sich denen in Bogata zu beugen. In seinem Gehirn arbeitete es. Arkiz hatte große Pläne. Pläne, von denen er keine Abstriche machen wollte. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte er.

"Ich fliege heute Abend zurück nach Bogota", sagte Allan Cardoso. "Was soll ich meinen Auftraggebern sagen?" Arkiz atmete tief durch.

Sein Lächeln wirkte gequält.

"Nun, die Wünsche guter Geschäftspartner sind mir fast schon Befehl..."

"Freut mich, das zu hören. Es hätte mir leid getan, wenn eine lange, erfolgreiche Zusammenarbeit ein abruptes Ende gefunden hätte..."

"Daran hätte ich nicht einen Moment gedacht."

"Gut", sagte Cardoso und erhob sich. "Ich hoffe nur, dass Sie Ihre Leute in der Bronx auch unter Kontrolle haben."

"Natürlich..."

"Auf Wiedersehen, Mr. Arkiz."

"Auf Wiedersehen, Allan."

Die Hand, die Arkiz seinem Gegenüber reichte, war eiskalt. Der kleine, dicke Mann wandte sich zur Tür. Nachdem er hinausgegangen war, wandte sich Arkiz an Jack Garcia.

"Ich habe einen Auftrag für dich, Garcia!" Garcia näherte sich und überprüfte den Sitz der Waffe im Schulterholster.

"Worum geht es, Boss?"

"Leg den kleinen Dicken um."

Jack Garcia runzelte die Stirn. Er glaubte sich verhört zu haben.

Arkiz grinste überlegen.

"Beeil dich. Er darf nie in Bogota ankommen!"

"Die werden einen anderen schicken!"

"Natürlich. Aber dadurch gewinnen wir ein paar Tage. Ein paar Tage. Vielleicht Zeit genug, um der ganzen Sache eine Wende zu geben. Sorg dafür, dass man Cardosos Leiche nicht findet oder wenigstens nicht identifizieren kann..."

"Ich schlage vor, wir schieben die Sache den Jamaicanern in die Schuhe."

"Auch gut."

Garcia nickte und verließ den Raum.

Bis Cardosos Nachfolger hier in New York eingetroffen war, würde die Forderung aus Bogota, sich mit Montgomery Carson an einen Tisch zu setzen, gegenstandslos geworden sein. Bis dahin würde es den Jamaicaner nicht mehr geben.

21

Lew und ich hatten Alberto Marias ordnungsgemäß verhaftet, nachdem wir ihn aus dem Fahrstuhl herausgeholt hatten. Im Grunde war es ganz einfach. Sobald man die Sicherung wieder einschaltete, setzte der Fahrstuhl seine Abwärtsfahrt fort. Die Tür öffnete sich selbsttätig, und wir konnten Alberto in Empfang nehmen. Er hatte keine Chance.

Wir brachten ihn zu unserem Hauptquartier an der Federal Plaza 26.

Natürlich hofften wir darauf, ein paar Informationen aus ihm herausquetschen zu können.

Wir waren dringend darauf angewiesen.

Unsere Vernehmungsspezialisten Irwin Marster und Malcolm Dersny hatten Alberto Marias abwechselnd in die Mangel genommen. Aber es war nichts aus ihm herauszukriegen. Er schwieg wie ein Grab.

Dersny warf mir einen hilflosen Blick zu.

Er saß an dem kleinen Tisch im Vernehmungsraum, die Hände gefaltet, den Blick starr nach vorn auf die Tischplatte gerichtet.

Ein paar Fotos von Jose "Joe" Donato lagen vor ihm. Alberto wollte uns nicht bestätigen, dass dieser Joe Donato mit dem berüchtigten Killer-Joe identisch war. Aber die erste Reaktion, die sich in seinem Gesicht gezeigt hatte, war unmissverständlich.

Wenn auch nicht gerichtsverwertbar.

Aber für mich stand jetzt fest, dass Donato der Boss der KILLER ANGELS war.

Dersny legte ihm nahe, als Kronzeuge aufzutreten oder mit uns zusammenzuarbeiten. Aber er lehnte alles ab.

"Hör zu, du hast einen gestohlenen Wagen gefahren und ihn als Fluchtfahrzeug bei einem Anschlag auf zwei Bundesbeamte benutzt!", sagte Dersny scharf. "Das allein kann dir schon mehr Ärger einbringen, als du vielleicht für möglich hältst! Schließlich bist du kein unbeschriebenes Blatt mehr! Außerdem sind da noch die paar Gramm Kokain, die wir bei dir gefunden haben..."

"Wo trefft ihr euch? Wo ist das Hauptquartier?", fragte ich.

"Sie können mir noch nicht einmal nachweisen, dass ich wirklich Mitglied dieser KILLER ANGELS bin", sagte Alberto Marias dann sehr ruhig. "Was wollen Sie also? Und was das andere angeht: Da gibt es Ihre Aussage, Mr. Abdul und wenn ich die bestreite..."

"Nein, so einfach ist das nicht."

"Ach, nein?"

"In dem geklauten Porsche habe wir Blutspuren gefunden."

"Da hat sich der Besitzer wohl zu heftig an der Nase gekratzt!"

"Lässt sich durch eine genetische Analyse leicht feststellen", erwiderte ich. "Ich glaube, dass es das Blut des Kerls ist, der auf uns geschossen hat... Aber das wird sich bald herausstellen. Der Kerl hat 'ne Schusswunde. Er wird sich irgendwo behandeln lassen müssen."

Alberto schluckte.

"Das braucht er nicht mehr...", flüsterte er dann tonlos. Er sprach sehr langsam, fast wie in Trance. Ein Ruck schien durch ihn gegangen zu sein. Der innere Zwiespalt, der ihn quälte, war ihm anzusehen.

Ich warf Dersny einen kurzen Blick zu.

Und der nickte knapp.

Alberto war jetzt soweit zu reden.

Was der auslösende Faktor war, sollte mir im nächsten Moment klarwerden.

"Wieso braucht der Mann keine ärztliche Behandlung mehr?", fragte ich.

Alberto sah mich nicht an. Sein Gesicht war wie versteinert.

"Weil Killer-Joe ihn einfach erschossen hat." Sein Gesicht lief rot an. Der Zorn, der sein Inneres schüttelte, war ihm anzusehen. Und endlich bahnte sich ein Teil davon seinen Weg. Er schlug mit den Fäusten auf den Tisch. "Ich habe ihn bewundert..." stammelte er. "Bewundert..." Er wiederholte es wie ein Echo. Er schüttelte leicht Kopf, so als könnte er sich selbst nicht verstehen. Sein Blick war nach innen gerichtet.

"Warum hat er das getan?"

"Weil ein Verletzter Ärger macht. Deswegen. Den anderen hat er erzählt, dass es die FBI-Schweine waren, die ihn so schwer verletzt hätten, dass er seinen Verletzungen erlegen sei. Ich war der Einzige, den er nicht belügen konnte. Schließlich hatte Birdie neben mir im Wagen gesessen. Ich wusste, dass seine Verletzung zwar wie verrückt blutete, aber harmlos war. Kein Mensch stirbt an einem Schuss in die Schulter. Kein Mensch..."

Er schluckte.

Dann blickte er auf.

Warum nicht völlig reinen Tisch machen?, dachte er. Er fühlte sich besser, seit er angefangen hatte zu reden. Eine Zentnerlast war ihm von den Schultern genommen. Er wirkte fast erleichtert. Ein mattes, verhaltenes Lächeln spielte um seine Lippen. Der Impuls war stark, einfach weiterzureden.

"Ich habe einen Menschen getötet...", sagte er.

"Sie sollten nichts sagen, was Sie selbst belastet, Alberto!", sagte ich. "Sie wissen, dass es andernfalls gegen Sie vor Gericht verwendet werden kann."

"Ja, das weiß ich."

"War es das am Lincoln-Tunnel?"

"Nein. Es war ein Crack-Dealer, der im Grunde schon so gut wie tot war."

Jetzt mischte sich Dersny ein.

"Ihr macht ab und zu Mutproben, wenn ihr jemanden aufnehmt!"

Er nickte. "Ja."

Ich fuhr fort: "Und ihr sorgt immer dafür, dass jeder weiß, dass ihr das wart!"

"Natürlich! Warum fragen Sie mich Sachen, die Sie schon wissen!"

"Könntest du mit einer Sprühdose den Schriftzug der KILLER ANGELS auf Asphalt sprühen?"

"Jeder von uns kann das!"

"Würdest du dabei die drei Zacken am A von ANGELS vergessen?"

"Natürlich nicht! Das wäre ein Sakrileg!"

"Bei dem letzten Lincoln-Tunnel-Attentat schien euer Mann das aber nicht so genau zu nehmen!"

"Sie meinen den Anschlag, bei dem es so viele Tote gegeben hat..."

"Ja."

Er sah mich an. "Das war keiner von uns."

"Wer sonst?"

"Keine Ahnung. Einige von uns haben sich schrecklich aufgeregt, weil jemand unseren Namen benutzt hat. Wir wollten schon eine Nachricht an die Cops überbringen, in der wir uns davon distanzieren..."

"Habt ihr aber nicht gemacht", stellte Dersny klar.

"Joe meinte, wir sollten die Sache auf sich beruhen lassen."

"Weshalb?"

"Es wäre gut für's Image. Unsere Feinde sollen schon eine Gänsehaut kriegen, wenn sie unseren Namen hören. Und da kam der Vorfall gerade richtig..."

"Klingt für mich nicht sehr glaubwürdig", sagte Dersny.

"Glaub, was du willst, G-man!", fauchte Alberto.

"Schon gut", sagte ich, um ihn etwas zu beruhigen. "Willst du einen Kaffee? Oder Zigaretten?"

"Milchkaffee kriegt ihr sowieso nicht richtig hin!"

"Käme auf einen Versuch an."

Er zuckte die Achseln. "Meinetwegen."

22

Etwas später legte ich ein Foto vor Alberto auf den Tisch. Es war das Bild, das ihn auf einer Harley zeigte. Er war überrascht.

"Wir haben es aus Teresas Wohnung", sagte ich. "Ist das Gebäude im Hintergrund euer Treffpunkt?"

Er lachte heiser.

"Nein. So etwas wie einen festen Treffpunkt gibt es nicht. Wir wechseln in regelmäßigen Abständen unsere Basis... Ist sonst einfach zu gefährlich..."

"Und wo trefft ihr euch im Augenblick?" Er antwortete nicht.

"Du möchtest kein Verräter sein", sagte ich. "Das verstehe ich. Aber dieser Killer-Joe benutzt euch doch nur. Er ködert euch mit Drogengeld für seine Zwecke und ihr geht ihm blind auf den Leim. Wahrscheinlich quatscht er viel von Freundschaft und soetwas, aber wenn's drauf ankommt, würde er jeden von euch opfern. Das hast du selbst gesehen..." Er nickte leicht.

"Es gibt da ein leerstehendes Haus in der 172. Straße..." Er nannte uns die Adresse.

Dann legte ich ihm eines der wenigen Fotos von Juan Arkiz vor, die es in unseren Datenbanken gab. Der Drogenbaron aus Yorkville hatte immer peinlich genau darauf geachtet, nicht zu oft abgelichtet zu werden.

"Kennst Du den Mann auch?"

"Nein. Ich weiß nicht, wer das ist."

"Hast du ihn schon einmal gesehen? Versuch dich zu erinnern, Alberto! Schau das Gesicht genau an." Das tat er.

Schließlich nickte er.

"Ich bin mir nicht ganz sicher. Der Mann, den ich gesehen habe, war etwas älter und hatte einen Oberlippenbart."

"Das Bild ist nicht ganz aktuell."

"Es war nur ganz kurz. Eine dunkle Limousine fuhr heran, eine getönte Scheibe ging herunter. Killer-Joe ging hin und sprach durch die geöffnete Scheibe mit jemandem. Dieses Gesicht habe ich vielleicht eine halbe Sekunde lang gesehen..." "Wann war das?"

"Vor drei Wochen."

"Und danach nicht wieder?"

"Nein." Er atmete tief durch. "Ich würde mich daran erinnern. Solche Leute verirren sich nicht so oft zu uns."

"Hast du Killer-Joe gefragt, wer das war?"

"Ja."

"Und?"

"Er hat mir nicht geantwortet."

"Und das hast du akzeptiert?"

"Mann, er ist der Boss!"

Ich nickte. "Verstehe..."

Langsam begann sich ein Bild zu formen. Die KILLER ANGELS waren also tatsächlich die Handlanger von Juan Arkiz, so wie wir vermutet hatten. Und das wiederum bedeutete, dass diese ihren Eroberungskrieg kaum allein aus eigenem Antrieb führten. Arkiz steckte dahinter. Er schien alles auf eine Karte zu setzen, um die Konkurrenz davonzujagen. Gleichzeitig wollte der feine Herr eine weiße Weste behalten. Risiko und blutige Hände überließ er den Kids von den KILLER ANGELS. Ein perfides Spiel..

23

Mit einem guten Dutzend Einsatzfahrzeugen machten wir uns auf den Weg in die 172.Straße. Einheiten der City Police würden uns unterstützen. Ich saß am Steuer eines Chevys. Lew saß auf dem Beifahrersitz. Auf dem Dach blinkte das Blaulicht. Die Adresse, die Alberto Marias uns angegeben hatte, gehörte zum ehemaligen Firmengelände einer Reparaturwerkstatt, die vor ein paar Jahren Pleite gemacht hatte.

Eine Tankstelle gehörte dazu, an der allerdings längst keine Zapfsäulen mehr zu finden waren. Unsere Leute sprangen aus den Einsatzfahrzeugen. Die meisten trugen die Einsatzjacken mit der Aufschrift FBI und darunter kugelsichere Westen. Viele waren mit Machinenpistolen ausgerüstet. Wir wussten ja nicht, auf wie viel Gegenwehr wir stoßen würden.

Man musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Fahrzeuge der City Police erreichten jetzt ebenfalls den Ort des Geschehens. Schwer bewaffnete Beamte riegelten das Gebiet weiträumig ab.

Alles musste sehr schnell gehen, ehe jemand in Alarm versetzt war.

Auf Dächern und hinter Mauern postierten sich die FBI-Beamten und brachten ihre Waffen in Anschlag. Per Walkie-Talkie waren wir alle miteinander verbunden.

Das Hauptgebäude war eine große Werkzeughalle. Daneben befand sich ein dreistöckiges Wohnhaus, in dessen unteren Geschoss sich ein Drugstore befunden hatte. Jetzt waren die Schaufenster mit Brettern vernagelt. Die Fassade bröckelte. Aber an den Fenstern hingen Gardinen und das deutete darauf hin, dass hier immer noch jemand wohnte. Ich überprüfte das Magazin meiner P 226.

Lew hatte offiziell die Leitung dieses Einsatzes. Er dirigierte die Beamten per Funk, so dass sie die Werkstatt sowie die dazugehörigen Gebäude bald eingekreist hatten.

"Sie müssen uns längst bemerkt haben", sagte ich.

"Jedenfalls kommt hier jetzt keiner mehr raus", meinte Lew. "Oder es müsste schon mit dem Teufel zugehen.."

"Manchmal tut es das..."

Wir pirschten uns heran.

Immer sorgfältig darauf bedacht, genügend Deckung zu haben. HEADQUARTER OF KILLER ANGELS stand an am Tor zur Werkstatthalle. Jemand hatte es mit schwarzer Farbe auf das angerostete Metall gesprüht, aus dem das Tor bestand. Ich registrierte die drei Zacken am A von ANGELS. Aber das bedeutete nichts weiter, als dass der Sprüher die Details kannte. Solche Sprühereien waren hier in der Bronx keine Seltenheit. Es waren nicht unbedingt nur Mitglieder der ANGELS oder anderer Gangs, die so etwas auf die Wände brachten. Oft waren die Sprüher auch Jugendliche, die noch nicht alt oder abgebrüht genug waren, um bei den Gangs Aufnahme zu finden.

Aber wer ihre Vorbilder waren, das machten sie auf diese Weise schonmal klar.

Langsam ging es voran. Die ersten FBI-Beamten hatten sich an den Eingängen des Wohnhauses postiert.

"Scheint fast, als wäre niemand mehr hier", raunte Lew mir zu. In geduckter Haltung hatten wir uns bis zum verrosteten Wrack eines uralten Packard-Kastenwagens mit Abschleppvorrichtung vorgearbeitet. Ein Fahrzeug, das man in besser gepflegtem Zustand in ein Museum hätte stellen können. Lew ließ den Blick schweifen.

Es war alles unter Kontrolle. Niemand konnte sich noch bewegen, ohne dass wir ihn kontrollieren konnten.

"Jetzt!", gab Lew das Signal per Walkie-Talkie. Per Megafon wurden die KILLER ANGELS dazu aufgerufen, sich zu ergeben und mit erhobenen Händen ins Freie zu treten. Aber es folgte keinerlei Reaktion.

Augenblicke vergingen.

"Die sind längst auf und davon", meinte Lew.

"Möglich", sagte ich.

"Die werden sich gewundert haben, wo dieser Albert Marias steckt."

"Und du meinst, dann haben gleich alle Alarmglocken bei den ANGELS geklingelt!", vollendete ich.

"Ist das so abwegig? Unser Auftritt in East Harlem wird sich schnell herumgesprochen haben. Du weißt doch, der Big Apple ist im Grunde nur ein großes Dorf. Jedenfalls, was die Verbreitungsgeschwindigkeit von Nachrichten und Gerüchten angeht."

Ich ließ den Blick über die Werkstatthalle und das Wohnhaus schweifen.

Es war verdammt ruhig.

Nur eine fette Ratte kroch aus einem Loch in der Werkstatt-Wand heraus und krabbelte in aller Seelenruhe mitten über den Platz.

Der Aufruf per Megafon wurde wiederholt.

Als keine Reaktion erfolgte, gab Lew das Signal zum Losschlagen.

Ein paar Sekunden später brach die Hölle los.

Zwei FBI-Beamte versuchten das Tor zur Werkstatthalle zu öffnen.

Eine gewaltige Explosion warf sie zurück. Rücklings fielen sie zu Boden und blieben reglos auf dem Asphalt liegen, während im Werkstatttor ein riesiges Loch sichtbar wurde. Weitere Explosionen verwandelten die Halle binnen Augenblicke in ein flammendes Inferno. Heiße Feuerpilze schossen empor und ließen sämtliches Glas vor Hitze zerspringen.

Gleichzeitig explodierten auch im Wohnhaus mehrere Sprengladungen. Die Fenster zerbarsten. Flammen schlugen heraus. Unsere Leute, die sich in der Nähe postiert hatte, versuchten sich so gut es ging in Sicherheit zu bringen.

24

Feuerwehr und Notarzt trafen rasch ein. Aber den beiden Kollegen, die am Eingang der Werkstatthalle gestanden hatten, konnte niemand mehr helfen. Sie waren tot.

Das Entsetzen darüber stand so manchem von uns ins Gesicht geschrieben.

Einige weitere FBI-Beamte hatten sich verletzt. Die Teams der Notarztwagen kümmerten sich um sie. Der Brand konnte bald unter Kontrolle gebracht werden. Aber es würde noch Stunden dauern, bis alles gelöscht war und man die Gebäude betreten konnte.

Ein Team der Spurensicherung war jedenfalls schon einmal vorsorglich angefordert.

Aber die KILLER ANGELS hatten dafür gesorgt, das wir nicht allzuviel finden würden.

"Dieser Killer-Joe scheint uns immer einen Schritt voraus zu sein!", knurrte Lew mit geballten Fäusten, während die Einsatzkräfte der Feuerwehr noch immer ihre Löschwasserstrahlen in die brennenden Gebäude hielten.

"Wir kriegen ihn", versprach ich.

Fragte sich nur, wie viel Schaden er und seine Gang vorher noch anzurichten in der Lage waren...

25

Juan Arkiz lehnte sich auf der Hinterbank seiner überlangen Limousine zurück. Die Tür ging auf und Jack Garcia setzte sich zu ihm.

"Und?", fragte Arkiz.

Jack Garcia sah zufrieden aus.

"Der kleine Mann ist tot." Er grinste breit. "Ich habe ihn gut beschwert im East River versenkt. Noch besser wäre ein Fass mit Säure gewesen, aber sowas kann man nicht auf die Schnelle organisieren..."

"Erspar mir die Einzelheiten. Hauptsache, er taucht nicht wieder auf."

"Halten Sie mich für einen Anfänger, Mr. Arkiz?" Arkiz zuckte mit den Achseln.

"Erfolg macht arrogant - und unvorsichtig!" Garcia lachte. Er schlug die Tür zu. Arkiz' Chauffeur startete den Wagen und fädelte sich in den abendlichen Verkehr von New York City ein.

"Wo geht es hin, Mr. Arkiz. Es klang dringend, als Sie mich gerade per Handy angerufen haben..."

"Es ist auch dringend."

"Worum geht es?"

"Ich wollte das am Telefon nicht sagen, weil ich mir nicht sicher bin, ob man uns vielleicht abhört."

"Glauben Sie, die Cops sind Ihnen schon so weit auf der Spur, dass ein Richter so etwas genehmigen würde?" Arkiz zuckte die Achseln. "Man kann nie vorsichtig genug sein." Er grinste, dann fuhr er fort: "Wir treffen uns mit Joe Donato."

"Ein bisschen heikel im Moment, finden Sie nicht?"

"Aber unausweichlich. Sie haben ja gehört, was Cardoso zu mir gesagt hat."

"Allerdings."

"Wir müssen jetzt schnell handeln... " Garcia blickte aus dem Rückfenster hinaus. Die schwarze Limousine bog in eine Seitenstraße, anschließend in eine weitere.

"Da ist ein Wagen, der uns folgt!"

"Das sind meine Leute, Garcia!"

"Gut zu wissen."

"Ich hoffe nur, dass Killer-Joe vernünftig ist und spurt." Garcia hob die Augenbrauen. "Haben Sie daran irgendwelche Zweifel?"

"In letzter Zeit wirkte er etwas respektlos..."

"Vielleicht hätten Sie ihn enger an die Kette legen sollen!"

"Dann wäre das Risiko für mich höher gewesen."

"Sie sind der Boss, Mr. Arkiz!", seufzte Garcia. Arkiz' Gesicht bekam einen harten Zug. Seine Stimme klang so kalt wie klirrendes Eis.

"Niemand sollte das vergessen", raunte er. "Niemand!" Der Unterton gefiel Jack Garcia nicht. Aber er sagte nichts dazu.

Stattdessen fragte er: "Wo treffen wir Joe?"

"Im Blue Light. Der Laden gehört zwar offiziell einem Strohmann, aber es steckt mehrheitlich mein Geld drin. Also kann ich dort alles kontrollieren. Und ein Ghettokind wie Joe Donato würde man in einem Edelschuppen wie dem Blue Light wohl zuletzt suchen!"

26

Es war schon sehr spät, als wir in Mr. Lees Besprechungszimmer saßen. Draußen war es längst dunkel und durch das Fenster hatte man einen Blick auf das Lichtermeer der Stadt, die niemals schläft.

Belmonte und Errenkoah waren ebenfalls jetzt erst vor kurzem ins District-Hauptquartier an der Federeal Plaza zurückgekehrt.

Fred Ansara saß in sich zusammengesunken in einem der schlichten Ledersessel, die in Mr. Lees Büro standen. Er nippte an seinem Kaffeebecher. Eileen war natürlich um diese Zeit längst zu Hause und so hatte das Gebräu nicht das besondere Aroma, mit dem wir ansonsten an diesem Ort verwöhnt wurden. Für Sekretärinnen hatten die Gewerkschaften geregelte Arbeitszeiten durchgesetzt zumindest im Staatsdienst. Für Special Agents des FBI sah das manchmal anders aus. Schließlich richteten sich unsere Gegner nicht nach Bürozeiten.

Mr. Lee machte ein sehr ernstes Gesicht. Seitdem seine ganze Familie durch Gangster ums Leben gekommen war, hatte er sein gesamtes Leben dem Kampf gegen das Verbrechen gewidmet. So etwas wie ein Privatleben gab es für ihn kaum noch. Und so war es in seinem Fall auch nichts Außergewöhnliches, ihn um diese Zeit noch hier in seinem Büro anzutreffen.

"Zwei tote FBI-Beamte", murmelte er düster und seine Stirn umwölkte sich. Es kam leider immer wieder vor, dass Kollegen im Kampf gegen das Verbrechen ums Leben kamen. Mr. Lee hatte in all den Jahren, die er seinen Posten schon bekleidete, gelernt, so etwas einigermaßen wegzustecken.

Daran gewöhnen würde sich wohl niemand von uns. Mochte man auch noch so viele Dienstjahre auf dem Buckel haben. Lew meldete sich zu Wort.

"Die haben uns eine regelrechte Falle gestellt", erklärte er. "Ihr Hauptquartier haben sie zu einer Bombe gemacht."

"Haben sie irgendwelche Spuren hinterlassen, die uns weiterbringen könnten?", fragte Mr. Lee. Bei allen verständlichen Gefühlen - die Arbeit musste weitergehen. Das war Mr. Lees Einstellung.

"Morgen schaut nochmal ein Team der Spurensicherung vorbei, aber ich denke sie waren ziemlich gründlich. Auf Fingerabdrücke oder dergleichen dürfen wir nach den Explosionen und Bränden wohl kaum noch hoffen..."

"Ich denke, Joe Donato wird in der nächsten Zeit vorsichtiger sein", vermutete ich. "Schließlich wissen die KILLER ANGELS jetzt, wie dicht wir ihnen auf den Fersen waren. Befragungen von Anwohnern lassen vermuten, dass ihr Aufbruch erst etwa eine Stunde zurücklag."

"Wo könnten sie jetzt sein?", fragte Mr. Lee.

"Vielleicht weiß unser Freund Marias etwas..."

"Oder er hat euch von Anfang an gelinkt und wollte nur ein paar G-men ins Verderben führen", vermutete Belmonte.

"Das glaube ich nicht", sagte ich.

"Hast du eine Garantie dafür Murray? Einen Beweis?" Ich zuckte die Achseln.

"Instinkt", sagte ich.

"Der kann einen täuschen", erwiderte Steven Belmonte.

"Das können auch Indizien. Vielleicht irre ich mich, aber auf mich wirkte Marias sehr überzeugend."

Mr. Lee bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. Er enthielt sich jeglichen Kommentars. Stattdessen wandte er sich an Belmonte und Errenkoah.

"Was haben Ihre Ermittlungen über Arkiz ergeben?"

"Man redet eine ganze Menge in seinem Dunstkreis. Eine Reihe von Gerüchten kursieren", erklärte Belmonte. Mr. Lee hob die Augenbrauen.

"Ist er der Mann, der hinter den KILLER ANGELS steht?"

"Der Verdacht erhärtet sich, wenn Sie mich fragen."

"Haben Sie irgendeine Ahnung, was eigentlich dahintersteckt?"

"Angeblich eine Fehde mit Montgomery Carson, der als Anführer eines Clans von Jamaicanern gilt, die sich seit einiger Zeit im Bereich Drogen, Prostitution und Glücksspiel breitgemacht haben..."

"Gegen den läuft doch gerade ein Prozess", warf ich ein.

"Oder irre ich mich da, Steven?"

"Nein, du irrst dich nicht, Murray. Morgen wird das Urteil verkündet, wahrscheinlich wird es wieder auf einen Freispruch hinauslaufen - so wie bei dem letzten Dutzend Prozessen, mit denen sich ein junger Staatsanwalt seine Sporen verdienen wollte, sich bislang aber nur eine blutige Nase geholt hat. Es ist wie so oft: Man kommt an den Kerl einfach nicht heran, weil kleine Fische für den großen Hai die Flossen hinhalten müssen."

Errenkoah ergänzte: "Carsons kleine Fische sind unter anderem Dealer in der South Bronx - und die werden von den KILLER ANGELS gerade in den Hudson getrieben." Errenkoah wies dann auf die Fotos, die vor ihm auf dem Tisch lagen. "Arkiz wird rund um die Uhr überwacht. Wir registrieren genau, wer bei ihm ein oder ausgeht. Ein paar Bekannte haben wir schon gefunden. Da ist zum Beispiel ein gewisser Allan Cardoso, angeblich Import/Export-Kaufmann. Er kam mit dem Flieger heute aus Bogota. Natürlich ist er kein Drogenkurier, so unvorsichtig wäre Arkiz nicht. Cardoso ist unseren Archivdaten nach jemand, der eine ganz besondere Ware schmuggelt."

"Welche?", fragte Mr. Lee.

"Informationen und Botschaften. Wenn er auftaucht, dann liegt etwas im Busch..."

"Eine Order von ganz, ganz oben?", erkundigte ich mich. Errenkoah nickte.

"Das ist anzunehmen."

"Könnte man nicht eine Genehmigung bekommen, diesen Kerl abzuhören?", fragte Fred Ansara.

"Eine richterliche Genehmigung wäre in dem Fall kein Problem. Aber seine Villa ist eine der bestgesichertsten Festungen der Stadt. Da müsste man erst einmal hineinkommen. Und was Richtmikrofone und ähnliches angeht, hat sich Arkiz einige technische Gimmicks einbauen lassen, um einen solchen Einsatz zu verhindern."

"Vor drei Jahren hat die DEA so etwas schon mal bei ihm versucht", ergänzte Steven Belmonte. "Ohne Erfolg." Errenkoah deutete auf ein anderes Foto. Es zeigte einen noch sehr jung wirkenden Mann. Ein richtiges Milchgesicht. Ziemlich schmächtig wirkte er.

"Er ist älter als er aussieht", sagte Errenkoah. "Es handelt sich um Tim Varranos, dreiundzwanzig Jahre alt, fährt eine Harley, bei der sich kein Mensch erklären kann, wie er sie sich ohne Job leisten konnte. Einer unserer Leute ist ihm bis und die 150. Straße gefolgt und hat ihn dort verloren." Terry zuckte die Achseln. "Kunststück. Mit seinem Feuerstuhl konnte er natürlich ein paar Abkürzungen nehmen."

"Ein KILLER ANGEL?", fragte Mr. Lee. Errenkoah nickte.

"Ich würde darauf wetten, dass Varranos eine Art von Verbindungsmann zwischen Joe Donato und Arkiz ist. An Zufälle glaube ich jedenfalls nicht, was sein Auftauchen vor Arkiz' Villa angeht."

"Er ist übrigens heute Abend auch unterwegs", ergänzte Belmonte. "Agent Borell beschattet ihn. Zur Zeit ist Arkiz im Blue Light, einem Laden, der ihm selbst gehört - auch wenn er das geschickt zu verschleiern versucht." Belmonte grinste. "Vielleicht kann er das Finanzamt täuschen - aber nicht den FBI."

"Wollen wir hoffen, dass Sie recht behalten, Steven", sagte Mr. Lee skeptisch. Und er hatte allen Grund für seine Haltung. Schließlich hatte es Arkiz ja bislang geschafft, durch die Maschen aller Netze hindurchzuschlüpfen, mit denen man versucht hatte, ihn einzufangen.

Ich wandte mich an Agent Ansara.

"Hast du etwas über diesen BMW-Fahrer herausgefunden?" Freds Augen blitzten angriffslustig. "Wahrscheinlich tut es dir leid, dass du nicht auf diese Spur angesetzt wurdest!"

"Ich glaube einfach, dass was dran sein könnte, auch wenn alle mich für verrückt halten! Jedenfalls schwört Alberto Marias Stein und Bein, dass der letzte Lincoln-Tunnel Anschlag nicht auf das Konto der KILLER ANGELS geht!" Fred Ansara lehnte sich zurück. Er leerte seinen Kaffeebecher und erklärte dann: "Ich habe versucht, Slaters Lebensgefährtin aufzutreiben. Sie scheint verschwunden zu sein. Und in seine Wohnung wurde letzte Nacht eingebrochen. Jemand hat buchstäblich das unterste zu oberst gekehrt. Ob irgendetwas fehlt oder was vielleicht gesucht wurde, kann niemand sagen, außer seiner Lebensgefährtin, einer gewissen Jennifer McLure. Fahndung ist eingeleitet. Schließlich kann man ein Verbrechen nicht ausschließen... Vielleicht wissen wir morgen mehr, wenn die ersten Erkenntnisse des Erkennungsdienstes auf dem Tisch liegen."

"Ein gewöhnlicher Einbruch?", fragte Mr. Lee.

"Nein, das kann man schon ausschließen", erklärte Fred. "Wertsachen wurden nicht angerührt."

27

Es war schon beinahe Mitternacht, als Lew und ich in meinem Sportwagen saßen, um nach Hause zu fahren. Die ganze Zeit über schwiegen wir.

Vielleicht waren wir einfach zu müde zum quatschen. Außerdem war da immer noch das, was im ehemaligen Hauptquartier der KILLER ANGELS geschehen war. Solche Bilder musste auch unsereins erstmal verdauen. Zwei unserer Leute hatte es erwischt. Auch das ging nicht spurlos an einem vorüber.

Aber echte Freundschaft zeigt sich unter anderem auch darin, dass man zusammen schweigen kann.

Wir hatten beinahe die Ecke erreicht, an der ich Lew nach Dienstschluss abzusetzen pflegte, um dann weiter zu meiner Wohnung zu fahren, die sich in der Nähe des Hudson Rivers befand.

Da kam der Anruf.

Einen Augenblick später hatte Lew das Handy am Ohr. Er sagte zweimal knapp: "Ja!"

Dann klappte er das Gerät zusammen und griff nach dem Blaulicht. Während er die Seitenscheibe hinuntergleiten ließ, um es auf das Dach des Sportwagens zu setzen, meinte er: "Bei nächster Gelegenheit drehen, Murray!"

"Was ist los?"

"Killer-Joe ist aufgetaucht."

"Wo?"

"Im Blue Light. Dreimal darfst du raten, was er dort will!"

"Entweder will er sich einen netten Abend machen oder sich bei Juan Arkiz seine Instruktionen abholen."

"Du sagst es."

28

Laserlicht flimmerte durch das Blue Light, einen ultramodernen Vergnügungstempel der Extraklasse. Den Großteil machte eine Nobeldisco aus, aber es gab auch separierte Bars und im Obergeschoss ein Restaurant, das rundum die Uhr eine Art Ethno-Fast-Food anbot.

Der Laden lag im Trend.

Jedenfalls war Arkiz sehr zufrieden damit, wie es hier lief.

Zusammen mit Jack Garcia drängte er sich durch die Menge. Zwei weitere Leibwächter folgten ihm unauffällig. Die Musik dröhnte. Im Laserlicht bewegten sich zuckende Körper zu stampfenden Rhythmen.

Mit Joe Donato hatte er sich in einer der Bars verabredet. Aber Killer-Joe war nicht da.

Und das ärgerte Arkiz maßlos. Er hasste Unpünktlichkeit und sah darin bei Untergebenen immer ein Zeichen von Auflehnung.

"Vielleicht ist er aufgehalten worden", meinte Jack Garcia. Er drehte sich herum und überprüfte dabei den Sitz der Pistole unter seiner Achsel. Wenn es sein musste, konnte er sie blitzschnell herausreißen und punktgenau treffen. Garcia war ein hervorragender Schütze.

Ein kleiner dicker Mann namens Cardoso hatte das vor kurzem zu spüren bekommen.

Garcia nahm kurz Blickkontakt mit den anderen Leibwächtern auf. Es schien alles in Ordnung.

Arkiz ließ sich an der Bar einen Drink geben. Er tikerte nervös mit den Fingern auf dem Tresen herum. Wegen der Musik ging das niemandem auf die Nerven.

"Da kommt er", raunte Garcia.

Er deutete auf einen hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann in einem Maßanzug. Killer-Joe wirkte völlig verändert. Keiner der auf ihn eingeschworenen Kids aus der South Bronx hätte ihn auf den ersten Blick wiedererkannt.

"Er kommt allein", meinte Arkiz etwas verwundert.

"Das glaube ich nicht", sagte Garcia mit warnendem Unterton. "Es sind bestimmt Leute von ihm hier. Darauf können Sie wetten, Mr. Arkiz."

Joe Donato trug den Anzug wie eine Verkleidung. Er sah sich nervös um, blickte einer blonden, kurvenreichen Schönheit hinterher, deren Kleid ihre Reize mehr enthüllte, als verbarg und wandte sich dann der Bar zu. Erst tat er so, als hätte er Arkiz nicht gesehen.

Dann wandte er sich zu dem großen Boss herum.

"Hallo, Juan", meinte er.

"Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen erlaubt habe, mich so zu nennen", erwiderte Arkiz etwas irritiert.

Joe grinste.

"Kommen Sie, wir kennen uns jetzt so gut... Wir sind praktisch Partner?"

"Partner?" Arkiz verzog amüsiert das Gesicht. "Sie überschätzen sich, Joe." Er lachte heiser. "Schon damals, als ich Sie bei mir einstellte, hatten Sie immer etwas Größenwahnsinniges an sich..."

"Was Sie nicht sagen."

"Kommen Sie, Joe. Vertun wir nicht unsere Zeit. Wir haben ein paar Dinge zu besprechen."

"Allerdings!"

"Gehen wir in das Separee dort hinten!"

"Wenn ich vorher einen Drink bekomme!"

"Daran soll es nicht scheitern, Joe!" Die beiden Männer blickten sich an. Es war ein stummes Duell. Sie schätzten sich gegenseitig ab.

Ich werde auf dich aufpassen müssen, ging es Arkiz durch den Kopf. Gerade jetzt konnte er Aufmüpfigkeit nicht gebrauchen.

Nachdem Joe seinen Drink bekommen hatte und ein riesiges Glas mit langem Stil und einer knallgrünen Flüssigkeit darin in der Rechten trug, gingen sie zum Separee.

Sie ließen sich in den ultramodernen, schalenförmigen Sitzmöbeln nieder.

"Es geht um folgendes", sagte Arkiz. "Erstens sollten Sie nie wieder einen Boten zu mir in die Villa schicken!"

"Was sollte ich sonst machen! Es gibt Probleme und..." Arkiz unterbrach Joe abrupt.

Einwände interessierten ihn nicht. Ihm stand selbst das Wasser bis zum Hals. Der Mord an Cardoso würde ihm ein wenig Zeit geben, um zu erreichen, was er erreichen wollte. Aber bestimmt keine Ewigkeit.

"Montgomery Carsons Leute müssen jetzt mit einem Schlag vertrieben werden. Versuchen Sie so viele wie möglich von denen zu überreden, bei uns mitzumachen. Für den Rest gibt es keine Existenzberechtigung mehr in der Bronx..."

"Ich würde das Gegenteil vorschlagen", erklärte Joe. "Unsere Expansion war vielleicht in letzter Zeit etwas zu aggressiv. Zu viele sind auf uns aufmerksam geworden. Das FBI sitzt uns auf den Fersen. Um ein Haar hätten die unser Hauptquartier hops gehen lassen..."

"Was?"

Arkiz konnte die Überraschung nicht verbergen.

Joe beugte sich vor.

"Das FBI hat einen unserer Leute in Gewahrsam. Der muss gesungen haben wie ein Vogel... Schade. War ein Junge, mit dem ich große Pläne hatte. Vielleicht habe ich ihn überschätzt..."

"An andere Quellen hast du wohl nicht gedacht, was?"

"Wovon sprechen Sie?"

Arkiz hob die Hände. "Informanten, Verräter... Was weiß ich!"

Jetzt wurde Joe ärgerlich.

"Ich halte mein Gebiet sauber!", behauptete er. "Mit eisernem Besen! Wenn Sie mir nicht vertrauen..."

"Nein, nein... Aber was ich eben sagte, ist sehr wichtig. Wir müssen Montgomery Carson und seinen Clan jetzt zerstören..."

"Wieso die Eile?" Joe Donato lehnte sich zurück. "Wieso ausgerechnet jetzt und weshalb die Hektik? Warten wir doch alles in Ruhe ab, bis diese Wichtigtuer vom FBI wieder richtige Arbeit bekommen. Irgendwelche Staatsgäste schützen oder so. Es wird schon Gras über alles wachsen und dann können wir weitermachen."

"Geht leider nicht", sagte Arkiz.

"Weshalb nicht?"

"Das kann ich Ihnen nicht erklären, Joe. Aber ich sage Ihnen soviel: In ein paar Tagen werden sich unser beider Träume vielleicht schon nicht mehr verwirklichen lassen." Joe kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Sein Zeigefinger fuhr hoch wie die Klinge eines Klappmessers.

"Hören Sie zu, ich war im Gegensatz zu Ihnen schonmal im Gefängnis. Und ich habe keine Lust, noch einmal dorthin zu gelangen!"

"Das gilt für jeden von uns", sagte Arkiz ruhig. Joe erwiderte ruhig den Blick des Drogenbarons. "Ich werde kein Risiko eingehen, Mr. Arkiz!"

"Sie werden tun, was ich sage, Joe!"

"Ach, und wie wollen Sie mich zwingen?"

"Wer bezahlt denn eure teuren Hobbies! Wer ist euer finanzielles Rückgrat? Wer sorgt dafür, dass der Stoff ungehindert fließt? Ohne mich sind Sie nichts, Joe. Nicht einmal ein Stück Dreck. Wenn es mich nicht gäbe, wären Sie ein Niemand."

"Vielleicht war das mal so, Mr. Arkiz. Aber die Zeiten haben sich geändert..."

Arkiz war außer sich vor Wut. Er beugte sich vor und packte Joe Donato beim Kragen. Dieser miese Emporkömmling, den er selbst auch noch großgemacht hatte! Arkiz bleckte die Zähne wie ein Raubtier.

"Hör zu, du Ratte!", knurrte er. "In dem Spiel, das jetzt beginnt, gibt es genau zwei Rollen, die du übernehmen kannst! Henker oder Delinquent! Was gefällt dir besser? Es liegt ganz bei dir..."

Joe Donatos Gesicht erstarrte.

Dieser Mann steht am Rande eines Abgrunds, ging es Joe durch den Kopf. Das bedeutete aber auch, dass Arkiz in dieser Lage zu allem bereit war. Unüberlegte Schritte eingeschlossen. Joe analysierte das ganz kühl und fragte sich, wie er jetzt reagieren sollte.

Offener Widerstand gegen Arkiz kam nicht in Frage. Dazu war der große Boss einfach noch zu groß.

"Hören Sie zu, Joe! Tun Sie einfach, was ich sage. Es ist das Beste für uns alle. In die schwierige Situation, in der Sie sich befinden, haben Sie sich selbst hineinmanövriert."

"Ach, ja?"

"Durch diese verdammten Mutproben. Und dann noch zweimal hintereinander am Lincoln-Tunnel." Arkiz griff nach seinem Zigarillo-Etui. "So etwas zieht immer einen Aufschrei der Empörung in der Öffentlichkeit nach sich. Und dann erwachen die Cops aus ihrem Winterschlaf..." Er lachte hässlich.

"Selber Schuld, Joe! Aber als Profi wirst du mit der Situation klarkommen." Arkiz zündete sich den Zigarillo an und blies Joe den Rauch ins Gesicht. "Ich will, dass die Bronx uns gehört! Wir haben unser Ziel fast erreicht... Ein paar Meter vor dem Ziel werden Sie doch nicht aufgeben wollen..."

"Und wenn doch?"

"Glauben Sie mir, Joe: Ich bin ein schlimmerer Feind als das FBI!"

Arkiz fixierte Joe mit einem durchdringenden Blick. Joe erwiderte ihn.

Eine ganze Weile sahen sie sich schweigend an.

Dann sagte Killer-Joe schließlich: "Sie sind der Boss, Mr. Arkiz!"

Arkiz machte Ringe mit dem Rauch seines Zigarillos. Er grinste breit. "Diesen Satz höre ich immer wieder gerne, Joe! Immer wieder..."

29

Als Lew und ich den Parkplatz vor dem Blue Light erreichten, waren Belmonte und Errenkoah schon da. Außerdem natürlich Agent Lex Borell und sein Partner Archie Gardner, die Arkiz' Beschattung zur Zeit übernommen hatten.

Fred Ansara ließ auch nicht lange auf sich warten.

"Arkiz ist da drin", sage Belmonte und deutete auf den Haupteingang des Blue Light. "Und vermutlich trifft er sich dort gerade mit niemand anderem als Joe Donato..."

"Bist du sicher?", fragte ich.

"Agent Borell hat ihn hereingehen sehen", erklärte Steven Belmonte.

Und Borell ergänzte: "Ich habe ihn nur ganz kurz gesehen, bin mir aber ziemlich sicher. So schlecht sind die Fahndungsfotos von Donato ja nun auch nicht." Ich überprüfte den Sitz der P226 an meinem Gürtel.

"Ein idealer Treffpunkt", meinte ich. "In der Menge der anonymen Tänzer und Trinker wird man den beiden kaum nachweisen können, sich getroffen zu haben. Und abhörsicher ist der Laden auch..."

"Du meinst wohl, bei dem Krach da drinnen würde kein Mikrofon mehr funktionieren!", meinte Fred Ansara. Belmonte wandte sich an Lew und mich. "Ihr beide wart hinter Donato her. Wollt ihr reingehen und ihn schnappen?" Ich schüttelte den Kopf.

"Das gibt eine Katastrophe. Der Kerl ist gefährlich. Der würde skrupellos Geiseln nehmen oder in der Gegend herumballern, wenn's drauf ankommt. Außerdem ist sicher alles mit Arkiz' Leuten durchsetzt. Der hat doch angeblich die Kontrolle über diesen Laden."

"Und was schlägst du vor?"

"Die Ausgänge besetzen und abwarten. Irgendwann muss Killer-Joe ja mal wieder herauskommen!"

30

Lew und ich übernahmen zusammen mit Archie Gardner den Hintereingang, während sich der Rest unserer Leute am Hauptausgang aufhielt.

Ein paar zusätzliche Agenten trafen ein. Belmonte wies sie ein.

Unauffällig postierten sie sich um das Blue Light herum. Wir warteten.

Es war eine eiskalte Nacht. Sternenklar. Aber vielleicht würde es für Killer-Joe Donato die letzte Nacht in Freiheit sein.

Der Hinterausgang führte auf einen asphaltierten Platz, auf dem üblicherweise die Lieferanten hielten. Immerhin war der Platz einigermaßen beleuchtet.

Ein Lieferwagen stand dort jetzt. Außerdem mehrere Fahrzeuge von Angestellten. Eine kleine Nebenstraße führte fort von hier. Zu beiden Seiten waren mehrstöckige Häuser mit den charakteristischen Feuerleitern.

Dann kam Joe endlich.

Er war es wirklich. Die Übereinstimmung mit den Fotos war eindeutig.

Er hielt in der Rechten ein Handy und telefonierte. Dabei ließ er misstrauisch den Blick schweifen.

Dann klappte er das Gerät ein.

Immer noch schien er sich unsicher zu fühlen.

Ich hatte die P226 in der Hand, während ich hinter dem Lieferwagen stand und ihn beobachtete. Lew hatte in der Nähe Stellung bezogen.

Joe kam genau auf uns zu.

Ich fragte mich, wo der Kerl seinen Wagen hatte. Aber vielleicht brauchte er auch keinen. Vielleicht ließ er sich mit dem Taxi in die Bronx bringen...

Ich nickte Lew zu.

Archie Gardner lauerte hinter der Hausecke. Auch er war bereit.

Ein paar Schritte noch ließen wir Joe Donato machen. Er zog an seinem ziemlich abgebrannten Zigarillo und versuchte in der kalten Winterluft Ringe mit dem Rauch zu formen. Im nächsten Moment stürzten wir mit gezogenen Pistolen aus der Deckung heraus.

"Stehenbleiben! FBI!", rief ich.

Joe erstarrte.

Von drei Seiten sah er sich von Bundesbeamten umgeben. Sein Blick war unruhig. Ruckartig bewegte er den Kopf. In diesem Moment konnte ich seine Gedanken lesen. Er wollte die Waffe herausreißen, deren Griff einen Moment lang unter dem offenen Jackett sichtbar wurde.

Aber Joe Donato kannte sich aus.

Er wusste, wann er chancenlos war.

Wir näherten uns langsam.

"Mr. Joe Donato?", fragte ich.

Er antwortete nicht.

Stattdessen spuckte er vor uns aus. Eine dunkle Röte überzog sein Gesicht. Es war ihm anzusehen, wie wütend er war.

"Sie sind verhaftet, Mr. Donato. Sie haben das Recht zu schweigen. Falls Sie auf dieses Recht verzichten, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass alles, was Sie von jetzt an sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden kann." Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Spruch schon aufgesagt habe. Donato wirkte abwesend.

Er schien noch nicht richtig wahrhaben zu wollen, was in diesem Moment geschehen war.

Archie Gardner hatte die Handschellen von seinem Gürtel genommen, die sich einen Augenblick später um Killer-Joes Gelenke schließen sollten...

"Das Spiel ist aus, Donato", sagte ich. Joe grinste breit. Er zeigte dabei die Zähne wie ein in die Enge getriebenes Raubtier.

"Abwarten, G-man!", knurrte er bissig. Das Geräusch eines aufbrausenden Motors ließ mich herumwirbeln. Grelle Scheinwerfer blendeten mich. Eine Limousine raste die schmale Straße entlang. Dahinter einige Motorräder, die wie eine Begleiteskorte wirkten. Mit weißen Kreuzen auf den schwarzen Helmen sahen sie beinahe uniformiert aus. Vermutlich war das die Begleiteskorte, die Joe per Handy gerufen hatte, um ihn abzuholen.

Die Limousine machte einen Bogen um die parkenden Fahrzeuge herum und stellte sich dann quer.

Blitzschnell geschahen mehrere Dinge auf einmal. Joe riss seine Waffe heraus und feuerte.

Agent Archie Gardner bekam die Kugel aus nächster Nähe in den Oberkörper. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Mit starren Augen taumelte Gardner einen Schritt rückwärts, während im erst die Handschellen, dann die Dienstpistole entglitten. Ein großer, roter Fleck hatte sich auf seiner Hemdbrust gebildet. Rückwärts fiel er zu Boden und kam mit einem dumpfen Geräusch auf. Wie ein gefällter Baum. In der selben Sekunde wurde aus der Limousine heraus das Feuer eröffnet.

Eine Maschinenpistole knatterte los und ließ einen Bleiregen auf uns niedergehen. Ich feuerte die P226 mehrfach kurz hintereinander ab, während ich mich seitwärts fallen ließ und auf dem Boden herumrollte. Dicht neben mir schlugen die Kugeln ein. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Joe Donato in Richtung des Hintereingangs stürzte und sich zunächst hinter einer Mülltonne in Deckung brachte. Er feuerte seine Waffe zweimal in meine Richtung ab.

Ich rollte nochmals herum und lag nun unter der Vorderachse eines Fords.

Inzwischen kam Verstärkung für uns. Einige der G-men, die sich rund um das Blue Light postiert hatten, halfen uns jetzt. Sie verschanzten sich in der Umgebung erwiderten das Feuer unserer Gegner.

Polizeisirenen waren hinter den nächsten Häuserblocks zu hören und übertönten den üblichen Straßenlärm. Wir bekamen offenbar Unterstützung von der City Police.

Ich krabbelte auf der anderen Seite unter dem Ford hervor und sah gerade noch, wie Joe Donato wieder im Inneren des Blue Light verschwand. Ich tauchte hinter der Motorhaube des Fords hervor und richtete die Waffe in seine Richtung.

"Stehenbleiben, Donato!", rief ich.

Denn, wenn er ins Innere des Blue Lights zurückkehrte bedeutete das womöglich eine Katastrophe.

Ein ungezielter Schuss in meine Richtung war die Antwort. Ich feuerte ihm einen Warnschuss dicht neben die Füße, aber das beeindruckte ihn nicht.

Er dachte gar nicht daran, sich zu ergeben und stürzte hinein.

Lew stand derweil einige Meter von mir entfernt hinter dem Lieferwagen in Deckung.

Die blindwütigen MPi-Schützen aus der Limousine ballerten immer noch wie wild herum. Die Scheiben des Lieferwagens gingen zu Bruch. Die Reifen verloren mit einem Zischen die Luft, als der Bleihagel sie binnen Augenblicken perforierte. Der Wagen sackte auf die Felgen.

Wir G-men feuerten zurück.

Eines der Motorräder erwischte es. Der Tank ging in hellen Flammen auf und detonierte mit einem zischenden Geräusch. Der Fahrer sprang gerade noch rechtzeitig ab, während das Motorrad noch einige Meter brennend über den Asphalt rutschte. Der Fahrer hielt eine Uzi in der Linken, mit der er unentwegt feuerte. Er rollte sich mit großem Geschick auf dem Boden ab, ehe er dann verzweifelt durch den Kugelhagel seiner eigenen Leute lief, um Deckung zu finden.

Der dunkle Helm mit dem heruntergelassenen Visier ließ ihn beinahe wie eine groteske Comic-Gestalt erscheinen. Ein Treffer erwischte ihn bei der Schulter und ließ ihn laut aufschreien.

Einer seiner Komplizen nahm ihn hinten auf die Maschine und brauste davon.

Die Limousine schien mit Panzerplatten ausgestattet zu sein. Jedenfalls prallten die meisten Geschosse einfach ab. Der Wagen setzte zurück und drehte mit quietschenden Reifen. Dann trat der Fahrer Vollgas, während aus den Fenstern noch immer gefeuert wurde.

Mit atemberaubendem Tempo raste die Limousine die schmale Straße entlang, als von vorn die grellen Blinklichter der Einsatzfahrzeuge auftauchten, die die City Police geschickt hatte. Die Polizeiwagen stoppten. Die Beamten sprangen heraus und richteten die Läufe der Waffen auf die Fliehenden. Die Limousine bremste mit einem schrillen Quietschen. Das Spiel war aus für die Flüchtenden.

Ich kam aus der Deckung heraus und lud die P 226 mit geübten, beinahe automatischen Handgriffen nach. Es ging sehr schnell. Ich sah Fred Ansara auf mich zukommen.

"Ist der Vordereingang immer noch gesichert?", fragte ich.

"Klar, Murray, aber..."

"Er darf aus dem Blue Light nicht mehr herauskommen!"

"Was hast du vor?"

"Ich hol ihn mir!"

Ich beobachtete, wie die Beamten der City Police die Motorradfahrer und die Insassen der Limousine festnahmen. Fred Ansara hielt mich am Arm.

"Das gibt eine Katastrophe, Murray. Weißt du, wie viele Leute da jetzt im Blue Light sind?"

"Die Katastrophe kann mit jedem Augenblick, in dem der Kerl da drinnen frei herumläuft schlimmer werden. Weißt, was ihm als nächstes einfällt? Er wird merken, das das Blue Light eingekreist ist. Und wenn er dann auf die Idee kommt, Geiseln zu nehmen..."

Ich ließ Fred stehen.

Mit schnellen Schritten lief ich zum Hintereingang. Lew war mir dicht auf den Fersen.

Ich öffnete die Tür. Wir stürmten mit gezogener Pistole hinein und sicherten uns abwechselnd. Ein langer Flur lag vor uns.

Ein paar Türen führten nach rechts und links. Vielleicht Lagerräume.

Wir überprüften sie. Sie waren alle verschlossen. Dort konnte Killer-Joe also nicht verschwunden sein.

"Was würdest du tun, wenn du an seiner Stelle wärst?", fragte ich Lew.

Lew zuckte die Achseln.

"Schauen, ob der Haupteingang belagert wird..."

"Nehmen wir an, das hat er schon gemacht und festgestellt, in was für einem Mauseloch er sitzt..."

Wir schauten uns kurz an.

In dieser Sekunde hatten wir denselben Gedanken. Er würde dort hingehen, wo er sich die größte Sicherheit versprach. Unter Menschen...

Wir spurteten und erreichten das Ende des Flurs. Eine Tür führte in die laserlichtdurchflutete Tanzarena des Blue Light. Das dauernde Geflimmer sorgte dafür, dass man sich sehr konzentrieren musste, um von den Gesichtern der Tänzer etwas zu sehen. Selbstvergessen zuckten verschwitzte Körper zu den donnernden Rhythmen, die den Boden vibrieren ließen. Ein sanfter Druck in der Magengegend entstand durch die dröhnenden Bässe.

Nur ab und zu nahm jemand Notiz von uns oder der Tatsache, dass wir Waffen in den Händen hielten.

Vielleicht hielt der eine oder andere Blue Light-Besucher das für eine besonders abgedrehte Verkleidung oder eine Showeinlage, die dem zahlenden Gast hier den letzten Kick geben sollte, wenn ihm die Ecstasy-Drops ausgegangen waren. Die stieren Blicke, die sich auf uns richteten, mehrten sich. Wir bahnten uns unseren Weg durch die Menge. Wenig später hatten wir die kleine Bühne erreicht, auf der ein glatzköpfiger, spitzbärtiger DJ an seinen Apparaten herumhantierte. Ich kletterte zu ihm hinauf. Er fand das nicht besonders witzig. Erst nickte er noch im Takt der Musik, dann öffnete sich sein Mund und er schrie mir irgendetwas zu. Ich konnte ihn nicht verstehen.

Dazu waren wir beide einfach zu dicht an den gigantischen Lautsprechern, die die Musik in quadrophonischer Qualität ins Innere des Blue Light powerten.

Ich hielt ihm meinen FBI-Dienstausweis entgegen. Sein Gesicht veränderte sich.

Er zuckte die Schultern und wandte sich wieder seinen Geräten zu. Ich ließ den Blick schweifen, denn von hier oben hatte man einen fantastischen Überblick über das Blue Light. Quer durch die Arena konnte man blicken, bis zum Haupteingang auf der anderen Seite dieses Vergnügungstempels. Dort sah ich Belmonte und Errenkoah herumpatrouillieren. An ihnen konnte keiner vorbei. Zumindest niemand mit den Gesichtszügen von Joe Donato.

Die beiden ließen ebenfalls den Blick über die Hundertschaften von Köpfen schweifen. Irgendwo dazwischen musste sich Joe Donato befinden...

Vorausgesetzt, er hatte sich nicht im Obergeschoss verkrochen, wo sich das Restaurant befand. Aber das wäre sehr unklug gewesen. Ein Restaurant war meistens ziemlich übersichtlich, im Gegensatz zu dem Chaos, was hier in der Arena herrschte.

Belmonte entdeckte mich.

Er zuckte die Schultern.

Das bedeutete nicht mehr und nicht weniger als komplette Ratlosigkeit.

Und dann entdeckte ich ihn.

Killer-Joe.

Einer der rotierenden Scheinwerfer beleuchtete für einen Sekundenbruchteil sein Gesicht so hell, dass es deutlich zu erkennen war. Er blickte sich unruhig um. Rücksichtslos stürzte er vorwärts und drängte jeden zur Seite, der sich ihm in den Weg stellte.

Ich fragte mich, wo sein Ziel lag...

Er hielt auf eine der Bars zu.

Links davon waren einige Separees. Und eine Tür, die aus der Arena herausführte. Vielleicht ein Notausgang oder etwas Ähnliches. Aber raus aus dem Blue Light konnte Jim nicht. Unter keinen Umständen. Jetzt, wo alles zusätzlich noch durch Einheiten der City Police abgeriegelt war, standen seine Chancen bei null, diesem Ring zu entkommen. Einem Ring, der sich wie eine Schlinge immer enger um seinen Hals zog. Ich stieg von der Bühne des DJs herunter und wandte mich an Lew. Es war sinnlos, sich verständigen zu wollen. Ich machte ihm mit ein paar Gesten klar, was los war.

Er folgte mir. Wir drängten uns durch die Menge. Ein paar der Blue Light-Gäste reagierten ziemlich empört. Aber darauf konnten wir keine Rücksicht nehmen. Wir schoben die wild gestikulierenden Männer und Frauen einfach zur Seite. Dass wir nicht verstehen konnten, was sie uns entgegenbrüllten, war sicher besser so.

Aber ärgerliche verständnislose Blicke ließen sich ertragen. Vielleicht wären wir schneller vorangekommen, wenn wir mit unseren Ausweisen gewinkt hätten.

Aber möglicherweise hätte ein solches Auftreten auch Panik ausgelöst. Vor allem deshalb, weil ein großer Teil der Gäste mit Sicherheit irgendwelche unerlaubten Mittel genommen hatte, um die Stimmung zu heben.

Aber deswegen waren wir nicht hier.

Wir wollten Joe Donato.

Den Anführer der KILLER ANGELS.

31

Je weiter wir uns von den Riesenboxen und der Bühne des DJ entfernten, desto niedriger wurde der Geräuschpegel. Eine Erholung für die Trommelfelle. Ich nahm an, dass man sich an den Bars vielleicht sogar schon richtig unterhalten konnte. Ich streckte die Hand aus.

"Da ist er, Lew!"

Lew hatte ihn auch gesehen und riss die Pistole hoch. Die Leute stoben zur Seite.

Joe Donato befand sich in der Nähe einer Tür. KEIN ZUTRITT stand dort.

Der entstehende Aufruhr, machte Joe auf uns aufmerksam. Er sah in unsere Richtung. Und natürlich begriff er sofort, wer wir waren.

Killer-Joe war ein Mann schneller Entschlüsse.

Das war eine seiner Überlebensstrategien, die er bislang mit Erfolg angewandt hatte. Er machte eine weit ausholende Bewegung und griff nach dem Oberarm einer jungen Frau, die etwas irritiert in der Nähe stand. Sie hatte eine blonde Mähne, die ihr bis weit über die Schultern fiel. Ihr knappes, silberfarbenes Kleid ließ den Großteil davon frei. Sie wirbelte herum, als Joe sie hart am Gelenk packte und herumriss. Sie wollte sich losreißen, aber in der nächsten Sekunde blickte sie in den blanken Lauf von Joes Pistole und in ein Raubtierlächeln, das so kalt wie der Tod war. Joe Donato drückte der Blonden die Waffe so heftig an die Schläfe, dass sie aufstöhnte.

Alle, die in der Nähe standen, stoben auseinander. Und genau das geschah, was wir hatten vermeiden wollen. Panik breitete sich wie eine Flutwelle durch die Arena aus. Und Joe wusste, wie man so etwas anheizt.

Einem wie ihm war klar, dass Angst die wirkungsvollste Macht war, die es gab. Wer sie erzeugen konnte, war obenauf. Das galt in der Bronx genauso wie in diesem Glitzerschuppen. Joe Donato schwenkte die Waffe herum, während er die Schöne mit sich in Richtung Tür riss.

Der Lauf hob sich.

Rot züngelte das Mündungsfeuer zweimal kurz hintereinander heraus. Der Knall war durchdringend genug, um selbst den DJ bei seinen Lautsprechern aufzuschrecken.

Die Kugeln gingen irgendwo hin. Ein Aufschrei des Entsetzens schallte durch den Raum. Ich hatte keine Ahnung, ob jemand getroffen worden war. Joe schien das gleichgültig zu sein.

Er kannte keine Rücksicht.

Nicht einmal gegenüber den eigenen Leuten, wie wir inzwischen ja durch die Aussage von Alberto Marias wussten. Noch einmal feuerte er wild in der Gegend herum. Er versuchte, uns zu treffen, aber die Schüsse waren zu ungezielt.

Sein letzter Schuss zertrümmerte eine große Kugel, die an unsichtbaren Fäden über der Arena schwebte und bläuliches Laserlicht ausstrahlte. Sie zerplatzte und das ohrenbetäubende Geräusch, das dabei entstand, ließ den Aufschrei von Hunderten wie ein leises Seufzen wirken. Lew und ich stürzten vorwärts. Die Waffen hatten wir zwar im Anschlag, aber wir wussten beide sehr wohl, dass wir sie in dieser Situation kaum einsetzen konnten. Es war einfach zu gefährlich. Zu viele Unbeteiligte standen herum oder versuchten in heller Panik dem Schrecken zu entkommen. Manche waren völlig von Sinnen und taumelten uns kreischend entgegen. Sie behinderten uns zusätzlich. Die Arena war ein einziges, tosendes Chaos. Wer sich dem Menschenstrom entgegenzustellen versuchte, wurde zur Seite gedrückt oder niedergetrampelt.

Joe Donato stieß mit einem Fußtritt die Tür auf und zog die Blonde hinter sich her. Sie strauchelte. Mit einem kräftigen Ruck stellte Joe sie wieder auf die Füße und ballerte ein letztes Mal in unsere Richtung. Irgendwo schrie jemand laut auf. Ein heller durchdringender Schrei, von dem niemand sagen konnte, ob er durch das Gefühl äußerster Panik verursacht war oder dadurch, dass eine verfluchte Kugel ihr Ziel gefunden hatte.

Augenblicke später hatten wir ebenfalls die Tür erreicht. Lew riss sie auf. Ich stürmte mit der P226 im Anschlag hinein und befand mich in einem Treppenhaus. Eine Treppe führte hinauf, eine andere hinab in den Keller.

Schüsse krachten los und der Widerhall sorgte für einen Höllenlärm. Ich sah das Mündungsfeuer aufblitzen, während ich mich seitwärts fallenließ und zurückballerte. Keiner der Projektile traf sein Ziel. Manche der Kugeln, die Killer-Joe in meine Richtung feuerte, wurden durch das metallene Treppengeländer abgelenkt. Mit jaulenden Geräuschen schickte das Gusseisen sie auf eine unberechenbare Reise als gefährliche Querschläger. Eines dieser Geschosse fuhr durch die Tür hindurch, dicht an Lew vorbei.

Es war mörderisch.

Joe hetzte weiter, in seinem Schlepptau immer noch die Blonde.

Weiter, die Treppe hinab. Ich rappelte mich wieder auf und hetzte hinterher. Lew folgte mir.

Als ich den nächsten Absatz erreichte, duckte ich mich instinktiv.

Im gleichen Moment ging hier unten das Licht aus. Aus der Dunkelheit heraus blitzte das Mündungsfeuer von Joes Waffe auf. Wie die rote Zunge eines Drachen, von dem nichts weiter zu sehen war. Das Geschoss fegte dicht über meinen Kopf hinweg. Ich glaubte sogar, den Luftzug an den Haaren spüren zu können. Hinter mir ging das Blei in die Wand und sprengte ein paar Fliesen aus ihrem Leim.

Ich konnte nicht zurückfeuern.

Die Gefahr war zu groß, die Geisel zu verletzen. Ich sprang zur Seite, während das Bleigewitter an mir vorbeisengte.

32

Juan Arkiz saß noch immer im Separee. Er führte sein langstieliges Glas zum Mund und schlürfte in aller Seelenruhe seinen Drink.

"Was machen wir jetzt?", fragte Jack Garcia, der gerade in das Separee zurückgekehrt war. "Da draußen ist die Hölle los."

"Ist das unser Problem, Garcia?"

"Ich weiß nicht. Ich habe FBI-Beamten gesehen."

"Aber die sind nicht unseretwegen hier."

"Sind Sie sich sicher?"

"Ich mag es nicht, wenn jemand Nervosität verbreitet, Garcia!"

Er trank sein Glas leer und erhob sich. Seine Augen waren schmal geworden. Arkiz musterte Garcia einen Augenblick lang, dann fragte er: "Tragen Sie Ihre Waffe bei sich?"

"Sicher."

"Die, mit der Sie den kleinen Dicken erledigt haben?"

"Ja."

"Das könnte für Sie zum Problem werden Garcia. Vorausgesetzt, man findet Cardoso irgendwann auf dem Grund des Hudson. Wenn Sie das für ausgeschlossen halten, können Sie auch in Zukunft ganz beruhigt schlafen. Falls nicht, sollten Sie in die Küche spurten und das Ding in den Müllschlucker werfen... Vorher natürlich gut abwischen!" Arkiz lachte heiser. Er schlug Garcia auf die Schulter.

"Verlieren Sie nicht die Nerven! Was will man uns schon vorwerfen? Dass wir einen Drink genossen haben?"

"Was, wenn Joe Donato singt?"

Arkiz' Gesicht wurde etwas düsterer.

"Abwarten, Garcia! Auf jeden Fall ist es jetzt zu spät, ihn noch umzubringen..."

33

Joe ballerte wild herum. Immer wieder blitzte es rot in der Dunkelheit des vor uns liegenden Kellergangs auf. Wir sprangen zur Seite und brachten uns in Sicherheit. Ich rechnete.

Wenn in Joes Waffe ein handelsübliches Magazin steckte, dann hatte er in jedem Fall schon einen beträchtlichen Teil seiner Munition verschossen.

Aber es reichte ihm ein einziger Schuss, um seine Geisel zu erschießen.

Es wurde still.

Aus dem Keller war nichts zu hören. Von oben drangen Geräusche aus der Disco-Arena an unsere Ohren. Dort war noch immer der Teufel los.

"Bleibt, wo ihr seid!", rief Joe indessen. "Ich habe eine Geisel bei mir und werde nicht zögern, sie über den Jordan zu schicken."

"Sie haben keine Chance, Donato!", rief ich. "Das Blue Light ist umstellt. Sie kommen hier nicht heraus. Erst recht nicht, wenn Sie Amok laufen... Lassen Sie die Frau also frei!"

"Wie heißen Sie?", rief Joe.

"Special Agent Murray Abdul vom FBI!"

"Sind Sie befugt zu Verhandeln?"

"Ich bin befugt, Sie festzunehmen."

"Ich will einen Wagen!", krächzte Donatos Stimme.

"Das kann ich nicht allein entscheiden!", sagte ich. "Dazu brauchen wir Zeit!"

"Sie haben keine Zeit!", fauchte Donaot. In der Dunkelheit schien irgendetwas vor sich zu gehen. Die junge Frau stöhnte auf, wie unter Schmerzen. "Muss ich dich erst auf die grobe Tour daran erinnern, dass ich am längeren Hebelarm sitze, G-man?"

Grimm erfasste mich.

Dieser Mann war unberechenbar. Ein in die Enge getriebenes Raubtier, das zu allem bereit war. Das Leben der Geisel spielte dabei keine Rolle.

Ich atmete tief durch.

Zeit gewinnen. Das war in solchen Situationen immer das Zauberwort. Und Ruhe bewahren. Man durfte sich nicht von seinen Gefühlen zu irgendeiner Unvorsichtigkeit hinreißen lassen.

"Hören, Donato...", rief ich.

Aber Joe Donato schien sich taubzustellen.

Ich bekam keine Antwort.

Ich wechselte einen etwas ratlosen Blick mit Lew.

"Einfach weitermachen!", raunte er mir zu. Und dann wisperte er: "Ich werde mal versuchen, von der anderen Seite an ihn heranzukommen."

"Du kennst dich gar nicht hier aus."

"Es wird schon eine Möglichkeit geben..." Lew nickte mir zu und schlich davon. Seine Bewegungen waren absolut lautlos.

Er hatte recht. Es musste noch einen zweiten Eingang zum Keller geben.

Bevor er aus meinem Blickfeld verschwand, nickte er mir aufmunternd zu.

Ich versuchte den Anführer der KILLER ANGELS derweil mit meinem Gerede etwas bei Laune zu halten.

"Donato, ich kann das mit dem Wagen nicht allein entscheiden. Wo soll er denn stehen?"

"Auf dem Parkplatz."

"Und Sie glauben, dass Sie auf diese Weise davonkommen?"

"Ich glaube es nicht, ich weiß es. Schließlich habe ich charmante Begleitung..."

Irgendetwas an seiner Stimme hat sich verändert, ging es mir durch den Kopf. Nur - was?

Ich zerbrach mir den Kopf über diese Frage.

In Gedanken ging ich alles durch, versuchte zu begreifen, was es war. Und dann hatte ich es.

Er muss sich ein ganzes Stück weiter in den dunklen Gang hinein bewegt haben, wurde mir klar.

Ich versuchte, mich in seine Lage hineinzuversetzen. Was hätte ich in seiner Lage getan? Auf das Versprechen gebaut, dass mir jemand einen Wagen vor die Tür stellt? Selbst mit einer Geisel am Arm musste man schon sehr verzweifelt sein, um so etwas zu versuchen. Jeder, der ein bisschen davon verstand - und Donato zählte ich dazu - musste wissen, wie gering die Chancen waren, bei einer solchen Sache ungeschoren davonzukommen. Eine Verfolgungsjagd quer durch New York City, unterstützt von Hubschraubern und eventuell sogar noch vom Kamerateam irgendeines Kabelsenders dokumentiert, das den Polizeifunk abhörte.

Eigentlich konnte er darauf nicht setzen...

Es sei denn, es ist seine einzige Chance, ging es mir durch den Kopf. Ich klopfte gedanklich alles ab. Welche Möglichkeiten hatte er noch? Zu dumm, dass ich das Innenleben des Blue Light nicht besser kannte...

Vielleicht wäre ich dann auf die Antwort gekommen.

"Donato!", rief ich.

"Was ist, G-man?"

"Ich werde mit meinen Leuten telefonieren... Dann kann ich Ihnen mehr dazu sagen, ob es möglich ist, einen Wagen für Sie bereitzustellen. Aber selbst wenn das Okay kommt - es wird nicht so schnell gehen, wie Sie wollen!"

"Dann tut es mir für die Lady hier leid."

"Sie selbst sind Schuld daran, dass die Lage so ist!", erwiderte ich. Ich hatte das Gefühl, dass ich das Gespräch unbedingt in Gang halten musste. So lange wusste ich jedenfalls ungefähr, wo Killer-Joe sich befand.

Joes heiseres Lachen hallte in dem dunklen Kellergang wieder. "Quatsch nicht, G-man!"

"Im Blue Light ist der Teufel los. Ein einziges Chaos, für das Sie mit Ihrer wilden Ballerei gesorgt haben, Donato!"

"Was hat das mit meinem Wagen zu tun."

"Eine ganze Menge, können Sie sich das nicht denken?"

"Sie werden einen Weg finden, G-man. Ich geben Ihnen zehn Minuten. Sollten Sie versuchen, den Wagen mit einem Sender zu verwanzen, wird die Lady hier dafür bezahlen..."

"Donato..."

"Das ist mein letztes Wort, G-man!", fauchte Joe. Ein schmerzerfülltes Stöhnen der jungen Frau war zu hören. Ich hatte keine Vorstellung davon, was er mit ihr anstellte. "Helfen Sie mir!", rief sie.

"Zehn Minuten!", sagte Donato. "Vorne am Haupteingang! Und glauben Sie nicht, dass ich nicht verzweifelt genug bin, um meine Geisel oder jeden anderen, der sich mir in den Weg stellt, zu töten. Ich habe nichts mehr zu verlieren." In diesem Punkt hatte er recht.

Er hatte Agent Archie Gardner vor unseren Augen erschossen. Vermutlich war das jener seiner Morde, den man ihm am leichtesten nachweisen konnte. Und es war nun einmal eine Tatsache, dass zwar mehrfach lebenslänglich aufgebrummt bekommen, aber nur einmal hingerichtet werden konnte. Ich fingerte meinen Handy aus der Manteltasche. Einen Augenblick später hatte ich Steven Belmonte am Apparat. In knappen Worten erläuterte ich ihm die Lage.

"Ich kümmere mich um die Sache!", versprach er.

"Zehn Minuten", sagte ich. "Bis dahin will er, dass eine Entscheidung in seinem Sinn getroffen wird."

"Das wird leider eng, Murray!", erwiderte Belmonte. Joe konnte allenfalls verstehen, was ich sagte, aber nicht Belmontes Erwiderung.

"Ich werde ihm also sagen, dass die Sache vermutlich in Ordnung geht, Steven", sagte ich.

Belmonte erwiderte: "Mach das, Murray, wenn du ihn dadurch bei Laune halten kannst... Hauptsache, er tut der Geisel nichts."

"Sehe ich genauso", brummte ich.

34

"Heh, Donato!", rief ich.

Ich wartete einige Augenblicke. Aber es kam keine Antwort.

"Sind Sie noch da, Donato?"

Keine Antwort.

Eine Reihe von Gedanken wirbelten in dieser Sekunde in mir durcheinander. Ich fragte mich, ob Lew inzwischen etwas erreicht hatte.

"Donato!", rief ich. "Ich bekomme gerade eine Nachricht, was Ihren Wagen betrifft..."

Ich wollte Joe ködern, denn auf einmal sagte mir mein Instinkt, dass irgendetwas nicht stimmte.

Keine Antwort.

Er ist längst weg, dachte ich. Der Gedanke war absurd. Dieser Keller war eine Falle, aus der es kein Entrinnen gab. Rund um das Blue Light standen Cops und warteten nur darauf, Joe Donato in die Finger zu bekommen.

Und doch...

Ich packte die P226 mit beiden Händen.

Obwohl es in dieser Sekunde jedweder logischen Überlegung widersprach, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass ich jetzt schnell handeln musste, wenn ich verhindern wollte, dass Killer-Joe mir durch die Lappen ging.

So absurd der Gedanke auch erscheinen mochte.

Ein letztes Mal rief ich Donato.

Keine Erwiderung.

Vorsichtig tastete ich mich vor, bis zu jenem

Treppenabsatz, von dem aus man bereits in den dunklen Kellergang blicken konnte. Ich war gleichsam auf dem Präsentierteller. Ohne Deckung. Ohne meinen Gegner sehen zu können. Jede Sekunde erwartete ich, dass Joe seine Waffe aufblitzen ließ. Mein einziger Trost war, dass er sich bislang als ziemlich lausiger Schütze erwiesen hatte.

Ich tastete mich vorsichtig vorwärts, die P226 mit beiden Händen umfasst. Für den Fall, dass meine Handlungsweise dazu führte, dass der jungen Frau irgendetwas passierte, nahm ich mir vor, die FBI-Marke für immer zurückzugeben.

Ich erreichte den Eingang des Kellergangs.

Man konnte gerade ein paar Meter weit sehen, so dunkel war es hier.

Ich wartete einen Augenblick und lauschte.

Nicht das geringste Geräusch war zu hören.

Er ist nicht mehr hier, ging es mir durch den Kopf. Ich hatte es gewusst. Ich ging in die Dunkelheit hinein. An der Seite sah ich etwas Schwarzes an der Wand. Ich griff mit der Linken danach. Es war das, wofür ich es gehalten hatte: Ein Lichtschalter. Ich betätigte ihn. Flackernd gingen ein paar Neonröhren an, die hier unten normalerweise für Licht sorgten. Eine war defekt, sie sprang nicht an.

Bis zum Ende des Ganges konnte man alles gut überblicken. Von Killer-Joe war nichts zu sehen!

Ich schnellte den Gang entlang.

Am Ende befand sich eine Tür.

Eine feuerfeste Stahltür, wie sie in Heizungskellern üblich ist. Ich drückte die Klinke hinunter und riss sie auf. Ich riss den Lauf der P226 hoch und...

Ich war überrascht über das, was ich sah. Vor mir erstreckte sich ein gemütlich eingerichteter Salon. Mehrere runde Tische befanden sich darin. Die dazugehörigen Stühle waren ledergepolstert. Der Fußboden war mit dunkelgrauem Teppichboden bedeckt. Rechts befand sich eine Bar. Außerdem gab es einen Hinterausgang...

Es war ziemlich eindeutig, was hier im wahrsten Sinne des Wortes gespielt wurde.

Dies war ein illegaler Spielsalon, in dem sich bei Bedarf geschlossene Clubs von Zockern trafen. Wenn es Schwierigkeiten gab, konnte das über eine Gegensprechanlage rasch mitgeteilt werden und der erlauchte Kreis löste sich in Nichts auf. Die Spieler verschwanden über den Fluchtweg. Das war es also, was Joe im Sinn gehabt hatte!

Er hatte gewusst, wie es hier unten aussah. Schließlich hatte er als einer von Arkiz' Leuten angefangen.

Vielleicht hatte er sogar selbst schon hier unten gezockt. Ich stürzte in Richtung des Hinterausgangs. Mochte der Teufel wissen, wohin der hinführte... Ich wollte gerade die Tür aufreißen, da hörte ich einen stöhnenden Laut und erstarrte.

Ich drehte mich in Richtung der Bar um.

Mit wenigen Schritten hatte ich die Theke erreicht. Dahinter lag die Blondine, die Joe als Geisel genommen hatte. Ihre Lage war äußerst unbequem. Joe hatte ihr Arme und Beine auf dem Rücken mit einem Gürtel zusammengeschnürt. Fachmännisch und brutal. Vorher hatte er sie die Nylonstrumpfhose ausziehen lassen und sie damit geknebelt. Hilfesuchend sah sie mich an.

Mit schnellen Handgriffen befreite ich sie von ihren Fesseln.

Sie rang nach Luft.

Und dann deutete sie in Richtung des Hinterausgangs. Ich verstand, auch ohne dass sie dafür etwas zu sagen brauchte. Sie stand noch unter Schock. Ihre großen dunklen Augen waren weit aufgerissen. Die Angst stand ihr noch im Gesicht geschrieben.

"Bleiben Sie hier", sagte ich. "Es wird sich gleich jemand um Sie kümmern..."

"Sind Sie ein Polizist?"

Ihre Stimme klang schwach. Sie war nicht mehr als ein Hauch.

"FBI", sagte ich.

Das schien sie zu beruhigen.

"Es war so schrecklich...", wimmerte sie, während ihr Tränen über das Gesicht rannen.

"Warten Sie hier", wiederholte ich.

Und dann wandte mich der Tür zu. Ich riss sie auf, die Waffe im Anschlag. Ein langer, kalter Gang lag vor mir. Es roch feucht. Ein Keller hinter dem Keller, so schien es. Ich rannte den Gang entlang, nachdem ich Licht gemacht hatte. Drei staubige Glühbirnen waren im Abstand von einigen Dutzend Metern angebracht. Der Gang machte eine Biegung. Und schließlich kam ich an eine Art Loch. Eine schmale Wendeltreppe führte hinab. Die Stufen waren aus Metallrosten und außerdem nicht richtig festgeschraubt. Es schepperte furchtbar, als ich hinunterlief. Der Krach hallte mehrfach wieder. Dieses Getöse musste meinen Gegner eindringlich gewarnt haben, wenn er überhaupt noch hier unten war.

Ich blickte mich um. Die Beleuchtung war spärlich. Der Gang, der sich jetzt vor mir erstreckte, war so niedrig, dass man sich bücken musste. Einige provisorisch wirkende Pfeiler und Stürze hatten offenbar die Aufgabe, diesen eigenartigen Stollen vor dem Einstürzen zu bewahren. Ich vergegenwärtigte mir die Lage des Blue Light. Wenn dieser Gang einen Sinn haben sollte, dann mussten sich der Ausgang an einer Stelle befinden, der nicht mehr im unmittelbaren Umkreis des Blue Light lag.

Während ich in geduckter Haltung den Stollen entlanghetzte, griff ich nach dem Handy. Vielleicht konnte ich unsere Leute erreichen, damit sie entsprechende Vorkehrungen treffen konnten...

Leider hatte ich hier unten keinen Empfang.

Ich unterdrückte einen Fluch und steckte den Apparat wieder ein.

Ich hetzte vorwärts.

Vielleicht kam ich viel zu spät. Aber ich musste es wenigstens versuchen.

Immer weiter vorwärts ging es. Die Beleuchtung wurde immer schlechter und schließlich konnte ich mich beinahe nur noch blind vorwärtsbewegen.

Und dann hörte ich ein Geräusch.

Ein Rauschen.

Wasser!

35

Ich kämpfte mich Stück um Stück vorwärts. Der einzige Trost war, dass Joe Donato es auch nicht leichter gehabt hatte, als er hier durch gekommen war.

Und das war er.

Das Rauschen wurde lauter.

Wenig später erreichte ich ein dunkles Gewölbe. Obwohl ich nicht viel sehen konnte, war mir sofort klar, dass es sich um einen Abwasserkanal handeln musste!

Der bestialische Geruch sprach in dieser Hinsicht Bände. Wer immer sich diesen Fluchtweg für Zocker ausgedacht hatte - man musste ihm unfreiwillig Respekt zollen. Ehe ich mich versah, stand ich knöcheltief in einer dunklen Brühe, deren Bestandteile ich gar nicht erst wissen wollte. Hoch über mir befand sich etwas Leuchtendes. Eine Art Lichterkranz. Es handelte sich um einen Gullideckel, durch den das Licht der Straße fiel. Das Flackern der Neonreklamen war bis hier unten in diese stinkende Unterwelt zu sehen. Die illegalen Glücksspieler im Blue Light hatten an wirklich alles gedacht.

Eine Stahlleiter war in der Wand des Gewölbes verankert worden und führte hinauf zum Gulli. Ich erklomm sie mit schnellen Bewegungen. Oben angekommen hob ich vorsichtig den Gullideckel zur Seite. Ich war froh, mich nicht mitten auf einer Avenue zu befinden, wo einem ein Dutzend Autos gleich den Kopf abfahren.

Ich zog mich aus dem Gulli heraus und sah mich um. Ich war in einer kleinen Nebenstraße, die relativ hell erleuchtet war. Geschäfte der gehobenen Klasse befanden sich hier. Die meisten davon hatten rund um die Uhr geöffnet.

Einige Passanten bedachten mich mit neugierigen Blicken, während sie mich aus dem Abfluss steigen sahen.

Ich schob den Deckel wieder über die Öffnung und ließ den Blick schweifen.

Und dann sah ich ihn.

Er wandte den Kopf, als das Licht einer Schaufensterreklame auf ihn fiel und ihn deutlich hervortreten ließ. Er wirkte wie einer der Passanten, die um diese Zeit noch durch die Straßen schlenderten. Das einzig Auffällige an ihm war, dass er bei diesen Temperaturen keinen Mantel trug.

Ich setzte zu einem Spurt an und verfluchte dabei innerlich meine nassen Füße. In dieser kalten Nacht war es kein Vergnügen, damit herumzulaufen.

Immer wieder drehte Joe Donato sich nervös herum. Aber er sah mich nicht.

Als G-man weiß man, was man tun muss, um jemanden so zu beschatten, dass derjenige es nicht gleich merkt. Selbst dann, wenn er seinen Verfolger kennt.

Aber so genau hatte Joe sich mein Gesicht vermutlich gar nicht angesehen.

Per Handy gab ich zwischendurch kurz unseren Leuten Bescheid. Etwas Unterstützung konnte nicht schaden. Killer-Joe durfte uns nicht schon wieder durch die Lappen gehen. Donato bog um eine Ecke. Ich folgte ihm in eine schlechtbeleuchtete Straße hinein, in der vorwiegend Wohnhäuser lagen. Typische New Yorker Brownstones. An manchen rankte sich Efeu empor. Die Straßenränder waren zugeparkt. Joe drehte sich immer seltener um. Stattdessen bedachte er die parkenden Wagen mit interessierten Blicken.

Vermutlich dachte er daran, sich eines dieser Fahrzeuge unter den Nagel zu reißen.

Er hatte sich schnell für einen Chrysler entschieden. Es war kein Modell. Ein Allerweltswagen, auf den niemand achten würde. Mit geübten Griffen machte er ich an der Tür zu schaffen. Es konnte überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass er auf diesem Gebiet reichlich Erfahrung hatte. Ich näherte mich vorsichtig.

In dem Moment, in dem die Chryslertür geöffnet wurde, trat ich auf ihn zu.

"Die Hände hoch, Donato!", rief ich. "Meinen Spruch habe ich ihnen ja bereits einmal aufgesagt... Machen Sie keine Dummheiten!"

Donato wirkte wie erstarrt.

Langsam hoben sich seine Hände. Sehr langsam.

Er drehte den Kopf in meine Richtung.

Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Jede Sehne seines Körpers war angespannt. Ich wusste genau, was er in diesem Moment dachte. Er überlegte, seine Waffe herauszureißen und abzufeuern. Insgeheim wog er seine Chancen ab.

Ich näherte mich ihm und schüttelte den Kopf.

"Tun Sie es nicht, Donato. Sie haben keine Chance... Bevor Sie eine falsche Bewegung gemacht haben, habe ich abgedrückt..."

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738912012
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
gemordet vier krimis

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Gemordet wird immer wieder: Vier Krimis