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Vier Alfred Bekker Krimis - Mörder sprechen nicht mit jedem

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2017 500 Seiten

Zusammenfassung

Mörder sprechen nicht mit jedem: Vier Krimis Februar 2017
Kriminalromane von Alfred Bekker:

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Alfred Bekker: Der Killer von Manhattan

Alfred Bekker: Hass, der wie Feuer brennt

Alfred Bekker: East Harlem Killer

Alfred Bekker: Ein Ermordeter taucht unter

Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Und immer anders, als man zuerst denkt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Dedication

Alfred Bekker: Als ich meinen zweiten Kriminalroman "Der Killer-Cop" schrieb, wurde mein Sohn Hendrik geboren. Deswegen ist dieser Roman bis heute etwas Besonderes für mich, weil die Arbeit daran mit dieser Erinnerung verknüpft ist. 
Ein besonderes Erlebnis ist auch mit "Stirb, Schnüffler" verknüpft (erschien später auch als "Tod eines Schnüfflers" und auf Englisch als "Fatal Jeopardy"). 
Zunächstmal hieß der Roman ursprünglich "Stirb, Schnüffler!" mit Ausrufungszeichen, aber Horst Hoffmann killte in seinem letztlich doch vergeblichen Kampf gegen meine Neigung zu zu vielen Ausrufungszeichen auch dieses.
Als der Roman 1996 als Moewig Hardcover neu aufgelegt wurde, war das Ausrufungszeichen aber wieder drin. Den Roman schrieb ich mitten in meinen Prüfungen zum Staatsexamen für das Lehramt. 
Ich war etwas knapp dran mit dem Termin und hatte nun die Wahl: entweder den Roman pünktlich zu Ende zu bringen oder doch noch Knaurs Buch der modernen Psychologie zu lesen, dass die Grundlage für die Prüfung sein sollte. 
Ich entschied mich für ersteres und war in der Psychologie-Prüfung auf meine Allgemeinbildung angewiesen, die für ein ausreichend reichte. 
Jedesmal, wenn ich später meine Zeugnisse vorlegen musste (das Referendariat eingerechnet, war ich insgesamt 13 Jahre Lehrer bevor ich mich ausschließlich der Schriftstellerei widmete), wurde ich an diesen Roman erinnert. 
Meine Note im ersten Staatsexamen war nämlich 1,3 und der Großteil der 3 hinter dem Komma geht auf die Psychologie-Prüfung und den Roman "Stirb, Schnüffler" (ohne Ausrufungszeichen wie in der Erstausgabe) zurück.

Mörder sprechen nicht mit jedem: Vier Krimis Februar 2017

Drei Kriminalromane von Alfred Bekker:

Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Alfred Bekker: Der Killer von Manhattan

Alfred Bekker: Hass, der wie Feuer brennt

Alfred Bekker: East Harlem Killer

Alfred Bekker: Ein Ermordeter taucht unter

Krimis der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre.

Mal provinziell, mal urban. Und immer anders, als man zuerst denkt.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E—Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover Steve Mayer

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

DER KILLER VON MANHATTAN

von Alfred Bekker

Der Umfang dieses Buchs entspricht 104 Taschenbuchseiten.

Eine Serie von Attentatsversuchen und Morden erschüttert New York. Aber die Opfer scheinen nichts gemeinsam zu haben. Privatdetektiv Bount Reiniger übernimmt den Fall, aber plötzlich will niemand mehr, dass er ihn auch tatsächlich aufklärt...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

1

Als Larry Kostler sich an diesem Morgen von seinem Chauffeur ins Büro fahren ließ, war seine Laune nicht gerade besonders gut.

Es gab Ärger in seiner Firma und wie es schien, würde er mit dem eisernen Besen fegen müssen, um da wieder aufzuräumen. Aber im Augenblick schienen seine Gedanken ganz woanders zu sein. Er blickte nachdenklich aus dem Fenster, während der Chauffeur die schwarze Limousine durch den New Yorker Stadtverkehr lenkte.

Es gab einen Punkt, an dem man sich fragte: Wozu das alles?

Und vielleicht war Larry Kostler an diesem Punkt. Zwischendurch schaute er kurz auf die Uhr.

Er war spät dran. Wenn man hinaus in den Regen sah und auf die Blechlawine schaute, die sich durch die Straßen quälte, konnte man auf die Idee kommen, dass es damit zu tun hatte, dass Larry Kostler heute zum ersten Mal seit Jahren nicht pünktlich war.

Aber daran lag es nicht.

Kostler hatte seinem Notar noch einen kurzen Besuch abgestattet. Auch eine Sache, die ihm nicht angenehm gewesen war und die er lange vor sich hergeschoben hatte. Was soll's!, dachte er. Jetzt habe ich wenigstens das hinter mir!

Und die Firma lief ihm schließlich nicht davon.

Wenn es sich einer leisten konnte, spät dran zu sein, dann er, denn er war der Boss.

Es dauerte nicht mehr lange und der Wagen hielt vor dem mächtigen Gebäude, in dessen Mauern die Kostler Holding Company ihre Büros hatte.

Der Wagen hielt; der Chauffeur stieg als erster aus, um seinem Boss die Tür zu öffnen.

Die Tür ging Sekunden später auf.

"Vielleicht brauche ich Sie in einer halben Stunde wieder!", meinte Kostler zum Chauffeur. "Halten Sie sich also bereit.

"Jawohl, Sir!"

Kostler stieg mit umständlichen, etwas ungeschickt wirkenden Bewegungen aus.

Er hatte mindestens ein Dutzend Kilo Übergewicht und das machte ihn langsam. Er keuchte erbärmlich und sein Gesicht war puterrot angelaufen, als er schließlich neben seinem Chauffeur stand.

Dann geschah es.

Kostler hörte quietschende Reifen und das Heranbrausen eines anderen Wagens.

Er drehte sich unwillkürlich dorthin um. Es war ein zweisitziger Sportwagen mit verdunkelten Scheiben, soviel sah er noch.

Alles Weitere dauerte nur Sekunden!

Eine der Scheiben ging ein Stück hinunter, etwas Längliches schob sich einige Zentimeter hindurch und dann blitzte es auf einmal.

Es war ein Mündungsfeuer ohne Schussgeräusch. Nur ein Klacken des Abzugs, das durch die Geräusche der Umgebung fast völlig verschluckt wurde.

Und trotzdem war es ein Geräusch, das Larry Kostler das Blut in den Adern gefrieren ließ, denn er kannte es nur zu gut... Es war ein verdammt hässliches Geräusch, auch wenn es kaum zu hören war.

Larry Kostler sah eine Kugel am Lack der Limousine kratzen, direkt vor seinen Augen, oben auf dem Dach.

Und noch ehe er wirklich begriffen hatte, was vor sich ging, und dass der Fahrer des fremden Wagens es ganz offensichtlich auf sein Leben abgesehen hatte, wurde ein zweiter Schuss abgefeuert. Und ein Dritter und dann noch ein Vierter. Kostler sah den Chauffeur mit einem kleinen, runden Loch im Kopf auf dem Pflaster liegen.

Die Augen starrten weit aufgerissen in den smogverhangenen Himmel. Er war tot.

Kostler war wie gelähmt.

Dann fühlte er einen höllischen Schmerz in der linken Schulter. Die Wucht des ersten Treffers riss ihn herum. Die zweite Kugel fuhr ihm seitlich in den Brustkorb.

Das letzte, was er fühlte, war Schwindel.

Alles begann sich drehen.

Und dann kam die Schwäche.

Seine Beine knickten ihm unter dem Körper weg, und er sackte zu Boden. Er hörte noch wie Leute zusammenliefen und aufgeregt durcheinander redeten.

Irgendjemand schrie hysterisch.

Und dann hörte Kostler die quietschenden Reifen des Sportwagens mit den verdunkelten Scheiben, der offensichtlich davonraste.

Dann wurde es auf einmal stumm in seiner Umgebung und dunkel vor seinen Augen.

Sehr, sehr dunkel...

2

Die Tür flog auf und Bount Reiniger kam schwungvoll herein. Er hatte den Mantel bereits ausgezogen, knöpfte sich nun den obersten Hemdknopf auf und lockerte dann seine Krawatte etwas.

"Guten Morgen, June!", grüßte er gutgelaunt June March, seine Assistentin.

"Tag, Bount!"

"Ich weiß, ich bin etwas spät dran. Aber dieser verdammte Verkehr!"

June erhob sich von ihrem Platz und trat zu Reiniger heran, der unterdessen seinen Mantel irgendwo abgelegt hatte.

"Du hast Glück, Bount!"

"In wie fern?"

"Die Klientin, die seit fast einer Stunde in deinem Büro wartet und der ich bereits die dritte Tasse Kaffee aufgebrüht habe, sieht dermaßen verzweifelt aus, dass sie wahrscheinlich auch noch ein paar weitere Stunden auf sich genommen hätte!" Bount zuckte mit den Schultern.

"Leute, die ein sorgloses Leben führen und keinerlei Probleme haben sind ja auch nicht gerade die typische Kundschaft eines Privatdetektivs, oder?"

Als Bount Reiniger einen Moment später sein Büro betrat, wusste er, was June gemeint hatte.

Da saß eine junge Frau vor ihm im Sessel, die wirklich alles andere, als ein glückliches Gesicht machte. Sie hatte ausdrucksstarke, grün-graue Augen, ein feingeschnittenes Gesicht und das lange blonde Haar fiel ihr auf die Schultern herab.

Sie gefiel Bount.

Aber es war ihrem Gesicht anzusehen, dass sie große Sorgen haben musste.

Bount grüßte höflich.

"Tag, Miss..."

"Geraldine Kostler", sagte sie.

Bount gab ihr die Hand und versuchte zu lächeln.

"Angenehm."

"Sie sind Bount Reiniger, der Privatdetektiv?"

"Richtig."

"Eigentlich eine dumme Frage. Ich habe Ihr Bild nämlich vor ein paar Tagen in der Zeitung gesehen... Sie sollen der Beste sein, Mr. Reiniger."

"Man tut was man kann", erwiderte Bount bescheiden und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. "Aber nennen Sie mich Bount! Und dann sagen Sie mir bitte, was Sie auf dem Herzen haben, Miss."

"Vielleicht haben Sie schon einmal den Namen meines Vaters gehört - Larry Kostler."

Bount überlegte kurz, aber dann schüttelte er den Kopf.

"Nein, tut mir leid. Jedenfalls fällt es mir im Moment nicht ein."

"Larry Kostler von der Larry Kostler Holding."

"Ich lese zwar nicht regelmäßig den Wirtschaftsteil in der Zeitung, aber den Namen der Firma habe ich schon gehört. Was ist mit Ihrem Vater?"

"Auf ihn wurde gestern ein Mordanschlag verübt. Es steht heute in den Zeitungen."

Bount sah das zusammengefaltete Exemplar der New York Times auf seinem Tisch liegen.

"Ich bin heute noch nicht dazu gekommen, in die Times zu sehen!", gab er zu.

"Ein Wagen kam vorbei. Mit verdunkelten Scheiben. Und dann wurde geschossen. Der Chauffeur ist dabei ums Leben gekommen, aber es sieht wohl ganz so aus, als hätte man es eigentlich auf Dad abgesehen gehabt... Mein Vater liegt jetzt noch immer auf der Intensivstation. Er ist noch nicht über den Berg."

"Hat die Polizei schon...?"

"Die können nicht viel machen."

"Aber..."

"Es ist nicht der erste Versuch, Dad umzubringen, Mister Reiniger - ich meine: Bount!"

"Ach, nein?"

"Nein. Einmal hat jemand seinen Wagen in die Luft gesprengt. Das ist drei Wochen her. Er hatte Glück, denn er ist noch mal ausgestiegen, weil er etwas vergessen hatte. Da ist der Wagen in die Luft gegangen."

"Das sieht nach der Arbeit von Profis aus", meinte Reiniger. Geraldine Kostler nickte.

"Ja, das haben die Leute von der Polizei auch gesagt."

"Haben Sie eine Ahnung, wer dahinterstecken könnte?"

"Ja. Die Sache ist ziemlich eindeutig." Bount runzelte die Stirn.

So etwas hatte man selten.

"Und wer?"

"Tony Maldini. Ich denke, dass er hinter den Killern steckt." Bount pfiff durch die Zähne.

"Maldini?" Er atmete tief durch. "Wenn das der Maldini ist, den ich im Auge habe, dann hat Ihr Dad aber keinen besonders guten Umgang, Miss!"

"Ich weiß, Bount."

"Haben Sie Polizeischutz für Ihren Vater gefordert?"

"Nein."

"Warum nicht?"

"Er hat seine eigenen Bewacher und Sicherheitsleute!"

"Die kann Maldini mit seiner Portokasse kaufen!"

"Das könnte er auch bei einem Polizisten, oder etwa nicht?" Da musste Bount ihr Recht geben.

"Stimmt. Aber er ist in Gefahr. Und Sie auch."

"Ich bin nicht ängstlich!"

"Das sollten Sie in diesem Fall aber. Maldini war schon eine große Nummer in der Unterwelt, als ich noch bei der New Yorker Polizei war. Man konnte ihm allerdings nie etwas nachweisen, obwohl jedem klar war, dass seine Geschäfte faul waren. Waffen, Drogen, Prostitution, Schutzgelderpressung - der hat seine Finger überall, wo es viel zu verdienen gibt." Bount beugte sich etwas vor. "Was hatte Ihr Vater mit Tony Maldini zu tun? Wie kommt es, dass Maldini ihn tot sehen will. Vorausgesetzt es stimmt, was Sie mir da erzählt haben."

Geraldine schwieg.

Bount lehnte sich zurück und legte etwas die Stirn in Falten. Etwas war faul an der Sache. Etwas stimmte hier nicht, vielleicht betraf das nicht die junge Frau, die vor ihm saß, aber bestimmt ihren Vater.

"Dazu möchte ich nichts sagen", meinte sie. "Und ich denke, Sie müssen das auch nicht wissen! Ich möchte einfach nur, dass Sie dafür sorgen, dass mein Vater am leben bleibt. Mehr nicht!"

"Warum können das nicht die Sicherheitsleute Ihrer Firma?"

"Sie können das schon, aber ich traue ihnen nicht."

"Aber mir trauen Sie?"

Sie zuckte mit den Schultern.

"Vielleicht. Irgendetwas muss man ja unternehmen!" Bount sah sie einen Moment lang nachdenklich an. Dann sagte er: "Sie sollten mir sagen, was zwischen Ihrem Vater und Maldini war und wodurch er ihm auf die Füße getreten hat!"

Einen Moment lang schien sie unschlüssig zu sein. Dann schüttelte sie mit Entschiedenheit den Kopf.

"Nein", sagte sie. "Das kommt nicht in Frage!"

"Dann kann ich leider nichts für Sie tun!"

"Aber..."

"Ich muss wissen, worum es geht, wenn ich Ihren Vater schützen soll! Jedenfalls ungefähr! Wenn Sie nur einen Mann brauchen, der mit einer Kanone umzugehen versteht, sollten Sie sich jemand anderen suchen!"

Bount hatte sich erhoben.

"So war das nicht gemeint", beeilte sich Geraldine. "Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen?"

"So, als wenn Sie zur Beichte gehen würden." Sie schluckte.

3

Als Geraldine gegangen war und bei Miss March ihre Adresse, sowie die Adresse des Krankenhauses, in dem sich ihr Vater befand, hinterlassen hatte, wusste Bount Reiniger, dass sie ihm nicht alles gesagt hatte, was sie wusste.

Fest stand wohl, dass Larry Kostler nicht immer jener seriöse Geschäftsmann gewesen war, als der er heute auftrat. Die Tatsache allein, dass Kostler mit einem Mann wie Tony Maldini in Beziehung stand, belegte das noch nicht, denn Maldinis Unternehmen teilten sich in einen legalen und einen kriminellen Zweig - sowie alles was dazwischen denkbar war. Geraldine hatte gesagt, es sei vor vielen Jahren um ein illegales Waffengeschäft gegangen, bei dem Kostler dann ausgestiegen sei.

Und das hätte Maldini ihm nicht verzeihen können. Aus seinem Syndikat stieg man nicht so einfach aus. Kostler - er hatte damals diesen Namen noch nicht getragen - war untergetaucht und hatte unter neuer Identität von vorne angefangen. Aber jetzt - nach all den Jahren - schien Maldini auf ihn aufmerksam geworden zu sein...

Der Instinkt sagte Reiniger, dass da noch mehr war... Er konnte das nicht begründen, jedenfalls nicht logisch. Es war einfach so ein Gedanke, der ihn angeflogen hatte und sich nun hartnäckig in seinem Gehirn festsetzte.

Wie beiläufig griff Bount zum Telefon und wählte eine Nummer - eine Nummer, die er im Schlaf kannte.

"Hallo?", kam zwischen seinen Lippen hindurch, als auf der anderen Seite jemand den Hörer abnahm.

"Wer spricht dort?"

Es war eine unfreundliche, gestresste Männerstimme, die er da auf der anderen Seite hörte. Aber sie gehörte nicht dem Mann, den er jetzt sprechen wollte.

"Hier ist Bount Reiniger. Ist Captain Rogers zu sprechen?"

"Nein, Sir. Ist nicht da. Vielleicht kann ich Ihnen helfen!"

"Wann kommt Rogers zurück?"

"Keine Ahnung. Könnte länger dauern. Vielleicht am Nachmittag."

Reiniger verzog ärgerlich das Gesicht.

"Wiederhören", brummte er und legte auf. Dann erhob er sich ging hinaus zu June.

"Du kannst etwas für mich tun", meinte er. June lächelte von einem Ohr zum anderen.

"Aber immer, Bount!"

"Bring alles in Erfahrung, was sich über Larry Kostler herausbekommen lässt! Das dürfte nicht allzu schwierig sein, schließlich ist er relativ bekannt!"

"Okay, Bount. Und wohin gehst du?"

"Kleiner Ausflug", meinte er nur und grinste. Und dabei hatte er schon den Mantel gegriffen. Draußen regnete es Bindfäden.

4

Es war eine ziemlich heruntergekommene Bar. Dicke Rauchschwaden hingen über den einfachen Tischen. An der Theke saßen ein paar Damen des horizontalen Gewerbes herum und tranken mit verkaterten Gesichtern Kaffee. Es war noch zu früh am Tag. Zu früh, um zu arbeiten, zu früh für Kundschaft. Ein Stockwerk höher war das, was sich offiziell ein Hotel nannte. Dort hatten die Frauen ihre Zimmer.

Der dicke Barkeeper hinter dem Schanktisch, der höchstwahrscheinlich auch sein eigener Rausschmeißer war, hatte durchgehend geöffnet. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen Cent zu verschenken, den irgendein Zecher hier vertrinken wollte.

Als Bount Reiniger den Laden betrat, glitt sein Blick schnell durch den Raum. Dann, als er zum Billardtisch sah, hatte er gefunden, was er suchte.

Ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann versuchte sich dort in verschiedenen Kunststößen.

Er spielte allein.

Das war der Mann, den Reiniger gesucht hatte!

"Tag, Brady!", meinte der Privatdetektiv knapp, als er zu ihm an den Billardtisch ging.

Brady blickte auf und runzelte zunächst die Stirn. Dann entspannte sich sein Gesichtsausdruck ein wenig. Schließlich grinste er von einem Ohr bis zum anderen.

"Tag, Reiniger. Wie geht's?"

"Ich kann nicht klagen. Und Ihnen?"

"Die Zeiten sind hart für Leute wie mich!"

"Für Leute wie Sie gibt's doch immer ein paar Schleichwege oder irre ich mich da etwa?" Reiniger hatte damit rechnen können, Brady um diese Zeit hier anzutreffen.

Er war ein Hehler, der Geschäfte mit allem machte, was sich zu Geld machen ließ.

Roy Brady war fünf Nummern kleiner als Leute vom Schlage eines Tony Maldini, aber mit diesen hatte er gemein, dass die eine Hälfte seiner Geschäfte diesseits, die andere Hälfte jenseits der Grenze lag, die das Gesetz zog.

Brady handelte mit allem.

Auch mit Informationen und genau das war der Grund, weshalb Bount Reiniger ihn ab und zu aufsuchte.

Bount blickte sich nach den Mädchen an der Theke um, aber die kümmerten sich nicht um ihn oder Brady.

Und auch der Barkeeper machte sich - nach ein paar anfänglichen misstrauischen Blicken - an seinen Gläsern zu schaffen.

Er spülte ab und schepperte dabei so laut herum, dass das allein schon einen guten Schutz gegen unliebsame Zuhörer bedeutete.

"Ich schätze, Sie sind nicht gekommen, um mir beim Billard zuzusehen!", meinte Brady.

"Nein, das ist richtig."

"Kommen Sie! Es ist langweilig, allein zu spielen!"

"Nein, danke. Ich habe es ziemlich eilig." Brady ließ die Kugeln über den Tisch sausen, dann richtete er sich auf und stützte den Kö auf den Boden.

"Also... Zur Sache, Reiniger! Was wollen Sie wissen?"

"Tony Maldini...", murmelte Bount.

Brady pfiff durch die Zähne.

"Wie kommen Sie denn an den?"

"Meine Sache."

"Gut, aber Auskünfte über Maldini sind nicht billig, Reiniger!"

"Ich verstehe..."

Bount Reiniger griff in seine Manteltasche und holte ein paar Scheine heraus, von denen er Brady einige auf den Billardtisch legte.

Brady zählte nach und steckte das Geld weg. Aber sein hungriger Blick blieb bei den Scheinen, die Bount noch in den Händen hielt.

"Was wollen Sie über Maldini wissen?"

"Alles. Was macht er im Moment so?"

"Sie sind doch mal bei der Polizei gewesen, oder?"

"Ja..."

"Dann dürfte Ihnen der Name Maldini doch geläufig sein, Mister Reiniger!"

"Ist er mir auch. Ich möchte aber wissen, was er jetzt so treibt."

"Dasselbe wie eh und je. Aber er bemüht sich nun sehr darum, saubere Finger zu behalten. An seinen Händen klebt kein Blut, nicht einmal Dreck. Da achtet er sehr drauf. Wollen Sie genau wissen, in welchen Geschäften er im Moment drinhängt?"

"Ja, das kann nicht schaden. Hören Sie sich in der Szene um!"

"Gut, ich rufe Sie dann an, Reiniger. War's das?"

"Nein. Da ist noch etwas Spezielles..." Brady zog die Augenbrauen hoch.

"Raus damit, Reiniger!"

"Irgendjemand hat es auf Larry Kostler von der Larry Kostler Holding abgesehen. Gestern ist auf ihn geschossen worden, jetzt liegt er in der Intensivstation..."

"Und Sie denken, dass Maldini dahintersteckt."

"Ja."

"Das ist 'ne heikle Sache!"

"Ich weiß."

"Wenn Maldini tatsächlich dahintersteckt, macht er das so, dass niemand die Sache mit ihm in Verbindung bringen kann. Profis, Sie verstehen?"

"Natürlich. Versuchen Sie trotzdem, etwas aufzuschnappen."

"Dafür reicht das aber nicht, was Sie mir gerade gegeben haben!"

Bount Reiniger lachte und legte Brady die restlichen Scheine hin, die er noch in der Hand hielt. Dann drehte Bount sich um und ging.

5

Draußen war das Wetter immer noch hundsmiserabel. Aber immerhin war der Platzregen von einem beständigen Nieseln abgelöst worden.

Bount Reiniger schlug sich den Mantelkragen hoch und beeilte sich damit, hinter das Steuer seines 500 SL zu kommen. Eine halbe Stunde später war Bount Reiniger auf der Intensivstation jener Klinik, die Geraldine ihm angegeben hatte. Als er das rotgeweinte Gesicht der jungen Frau sah, wusste er, dass etwas geschehen war. Es war nicht schwer zu erraten, was... Bount legte ihr den Arm um die Schulter und gab ihr sein Taschentuch.

"Er ist tot", murmelte sie. "Dad ist tot! Er ist seinen Verletzungen erlegen, hat der Arzt gesagt. Sie konnten nichts mehr machen..."

"Es tut mir leid für Sie, Geraldine!"

Sie blickte auf und Bount Reiniger geradewegs in die Augen.

"Jetzt ist ein Mordfall daraus geworden, nicht wahr?" Bount nickte.

"Ja."

"Ich möchte, dass Sie den finden, der meinen Vater umgebracht hat. Geld spielt dabei keine Rolle!"

"Ich werde tun, was ich kann, Miss!"

"Tun Sie das, Bount!"

"Sind Sie mit dem Taxi gekommen, das da draußen wartet?"

"Ja."

"Soll ich Sie nach Hause bringen?"

Zwei Sekunden lang schien sie unschlüssig zu sein und zu überlegen.

Aber dann nickte sie schließlich.

"Ja."

Es machte den Eindruck, als wären ihre Gedanken weit weg. Sehr weit...

6

Sie fuhren durch den dichten Stadtverkehr und den Regen. Beide schienen innerhalb der letzten halben Stunde wieder zugenommen zu haben.

Sie sprachen kaum mehr als das Nötigste.

Geraldine wohnte in der Villa ihres Vaters, draußen auf Long Island.

Und genau dorthin ging es jetzt.

Vielleicht würde es etwas bringen, sich dort etwas umzusehen, irgendetwas - und wenn es nur eine Kleinigkeit war... Wenn es wirklich Maldini war, der hinter diesem Mord steckte, dann würde die Schwierigkeit darin bestehen, es ihm zu beweisen. Zumindest, dass er den Auftrag gegeben hatte. Den Mann, der der den Abzug der Schalldämpfer-Pistole betätigt hatte, würde man wahrscheinlich in hundert Jahren nicht in die Hände bekommen.

Der hatte sich wahrscheinlich längst abgesetzt und war über alle Berge. Und irgendwann würde er dann wieder aus dem Nichts heraus auftauchen, um einen anderen Menschen umzubringen, für einen anderen Auftraggeber...

Aber vielleicht hatten sie Glück und es handelte sich um einen Killer, der öfter für Maldini arbeitete, einen aus seinem eigenen Stall.

In dem Fall gab es vielleicht eine Fährte, die nicht schon völlig kalt war.

Und vielleicht war in Larry Kostlers Haus, in seinen Unterlagen, privaten Aufzeichnungen, irgendwo etwas zu finden, dass auf Maldini hindeutete.

Während der 500 SL über die Straße glitt, blickte Bount kurz zu Geraldine hinüber, die mit in sich gekehrtem Gesicht neben ihm auf dem Beifahrersitz saß und hinaus aus dem Fenster blickte.

Direkt in den trostlosen Regen hinein.

Und genau so sah es auch wohl in ihrem Inneren aus. Bount hatte Verständnis dafür. Aber vielleicht war es an der Zeit, sie ein wenig abzulenken.

"Hat die Polizei Sie eigentlich schon vernommen, Miss?", fragte er plötzlich und unterbrach damit das Schweigen.

"Ja, kurz. Gerade eben im Krankenhaus. Der Mann ist gegangen, bevor Sie kamen, Bount..."

"Und?"

"Der Kerl hat mir wenig Hoffnung gemacht. Er meinte, so etwas würde in New York jeden Tag passieren. Jemand wird auf offener Straße erschossen und es kommt nie heraus, wer das war und wer den geschickt hat, der es war. Bandenmorde, Amokschützen, Psychopathen, Profikiller... Er hat mir alles Mögliche erzählt."

"Wie hieß der Mann?"

"Ich glaube Cummings. Kennen Sie ihn, Bount?"

"Nein."

"Einen sehr aufgeweckten Eindruck machte der jedenfalls nicht."

"Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich in den Sachen Ihres Vaters herumstöbern würde, Miss?"

"Nein. Was hoffen Sie denn zu finden?" Er zuckte mit den Schultern.

"Vorher weiß man das nie so genau!"

7

Die Villa der Kostlers war gut gesichert, das fiel Bount sofort auf. Es war das Haus eines Mannes, der in ständiger Angst davor gelebt haben musste, dass er eines Tages unliebsamen Besuch bekommen würde.

Jedenfalls machte es ganz den Anschein.

Eine hohe Mauer umgab das Anwesen und ein Wachmann öffnete für Bount Reinigers 500 SL das Tor, nachdem Geraldine sich an einem Sprechgerät zu erkennen gegeben hatte. Ein massives, gusseisernes Tor ging zur Seite und Bount fuhr den Wagen bis vor das Haus, das von einem weiträumigen Garten umgeben wurde.

Bount blickte sich kurz um und bemerkte die Video-Anlage, die das Grundstück überwachte. Irgendwo bellte ein Hund. Es war ein aggressives Geräusch und klang ganz und gar nicht nach einem Schoßhund.

Vielleicht ein Dobermann, überlegte Bount. Irgend so etwas in der Art musste es sein!

"Kommen Sie, Bount!", meinte Geraldine und öffnete die Tür. Sie stiegen beide aus, die Türen klappten zu.

Ein paar Stufen führten zu einem großen Portal und wenig später waren sie dann drinnen.

Ein Hausmädchen empfing sie bei der Tür.

Als sie dann in das große Wohnzimmer kamen, erstarrte Geraldine plötzlich.

Auf dem Sofa lag ein Mann.

Er lag ausgestreckt da, hatte die Schuhe ausgezogen und über den Teppich verstreut. Auf dem Tisch standen ein paar Flaschen, alles Spirituosen und ein Tropfen edler als der andere.

"Brian!", entfuhr es Geraldine Kostler völlig überrascht. Bount Reiniger hob die Augenbrauen und wartete ab. Geraldine ging auf Brian zu, der sich - offenbar mit einer Mühe - aufsetzte. In der Rechten hatte er ein Glas. Er rülpste ungeniert. Anscheinend hatte er ein paar Gläser zu viel zu sich genommen.

"Tag, Geraldine", murmelte er. "Wie geht's dir?" Sie schien alles andere, als erfreut zu sein.

"Seit wann bist du hier, Brian?", erkundigte sie sich dann in einem ziemlich reservierten Tonfall.

"Ein paar Stunden schon..."

"Was willst du hier? Geld?"

"Ich habe das mit Vater gehört und da..."

"Im Krankenhaus bist jedenfalls noch nicht gewesen!" Ihr Gesicht war eisig geworden und ihr Gegenüber musste ihre letzten Worte wie ein Schlag ins Gesicht empfinden. Aber Brian zuckte nur mit den Achseln, als wäre es nichts.

"Na, und? Ich dachte mir, ich komme erst einmal hier her!"

"Vater ist inzwischen gestorben!"

Zunächst verursachte diese Nachricht bei Brian keine sichtbare Reaktion.

Dann zuckte er erneut mit den Schultern.

Geraldine wandte sich zu Bount herum.

"Das ist Brian Kostler - mein ehrenwerter Herr Bruder!" Bount nickte ihm zu und Brian hob sein Glas.

"Angenehm!", rief er und stand dann auf. Er war sichtlich unsicher auf seinen Füßen. "Vielleicht sagst du mir mal, wen du da mitgebracht hast, Schwesterherz! Ein Geliebter vielleicht?"

"Du bist geschmacklos, Brian!"

"War ja nur eine Frage!"

"Das ist Bount Reiniger. Er ist Privatdetektiv und soll herausfinden, wer Vater umgebracht hat!"

Brian Kostler verzog das Gesicht.

Dann brummte er: "Das liegt doch auf der Hand! Maldini hat ihn endlich erwischt! War ja letztlich auch nur eine Frage der Zeit!" Er rülpste erneut.

"Das ist eine Vermutung", erklärte Bount Reiniger. "Mehr nicht."

"Klar, ich verstehe!", meinte Brian. "Sie wollen auch Ihr Geld verdienen. Habe ich Verständnis für! Bestimmt! Und unser alter Herr war ja auch kein armer Mann! Da können Sie gesalzene Honorare einfordern!" Er wandte sich an Geraldine. "Du musst wissen, was du tust, Schwester!"

"Ich weiß sehr genau, was ich tue!", versetzte Geraldine bissig. Brian wandte sich ab, nahm eine der Flaschen vom Tisch und verließ den Raum. Irgendwo hörte man ihn eine Treppe hoch schlurfen.

"Ihren Bruder haben Sie mir bisher verschwiegen, Miss!", meinte Bount.

"Sie haben mich bisher auch nicht danach gefragt!"

"Eins zu Null für Sie, Geraldine! Ihr Verhältnis scheint nicht das Beste zu sein, habe ich Recht?"

Sie atmete tief durch.

"Brian hat ein paar Probleme." Sie deutete auf die Flaschen und Bount verstand, was sie meinte.

"Das ist nicht zu übersehen", meinte er.

"Er trinkt unmäßig, ist über dreißig und hat bisher immer nur von dem gelebt, was Dad ihm geschickt hat."

"Er lebt nicht in New York, nicht wahr?"

"Nein, in San Francisco. Dort hat er studiert - oder besser gesagt: Er hat dort das getrieben, was er so zu nennen pflegt! Es wundert mich, dass er offensichtlich genug Geld zur Hand gehabt haben muss, um sich einen Flieger von Frisco nach New York zu leisten."

"Wir sollten uns jetzt beeilen, Miss!", meinte Bount.

"Beeilen?"

"Ja, mit der Durchsicht der Sachen Ihres Vaters. Wenn die Polizei erst einmal alles in Unordnung gebracht hat."

"Sie meinen, dass die noch kommen?"

"Es ist ein Wunder, dass sie noch nicht da waren! Wahrscheinlich sehen die sich erst einmal die Büro-Räume der Larry Kostler Holding an!"

8

Die Durchsicht der Privatsachen von Larry Kostler brachte kaum neue Erkenntnisse.

Sie wollten es schon aufgeben, da tauchte ein merkwürdiger Brief auf. Geraldine fand ihn in einem der Jacketts ihres Vaters. Die Buchstaben waren aus Zeitungen und Magazinen herausgeschnitten und auf ein weißes Blatt Papier geklebt worden: ENDLICH HABE ICH DICH GEFUNDEN, DU RATTE! DEIN LEBEN IST KEINEN CENT MEHR WERT!

Geraldine gab Bount das Papier und dieser las mit nachdenklichem Gesicht die zwei Zeilen.

"Könnte Maldini sein, nicht wahr?", meinte Geraldine. Bount Reiniger nickte.

"Ja, es passt alles zusammen..."

Als Bount und Geraldine wieder ins Wohnzimmer zurückkehrten, klingelte es an der Tür.

Das Hausmädchen machte die Tür auf.

Wenig später geleitete das Mädchen zwei Männer ins Wohnzimmer.

Einer von ihnen trug eine Polizeiuniform, der andere war in Zivil.

Aber in was für einem Zivil!

Bount Reiniger musste unwillkürlich etwas Schmunzeln. Der Mann trug einen riesigen Stetson auf dem Kopf und eine kurze braune Jacke, dazu Blue Jeans und Cowboystiefel. Er sah aus, als wäre er einem Wildwest-Film entstiegen. Lediglich die Rolex an seinem Arm störte diesen Eindruck ein wenig.

Er zog seine Marke hervor und hielt sie Bount und Geraldine entgegen.

"Cummings, Kriminalpolizei!", raunte er. Er hatte einen furchtbaren Akzent.

Vielleicht Texas, vielleicht New Mexico - Bount war sich nicht ganz sicher. Vielleicht handelte es sich um eine Mischung. Jedenfalls lag sein Geburtsort sicher sehr, sehr weit südlich. Cummings holte ein Papier aus der Tasche und hielt es Geraldine unter die Nase.

Bount brauchte gar nicht erst hinzusehen. Er wusste auch so, worum es sich handelte. Solche Blätter hatte er oft genug gesehen!

Bount lächelte dünn, während Cummings eine überaus wichtige Miene aufsetzte und sich breitbeinig aufbaute. Er wandte sich an Geraldine.

"Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Miss Kostler. Ich denke, Sie machen uns keine Schwierigkeiten!" Sein Tonfall war ziemlich scharf und Geraldine Kostler machte einen teils überrumpelten, teils verwirrten Eindruck.

"Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich?", meinte sie und hob dabei die Augenbrauen.

Cummings zuckte mit den Schultern.

"Hätte ja sein können." Dann wandte er sich an Bount. "Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?" Die burschikose Art seines Gegenübers sagte Bount nicht allzu sehr zu. Aber er sagte sich, dass dahinter vermutlich eine große Unsicherheit verborgen lag.

Bount hoffte nur, dass sich mit diesem Cowboy zusammenarbeiten ließ, denn schließlich waren sie beide hinter demjenigen her, der Larry Kostler auf dem Gewissen hatte. Bount stellte sich vor.

"Mein Name ist Reiniger", sagte er. "Ich bin Privatdetektiv."

"Zeigen Sie mal ihren Ausweis!"

Bount holte ihn hervor und hielt ihn Cummings hin. Dieser nahm ihn mit einer nachlässigen Geste an sich. Cummings warf einen Blick auf das Dokument, nickte dann und gab es seinem Besitzer zurück.

"Okay. Und was tun Sie hier?"

"Miss Kostler hat mich engagiert, um den Mörder ihres Vaters zur Rechenschaft zu ziehen!"

Cummings schob sich den riesigen Stetson in den Nacken und verzog das Gesicht.

Die Anwesenheit des Privatdetektivs schien ihm nicht so recht zu schmecken.

"Sie vertrauen der Arbeit der Polizei nicht?", brummte er. "Ist ja reizend..."

"Nehmen Sie es nicht persönlich", meinte Bount und lächelte dünn.

Cummings machte eine großspurige Geste.

"Wie käme ich dazu", meinte er sarkastisch. Er nahm es sehr wohl persönlich, das war ihm deutlich anzusehen.

"Dann ist ja alles in Ordnung!", murmelte Bount und dabei dachte er: Der Mann hat etwas von einem bissigen Terrier, der um jeden Preis sein Revier verteidigt!

"Ich glaube, Captain Rogers hat Ihren Namen mal erwähnt, Reiniger..."

"Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie ihn sehen!"

"Ich sehe ihn öfter, als mir lieb ist!" Er atmete tief durch. "Ich schätze, Sie haben hier schon alles durchgewühlt."

"So ist das nun einmal, wenn man zu spät dran ist, Mister Cummings!"

"Wir waren in den Büroräumen."

"Habe ich mir gedacht."

"Haben Sie irgendetwas gefunden, dass für den Fall von Interesse sein könnte? Sie wissen, dass das Zurückhalten von Beweismaterial strafbar ist, nicht wahr?"

"Mister Cummings, ich schlage vor, dass wir zusammenarbeiten!"

Cummings lachte rau.

"Wie stellen Sie sich das konkret vor?"

"Ein Deal, Cummings! Sie sagen mir, was in den Büroräumen gefunden wurde, und ich sehe dann, was ich für Sie tun kann!"

"Oh, nein, Reiniger! So nicht!"

"Bitte, wie Sie wollen! Aber Sie könnten vielleicht eine Menge Zeit sparen!"

Cummings schien unsicher.

Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Dann nickte er.

"Gut. Erst Sie, Reiniger!"

"Nein, umgekehrt!"

"Sie sind eine harte Nuss, Reiniger!"

"Wollen Sie weiter lamentieren, oder Ihre Pflicht tun und etwas unternehmen, damit ein Mörder gefasst wird!" Cummings bleckte die Zähne. Dann seufzte er hörbar.

"Sie haben gewonnen, Reiniger! Aber wehe, wenn Sie dann am Ende nichts vorzuweisen haben!"

"Schießen Sie los!"

"Wir haben die Leute in der Firma vernommen und die Büroräume durchsucht. Die Kostler Holding hat nicht mehr als zwei Dutzend Angestellte, obwohl sie einen Umsatz von mehreren hundert Millionen Dollar im Jahr hat. Diese Firma besitzt ihrerseits wiederum erhebliche Beteiligungen an verschiedenen Firmen und bestimmt zum Teil auch deren Firmenpolitik."

"Was für Firmen?"

"Quer durch den Garten. Von der Seifenfabrik bis zur Elektronik. Offensichtlich gab es Ärger in der Firma. Larry Kostler war mit einigen Angestellten nicht zufrieden und hat offenbar daran gedacht, sie zu feuern. Und dann hat es den Anschein, dass einer der Angestellten in die eigene Tasche gewirtschaftet hat... Ein gewisser Arthur Dickson."

"Ja", meinte Geraldine plötzlich. "Das stimmt! Dad hat herausbekommen, dass er mit Firmengeldern spekuliert hat."

"Und warum hat Ihr Dad diesen Dickson nicht entlassen?"

"Um einen Skandal zu vermeiden. Die Kostler-Aktien wären sofort in den Keller gegangen, wenn etwas durchgesickert wäre. Dad wollte mit ihm ein Arrangement treffen..." Cummings machte eine unbestimmte Geste mit der Hand.

"So, Reiniger! Jetzt sind Sie dran!"

"Ein bisschen dünn, was Sie da geboten haben, finden Sie nicht auch?" Er holte den zusammengeklebten Brief aus der Tasche und reichte ihn dem Kriminalbeamten. "Hier!"

"Was ist das?"

"Sehen Sie es sich das erst einmal genau an, bevor Sie fragen. Miss Kostler hat es in einem Jackett ihres Vaters gefunden!" Bount wandte sich an Geraldine. "Sie sollten dem Herrn jetzt sagen, was Sie wissen, Geraldine. Auch von ihrem Verdacht gegen Maldini..."

"Aber..."

"Ihr Dad ist tot und selbst wenn er sich in einem früheren Leben die Hände schmutzig gemacht hat - es kann ihm nun nicht mehr schaden, wenn es irgendjemand erfährt." Cummings runzelte die Stirn.

"Habe ich da eben 'Maldini' gehört?"

"Haben Sie", nickte Bount.

"Ich bin noch nicht lange hier in New York, aber selbst in der kurzen Zeit ist mir dieser verdammte Name schon ein paarmal zu Ohren gekommen!"

Bount zuckte mit den Schultern.

"Das wäre kein Wunder!", meinte er.

Und dann machte Geraldine ihre Aussage und Cummings anschließend ein langes Gesicht.

"Üble Sache!", meinte er. Er hob den Brief in die Höhe und fuhr dann fort: "Scheint wirklich alles darauf hinzudeuten, dass Maldini dahintersteckt... Welchen Namen trug Ihr Vater, bevor er seine Identität wechselte?"

Sie errötete und musste schlucken. Aber sie behielt die Fassung.

"Paul Thorrell", sagte sie dann.

9

Wenig später brachte Geraldine Bount Reiniger zur Tür.

"Was werden Sie jetzt unternehmen, Bount?" Aber Bount gab ihr keine Antwort, sondern stellte seinerseits eine Frage.

"Wo wohnt Mr. Dickson?"

Geraldine hob die Augenbrauen.

"Wollen Sie seine Adresse?"

"Ja, ganz richtig..."

"Er hat ein Apartment in der 27.Straße. Aber im Moment dürften sie ihn in seinem Büro antreffen. Sie wissen ja, wo das ist..."

"Ja."

"Was wollen Sie von Dickson?"

"Mit ihm reden!", gab Bount lakonisch zurück.

"Maldini ist der Mann, den Sie sich vorknöpfen müssen!", gab sie ihrer Überzeugung Ausdruck. "Ich glaube nicht, dass Dickson etwas mit Dads Tod zu tun hat!"

"Er hatte aber ein Motiv!"

"Sie meinen die Veruntreuung? Ich sagte doch, dass Dad ein Übereinkommen mit ihm treffen wollte. Sein Tod konnte ihm höchstens Nachteile bringen!"

"Ich möchte mich trotzdem mit ihm unterhalten. Wer weiß, was dabei herauskommt..."

"Und ich sage Ihnen, Sie irren sich, Bount!" Bount lächelte.

"Versuchen Sie nicht, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe, Geraldine!"

"Die Sache ist doch klar! Kümmern Sie sich um Maldini!"

"Soll ich vielleicht in Maldinis Büro spazieren - vorausgesetzt ich komme soweit - und ihn fragen, ob er zufällig der Mörder Ihres Vaters ist? Nein, so einfach geht das nicht! Das fängt man anders an..."

"Und wie?"

"Jedenfalls nicht, indem man vorzeitig sämtliche Pferde scheu macht!"

Sie atmete tief durch. Dann begegneten sich ihre Blicke. Sie sah ihn einen Augenblick lang ruhig an und meinte dann: "Vielleicht haben Sie recht, Bount! Vielleicht sollte ich Ihnen mehr vertrauen!"

Das war auch Bounts Meinung und so nickte er.

"Ja, Geraldine, das sollten Sie! Ich verstehe meinen Job!"

"So war das nicht gemeint!"

"Das weiß ich!"

"Sie sind ein toller Kerl, Bount!"

Und dann schlang sie plötzlich ihre schlanken Arme um seinen Hals und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Alles ging viel zu schnell.

Bevor Bount so recht gemerkt hatte, was hier gespielt wurde und den Zungenschlag erwidern konnte, war es auch schon vorbei.

Sie hatte sich von ihm gelöst und war etwas zurückgetreten.

"Machen Sie Ihre Sache gut, Bount!"

"Das verspreche ich Ihnen hiermit", murmelte Bount der noch immer ein wenig verwirrt war.

10

Bount Reiniger traf Arthur Dickson nicht in seinem Büro an, sondern in einem Restaurant in der Umgebung.

Ein kleiner, dicker Mann saß vor einem riesigen Steak und Bount dachte sich, dass dieser Mann Arthur Dickson musste.

"Mister Dickson?"

Der Mann blickte auf, kaute seinen Bissen zu Ende und murmelte dann: "Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht!" Bount setzte sich zu ihm an den Tisch.

"Ich Sie auch nicht, aber die Beschreibung Ihrer Sekretärin passt auf Sie..."

Dickson verzog das Gesicht.

"So?"

"Mein Name ist Bount Reiniger. Miss Kostler hat mich engagiert wegen der Sache mit ihrem Vater." Dickson blickte auf und nahm einen Schluck aus dem Glas Rotwein, das neben seinem Teller stand. Dann wischte er sich mit der Hand den Mund ab und schob den halb abgegessenen Teller ein Stück von sich weg.

Aus irgendeinem Grund schien ihm der Appetit mit einem Mal vergangen zu sein.

"Was wollen von mir, Mister Reiniger? Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, und wenn Sie mir schon meine Mittagspause stehlen, dann haben Sie dafür hoffentlich einen guten Grund!"

"Ich habe ein paar Fragen", erklärte Bount sachlich. "Und diese Fragen halte ich für einen guten Grund!" Dickson machte ein zweifelndes Gesicht.

"Ich habe eigentlich keine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten!"

"Sie haben Gelder der Larry Kostler Holding veruntreut, nicht wahr?"

Er runzelte die Stirn, dann löste er den obersten Hemdknopf, so dass sein Doppelkinn etwas mehr Platz bekam. Dickson schien sich sichtlich unwohl in seiner Haut zu fühlen und Bount konnte das durchaus nachvollziehen.

"Sie können es ruhig zugeben, Mister Dickson. Ich weiß es, die Polizei weiß es."

"Es hat mich niemand angeklagt."

"Weil niemand einen Skandal wollte."

"Sehr richtig. Mr. Kostler und ich waren uns einig, dass..."

"Was, wenn Kostler und Sie sich doch nicht so einig gewesen sind, wie Sie es allgemein glauben machen wollen und er Sie auf irgendeine Art und Weise ans Messer liefern wollte."

"Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Mister Reiniger. Ich habe aber nicht die Absicht, dieses Spiel mitzumachen!"

"Es ist kein Spiel, Dickson!"

Der dicke Mann zuckte mit den Schultern.

"Wie dem auch sei." Dann verengte er die Augen und fixierte Bount Reiniger mit einem ärgerlichen Blick. "Sie wollen doch nicht behaupten, dass ich in dem Wagen gesessen habe, von dem aus auf Mister Kostler geschossen wurde!"

"Sie hätten vielleicht ein Motiv!"

"Aber ich habe ein handfestes Alibi! Ich war auf einer Konferenz, als es passierte! Dafür gibt es ein halbes Dutzend Zeugen!"

"Sie könnten die Tat in Auftrag gegeben haben, Mister Dickson!"

Er wurde noch bleicher, als er ohnehin schon war. Dann bleckte er wütend die Zähne.

"Guten Tag, Mister Reiniger! Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen!"

Reiniger erhob sich.

"Ich schätze, dass ich nicht der einzige bleiben werde, der Ihnen diese Fragen stellt!"

Dicksons Gelassenheit machte auf Reiniger einen gespielten Eindruck.

"Abwarten, Reiniger!"

"Auf Wiedersehen, Mister Dickson. Es würde mich nicht wundern, wenn wir uns in nächster Zeit noch öfter über den Weg laufen!"

Während Reiniger schon in Richtung Tür unterwegs war, knurrte Arthur Dickson noch etwas Unverständliches vor sich hin. Aber es hörte sich alles andere als freundlich an.

11

Toby Rogers war nicht gerade gelaunt, als Bount ihn auf dem Flur abpasste.

"Ah, Bount! Du hast mir heute noch gefehlt!" Er keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Du solltest langsam mal ans Abnehmen denken, Toby, dachte Bount bei sich, aber er hütete sich davor, es auch laut auszusprechen.

"Hey, Toby! Was soll denn das heißen? Ich dachte, wir sind Freunde!"

"Klar, sind wir auch! Aber wenn du hier auftauchst, dann gibt das garantiert Arbeit für mich! Und stecke schon bis über beide Ohren drin! Bis über beide Ohren, hörst du, Bount?" Rogers stemmte die Arme in die Hüften und baute sich breitbeinig auf.

Bount wollte nicht wissen, auf welche Werte der Blutdruck des Polizei-Captains in den letzten zwanzig Sekunden gestiegen war.

Rogers atmete tief durch und quetschte dann zwischen den Lippen hindurch: "Also schieß los! Worum geht's?"

"Es geht um den Mordfall Kostler."

"Larry Kostler?"

"Ja, welcher Kostler wohl sonst!"

"Ein Mann aus meinem Revier bearbeitet den Fall. Er heißt Cummings. Sieht ein bisschen merkwürdig aus, aber er soll ein ganz toller Hecht sein. So viele Belobigungen in einer Personalakte habe ich selten gesehen..."

"Ich habe mit Cummings bereits gesprochen. Die Sache ist die: Hinter dem Mord steckt wahrscheinlich Tony Maldini. Und ich möchte wissen, was der im Augenblick so treibt." Rogers pustete wie ein Walross.

"Komm mit!", meinte er. "Wozu habe ich schließlich so ein gastliches Büro?"

Wenig später saßen sie sich dann in Rogers' Büro gegenüber.

Der Captain lehnte sich zurück und kratzte sich im Genick.

"Der Name Maldini dürfte dir doch noch von früher her geläufig sein, Bount", meinte er.

Reiniger nickte.

"Ist er auch. Aber das ist schließlich schon eine ganze Weile her!"

"Aber einer wie Maldini ändert sich nicht. Der steigt entweder auf oder endet vorher als Wasserleiche im East River - mit einem schönen, runden Loch in der Stirn!"

Bount Reiniger zog die Augenbrauen in die Höhe.

"Nach allem, was man hört ist Maldini aufgestiegen!"

"Kann man wohl sagen! Früher haben wir ja immer vermutet, dass er illegal Elektronik in den Ostblock exportiert hat. Aber das ist lange her. Heute vermutet man ihn hinter Waffenschieber-und Drogenringen. Aber wir konnten dem verflixten Hund bisher nichts nachweisen. Er ist einfach zu geschickt! Strohmänner machen die Drecksarbeit für ihn und die schweigen eisern, denn jeder von ihnen weiß, dass ein toter Mann ist, sobald er singt. Sein Arm reicht bis in die Gefängnisse hinein - vielleicht sogar bis in die Polizei und die Staatsanwaltschaft."

"Dann gibt es also im Grunde genommen nichts Neues!"

"Nein. Was Maldini angeht nicht. Es ist alles nur ein paar Nummern größer geworden."

"Nichts Konkretes?"

"Bount, wenn ich etwas Konkretes hätte, würde er nicht mehr frei herumlaufen und seine unsauberen Geschäfte machen!"

"Verstehe..."

"Dann ist da allerdings noch etwas, das dich interessieren könnte."

In Bounts Augen blitzte es.

"Heraus damit, Toby!"

"In den letzten Wochen gibt es eine Art Mord-Serie. Alle begangen in der Art von professionellen Killern - so, wie es auch bei Larry Kostler der Fall zu sein scheint. Alle Opfer hatten etwas gemeinsam: Sie machten Geschäfte mit Tony Maldini!"

"Eine Säuberungsaktion?"

"Ja, so etwas in der Art muss es wohl sein."

"Ich möchte eine Liste der Opfer."

"Kannst du haben!"

Toby Rogers stand auf, holte eine Akte aus dem Schrank und knallte sie vor Reiniger auf den Tisch. "Schreib dir die Namen heraus, wenn es dir Spaß macht!"

"Danke!"

"Was willst du damit, Bount?"

Reiniger zuckte mit den Schultern.

"Mal sehen. Ich weiß es noch nicht."

12

Es war bereits ziemlich dunkel und es regnete wieder, als Roy Brady ins Freie trat und sich nach rechts und links umdrehte. Er schlug sich den Mantelkragen hoch und schlang sich den Schal vor den Mund.

Es war hundekalt und dennoch stand Brady der Schweiß auf der Stirn, als er die Straße überquerte. Es war kalter Angstschweiß und sein Gesicht war von nackter Furcht gezeichnet.

"Oh, mein Gott", flüsterte er kaum hörbar in seinen Schal hinein, obwohl er eine Kirche zum letzten Mal von innen gesehen hatte, als seine Mutter ihn zur Taufe getragen hatte. Er schluckte.

Ich hätte mich nie auf diese Dinge einlassen sollen, durchfuhr es ihn.

Aber nun war es zu spät.

Einfach zu spät.

Bis zum Hals steckte er im Sumpf und er sah nicht die geringste Chance, sich selbst wieder herauszuziehen. Brady fühlte seinen Puls bis zum Hals schlagen. Überall konnte er auf ihn lauern.

Er musste auf der Hut sein und aufpassen.

Er musste hinüber zur Telefonzelle auf der anderen Straßenseite.

Er wollte auf jeden Fall ungestört sein, wenn er den Hörer abnahm.

Brady atmete schwer.

Er war derart nervös, dass ihn beinahe ein Auto erwischte, das dann hupend weiterfuhr.

Oh, verdammt!, schoss es ihm durch den Kopf. Ich beginne bereits die Nerven zu verlieren!

Jetzt hieß es kühlen Kopf zu bewahren. Nur dann hatte er noch eine Chance. Kühlen Kopf und stahlharte Nerven. Aber wie es schien, hatte er weder das eine noch das andere. Schließlich hatte er die andere Straßenseite erreicht. Noch einmal blickte er sich nach allen Seiten um. Er sah einen Stadtstreicher mit speckigem Parka, vor Dreck starrenden Jeans und einer schmuddeligen Wollmütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte.

Der Mann hob eine Zeitung vom Boden auf, die irgendjemand achtlos weggeworfen hatte und blätterte darin.

Keine Gefahr, dachte Brady bei diesem Anblick oder besser: Er versuchte, es sich einzureden. Immer wieder: Keine Gefahr!

Außer dem Stadtstreicher sah er niemanden in der Nähe. Er öffnete die Tür des Telefonhäuschens, ließ sie dann hinter sich zuschlagen und fingerte mit zitternden Händen ein paar Münzen aus der Manteltasche heraus.

Dann begann er eine Nummer zu wählen. Wieder und wieder drehte sich die Wählscheibe vor und zurück und schließlich kam das Freizeichen.

Mach schon!, rief es in ihm. Verdammt noch mal, nun nimm doch endlich ab!

Sein Stoßgebet wurde im nächsten Moment erhört. Eine weibliche Stimme meldete sich.

"Ist da das Büro von Bount Reiniger?"

"Ja. Wer spricht dort, bitte?"

"Hier ist Roy Brady. Ich habe Mr. Reiniger etwas Wichtiges mitzuteilen. Ich..."

"Kann ich Mr. Reiniger etwas ausrichten, Mr. Brady? Hallo... Sind sie noch dran?"

Brady war noch dran, aber ihm waren die Worte vor Entsetzen buchstäblich im Halse steckengeblieben, als er sich umgewandt und in das Gesicht des Stadtstreichers geblickt hatte, der urplötzlich vor der Telefonzelle aufgetaucht war. Alles, was dann geschah, dauerte kaum länger als eine Sekunde.

Plötzlich war Brady klar, dass dieser Mann gar kein Stadtstreicher war, sondern sich nur so aufgemacht hatte. Der Kerl hatte hier auf ihn gewartet, ihn wahrscheinlich schon längere Zeit beobachtet und nun war seine Chance gekommen!

Der Mann hatte ein kalt glitzerndes Augenpaar, das ihn geschäftsmäßig musterte.

Eine hässliche Narbe, die vermutlich von einer Messerstecherei herrührte, zog sich von der Stirn über das Auge und fast die gesamte rechte Wange.

Der Mann verzog das Gesicht und bleckte die Zähne. Brady sah die Zeitung seines Gegenübers, jene Zeitung, die dieser vom Boden aufgesammelt hatte.

Die Zeitung glitt zur Seite und die Mündung einer Automatic mit Schalldämpfer wurde für den Bruchteil eines Augenblicks sichtbar.

Bradys Augen waren vor Schreck weit aufgerissen.

"Nein", flüsterte er fast tonlos, aber da hatte sein Gegenüber bereits abgedrückt.

Am Ausgang des Schalldämpfers blitzte ein Mündungsfeuer. Es gab ein hässliches, dumpfes Geräusch.

Das Projektil durchschlug die Scheibe der Telefonzelle, ließ das Glas splittern und fuhr Brady dann direkt in die linke Brust. Brady wurde durch die Wucht des Geschosses nach hinten gerissen, ließ den Hörer fallen und ächzte noch einmal unterdrückt.

Der Killer wollte sichergehen.

Ein zweiter Schuss traf Brady mitten in der Stirn, bevor er dann mit starren, weit aufgerissenen Augen zu Boden rutschte. Der Killer steckte die Waffe in die weite Seitentasche seiner Parka, beugte sich nieder, hob den Hörer auf und hängte ihn die Gabel.

13

Das Autotelefon schnurrte und Bount nahm augenblicklich den Hörer ab.

Es war June.

"Was gibt es?", fragte Bount.

"Ein Mann namens Roy Brady hat angerufen. Er ist ein Informant, nicht wahr?"

"Ja, was hat er gesagt?"

"Er ist nicht mehr dazu gekommen, etwas auszupacken. Es sei sehr wichtig hat er gesagt, und dann gab es ein merkwürdiges Geräusch - wie aus einer Schalldämpferpistole. Ich fürchte, er lebt nicht mehr, Bount."

Bount atmete tief durch.

"Das fürchte ich auch, June."

"Er hat aus einer Zelle angerufen."

"Ich kann mir denken, wo das ist", flüsterte Bount, mehr zu sich selbst als zu seiner Gesprächspartnerin an der Strippe. "Hast du die Polizei schon benachrichtigt?"

"Nein. Ich dachte mir, ich sage erst dir Bescheid."

"Okay, dann werde ich das von hier aus erledigen..." Zwei Sekunden später hatte Bount Reiniger aufgelegt. Er suchte eine Seitenstraße, in der er seinen 500 SL drehen konnte. Verdammt!, dachte er.

Brady war umgelegt worden und es gab sicher ein paar Dutzend Leute, die dafür in Frage kamen. Aber einer von ihnen war Tony Maldini!

Bount Reiniger dachte an die Liste, die Captain Rogers ihm gegeben hatte. Brady passte vorzüglich in diese Liste von Leuten hinein, die zwei Dinge gemeinsam hatten: Sie hatten mit Maldini zu tun und sie waren mausetot.

So viele Zufälle kann es nicht geben, dachte Reiniger. Brady hatte ihm etwas Wichtiges zu sagen gehabt, was nur heißen konnte, dass er etwas über Maldini herausgefunden haben musste. Eine andere Möglichkeit gab es kaum.

Endlich hatte Bount eine Möglichkeit zum Drehen gefunden. Es dauerte ein bisschen, bis er sich wieder in den Verkehr diesmal in entgegengesetzte Richtung - einfädeln konnte. Dann wählte er an seinem Autotelefon die Nummer der Polizei.

14

Es war ganz so, wie Bount Reiniger gedacht hatte. Brady war in der Telefonzelle ermordet worden, die der Kaschemme gegenüber lag, in der man ihn sonst immer antreffen konnte.

Wahrscheinlich hat er ungestört mit mir sprechen wollen, kam es Bount in den Sinn, als er seinen Wagen an der Seite abstellte, die Tür öffnete und die zerschossene Zelle sah.

Brady lag mit seltsam verrenkten Armen und Beinen in der Zelle. Seine Augen blickten Bount starr an, während sich mitten auf seiner Stirn ein kleines, rotes Loch befand. Bount schluckte.

Er kannte Brady schon einige Jahre und der kleine Hehler hatte ihn immer mit wertvollen Informationen über die New Yorker Unterwelt versorgt.

Nicht alles, was Brady getan hatte, war legal, aber im Grunde war er nur ein ganz kleiner Fisch. Und ein solches Ende hatte er in keinem Fall verdient.

Niemand hatte das.

Bount Reiniger ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten und fühlte Grimm in sich hochsteigen.

Wer immer dahinter steckte und die Fäden zog: Es musste sich um jemanden handeln, der buchstäblich über Leichen ging. Bount blickte sich dann etwas nach Spuren um.

Aber da war auf den ersten Blick nichts zu sehen, dass irgendeinen Hinweis geben konnte. Mit was für einer Waffe Brady erschossen worden war, dass würde später die Polizei feststellen. Doch viel würde dabei vermutlich auch nicht herauskommen.

Dies schien Bount das Werk von Profis zu sein. Man konnte Bradys Augen noch ansehen, wie überrascht er gewesen sein musste.

Bount beugte sich nieder und drückte ihm die Lider zu. Mehr konnte er nicht mehr für ihn tun - außer vielleicht denjenigen zu finden, der dafür verantwortlich war.

Eine Weile verharrte Bount Reiniger so bei dem Toten, dann nahm er mit den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung in der Nähe war.

Blitzartig war seine Rechte unter den offenen Mantel und das Jackett gefahren und hatte mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit die Automatic aus dem Schulterholster gerissen und in Anschlag gebracht.

"Nicht schießen, Mister!"

Der Mann, der da zitternd vor Bount Reiniger stand, wirkte wie eine Jammergestalt. Er hatte die Hände gehoben, in der Rechten hielt er eine Bierflasche.

Bount blickte in ein stoppelbärtiges Gesicht mit einer roten Trinkernase.

"Bitte, nicht schießen!", wiederholte er noch einmal. Ihm schlotterten vor Angst schier die Knie und Bount ließ die Waffe sinken.

"Keine Angst!", meinte er. "Ich schieße nicht." Der Mann drehte sich und wollte sich wohl davonmachen. Aber Bount hatte noch ein paar Fragen an ihn.

"Hey, stehen bleiben!"

Der Kerl zuckte zusammen und drehte sich vorsichtig herum. Erleichtert stellte er fest, dass Bount seine Waffe inzwischen wieder eingesteckt hatte.

"Ich tue Ihnen nichts", versicherte Bount noch einmal, denn er sah deutliches Misstrauen in den Augen seines Gegenübers. Bount kam ein paar Schritte heran.

"Was ist noch? Was wollen Sie?"

"Nur ein paar Fragen!"

"Wer sind Sie?"

Bount kam noch näher heran und hielt ihm seine Lizenz unter die Nase. "Privatdetektiv", fügte er noch als Erklärung hinzu. Der Mann atmete auf.

"Gott sei Dank. Ich dachte schon, Sie gehörten zu ihm." Bount runzelte die Stirn.

"Wer ist das?"

"Schließlich tragen Sie auch eine Waffe..."

"Von wem, zum Teufel, haben Sie gerade gesprochen?" Er deutete auf die Telefonzelle.

"Sie haben ja gesehen, was hier passiert ist, Mister..."

"Allerdings!"

"Ich spreche von dem Mann, der das getan hat!"

"Sie haben ihn gesehen?"

"Ich habe alles beobachtet!"

"Raus mit der Sprache!"

Bount hatte selbst gemerkt, dass in seiner Stimme ein Quentchen zuviel Ungeduld mitgeschwungen hatte. Und das hatte sein Gegenüber genauestens registriert.

Der Mann zögerte mit seiner Antwort, rieb sich mit der Linken die rote Nase und trank dann seine Bierdose leer. Die Büchse warf er auf den Bürgersteig und meinte: "Ich habe nichts zu trinken mehr, Mister..."

Bount begriff, worauf er hinauswollte.

Er gab ihm zwanzig Dollar.

"So!", meinte der Privatdetektiv. "Jetzt will ich aber auch eine überzeugende Story hören! Sonst hole ich mir die zwanzig Mäuse zurück!"

"Ich habe alles gesehen, Mister!"

"Das sagten Sie bereits!"

"Der Kerl ist seinem Opfer bis zur Telefonzelle gefolgt und hat er geschossen."

"Haben Sie den Schuss gehört?"

"Nein. Man konnte nichts hören. Aber ich habe die Waffe gesehen und ich sah es in der Dunkelheit aufblitzen..."

"Wie sah der Mann aus?"

"Er hatte eine Narbe quer über das Gesicht..." Und dabei zog er mit dem Finger eine Linie von der Stirn über das Auge und die rechte Wange.

Bount runzelte die Stirn.

"Von wo aus haben Sie das alles beobachtet?"

"Von der anderen Straßenseite aus. Als es dann passiert war, bin ich schließlich hergekommen, um..."

Er zögerte und Bount vollendete schließlich: "... um die Leiche zu fleddern, nicht wahr?"

"Unser eins muss auch leben!"

Bount warf einen kurzen Blick hinüber.

Dann meinte der Privatdetektiv ziemlich ungehalten: "Das ist unmöglich. Auf die Entfernung und bei diesen Lichtverhältnissen konnten Sie unmöglich die Narbe des Mannes sehen! Sie erzählen mir was!"

"Nein, Sir! Das war anders! Ich habe die Narbe des Mannes vorher gesehen."

"Wann vorher?"

"Als wir ein Bier zusammen getrunken haben, drüben vor der Snack Bar."

"Sie haben ein Bier zusammen getrunken?"

"Ja, er sah aus wie einer von uns. Wie einer, der auf der Straße lebt. Und dann haben wir einen zusammen gehoben. Aber in Wirklichkeit hat er wohl die ganze Zeit über nur auf den gewartet, der da jetzt mausetot in der Telefonzelle liegt..." Bount nickte.

"Okay", murmelte er.

Wenn der Täter wirklich eine so auffällige Narbe hatte, wie dieser Mann behauptete, dann war das vielleicht eine Spur. Und wenn er bereits einschlägig in Erscheinung getreten war, dann würde man das Rätsel um seine Identität auch bald lüften können. Das Heulen von Polizeiwagen ließ Bount Reiniger herumfahren und als er dann eine Sekunde später den Blick zurück zu seinem Gegenüber schnellen ließ, da hatte sich dieser bereits davongemacht.

Bount sah keine Spur mehr von ihm.

Er konnte in eine der dunklen Nischen zwischen den Häusern geflüchtet sein. Es gab hier Dutzende von Orten, an denen man sich verkriechen konnte.

Und dann wurde der Privatdetektiv durch das grelle Scheinwerferlicht der Polizei geblendet.

Der Mann war über alle Berge.

Offensichtlich legte er keinen Wert darauf, mit den Gesetzeshütern zusammenzutreffen, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht, vielleicht hatte er auch selbst irgendwelche kleineren Sachen auf dem Kerbholz.

Ein paar uniformierte Beamte sprangen aus den heulenden Streifenwagen. Und dann kamen auch Männer in Zivil. Ein paar Augenblicke nur und die Nacht schien zum Tag zu werden.

Aus den umliegenden Häusern liefen die Leute zusammen, um zu sehen, was sich dort abspielte.

Ein paar Augenblicke später sah Bount dann die massige Gestalt von Captain Rogers zum Tatort wanken.

"Hey, Toby! Was machst du denn hier? Ist das nicht eher etwas für deine Sklaven?"

Rogers verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Ein müdes, gequältes Lächeln ging über seine Züge, bevor er dann einen hörbaren Seufzer ausstieß.

"Diese Mordserie scheint inzwischen auch ein paar Etagen über mir Unruhe auszulösen! Und so, wie du es am Telefon dargestellt hast, passt dieser Mord hier genau ins Raster", presste Rogers heraus. "Die Sache ist jetzt mein Job. Und zwar höchstpersönlich!"

"Armer Toby!"

"Auf dein Mitleid kann ich verzichten, Bount!" In seinen Augen blitzte es giftig. "Ich hoffe, du hast nichts angefasst."

"Ich bin ja kein Anfänger!"

"Dann ist es ja gut. Sag mal, was könnte Brady denn über Maldini herausgefunden haben? Du hast am Telefon nicht mehr darüber gesagt..."

"Ich weiß auch nicht mehr darüber, Toby. Er wurde zuvor erschossen."

Sie gingen zur Telefonzelle, an der sich bereits ein paar Leute von der Spurensicherung zu schaffen machten. Blitzlichter von Fotoapparaten leuchteten auf.

"Sag mal, kennst du einen Mann, der eine Narbe hat, die etwa so verläuft?" Und dabei fuhr Bount sich mit dem Finger über die rechte Gesichtshälfte.

Captain Rogers runzelte die Stirn.

"Was soll das für einer sein?", murmelte er dann.

"Ein Killer", erklärte Bount.

15

"Wir sollten uns Bradys Wohnung vorknöpfen", meinte Bount etwas später an Rogers gewandt.

Der Captain nickte.

"Alles zu seiner Zeit. Wenn wir hier fertig sind, Bount." Aber Bount Reiniger war damit überhaupt nicht einverstanden.

"Dann kann es zu spät sein", meinte er. Rogers runzelte die Stirn.

"Wie kommst auf diese Idee?"

"Brady war ein Informant von mir. Er sollte sich mal umhören, was Maldini so in letzter Zeit treibt. Und kurz bevor er June am Telefon etwas sagen konnte, wurde er erschossen."

"Du meinst, dass er etwas herausgefunden hatte!"

"Warum hätte er sonst mein Büro anrufen sollen."

"Worum könnte es sich dabei handeln, Bount?"

"Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber vielleicht finden wir etwas in seiner Wohnung, dass uns Aufschluss geben könnte. Aber wenn wir zu langsam sind, dann könnte uns der zuvorkommen, der Brady umgebracht hat!"

"... und vielleicht verhindern wollte, dass er dir eine Nachricht zukommen lässt!"

Bount nickte.

"Ja, das könnte sein."

"Sieht ganz nach Maldini und seinen Leuten aus, nicht wahr?"

"Ja, scheint so."

Dann machte Bount sich endgültig davon. Bevor er in den 500 SL stieg rief er noch zu Rogers hinüber: "Falls du mit deiner Meute doch noch nachkommen willst: Brady trägt einen Führerschein bei sich, da steht seine Adresse drin!" Rogers zog eine Grimasse.

16

Reiniger parkte den 500 SL am Straßenrand, wobei er wusste, dass es schon fast einer Provokation gleichkam, einen solchen Wagen in einer Gegend wie dieser abzustellen.

Aber was sollte er machen?

Sich eigens für seinen Abstecher zu Bradys Wohnung einen anderen, weniger auffälligen Wagen zulegen?

Bount öffnete die Tür und stieg aus.

Es war finster hier, die Straßenlaternen waren zerschlagen. In einiger Entfernung sah Bount ein ausgebranntes Telefonhäuschen, an dem irgend eine der unzähligen Straßengangs wohl ihren Zorn ausgelassen hatte.

Bount verschloss sorgfältig den 500 SL, obwohl er wusste, dass das im Ernstfall wenig nützen würde.

Dann blickte er sich um.

Diese Straße hatte schon bessere Zeiten gesehen, das ließen die Fassaden der Häuser erahnen, die jetzt sämtlich herunterblätterten.

Aber das musste schon lange her sein.

Jetzt wohnten hier vor allem jene, die es sich nicht leisten konnten, anderswo zu wohnen.

Brady wohnte in einem dreistöckigen Haus, dass seit zwanzig Jahren nicht mehr gestrichen worden war. Von irgendwoher waren Stimmen zu hören.

Bount ließ den Blick schweifen, sah aber zunächst nichts. Dann bogen drei hochgewachsene, kräftig wirkende Kerle um die die nächste Straßenecke.

Es waren Weiße. Sie trugen dunkle Lederjacken mit martialischen Totenkopfemblemen, die bei allen dreien identisch waren.

Es war kurz vor dem Haus, in dem Bradys Wohnung war, als Bount mit ihnen zusammentraf.

Sie bedachten den Privatdetektiv mit einem überheblichen Grinsen. Einer der Kerle einen Schlagring, ein anderer wedelte mit einer Eisenkette herum.

Bount begann sich darauf einzustellen, dass es Ärger geben würde.

Sie kam in breiter Front nebeneinander auf Bount zu und blieben dann vor ihm stehen.

"Vielleicht haben Sie sich in der Straße geirrt, Mister!", meinte einer von ihnen.

Es war der Mittlere, ein massiger Blondschopf mit einem gemeinen Zug um die Mundwinkel.

"Macht keinen Ärger!", warnte Bount.

Die Kerle kamen noch etwas näher heran.

Der Blondschopf machte eine unbestimmte Geste, zeigte einen Moment lang die Zähne und meinte dann: "Es war ein verdammter Fehler, in diese Straße zu kommen! Dies ist nämlich unsere Straße!"

"Der sieht aus, als hätte er Geld!", meinte der Rechte. Der Blondschopf grinste hässlich.

"Er könnte uns ja etwas davon abgeben - und wir vergessen dafür, dass er hier nichts zu suchen hat!"

"Besser, ihr geht mir aus dem Weg!", warnte Bount, aber als er ihre Gesichter studierte, wusste er, dass das in den Wind geredet war.

Auf diesem Ohr waren sie taub.

Bount musterte sie einen nach dem anderen und versuchte sie abzuschätzen. Sie fühlten sich sehr sicher. Einer gegen drei, das schien eine klare Angelegenheit zu sein.

Für den Bruchteil eines Augenblicks hing alles noch in der Schwebe. Noch war nichts geschehen, hatte niemand einen Finger gerührt.

Dann packte der Blondschopf Bount an den Mantelkragen, um ihm die Brieftasche abzunehmen.

Bount hörte rechts das Rasseln der Kette. Und der Kerl auf der linken Seite holte nun einen kurzläufigen Revolver aus dem Hosenbund und richtete ihn auf Bount.

Bount Reiniger reagierte blitzschnell.

Er packte den Blondschopf beim Handgelenk und verpasste ihm gleichzeitig einen Handkantenschlag, der ihn rückwärts, in Richtung seiner Komplizen taumeln ließ.

In der nächsten Sekunde schon sah er dann das Aufblitzen des Revolvers, aber er hatte sich rechtzeitig zu Boden geworfen und auf dem Pflaster abgerollt, so dass der Schuss über ihn hinwegpfiff. Bount musste erneut herumrollen.

Dicht neben ihm, nur Zentimeter von seinem Körper entfernt schlug ein Projektil ein und sprang dann als Querschläger weiter. Indessen hatte Bount die Automatic herausgerissen und ballerte zurück.

Sein Gegenüber schrie und hielt sich den Arm.

Der Revolver fiel zu Boden.

"Der Kerl hat eine Waffe!", hörte Bount einen der Kerle rufen und da schwang so etwas wie Entsetzen im Tonfall mit.

"Verflucht! Das muss ein Bulle sein!", rief ein anderer. Und dann sah Bount sie einen Augenblick später in die Dunkelheit davonrennen, auch den, den er am Arm erwischt hatte.

Bount erhob sich und steckte seine Waffe weg. Dann klopfte er sich Dreck von den Sachen und ging zu dem noch immer auf dem Pflaster liegenden Revolver, bückte sich und steckte diese Waffe ebenfalls ein.

So konnte jedenfalls niemand mehr Unfug damit machen. Als Bount Reiniger sich dann umwandte sah er dort, wo Bradys Wohnung sein musste eine Bewegung am Fenster. Einen Moment lang war das Licht angewesen, aber jetzt war alles dunkel.

Soweit Bount wusste, war Brady unverheiratet und lebte allein. Der Privatdetektiv ließ noch einmal den Blick über jene dunklen Fenstern schweifen, hinter denen Bradys Wohnung liegen musste. Nichts regte sich.

Aber Bount mochte nicht daran glauben, dass er sich so getäuscht haben sollte.

Vielleicht war er schon zu spät dran.

17

Bount hetzte die Treppe hinauf und befand sich wenig später vor der Tür von Bradys Wohnung. Auf dem Weg dorthin war ihm niemand begegnet.

Bount wusste nicht, ob es einen zweiten Ausgang gab, aber sofern sich tatsächlich jemand in Bradys Wohnung befand, so musste davon ausgegangen werden, dass er noch dort war. Die Tür war verschlossen, aber für Bount Reiniger war es kein Problem, sie mit Hilfe eines kleinen Stück Drahtes, dass er aus der Manteltasche zog, zu öffnen.

Knarrend ging die Tür auf und Bount nahm seine Automatic in die Rechte.

Drinnen herrschte gähnende Finsternis.

Bount wusste, dass er vorsichtig sein musste.

Er lauschte angestrengt, aber es war nirgends etwas zu hören. Dann suchte er den Lichtschalter und fand ihn schließlich auch. Bount Reiniger blickte sich um und sah eine halboffene Tür, die in einen dunklen Nachbarraum führte. Bount schlich sich an die Tür heran, die Automatic im Anschlag.

Alles schien in Ordnung zu ein.

Mit der Automatic in Schussposition kam er in den Raum und riss die Tür zu Seite. Aber da lauerte niemand auf ihn. Er ließ die Waffe sinken, ging zum Fenster und blickte von dort aus hinunter auf die Straße.

Als er sich dann wieder herumdrehte, erstarrte er mitten in der Bewegung.

Bount Reiniger starrte direkt in die Mündung eines Revolvers Kaliber 38 Special.

Die Hand, die diese Waffe auf Bount gerichtet hielt war sehr zart, die Fingernägel lackiert.

"Waffe weg!", sagte eine weibliche Stimme, deren Tonfall es an Entschlossenheit nicht mangeln ließ und so legte Bount eine Automatic-Pistole erst einmal auf den nahen Glastisch, der in der Mitte des Zimmers stand. "Schön langsam und vorsichtig!" Bount lächelte dünn.

"Bleibt mir wohl nichts anderes übrig", meinte er.

"Und jetzt die Hände hoch, Mister! Schön hochhalten und oben lassen!"

Bount atmete tief durch und gehorchte.

Die Frau, die da mit der 38er vor ihm stand mochte Mitte zwanzig sein, war ziemlich klein und grazil. Mochte der Teufel wissen was sie hier suchte, aber es sah ganz danach aus, als würde Bount zunächst keine Gelegenheit bekommen, ihr seine Fragen zu stellen.

"Wer sind Sie?", fragte sie und kam einen Schritt näher.

"Bevor wir uns unterhalten, tun Sie besser das Ding da in ihrer Hand weg!"

Sie verzog ihren Schmollmund zu einer Grimasse.

"Das hätten Sie wohl gerne! Sie dringen hier so einfach in die Wohnung ein... Was glauben Sie, was Sie hier hätten stehlen können?" Sie sah an ihm herunter. Dann meinte sie: "Sie sehen mir nicht wie einer aus, der es nötig hätte, den Leuten, die hier wohnen und schon wenig genug haben, noch etwas wegzunehmen!"

Bount nickte ihr zu.

"Gut beobachtet!", meinte er nicht ohne Ironie. Die Frau zuckte mit den Schultern.

"Man täuscht sich eben immer wieder. Gut, dass Roy mir die Waffe dagelassen hat! Es gibt zwar jede Menge Gesindel hier, aber bis jetzt habe sie zum Glück noch nicht benutzen müssen. Es ist das erste Mal."

"Sie kennen Roy Brady?", fragte Bount Reiniger. Für eine Sekunde veränderte sich ihr Gesicht und Bount schöpfte Hoffnung, sie doch zur Vernunft zu bringen. Aber dann wurden ihre Züge hart.

"Hören Sie gut zu: Versuchen Sie nicht, mich aufs Kreuz zu legen!"

"Das tue ich nicht!"

"Sie wollen mir weismachen, dass Sie Roy kennen und mich verunsichern!"

"Ich kenne Roy Brady wirklich."

"Sie könnten seinen Namen auch an seinem Briefkasten gelesen haben."

"Roy Brady ist tot!", warf Bount dann ein. Er sah ihre großen Augen, ihr Kopfschütteln, ihr Unverständnis.

"Nein", flüsterte sie. "Sie lügen!"

"Ich bin Privatdetektiv", erklärte Bount dann weiter. "Meine Lizenz ist in der Jackettinnentasche, Sie können sich bedienen."

"Das ist nur eine Falle. Wenn ich dann bei Ihnen, greifen Sie nach meiner Waffe und überwältigen mich."

"Warum rufen Sie nicht die Polizei, wenn Sie überzeugt sind, dass ich ein Einbrecher bin? Die würde Ihnen übrigens alles bestätigen können, was ich bis Ihnen bis jetzt gesagt habe", erklärte Bount dann.

Wenn diese Frau - wie es Bounts Vermutung war hier mit Brady zusammen gelebt hatte, dann wusste sie wohl auch von seinen krummen Geschäften.

Daher kam das wohl kaum in Frage.

Prompt schüttelte sie den Kopf.

"Nein, ich rufe die Polizei nicht!"

"Weil Sie heiße Ware in der Wohnung haben, nicht wahr?"

"Was geht Sie das an?"

"Gar nichts. Und ich bin auch nicht dran interessiert." Sie zog die Augenbrauen die Höhe.

"Und woran sind Sie interessiert, Mister..."

"Reiniger. Bount Reiniger."

"Ich glaube, Ihren Namen habe ich schon einmal gehört!"

"Das kann gut sein. Er steht ab und zu in der Zeitung. Außerdem hat Roy Brady für mich als Informant gearbeitet."

"Sie haben noch immer nicht gesagt, was Sie hier eigentlich suchen, Reiniger!"

"Den Mörder von Roy Brady - und noch ein paar anderen." Bount sah, wie ihr auf einmal die Tränen über das Gesicht liefen.

"Dann ist Roy wirklich tot?"

Sie senkte die Waffe.

"Oh, mein Gott!"

Bount hielt seine Stunde für gekommen.

Er trat einen Schritt vor, aber sein Gegenüber schien weiterhin wild entschlossen zu sein, den Privatdetektiv in Schach zu halten. Ihre Hände zitterten, als sie die Waffe wieder hob und auf Bount Reiniger richtete.

"Ich... Ich warne Sie, Reiniger - oder wie immer Ihr richtiger Name sein mag!"

"Es ist mein richtiger Name!", erwiderte Reiniger so ruhig und sachlich das in dieser Lage möglich war. "Hören Sie, ich will Ihnen nichts tun, sondern Sie nur davon überzeugen, dass ich die Wahrheit spreche!"

Und dabei machte Bount einen Schritt nach vorn.

Die Frau wurde nervös. Ihr zitternder Zeigefinger spannte sich um den Abzug.

"Ich warne Sie zum letzten Mal!", rief sie. "Ich werde schießen!"

Aber Bount Reiniger schüttelte den Kopf.

"Sie werden nicht schießen!", erklärte er, als wäre es eine unumstößliche Tatsache. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie eine kaltblütige Mörderin sind."

Sie wich etwas zurück, als Bount einen weiteren Fuß voran setzte. Dann senkte er die Arme und griff sehr langsam und behutsam in die Innentasche seines Jacketts. Er hätte auch in die Manteltasche greifen können, wo sich der Revolver befand, den er draußen den Kerlen mit den Totenkopfjacken abgenommen hatte.

Aber das tat er nicht.

Er war sich sicher, die Sache auch so zu einem guten Ende bringen zu können. Außerdem war es zu vermuten, dass aus ihrer Waffe sofort ein Schuss kam, wenn sie den Revolver in Reinigers Hand sah.

Bount hatte seine Lizenz zwischen den Fingern und zog sie langsam heraus. Dann warf er ihr das Papier vor die Füße.

"Sie können sich überzeugen."

Sie zitterte erbärmlich und schluchzte plötzlich. Bount Reiniger sah ihr an, dass sie kurz vor einem regelrechten Nervenzusammenbruch stand.

Und dann war mit einem energischen Satz vorgeschnellt, hatte ihren Arm mit eisernem Griff gepackt und ihr die 38er entrissen.

18

Es dauerte eine Weile, bis Bount Reiniger mit der Frau reden konnte. Sie war völlig aufgelöst, schluchzte dauernd und war kaum, ansprechbar.

Bount setzte sich neben sie auf das Sofa und versuchte sie zu trösten, aber das stellte sich als gar nicht so einfach heraus. Als sie sich wieder etwas gefangen hatte, erzählte ihr Bount in knappen Worten, was sich zugetragen hatte.

Er gab ihr sein Taschentuch und sie wischte sich das Gesicht ab, das dann zu einer steinernen Maske wurde.

"Sie haben Roy geliebt?", fragte Bount. Sie nickte verhalten.

"Ja."

"Es tut mir leid für Sie."

"Danke. Aber das macht ihn nicht wieder lebendig!"

"Ich weiß. Das einzige, was wir jetzt noch für ihn tun können, ist dafür zu sorgen, dass sein Mörder nicht straffrei davonkommt!" Beziehungsweise der, der den Killer geschickt hat! setzte Bount in Gedanken hinzu und dachte dabei an Tony Maldini. Ihr Blick blieb starr, als sie erwiderte: "Ja, vielleicht haben Sie recht, Mister Reiniger!"

"Ich kannte Roy Brady schon ein paar Jahre", meinte Bount dann. "Aber er hat Sie nie erwähnt."

"Wir waren auch noch nicht lange zusammen" Sie zuckte mit den Schultern. "Ein paar Monate nur. Er hat mich in einer Bar aufgelesen, in der ich als Stripperin gearbeitet habe. Wir wollten ein neues Leben anfangen. Aber der Traum hat nicht lange gedauert!"

"Wie heißen Sie?"

"Laura Springfield."

"Der Mann, der Brady erschossen hat, hatte eine auffallende Narbe auf der rechten Gesichtshälfte. Kennen Sie jemanden, der so aussieht?"

Sie sah ihn mit ihren großen Augen an, in denen schon wieder Tränen glitzerten.

Dann schüttelte sie den Kopf.

"Nein. Aber in letzter Zeit schien er große Angst zu haben und war immer sehr vorsichtig."

Bount runzelte die Stirn.

"Wovor hatte er Angst?"

"Ich weiß es nicht, worum es ging. Es fing jedenfalls an, als er einen seltsamen Anruf bekam. Er war kreidebleich, al er den Hörer auflegte. Ich habe ihn gefragt, wer ihm denn einen solchen Schrecken eingejagt hätte."

"Und?"

"Ein Verrückter, so sagte er nur. Und nun ist Roy tot..." Sie barg ihr Gesicht mit den Händen.

Bount erhob sich vom Sofa.

Nicht mehr allzulange und Rogers' Meute würde hier auftauchen und das Unterste zu oberst kehren.

Bount blickte sich in dem karg eingerichteten Wohnraum um. Zu großem Wohlstand hatten Roy Brady seine Hehlergeschäfte nicht verholfen. Aber das konnte nur jemanden wundern, der diesen Mann nicht kannte.

Er hatte nämlich eine verhängnisvolle Leidenschaft gehabt. Er spielte für sein Leben gern - und verlor meistens. Bount Reiniger konnte sich nicht erinnern, ihn jemals anders angetroffen zu haben, als in finanziellen Nöten. Bounts Blick blieb bei einem Photo an der Wand hängen. Es zeigte ein paar junge Kerle in Uniform. Soldaten...

"War Roy bei der Army?", fragte Bount verwundert. Laura nickte.

"Ja, in Vietnam."

19

Brian Kostler stand nachdenklich am Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Er hatte etwas geschlafen, jetzt war etwas frischer. In der rechten hielt er eine Flasche Weinbrand. Als Geraldine den Raum betrat wandte er sich nicht um.

"Wie kommt es eigentlich, dass du hier so schnell aufgetaucht bist", meinte sie dann. "Ist doch merkwürdig, Bruderherz, findest du nicht auch?"

Brian zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck aus der Flasche.

"Es stimmt, dass wir uns nicht richtig verstanden haben, Dad und ich..."

"Das ist noch sehr harmlos ausgedrückt!"

"Über den Anschlag wurde doch in allen Zeitungen berichtet. Da habe ich gleich den nächsten Flieger genommen!"

"Und das Geld dafür hattest du einfach so übrig, Brian?" Jetzt endlich wandte er sich zu ihr herum. Er verzog den Mund zu einer zynischen Maske.

"Warum nicht?", meinte er.

"Es wäre wohl das erste Mal in deinem Leben gewesen, dass du keine Geldschwierigkeiten gehabt hättest, nicht wahr, Brian?"

"Irgendwann ist immer das erste Mal, Schwester. Das solltest du inzwischen wissen."

Dann veränderte sich sein Gesicht.

Er versuchte mit der Linken eine versöhnliche Geste und stellte schließlich die Flasche ab. Er kam ein paar Schritte näher, aber Geraldine wich zurück.

Er ist mein Bruder!, dachte sie. Aber im Grunde weiß ich kaum etwas über ihn!

Seit Jahren hatte es keinerlei Kontakte zwischen ihr und Dad auf der einen und ihm auf der anderen Seite gegeben. Zunächst war noch regelmäßig mit der Forderung nach mehr Geld bei Larry Kostler vorstellig geworden. Aber der hatte schließlich die Geduld verloren und bei irgendeiner nichtigen Gelegenheit war es dann zum endgültigen Bruch gekommen.

Kostler hatte weiterhin regelmäßig Beträge an Brian überwiesen, aber sie hatten seit damals kein Wort mehr miteinander gesprochen.

All die langen Jahre hindurch.

Und nun, da Larry Kostler tot war, da tauchte er wieder aus der Versenkung auf.

"Wir haben verschiedene Ansichten, Geraldine, aber das sollte uns doch nicht daran hindern, miteinander auszukommen!"

"Nein, Brian. Das geht viel tiefer."

"Und wenn schon! Schließen wir Waffenstillstand!" Geraldine überlegte kurz.

"Okay...", murmelte sie dann.

"Sieh mal, ich werde nicht lange hier bleiben. Die Beerdigung ist morgen, nicht wahr?"

"Ja."

"Okay..."

"Ich hoffe, du hast etwas Anständiges anzuziehen."

"Keine Sorge, ich habe dran gedacht."

"Wenigstens etwas!"

"Und das Testament?"

"Was soll damit sein?"

"Na, wann die Testamentseröffnung ist? Dad war ja schließlich keine arme Kirchenmaus."

Geraldines Blick wurde sehr ernst. Sie musterte ihren Bruder kühl.

"Du bist einzig und allein deswegen gekommen, nicht wahr, Brian?"

Er wich ihrem Blick aus und schien sich in diesem Moment nicht allzu wohl in seiner Haut zu fühlen. Dann meinte er bissig: "Und wenn schon!"

"Ich habe so etwas in der Art gedacht, Brian."

"Was ist schon dabei! Ich nehme meinen Teil und verschwinde. Du siehst mich nie wieder, Geraldine, das ist versprochen!"

Geraldine verzog den Mund.

"Dir passt Dads Tod gut in den Kram, nicht wahr, Brian?" Brian runzelte die Stirn.

"Was soll das?"

"Gib es zu!"

"Ja, gut, ich gebe es zu! Etwas Besseres hätte mir gar nicht passieren können, als dass jemand daherkommt und ihn niederschießt! Wer weiß, wie lange ich sonst noch auf mein Geld hätte warten müssen!"

Geraldine lachte freudlos.

"'Mein Geld!' - Eine feine Art hast du, das auszudrücken!"

"Was soll das ganze eigentlich? Soll das eine Art Verhör sein?

Denkst du vielleicht, ich hätte Dad auf dem Gewissen."

"Ein Motiv hättest du doch, oder etwa nicht? Du hast es vorhin ja selbst zugegeben!" Sie musterte ihn kurz, sah wie er mit zitterigen Fingern nach der Flasche griff und sie zum Mund führte.

Dann schüttelte sie energisch den Kopf.

"Nein, Brian, ich denke, es ist ziemlich ausgeschlossen, dass du es warst. Schau dir nur deine Hände an... Du bist doch gar nicht in der Lage, eine Waffe ruhig genug zu halten, um damit jemanden zu treffen."

Brian lief puterrot an und knurrte ärgerlich vor sich hin.

"Man muss stets versuchen, aus den Dingen seinen Nutzen zu ziehen, ganz gleich in welche Richtung sie laufen", meinte Brian dann, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte. "Ich habe gewusst, dass es irgendwann soweit sein würde. Und jetzt ist es eben soweit. Jetzt hat er die Kugel im Schädel, die schon vor langer Zeit für ihn bestimmt gewesen ist."

"Gute Nacht, Brian. Ich hoffe, du verschwindest hier möglichst schnell wieder."

"Gute Nacht Schwester! Sobald ich mein Geld habe, kann ich mir jedes Hotel leisten!"

20

Es war eine üble Absteige, rund um die Uhr geöffnet und im Drei-Schicht-System mit jeweils wechselnden Portiers besetzt. Aber für den Mann, der in diesem Augenblick durch die Tür trat war es genau das Richtige.

Der Mann war hochgewachsen und schlecht gekleidet und trat mit bedächtigen Schritten auf den Tresen zu, hinter dem der Nachtportier saß.

Dieser schreckte von seiner Illustrierten hoch, in der er Kreuzworträtsel gelöst hatte.

Der Portier musste schlucken, als er das Gesicht seines Gegenübers sah. Im Schein der Neon-Röhre war die Narbe gut sichtbar, die die rechte Gesichtshälfte verunstaltete.

"Was wollen Sie?", fragte der Portier.

"Ich wohne hier."

Der Portier runzelte die Stirn, während der Mann mit der Narbe mit der flachen Hand auf den Tresen schlug. Seine Augen waren kaum mehr als schmale Schlitze, sein Mund ein dünner Strich.

Der Portier hatte diesen Mann noch nie gesehen, aber bei dem schichtweise wechselnden Personal war das auch kein Wunder.

"Welche Nummer?"

"Dreiundzwanzig."

Der Portier drehte sich herum und ging zu dem Nagelbrett, an dem die Schlüssel hingen. Schließlich hatte er den richtigen gefunden und knallte ihn eine Sekunde später auf den Tresen.

"Hier, Mister..."

Der Narbige hob den Kopf und unterzog sein Gegenüber einer kurzen Musterung.

"Bridger!", flüsterte er dann.

Es war der Name, unter dem er sich eingetragen hatte, aber es war nicht sein wirklicher.

"Wollen Sie Frühstück, Mister Bridger?"

"Nein."

Der Portier zuckte mit den Schultern.

"Wie Sie wollen..."

"Noch was?"

"Nein."

"Das ist gut. Sie quatschen nämlich zuviel, Mister!"

"Ich dachte nur..."

"Gute Nacht!"

Der Mann, der sich Bridger nannte, drehte sich um und ging die Treppe hinauf, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Die Stufen knarrten entsetzlich...

Es hat mich niemand gesehen, dachte er und fühlte die Schalldämpfer-Pistole in der Tasche seiner Parka. Verdammt, es ist alles in Ordnung! Alles läuft wie am Schnürchen!

Aber Bridger war unruhig.

Er fühlte seinen Puls schlagen, obwohl es dafür doch eigentlich keinen Anlass gab. Brady war tot und die Gefahr, die er dargestellt hatte vorüber.

Bridger öffnete die Tür zu seinem Zimmer und verschloss sie sogleich sorgfältig hinter sich.

Dann atmete er tief durch.

Es war noch nicht zu Ende!

Roy Brady war nicht der Letzte auf seiner Liste!

21

Als Bount Reiniger am nächsten Morgen ins Büro kam, schlug ihm gleich Junes helle Stimme entgegen.

"Bount! Du kommst gerade richtig!"

"Was ist denn?"

"Telefon!"

Sie hielt den Hörer in der Hand.

Bount behielt den Mantel an. Er hatte es so im Gefühl, dass es sich vielleicht nicht lohnte, ihn auszuziehen.

"Wer ist es?"

"Captain Rogers."

Bount pfiff kurz durch die Zähne und den Hörer.

"Toby?"

"Ja, ich bin's!"

"Sag bloß, die Polizei arbeitet schon zu dieser frühen Stunde!"

"Jetzt ist keine Zeit für Witze, Bount! Wir wollen Maldini einen Besuch abstatten! Und da dachte ich, dass du vielleicht gerne dabei sein möchtest!"

Bount musste unwillkürlich grinsen.

"Schön, dass du an mich gedacht hast...", meinte er mit einem deutlich sarkastischen Unterton.

In Wahrheit konnte das nur heißen, dass Rogers bei seinen Ermittlungen gegen Maldini auf der Stelle trat und er von oben Druck bekommen hatte.

Nun, es war Bount einerlei worin die großzügige Kooperationsbereitschaft letztlich begründet lag.

"Wir sind schon auf dem Weg!", meinte Rogers. "Halte dich bereit! Wir kommen bei dir vorbei und laden dich ein!"

"Okay!"

Bount legte auf.

Er würde Maldini einige Fragen zu stellen haben. Und es konnte sicher nicht schaden, den Antworten genau zuzuhören. Vielleicht kam ja etwas dabei heraus.

Bount stand einen Augenblick lang nachdenklich da, dann holte er einen zerknitterten Zettel aus seiner Tasche, auf dem ein paar Namen standen, die er sich am Vortag in Rogers' Büro aufgeschrieben hatte.

"Was ist das?", fragte June.

"Eine Liste", murmelte Bount lakonisch. "Eine Liste von Männern , die allesamt zu Maldinis Organisation gehören oder mit ihm zu tun hatten - und nun mausetot sind." June warf einen Blick darauf.

"Joel Gardener...", entzifferte sie.

"Ein Barbesitzer", meinte Bount. "Aber das war vermutlich nur Tarnung."

"Was machte er wirklich?"

"Er handelte mit Crack und anderen synthetischen Drogen. Und zwar im großen Stil. Leider wird man es ihm jetzt wohl kaum noch nachweisen können."

"Und wer ist das? Perry Crawford?"

"Ein Hehler."

"Für was?"

"Alles, was sich denken lässt."

"Genau wie Roy Brady, dein Informant!"

"Ja, aber Crawford war ein paar Nummern größer." In Gedanken setzte Bount die Namen Brady und Kostler hinzu.

Aber sie schienen irgendwie nicht zu passen. Brady nicht, weil er ein zu kleiner Fisch gewesen war und Kostler nicht, weil er seit Jahrzehnten ein seriöser Geschäftsmann war, der mit Maldini und seiner Organisation nichts zu tun gehabt hatte... Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Bount unwillkürlich. Er schob June die Liste hinüber.

"Hier!", meinte er. "Ich habe sie mir schon dutzendfach angeschaut - alle Daten, die mir wichtig erschienen, habe ich mir aus Rogers' Akten herausgeschrieben..."

Vier Namen standen dort.

Außer Crawford und Gardener noch der von Jack McCarthy, der ein Inkasso-Büro betrieb und unter anderem für Maldini Schulden eintrieb sowie Ray Gregor, der ein Büro betrieb, dass unter anderem Söldner vermittelte.

Vermutlich hatte Gregor seine Finger aber auch im internationalen Waffenhandel und vermittelte Mordaufträge an professionelle Killer.

Einmal war er deswegen schon festgenommen worden. Man hatte sein Büro abgehört und ihn dabei erwischt, wie er sich gerade um die Belange eines kümmerte, der einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Weg geräumt haben wollte. Aber man hatte Ray Gregor wieder freilassen müssen, weil den Beamten ein schwerwiegender Formfehler passiert war, die dazu geführt hatten, dass das gesamte Beweismaterial nicht berücksichtigt werden konnte.

In den letzten Jahren Gregor sich besser vorgesehen und alles vermieden, um mit der Polizei in Konflikt zu kommen. Aber niemand, der ich in der Szene auskannte, zweifelte daran, dass er nach war aktiv war.

"Rechnet man Kostler und Brady hinzu, dann haben alle gemeinsam, dass sie etwa zwischen vierzig und fünfzig sind!", meinte June nachdenklich.

Bount nickte.

"Genau wie Maldini. Und sie sind auch alle zusammen groß geworden in der Unterwelt. Einer hat den anderen abgestützt. Nur Kostler ist da irgendwann ausgestiegen."

"Wenn Maldini es ist, der sie alle - einer nach dem anderen von einem Profi killen lässt - dann verstehe ich nicht, warum er das tun sollte!"

Er zuckte die Achseln.

"Mal sehen, was Maldini so ausspuckt!", meinte er dann.

22

Eine Viertelstunde später saß Reiniger neben Captain Rogers auf dem Rücksitz eines Streifenwagens.

"Wohin geht es jetzt?", fragte Bount.

"In Maldinis Büro. Dort sind wir mit ihm verabredet!"

"Oh, ihr habt euch richtig schön brav angemeldet!"

"Und wenn schon..."

"Ich habe ja nichts gesagt, Toby!"

"Dann will ich auch nichts gehört haben."

"Ihr sitzt fest, nicht wahr? Gegen Maldini kommt ihr nicht weiter, da beißt ihr auf Granit!"

"Bount, du weißt doch selbst, was das für einer ist..."

"Natürlich weiß ich das!"

"Okay, du hast Recht! Es ist genau so, wie du vermutet hast: Wir stecken fest! Alles sieht nach einer Säuberungsaktion Maldinis in den eigenen Reihen aus... Alle Opfer wurden mit derselben Waffe erschossen."

"Das steht inzwischen fest?"

"Ja. Felsenfest. Übrigens wurden mit dieser Waffe auch Larry Kostler und Roy Brady erschossen!"

"Dann wird es auch derselbe Kerl gewesen sein, der sie abgedrückt hat, nicht wahr?"

"Sieht so aus, Bount."

"Sollte man von einem wirklichen Profi nicht erwarten, dass er nach jedem Mord die Waffe verschwinden lässt und sich eine andere besorgt - schon allein, um es unmöglich zu machen, irgendwelche Verbindungslinien zu ziehen..." Rogers zuckte mit den Schultern.

"Wahrscheinlich hat jeder Killer seine eigenen Methoden, Bount!"

"War ja nur so ein Gedanke."

Bount machte eine unbestimmte Geste mit der Hand und zuckte mit den Schultern.

Dann fuhr er nachdenklich fort: "Trotzdem scheinen mir Kostler und Brady nicht so ganz in die Serie hineinzupassen... Aber warten wir erst einmal ab, was Maldini uns zu erzählen hat."

"Am Telefon schien er mir ganz zugänglich", meinte Rogers.

"Machte ganz einen auf seriösen Geschäftsmann."

"Das war ja schon immer seine Tour."

"Richtig, Bount. Entweder er hat wirklich nichts mit den Morden zu tun - was ich nicht glaube - oder..."

"Oder?"

"Oder aber er fühlt sich verdammt sicher!"

"Und das wahrscheinlich mit Recht! Er war ja schließlich immer sehr vorsichtig."

Toby Rogers verzog das Gesicht.

"Dieser verdammte Hund tanzt uns schon viel zu lange ungestraft auf der Nase herum!" Rogers schnappte nach Luft und ächzte.

"Was ist mit dem Killer?", fragte Bount unvermittelt.

"Du meinst den mit der Narbe!"

"Ja."

"Fehlanzeige!"

"Was?"

"Ja, in den Polizeiarchiven gibt es nichts über einen Killer mit einer solchen Narbe!"

"Das ist seltsam..."

"Tut mir leid, aber es ist so! Ich habe ihn in die Fahndung gegeben. Ein Phantombild ist an die Presse gegangen. Vielleicht kommt ja etwas dabei heraus."

"Hoffentlich! Dieser Mann ist schließlich nicht gerade unauffällig, was seine äußere Erscheinung angeht. Irgendjemand muss ihn ja sonst noch gesehen haben! Schließlich muss der Kerl irgendwo schlafen, er muss sich ernähren..."

"Täusch dich da nicht, Bount! Auch mitten in New York kann man wie ein Eremit leben! Ich hoffe nur, dass dieser Stadtstreicher dir nicht einen Bären aufgebunden hat!"

Bount schüttelte energisch den Kopf.

"Nein, daran glaube ich nicht."

Bount seufzte.

Dass der Killer mit der Narbe nicht in den Archiven zu finden war konnte einerseits bedeuten, dass dieser Mann bisher noch nicht einschlägig in Erscheinung getreten war. Und das würde die Suche nach ihm nicht gerade erleichtern.

Die andere Möglichkeit war, dass er seine Narbe noch nicht allzulange hatte...

23

Tony Maldini residierte im Johnston Building, einem gigantischen Büroturm, den ein Versicherungskonzern hatte bauen lassen.

Drei Etagen hatte Maldini gemietet - und um das bezahlen zu können, musste schon einiges auf den Tisch blättern. Seinen Geschäften konnte es also nicht allzu schlecht gehen. Als Reiniger und Rogers mit dem Aufzug in den zwanzigsten Stock gekommen waren, versperrten ihnen zwei bärenhafte Gorillas den Weg, die nicht die Absicht zu haben schienen, sie weiter vor zu lassen.

Rogers zeigte seine Marke, aber das beeindruckte sie wohl nicht allzu sehr.

Der eine bleckte nur angriffslustig die Zähne und blickte verächtlich auf den Captain herab.

"Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, Mister?"

"Wir sind mit Mister Maldini verabredet!"

"Davon wissen wir nichts!"

"Dann schlage ich vor, Sie fragen mal eben kurz Ihren Boss!", mischte Bount sich ein. "Schätze, dann ersparen Sie uns und Ihnen einigen Ärger!"

Die Kerle wechselten einen Blick und schienen einen Augenblick nachdenken zu müssen. Dem äußeren Anschein nach schienen sie über jede Menge Muskeln zu verfügen, aber um ihre geistigen Gaben schien es nicht ganz so gut bestellt zu sein. Dann kam ein kleiner, hagerer Mann mit einer unwahrscheinlich dicken Hornbrille.

"Wer ist das?", fragte er die beiden Gorillas.

"Polizei. Die wollen zum Chef."

Die Hornbrille kam näher und wandte sich an Reiniger.

"Rogers?"

Bount deutete neben sich.

"Nein, das hier ist Rogers! Ich begleite ihn nur." Die Hornbrille nickte den Gorillas zu. "Das geht schon in Ordnung, Leute. Der Boss erwartet diese Gentlemen bereits!"

"Na endlich!", brummte Rogers.

"Lässt du dich eigentlich immer so behandeln, Toby?", zischte Bount dem Captain zu, woraufhin dieser nur etwas Unverständliches vor sich hin knurrte.

"Wenn sie mir bitte folgen würden, Gentlemen!", meinte die Hornbrille.

Der kleine Mann rückte sich die Krawatte zurecht und ging dann vorne weg.

"Ein paar nette Mitarbeiter haben Sie da aber!", meinte Bount sarkastisch.

"Sie müssen schon entschuldigen!", erwiderte die Hornbrille eilfertig. "Sie sind etwas ungehobelt, aber sie verstehen ihr Fach..."

Bount grinste.

"Das glaube ich Ihnen aufs Wort."

Sie gingen durch eine Tür, dann eine weitere, kamen durch ein Vorzimmer mit zwei Sekretärinnen und dann standen sie schließlich vor jener Tür, die zum Büro des großen Tony Maldini führte.

Die Hornbrille drücke auf den Knopf an der Sprechanlage.

"Mr. Maldini? Rogers ist da!"

Keine Antwort.

"Sollen wir hereinkommen, Mister Maldini?" Immer noch keine Antwort.

Die Hornbrille schien ratlos zu sein und runzelte die Stirn.

"Mister Maldini..."

"Ist er auch bestimmt in diesem Büro?", fragte Bount eine der Sekretärinnen.

"Aber sicher doch!", beeilte diese sich. "Und wenn er herausgekommen wäre, dann hätten Lucy und ich ihn ja wohl sehen müssen, oder?"

Bount zuckte mit den Schultern.

"Einen zweiten Ausgang gibt es nicht?"

"Nein."

"Da stimmt etwas nicht!", meinte die Hornbrille.

"Sehen wir mal nach!", murmelte Bount entschlossen.

24

Sie traten durch die Tür und Bounts Rechte ging instinktiv zum Schulterholster, als er Maldini mit einem kleinen, runden Loch mitten in der Stirn hinter dem protzigen Schreibtisch sitzen sah.

Bounts Blick ging durch den Raum, aber es war ihm schon nach wenigen Augenblicken klar, dass hier schon alles gelaufen war.

So ließ er dann die Waffe wieder sinken.

"Scheint, als kämen wir zu spät", murmelte Bount. Langsam näherten sie sich dem Schreibtisch. Maldini blickte ihnen mit starren, toten Augen entgegen.

"Oh, mein Gott!", stöhnte die Hornbrille. Und dann waren auch die beiden Sekretärinnen

hereingekommen und stießen jeder einen Laut der Verwunderung und des Schreckens aus.

"Verflucht!", schimpfte Rogers.

Und er hatte allen Grund dazu.

Es war sicher nicht Trauer um einen Verbrecher, auf dessen Konto vermutlich auch der eine oder andere bezahlte Mordauftrag ging. Es war wohl eher die Tatsache, dass er jetzt völlig von vorne anfangen musste.

Mit der Linken wischte Rogers sich den Schweiß von der Stirn. Dann wandte er sich an die Hornbrille.

"Schätze, dass ist jetzt unser Job, Mister!" Der kleine, dünne Mann nickte.

"Natürlich, Sir!"

Rogers ging zum Telefon auf dem Schreibtisch und wählte die Nummer der Polizei.

Sollte die Spurensicherung das Büro mal richtig unter die Lupe nehmen...

25

Als sich der erste Schrecken bei den Anwesenden gelegt hatte, nahm sich Bount die beiden Sekretärinnen zur Brust. Die eine war klein und brünett, die andere hochgewachsen, schlank und rothaarig.

"Ist irgendjemand hier heraus oder hereingekommen! Bitte überlegen Sie gut!"

Die Brünette schüttelte energisch den Kopf.

"Nein, ich habe niemanden gesehen!", meinte sie. Ihr Gesicht, das wenige Augenblicke zuvor noch eine frische, rosige Farbe gehabt hatte, war indessen bleich geworden.

"Aber irgendjemand muss hier gewesen sein!", beharrte Bount.

"Wann ist Mister Maldini denn heute ins Büro gekommen?"

"Etwa eine halbe Stunde, bevor Sie hier aufgekreuzt sind."

"Ist das seine übliche Zeit?"

"Ja. Meistens kommt er sogar noch früher. Er ist ein sehr hart arbeitender, fleißiger Mann. Ich meine, er war..." Mir kommen gleich die Tränen!, dachte Bount bei sich, aber konnte sich zurückhalten und ließ es nicht über die Lippen kommen.

"Moment mal!", meinte dann die Rothaarige. Bount horchte auf und sah ihr direkt in die Augen, in denen es jetzt verheißungsvoll blitzte.

"Ja?"

"Da war doch jemand in Mister Maldinis Büro?"

"Was Sie nicht sagen..."

"Ja. Ein Heizungsmonteur. An der Zentralheizung ist gearbeitet worden und es sollte jemand kommen, um zu überprüfen, ob sich Luft in den Heizkörpern gestaut hat. Das ist im Grunde etwas ganz Normales. Wissen Sie, wir haben nämlich Probleme mit der Heizung im Haus und deswegen war schon ein paar Mal jemand hier."

"Es war ein Mann?"

"Ja. Und er kam bevor Mister Maldini sein Büro betrat und verließ es wieder ein paar Sekunden, nachdem der Chef eingetreten war."

"Hat jemand von Ihnen Maldini danach noch einmal lebend gesehen?"

"Nein!", sagte die Rothaarige.

Und auch die Brünette schüttelte den Kopf. "Nein" meinte sie.

"Er hat auch nicht die Sprechanlage benutzt. Jetzt erinnere ich mich auch. Hatte der Man nicht so eine hässliche Narbe - mitten über das Gesicht?"

26

Eine halbe Stunde später war das Büro von Tony Maldini von einem halben Dutzend Polizisten bevölkert, die nach jeder noch so kleinen Spur suchten.

Rogers hatte indessen die Hornbrille verhört, die auf den Namen Ed Rolston hörte.

Aber Rolston hatte sich ziemlich zugeknöpft gegeben. Es war nicht viel bei der Sache heraus gekommen. Jetzt stand Rogers mit einer Kaffeetasse in der Hand da und nippte unlustig an dem Gebräu, dass ihm die Rothaarige aufgesetzt hatte.

Bount klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

"Nimm's nicht so tragisch, Toby!"

"Ah, du hast gut reden!"

"Ich weiß gar nicht was du hast, Toby! Immerhin kannst du hier jetzt endlich mal das unterste zu oberst kehren! Das wolltest du immer schon, nicht wahr? Einmal in Maldinis Heiligstem herumwühlen..."

"Ja, schon..."

"Na, also! Wenn das nichts ist! Und nun kann dir niemand Steine in den Weg legen! Mord ist ein Offizialdelikt, das in jedem Fall verfolgt werden muss! Es wird also keine Schwierigkeit mehr sein, jeden Durchsuchungsbefehl in dieser Sache zu bekommen, den du brauchst."

"So habe ich das noch nicht gesehen. Aber andererseits tappen wir jetzt völlig im Dunkeln, was hinter diesen Morden steckt. Eine Säuberungsaktion Maldinis in seiner Organisation scheidet jetzt wohl endgültig aus..."

"Ja, schließlich ist nicht anzunehmen, dass Maldini sich selbst liquidieren ließ."

"Wie dem auch sei, Bount. Einen Unschuldigen hat es jedenfalls nicht getroffen."

"Es wird jetzt wohl eine Reihe von Kämpfen um die Thronfolge in der Organisation geben."

"Ja, das ist zu befürchten", stimmte Bount zu. Als der Privatdetektiv sich dann zum Gehen wandte, runzelte Rogers die Stirn. "Was hast du jetzt vor?"

"Ich werde mir ein Taxi nehmen und zu Kostlers Beerdigung fahren", meinte er.

"Versprichst du dir davon etwas?"

Bount zuckte mit den Schultern.

"Kann ich noch nicht sagen. Aber da muss irgendein entscheidender Faktor sein, den wir noch nicht kennen. Irgendeine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern. Und Kostler hat eine Schlüsselstellung auf der Liste."

"Wieso?"

"Weil er offensichtlich herausfällt. Alle außer ihm waren vermutlich auf die eine oder andere Weise in der Unterwelt aktiv. Nur Kostler nicht. Seine zweifelhafte Zeit liegt schon sehr lange zurück."

"Cummings hat mir gesagt, dass es da einen geklebten Brief gab..."

"Ja, Toby. Und das ist auch so einer Merkwürdigkeit. ENDLICH HABE ICH DICH GEFUNDEN, DU RATTE. Könnte nach Maldini klingen, so dachte ich mir erst. Schließlich hat Kostler ihm in grauer Vorzeit mal kräftig auf die Füße getreten, so kräftig, dass kein Syndikatsboss der ganzen Welt so etwas durchgehen lassen könnte, ohne seine eigene Position zu gefährden. Aber wenn der Kerl mit der Narbe sowohl Kostler wie Maldini umgebracht hat, muss etwas anders dahinterstecken!"

27

Bount Reiniger ließ sich von einem Taxi zurück zu seinem Büro in der 5th Avenue bringen. Von dort fuhr er dann mit seinem eigenen Wagen hinaus in Richtung Long Island, wo auf einem Methodistenfriedhof Larry Kostler zur letzten Ruhe gebettet wurde.

Er würde nicht mehr pünktlich kommen, aber das störte Bount nicht besonders. Die Predigt interessierte ihn ohnehin nicht sonderlich, eher schon, wer sich auf dieser Beerdigung alles einfand.

Vielleicht konnte das irgendwelchen Aufschluss geben, auch wenn er da nicht allzu zuversichtlich war.

Und dann musste er unbedingt mit Geraldine Kostler sprechen. Nach wie vor hatte er das dumpfe Gefühl, dass sie ihm etwas Entscheidendes vorenthielt.

Als Bount den richtigen Friedhof erreicht hatte war es bereits früher Nachmittag und alles schien schon annähernd vorbei zu sein.

Der Sarg war längst in der versenkt, der Geistliche hatte seine salbungsvollen Worte gesprochen und dann gingen sie einer nach dem anderen zum Grab.

Bount stellte seinen 500 SL irgendwo in der Nähe ab und wartete am Ausgang des Friedhofs.

Es lag nicht in seiner Absicht irgendjemanden in seiner Trauer zu stören.

Er rieb sich die Hände und beobachtete die kleine Ansammlung von Menschen, die Larry Kostlers Sarg gefolgt war. Es waren nicht viele - nicht, wenn man bedachte, dass Larry Kostler kein ganz unwichtiger Mann war.

Geraldine war da, mit einem dunklen Schleier vor dem Gesicht - und natürlich Brian Kostler, ihr zwielichtiger Bruder. Brian hatte eine rote Nase und Bount war sich nicht schlüssig darüber, ob die von der Kälte herrührte...

"Na, wie geht's, Schnüffler?"

Bount wirbelte herum und sah einen Cowboyhut und ein freches Grinsen.

Es war Cummings, der Polizist.

Offensichtlich hatte er dieselbe Idee gehabt wie Bount und sich die Trauergesellschaft einmal aus sicherer Entfernung angesehen.

"Schon weitergekommen?", fragte Bount nicht ohne eine Portion Spott in der Stimme.

Er schüttelte den Kopf.

"Alles deutete auf Maldini..."

"Und der ist jetzt tot!"

Cummings nickte.

"Ja."

Bount runzelte die Stirn.

"Woher wissen Sie das so schnell?"

"Captain Rogers hat es mir durchgegeben!" Er machte ein nicht besonders glückliches Gesicht. Seine Mundwinkel wirkten irgendwie verkniffen. "Diese Mordserie ist ja jetzt Chefangelegenheit!", zischte er.

Bount lächelte dünn.

"Sie wollen sich die Sporen lieber allein verdienen, was, Cummings?"

Cummings machte eine wegwerfende Geste.

"Was dagegen?"

"Nein."

"Man muss ja schließlich vorwärtskommen!"

"Mir geht es in erster Linie darum, einen kaltblütigen Killer aufzuspüren!"

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich kurz, dann zuckte Cummings mit den Schultern.

"Spielt doch eigentlich keine Rolle, warum jemand etwas tut, finden Sie nicht auch?"

"Ich weiß nicht, ob ich mich da Ihrer Meinung anschließen kann..."

"Die Hauptsache ist und bleibt, was am Schluss dabei herauskommt, Reiniger! Nichts anderes!"

Bount hatte keine Lust, die Diskussion zu vertiefen. Er deutete zu den Trauernden.

"Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, Cummings." Der Polizist verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

"Wenn's sein muss."

"Ich kenne Miss Geraldine und ihren Bruder Brian..."

"Den Säufer..."

"Ja, genau den. Vielleicht können Sie mir bei den anderen weiterhelfen."

"Es sind Leute der Larry Kostler Holding", meinte Cummings.

"Buchhalter, Börsenmakler und solche Leute."

"Dort sehe ich ja auch unseren Freund Dickson. Haben Sie dem eigentlich mal richtig auf den Zahn gefühlt, Cummings?" Cummings Augen wurden zu schmalen Schlitzen. "Was ist mit diesem Dickson?"

"Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass er ein Motiv haben könnte..."

"Ich habe mit ihm gesprochen."

Reiniger zog die Augenbrauen hoch.

"Und?"

"Er war nicht sehr auskunftsfreudig. Meinen Sie, dass er Kostler auf dem Gewissen haben könnte?"

Bount zuckte mit den Schultern.

"Normalerweise ja. Aber es fehlt die Verbindung zu Maldini..."

Die Trauergesellschaft löste sich nun langsam auf. Bount wartete, bis Geraldine in der Gesellschaft ihres Bruders herankam. Brian machte ein missmutiges Gesicht, während von Geraldines hübschem Antlitz auf Grund des dunklen Schleiers nicht viel zu sehen war.

"Herzliches Beileid, Geraldine...", murmelte Bount und nahm ihre Hand.

"Danke", war die knappe Erwiderung.

"Geraldine, ich muss unbedingt mit Ihnen reden."

"Jetzt?"

"Ja. Jetzt sofort. Drüben steht mein Wagen..." Aus irgendeinem Grund schien sie davon nicht allzu sehr begeistert zu sein.

Sie war heute auffällig kühl und abweisend.

"Ich bin selbst mit dem Wagen hier, Bount!" Brian Kostler unterzog Bount Reiniger einer kritischen Musterung. In seinen Zügen stand deutlich so etwas wie Verachtung, vielleicht auch ein bisschen Unbehagen.

"Ist irgendetwas geschehen?", fragte Brian. Bount nickte.

"Allerdings..."

Brian zog die Augenbrauen hoch. Und dann konnte Cummings sich nicht mehr zurückhalten und meinte: "Maldini ist erschossen worden!"

Es dauerte eine Sekunde, bis einer der beiden Geschwister dazu etwas sagte.

Zu Schade!, durchfuhr es Bount. Geraldine hatte noch immer in den Schleier vor ihrem Gesicht, aber gerade in diesem Augenblick hätte er gerne ihre Reaktion auf diese Nachricht gesehen.

Brian machte jedenfalls keinen besonders überraschten Eindruck.

"Das ist doch der Kerl, der Dad auf dem Gewissen hat, nicht wahr?", wandte er sich an seine Schwester.

"Ja", murmelte Geraldine fast tonlos. Und dann setzte sie noch hinzu: "Das kommt sehr überraschend, Bount!" Bount nickte.

"Nicht nur für Sie, Geraldine."

"Erwarten Sie nicht, dass ich ein Wort des Bedauerns oder des Mitgefühls für Tony Maldini hätte."

"Nein, das erwarte ich nicht."

"Wer immer ihn umgebracht hat, ich würde ihm von Herzen danken, wenn er hier vor mir stünde. Maldini hat Dad umgebracht und dafür hat er zahlen müssen. So sehe ich das. Es mag hart klingen, aber ich empfinde nun einmal so." Bount zuckte mit den Schultern.

Dann setzte er noch einmal an.

"Sie irren sich, Geraldine."

"In wie fern, Bount?" Sie schüttelte energisch den Kopf und ehe Bount etwas sagen konnte, war sie bereits fortgefahren. "Sie haben keine Ahnung, wie es in meinem Inneren aussieht, Bount! Was wissen Sie schon!"

Ihre Stimme klang bitter. Bount wartete erst einmal ab und hörte ihr zu.

Dann begann er: "Nun..."

"Bount, Sie haben sich wunderbar für meine Angelegenheiten eingesetzt. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Ich bin vollauf mit Ihnen zufrieden."

Bount Reiniger begann zu spüren, dass der Wind jetzt mit einem Mal aus einer anderen Richtung blies. Und so überraschte ihn das, was dann über die Lippen der schönen Geraldine kam auch nicht mehr sonderlich - wenn er es auch noch nicht vollständig begriff.

"Ihr Job ist beendet, Bount Reiniger!" Bount verzog das Gesicht.

"Beendet?"

"Ja. Der Mann, der meinen Vater jahrelang in Angst leben und ihn dann umbringen ließ, hat seine gerechte Strafe bekommen. Ob es der elektrische Stuhl oder irgendein dahergelaufener Killer war, der ihn über den Jordan geschickt hat - das spielt vielleicht für einen Juristen eine gewisse Rolle. Aber nicht für mich!" Ein mattes Lächeln begann um Bounts Lippen zu spielen.

"Ich wusste gar nicht, dass Sie so hart sein können!"

"Oh, Bount! Vielleicht ist das alles etwas zuviel für mich. Der Tod meines Vaters, dieser feige Mord. Wir standen uns wirklich sehr nahe, Bount!"

"Schon gut, Geraldine! Aber wie dem auch immer sei: Sie irren sich gewaltig!"

"In wie fern?"

"Diese Sache ist keineswegs zu Ende, Miss!"

"Und warum nicht?"

"Der Mörder von Maldini ist auch der Mörder Ihres Vaters gewesen."

Geraldines Gesicht erstarrte und ihre Stirn legte sich in Falten. Bei Brian, ihrem Bruder, traten die Augen vor Verwunderung stark aus ihren Höhlen hervor.

"Ist das sicher?", fragte Geraldine dann. Bount nickte.

"Ja."

Sie machte eine Geste der Hilflosigkeit.

"Aber wo ist da ein Zusammenhang? Wo eine Verbindung? Der Gedanke, dass mein Vater und Maldini einen gemeinsamen Feind haben - das ist doch absurd!"

"Es scheint aber so zu sein!"

Bount Reiniger rieb sich nachdenklich das Kinn und dann sah er mit den Augenwinkeln einen Sportwagen heranbrausen, dessen Scheiben verdunkelt waren.

In der nächsten Sekunde brach die Hölle los...

28

Die Seitenscheibe des Wagens war an der Fahrerseite ein Stück nach unten geglitten und etwas Dunkles ragte ein paar Zentimeter hinaus.

Es ging alles sehr schnell und dauerte kaum länger als einen Augenaufschlag.

"Achtung!", rief Bount, der als erster begriffen hatte, was hier gespielt hatte - noch bevor die anderen den dunklen Sportwagen überhaupt zur Kenntnis genommen hatten.

Fast lautlos pfiffen die Projektile durch die Luft. Manche schlugen gegen die Sandsteinmauer, die den Friedhof umgrenzte und wurden als gefährliche Querschläger weiter auf die Reise geschickt.

Cummings griff nach seiner Dienstwaffe, die er in einem Schulterholster trug, aber noch ehe er sie in Anschlag gebracht hatte, war er bereits getroffen worden. Ein paar Zentimeter unterhalb der Brust wurde es rot bei ihm, er ächzte, krümmte sich und klappte dann zusammen wie ein Taschenmesser. Auch Brian Kostler hatte es offensichtlich erwischt. Eine Mischung aus Fluch und Schmerzensschrei ging über seine Lippen, als ihn die Wucht eines Geschosses erwischte und nach hinten gegen die Sandsteinmauer riss, an der er dann zu Boden rutschte.

Bount warf sich blitzschnell auf die neben ihm stehende Geraldine und nahm sie mit sich Boden, während ein paar Geschosse über sie beide hinweggingen.

Die kleine Menschenansammlung, die sich am Ausgang des Friedhofs gebildet hatte, stob auseinander. Menschen schrien laut um Hilfe, obwohl nur die wenigsten begriffen hatten, was wirklich vor sich ging.

Panik griff um sich.

Unterdessen rollte Bount Reiniger sich Boden herum, brachte seine Automatic in Anschlag und feuerte ein paarmal in Richtung des Angreifers.

Eine der dunklen Fensterscheiben des Wagens ging zu Bruch, aber es war unmöglich für Bount, zu beurteilen, ob er jemanden getroffen hatte oder nicht.

Von dem Fahrer sah er nichts.

Der geheimnisvolle Killer trat auf das Gaspedal. Reifen quietschten und er brauste davon.

Bount Reiniger sprang auf und legte die Automatic erneut an. Aber er feuerte nicht.

Ein paar der in Panik geratenen Leute waren ihm in den Weg gelaufen.

Diese Narren!, durchzuckte es Bount.

Aber da war wohl nichts mehr zu machen.

Es war zu gefährlich jetzt weiterzuschießen und so senkte er die Waffe.

Die in Panik Geratenen achteten nur auf Reiniger, denn die Schüsse seiner Automatic waren weithin zu hören. dass die Gefahr in Wahrheit aus dem dunklen Sportwagen gekommen war, der jetzt mit heulendem Motor davonraste und hinter der nächsten Ecke verschwand, davon hatten die meisten nichts gemerkt...

"Verdammt!", flüsterte Bount und steckte dann die Waffe wieder ein. Er wandte sich um.

"Ist Ihnen etwas passiert, Geraldine?", fragte er. Aber sie schüttelte den Kopf und stand auf. Den dunklen Schleier, der bis dahin ihr Gesicht bedeckt hatte, hatte sie verloren und ihre Kleidung hatte ziemlich gelitten. Aber sonst schien alles okay.

"Mir geht's gut!", meinte sie erstaunlich gelassen. Von Cummings konnte man das nicht sagen.

Der Polizist lag zusammengekrümmt auf dem Pflaster und rührte sich nicht mehr.

Bount beugte sich nieder und drehte den Polizisten ein Stück herum. Aber da war nichts mehr zu machen.

Er war tot.

Bount stand wieder auf und ging zu Brian Kostler, der Boden saß und stöhnte. Aber er lebte offensichtlich noch.

"Lassen Sie mal sehen!", meinte Bount und sah sich die Wunde an. Es war ein Schuss in den Oberarm.

"Es wird ein bißchen wehtun, aber es ist nicht weiter schlimm!", meinte Bount. "Sie werden es überleben!"

"Sie können gut reden, Sie verdammter Bastard!", brachte er unterdrückt heraus.

"Brian!", fuhr Geraldine dazwischen. "Er hat uns wahrscheinlich das Leben gerettet!"

Brian verzog das Gesicht.

"Zu gütig!", zischte er.

"Brian, du bist unmöglich!"

Er spuckte aus.

"So, bin ich das?"

Und dabei blitzte es in seinen Augen giftig.

Geraldine wandte sich an Reiniger.

"Er ist jetzt wütend auf die ganze Welt, obwohl er froh sein sollte mit Leben davongekommen zu sein. Aber so ist er nun einmal. Ich hoffe, Sie nehmen es ihm nicht übel." Bount schüttelte den Kopf.

"Natürlich nicht."

"Dann ist es ja gut."

"Ich werde jetzt zum Wagen gehen und einen Arzt rufen."

29

Es dauerte nicht lange bis der Notarzt zur Stelle war - und wenig später tauchte auch Rogers mit seinen Leuten auf. Einige von ihnen schwärmten aus, um nach verschossenen Projektilen zu suchen, die der Killer aus seiner Schalldämpferpistole verschossen hatte. Brian war ins nächste Hospital gebracht worden. Die Kugel steckte noch und musste herausgeschnitten werden. Aber er würde bald wieder auf den Beinen sein, vielleicht würde man ihn nicht heute wieder entlassen.

Geraldine wirkte sehr ruhig. Erstaunlich ruhig, wenn man bedachte, was soeben geschehen war. Sie stand da und rauchte eine Zigarette.

Bount warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. Dann trat Rogers zu ihm heran.

Der Captain machte ein ratloses Gesicht und kratzte sich hinter den Ohren.

Bount hatte ihm in knappen Worten berichtet, was sich zugetragen hatte.

"Auf wen hatte der Kerl es abgesehen?", fragte Rogers. Bount zuckte mit den Schultern.

"Jedenfalls wohl kaum auf den, den es letztendlich erwischt hat!"

"Sie sprechen von Cummings, nicht wahr?"

"Ja."

"Schlimme Sache. Er hatte seine Macken, aber er war ein prima Kerl, Bount! Und verdammt noch mal, so wahr ich hier stehe: Ich will den Kerl in die Finger kriegen, der Cummings auf dem Gewissen hat!"

"Cummings hatte Pech!", meinte Bount. "Als der Wagen auftauchte, griff er zur Waffe, und da hat der Kerl ihn niedergestreckt. Dann ging eine wilde Schießerei los, bevor er sich dann davonmachte."

"Was glauben Sie, wem die Sache gegolten hat? Brian Kostler vielleicht?"

"Schwer zu sagen, bevor wir nicht wissen, welches Motiv hinter dieser Serie steckt. Es muss einen Schlüssel zu allem geben, aber wir haben ihn noch nicht, Toby!"

Rogers wandte sich zu Geraldine.

"Was ist mit Ihnen, Miss Kostler?"

Sie blickte auf und schluckte.

Ihre Augen wirkten groß und traurig - und auch ein wenig in sich gekehrt.

"Warum sollte mich jemand umbringen wollen?", fragte Geraldine und machte dann eine hilflose Geste.

Rogers fuhr sich mit einer nervösen Geste über das Gesicht.

"Darüber sollten Sie mal etwas intensiver nachdenken, Miss!" Geraldine hob den Kopf.

Ihr Gesicht war in diesem Augenblick fast bewegungslos. Der Blick ihrer großen Augen ging von Rogers zu Bount Reiniger.

"Ich glaube, Sie machen sich umsonst Sorgen, meine Herren!"

"Warum sind Sie sich da so sicher?", fragte Bount.

"Es gibt niemanden, der es auf mich abgesehen haben könnte. Ich habe keine Feinde, ich..."

Sie stockte und sah die Blicke beider Männer auf sich gerichtet. "Was ist?", fragte sie.

"Ich denke, dass Sie in Gefahr sind!", meinte Bount.

"Und ich denke, dass Sie sich irren, Reiniger! Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen Ihr Honorar überweisen und dann ist diese Sache für Sie erledigt!"

Ihre Stimme klang eisig.

Und in Bounts Kopf machte es klick!

Geraldine hatte gerade einen Mordanschlag überlebt, der aller Wahrscheinlichkeit nach ihr und sonst niemandem gegolten hatte. Und genau in diesem Moment rückte sie von Reiniger ab, lehnte Hilfe ab, obwohl noch wie nichts, was den Tod ihres Vaters betraf, wirklich aufgeklärt war.

Das ließ Bount zumindest stutzen, aber er kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn jetzt legte Captain Rogers los.

"Wie steht es mit Ihrem Bruder, Miss Kostler..."

"Brian?"

"Ja, mein Kollege Cummings hat über ihn recherchiert. Er ist pleite und außerdem sind ein paar üble Schuldeneintreiber von der Westküste hinter ihm her. Er braucht also dringend Geld."

"Wer braucht das nicht!", versetzte Geraldine reserviert. Geraldine ließ ihre Zigarette auf den Boden fallen und zertrat sie.

Anschließend blies sie den restlichen Rauch hinaus in die nasskalte Luft.

Dann meinte sie: "Brian war schon immer knapp bei Kasse. Er konnte eben nie mit Geld umgehen - aber bis jetzt hat er deshalb noch niemanden umgebracht... Darauf wollen Sie doch hinaus, oder? Vergessen Sie nicht, dass Brian selbst etwas abbekommen hat!"

Rogers nickte.

"Ja, aber das kann ein 'Unfall' gewesen sein."

"Aber..."

"Ihr Bruder könnte den Auftrag gegeben haben, oder etwa nicht?"

"Er hätte nie genug Geld gehabt, um einen Killer zu bezahlen."

"Vielleicht handelt es sich nicht um einen Profikiller, sondern um jemanden, dem er gewissermaßen eine Provision versprochen hat."

Geraldine wirkte nachdenklich.

"Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Sir!" Rogers zeigte Verständnis.

"Wir dürfen keine Möglichkeit außer Acht lassen. Brian Kostler könnte Ihren Vater umgebracht haben, um an sein Erbe heranzukommen. Aber vielleicht hat er keine Lust, es sich mit Ihnen zu teilen..."

Geraldine atmete tief durch.

"Um ehrlich zu sein, ich habe auch schon an diese Möglichkeit gedacht. Ich habe es kaum zu denken gewagt..." Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

Bount konnte sich nicht helfen. Irgendwie erschien ihm diese Geste ein wenig übertrieben. Aber es war nur so ein unbestimmtes Gefühl, nicht mehr.

"Aber wie passen die anderen Morde da hinein, die doch offensichtlich von dem selben Killer durchgeführt wurden. Was hat Brian Kostler mit einem New Yorker Barbesitzer zu schaffen, der in großem Stil mit Crack dealt? Was könnte er mit Roy Brady zu tun haben? Ganz zu schweigen von Tony Maldini!" Bount Reiniger schüttelte energisch den Kopf. "Nein, vergiss es, Toby! Brian Kostler ist nicht unser Mann!"

"Da wäre ich mir nicht so sicher, Bount! Immerhin hatte er ein Motiv..."

Bount nickte.

"Ein Motiv für Larry Kostler, ja. Und auch für Geraldine. Aber was ist mit den anderen?"

30

Bridger trat das Gaspedal durch und brauste über die Straße. Er hörte das Hupen der anderen Autos nur am Rande. Was er tat war gefährlich, aber es musste sein.

Ein Wagen mit zerschossener Scheibe fiel auf.

Er musste ihn so schnell wie möglich loswerden. Der Wagen war gestohlen, das Nummernschild gefälscht. Bridger hätte ihn ohnehin bald abstoßen müssen.

Er fuhr in eine Seitenstraße, stellte ihn ab, stieg aus und ließ ihn zurück.

Er blickte sich um.

Im Geiste hörte er bereits die Sirenen der Polizeiwagen, aber da kam niemand um die Ecke gefahren.

Innerlich verfluchte er sich dafür, dass er den Falschen getroffen hatte. Er würde es noch einmal probieren müssen. Daran führte kein Weg vorbei.

Aber da war dieser seltsam aussehende Mann mit dem Cowboyhut gewesen, der plötzlich eine Waffe hervorgeholt hatte...

In Bridgers Kopf arbeitete es.

Das konnte bedeuten, dass es sich um einen Polizisten handelte. Er ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Wenn dem wirklich so war, dann konnte es gefährlich für ihn werden. Jeden Tag geschahen in einer Stadt wie New York Morde, die nie aufgeklärt wurden und irgendwann unter dem Aktenberg verschwanden.

Bandenmorde, Auftragstaten und so weiter...

Aber wenn es einen der Cops erwischte, dass wusste Bridger, dann setzten die Kollegen alles daran, den Schuldigen zu finden!

Bridger hetzte voran, bog in eine weitere Nebenstraße ein, dann in noch eine und kam schließlich nach einer Viertelstunde in eine belebtere Gegend.

Plötzlich fühlte er ein Augenpaar auf sich gerichtet. Bridger hob den Kopf und sah eine Frau in den mittleren Jahren, die ihn intensiv anstarrte.

In den Händen hatte sie eine Einkaufstasche und als Bridger ihren angespannten Blick erwiderte, schluckte sie und blickte zur Seite.

Was glotzt die so?, dachte Bridger und ging weiter. Schließlich kam an eine U-Bahn-Station. Bridger fuhr wahllos ein paar Stationen und stieg wiederholt um. Wenn ihm doch jemand auf den Fersen war, dann sollte er es so schwer wie möglich haben.

Der Parka-Tasche fühlte er nach dem Griff der Pistole, die sich dort befand. Das gab ihm ein Gefühl der Sicherheit - wenn dieses Gefühl auch nicht sehr stark war.

Nicht den Kopf verlieren!, hämmerte es in ihm. Nur nicht den Kopf verlieren.

Er war jetzt so weit gegangen, er würde auch noch das letzte Stück dieses Weges hinter sich bringen.

Bis er am Ziel war.

Am Ziel...

Es schien zum greifen nahe!

31

Als Bridger in sein Hotel zurückkehrte und vom Portier den Schlüssel forderte, erwartete ihn eine unangenehme Überraschung.

Der Portier hatte wieder einmal gewechselt. Diesmal stand ein junger Mann mit fast schulterlangem hinter dem Tresen. Er war es auch gewesen, der Bridger bedient hatte, als dieser sich vor ein paar Tagen hier einquartierte.

Der Langhaarige ging zum Schlüsselbrett.

Aber der Schlüssel mit Bridgers Nummer war nicht da.

"Vielleicht haben Sie ihn gar nicht abgegeben!", meinte der Langhaarige. Er hatte einen hispanischen Akzent, wie es Bridger schien.

"Ich habe ihn abgegeben. Ihrem Vorgänger." Er zuckte mit den Schultern.

"Meine Schicht hat gerade erst begonnen, ich kann dazu nichts sagen."

Bridger wurde wütend.

Er war ohnehin schon gereizt genug. Seine Nerven waren bis fast zum Zerreißen gespannt.

Er packte den jungen Kerl am Kragen, der sich schon wieder herumgedreht hatte, um sich seiner Lektüre zuzuwenden und zog ihn halb über den Tresen.

"Hey, was soll das?"

"Ich bin schon ein paar Tage hier, mein Junge und ich weiß, dass deine Schicht bereits mehr als zwei Stunden geht!"

"Ich..."

"Hör zu! Ich will jetzt von dir wissen, ob es so ist, wie ich vermute!"

Ein unterdrückter, gurgelnder Laut kam aus dem Langhaarigen heraus, sein Gesicht verlor zusehend die Farbe, aber Bridger ließ nicht locker.

"Okay, okay..."

"Jemand hat dir ein paar Dollar gegeben und du hast ihm dafür den Schlüssel ausgehändigt. So ist es doch, oder?"

"Ja... Er sagte, sein Name sei Bridger..."

"...und jetzt wartet der Kerl dort oben auf mich, nicht wahr?" Der Portier nickte leicht.

"Ja..."

Bridger ließ ihn los und stieß ihn zurück, so dass er gegen die Wand in seinem Rücken taumelte und ein paar Ordner vom Regal riss.

Bridger fühlte nach der Waffe in seiner Parkatasche und entsicherte sie. Ohne sich noch einmal nach dem Portier umzudrehen, ging er dann die Treppe hoch.

"Er sagte, er sei ein Freund von Ihnen, Mister!", krächzte der Portier.

Hoffentlich stimmt das auch!, dachte Bridger.

Er blieb auf dem Absatz stehen und drehte sich dann um, nachdem er eine Sekunde lang gar nichts getan hatte.

"Schon gut!", brummte er. "Vergessen Sie's!"

"Okay, Sir!"

Ein paar Augenblicke danach stand Bridger dann vor der Tür seines Zimmers. Er zog die Waffe aus der Parka.

Wer zum Teufel konnte ihn hier aufgestöbert haben?

Es gab nur zwei Menschen, die wissen konnten, wo er sich befand. Und mit denen hatte er ausgemacht, dass sie ihn hier niemals aufsuchen würden!

Wenn es aber jemand anders war...

Bridger stieß die Tür auf und hatte seine Pistole schussbereit im Anschlag.

Im Zimmer war kaum Licht.

Es war sparsam eingerichtet und hatte außer dem großen Bett und dem Nachttisch keinerlei Einrichtungsgegenstände. Das Bad war auf dem Flur.

Bridgers Blick ging blitzartig durch den Raum und blieb dann bei der Gestalt hängen, die am Fenster im Halbdunkel stand. Es war ein kleiner, etwas dicklicher Mann.

Bridger senkte seine Waffe, sein Gegenüber blieb völlig ruhig, gerade so als schien er kaum überrascht darüber zu sein, plötzlich einen Kerl mit Pistole im Anschlag durch die Tür stürmen zu sehen.

Der dicke Mann rauchte Zigarette und diese nahm er jetzt aus dem Mund.

"Tun Sie endlich das Ding weg!"

Bridger senkte die Waffe und schloss die Tür hinter sich. Dann machte er Licht.

"Ein effektvoller Auftritt, Mister Dickson! Aber was soll das Theater! Sie gefährden damit nur alles!"

"Hören Sie...", wollte der Mann am Fenster beginnen, aber Bridger schnitt ihm das Wort ab. Er versetzte der Tür einen wütenden Schlag mit der flachen Hand.

"Verdammt noch mal, was soll das, Dickson! Wir hatten doch abgemacht, dass es keinerlei Treffen zwischen uns geben soll! Und schon gar nicht, dass Sie mich hier aufsuchen!" Dicksons blasses, aufgedunsenes Gesicht blieb fast völlig unbewegt.

Er kam einen Schritt vor und zuckte mit den Schultern.

"Wo wir schon bei effektvollen Auftritten sind, Follet... Sie stehen mir in dieser Hinsicht ja wohl nicht nach! Glauben Sie vielleicht, ich käme ohne Grund?"

Bridger runzelte die Stirn.

"Was soll das heißen?"

Arthur Dickson holte eine Zeitung unter dem Arm hervor und warf sie auf das Bett.

Bridger holte tief Luft.

"Vielleicht erklären Sie mir mal...

"Heute schon Zeitung gelesen?"

"Nein."

"Es ist ein schönes Bild von Ihnen drin!"

"Was?"

"Ja. Eine Phantomzeichnung. In der Regel ist auf solchen Dingern ja nicht allzuviel zu sehen, aber wegen Ihrer Narbe ist das in diesem Fall etwas anderes..."

"Aber...", Bridger stockte und schüttelte energisch den Kopf.

"Das ist doch völlig unmöglich!"

"Jemand muss Sie gesehen haben, als Sie Brady erschossen haben!"

"Nein!"

"Stecken Sie nicht den Kopf in den Sand, Mann!" Bridger dachte an die Frau, die ihn so angestarrt hatte. Es war ihm unmöglich gewesen, das richtig zu deuten, aber jetzt verstand er...

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen!

Und er begriff auch, dass ihn bald noch mehr Menschen anstarren würden, wenn er sich auf der Straße zeigte.

"Wie ist es übrigens heute gelaufen?", hörte er dann Dickson fragen.

Bridger nahm es kaum wahr.

32

Sie hatten eine ganze Weile lang geschwiegen. Dickson wollte seinem Gegenüber etwas Zeit geben, um die neue Lage zu verarbeiten. Blieb nur zu hoffen, dass der Mann mit der Narbe auch die richtigen Konsequenzen zog.

"Wie geht es jetzt weiter?", fragte Dickson.

"Es war nicht meine Idee, auch den jungen Mister Kostler auszuschalten, Mister Dickson!"

"Ja, das stimmt. Und? Sie sind gescheitert!"

"Ja, so kann man es nennen. Da war jemand, der plötzlich eine Pistole herausriss. Was sollte ich machen?"

Dickson zuckte mit den Schultern.

"Jedenfalls steht fest, dass es jetzt noch mehr Stories in den Zeitungen über Sie geben wird, Narbengesicht! Die Sache mit Mr. Kostler werde ich erledigen müssen, auch wenn das für mich nicht ohne Risiko ist. Aber ich denke, aus der Rechnung der Polizei und dieses Privatdetektivs Reiniger bin längst heraus...

"Tun Sie, was Sie für richtig halten, Dickson!" Dickson lachte freudlos.

"Nein, nicht, was ich für richtig halte, sondern was ich tun muss, um meine Zukunft zu sichern. Seit dieser Veruntreuungssache hat Miss Kostler mich quasi in der Hand und kann von mir verlangen, was sie will..."

"...und das wollen Sie nicht ewig mitmachen, nicht wahr?" Der Narbige nickte verständnisvoll. "Leuchtet mir ein. Es ist mir im Übrigen auch lieber, wenn ich um diese Sache nicht mehr zu kümmern brauche. Einer steht noch auf meiner Liste: O'Malley. Und wenn ich den erwischt habe, tauche ich endgültig unter." Aber damit schien Dickson ganz und gar nicht einverstanden zu sein.

"Vergessen Sie O'Malley!"

"Was?"

Der Mann der sich Bridger nannte, runzelte die Stirn und starrte Arthur Dickson ungläubig an. Dann meinte er: "Ich kann O'Malley nicht vergessen! Ich kann ihn ebensowenig vergessen, wie ich die anderen vergessen konnte!" Er deutete auf seine Narbe und sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen Maske.

"Das hier wird mich mein Leben lang an diese Männer erinnern, Dickson! Bis ans Ende meiner Tage! Haben Sie mich verstanden!"

Dickson blieb ruhig, seine Stimme hatte einen eiskalten Klang, als er antwortete.

"Ich hoffe, Sie haben mich verstanden!"

"Ich werde die Sache zu Ende bringen, davon hält mich niemand ab!"

"Unter den gegebenen Umständen ist das zu gefährlich!", meinte Dickson. "Ihr Phantombild steht in den Zeitungen und wenn man Sie schnappt, dann hänge ich auch mit drin!"

"Das ist Ihr Problem, Dickson!"

"Ist das wirklich Ihr letztes Wort?"

"Ja."

"Bedenken Sie, wer Sie aus der psychiatrischen Anstalt geholt hat, wer Sie versorgt hat, bis Sie wieder in der Lage waren, einigermaßen klar zu denken, wer für Sie ausgekundschaftet hat, wo sich die Männer befinden, die Ihnen soviel angetan haben." Bridger verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln.

"Ganz ohne Eigeninteresse war das ja schließlich nicht, Mister Dickson! Sie sind kein barmherziger Samariter!"

"Gewiss nicht! Aber das gilt nur für Larry Kostler!"

"Und bei Miss Geraldine Kostler! Sie stand schließlich nicht auf meiner Liste!"

"Sie wäre Ihnen aber früher oder später ebenso gefährlich geworden wie mir! Nicht nur wegen des Privatdetektivs, den sie engagiert hat..." Dickson machte eine Pause und musterte sein Gegenüber abschätzig. "Was ist nun, tauchen Sie unter?"

"Ich habe Ihnen bereits geantwortet. Ich tauche unter, wenn O'Malley tot ist."

Dickson zuckte mit den Schultern.

"Wie Sie wollen! Dann gibt es wohl keine andere Lösung. Tut mir Leid, aber ich muss zuerst an meine eigene Sicherheit denken!"

Dickson machte eine schnelle Bewegung.

Bridger begriff nicht gleich. Im letzten Moment sah er dann die Schalldämpfer-Pistole in der Hand seines Gegenübers. Den Bruchteil einer Sekunde später blitzte ein grelles Mündungsfeuer. Ein dumpfes, hässliches Geräusch war zu hören, ein Geräusch, dass Bridger nur zu gut kannte.

Bridger hatte nicht im Traum damit gerechnet, dass Dickson eine Waffe herausreißen und auf ihn schießen würde... Aber nun war es geschehen und so musste sich Bridger blitzschnell zur Seite werfen.

Arthur Dickson war kein besonders guter Schütze, selbst auf diese kurze Entfernung nicht.

Der Schuss verfehlte Bridger knapp und schlug hinter ihm in die Wand, wo das Projektil ein Loch riss.

Bridger rollte sich am Boden herum, während eine weitere Kugel dich neben ihm in den Boden ging.

Dann hatte er seine eigene Waffe hochgerissen und augenblicklich abgefeuert... Arthur Dickson stieß einen unterdrückten Schrei aus und wurde nach hinten gerissen, so dass er gegen das Fenster prallte. Bridger hatte ihn mitten in der Brust erwischt und gab nun noch einen zweiten Schuss ab, der Dickson genau zwischen den Augen traf. Dickson war tot. Bridger atmete tief durch. Er hatte keine andere Wahl gehabt, aber nun fragte er sich, wie es weitergehen sollte. Zunächst einmal verschwinden!, dachte er. Er konnte hier möglich bleiben, nachdem dies hier geschehen war.

33

Als Bount Reiniger das CHEZ NOUS betrat, herrschte dort Dämmerlicht. Es war nichts los in jener Bar, die Joel Gardener gehört hatte - einem der Namen, die zu der Liste von Mordopfern gehörten, die der Killer mit der Narbe offenbar auf dem Gewissen hatte.

"Hey, ist da jemand?", rief Bount.

Es musste jemand da sein, denn die Tür war offen gewesen.

"Que quisiera, Senor?", war eine kehlige Frauenstimme zu hören.

Und dann bemerkte Bount eine schwarzhaarige junge Frau, die aus einer Nebentür trat, in der einen Hand einen Eimer mit Wasser, in der anderen einen Mob.

Hier war wohl Großreinemachen!

Die mexikanische Putzfrau sah ihn misstrauisch an und dann kam auch noch ein Mann.

Es war ein riesiger, bärenhafter Kerl, der Bount mindestens um einen Kopf überragte. In seinem grausam wirkenden Gesicht stand ein struppiger, ungepflegter Schnurrbart, das Doppelkinn war von Bartstoppeln übersät.

Er zog die Ärmel seines Sweaters hoch, so dass seine muskulösen Unterarme mit allerlei martialischen Tätowierungen sichtbar wurden.

"Was wollen Sie, Mister?"

Es war im Grunde kaum noch eine Frage, die der Kerl da an Bount richtete, es war im Grunde schon ein halber Rausschmiss.

"Wie wär's mit einem Drink?", meinte Bount und stellte sich an den Schanktisch.

Sein Gegenüber rührte sich nicht, behielt Bount aber im Auge. Jede Bewegung des Privatdetektivs schien er genauestens zu registrieren.

Der Mann sah aus wie ein Rausschmeißer und vermutlich war das auch seine Hauptfunktion hier.

Bount hatte keine Lust, mit ihm aneinander zu geraten, aber wenn es doch dazu kam, musste er auf alles gefasst sein. In den Augen des Bären blitzte es angriffslustig.

Er verzog höhnisch den Mund.

"So.. einen Drink wollen Sie!"

"Ja, wenn' recht ist!"

"Es ist nicht recht!", zischte der Bär und das ließ Bount aufhorchen. "Sehen Sie nicht, dass hier kein Betrieb mehr ist?" Bount ließ kurz den Blick durch den Raum schweifen und nickte dann.

"Ist doch ein ganz netter Laden, warum läuft er nicht mehr?"

"Sie stellen eine Menge Fragen, Mister..."

"Reiniger ist mein Name!"

"Wie immer Sie auch heißen mögen! Ich mag solche Neugier nicht! Da Sie nun ja gesehen haben, dass hier nichts mehr läuft, wäre es wohl das Beste, wenn Sie durch die Tür gehen und verschwinden!"

Aber Bount Reiniger blieb ungerührt und machte auch nicht die leisesten Anstalten, sich in Richtung Tür zu bewegen.

"Ihr Boss ist erschossen worden, nicht wahr? Und das ist auch der Grund, weshalb der Laden hier dichtmacht!", erklärte Reiniger ruhig und sachlich, während sein Gegenüber die Stirn in Falten legte.

Dann kniff der Bär die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und fixierte Bount mit einem feindseligen Blick.

"Was haben Sie damit zu tun, Mister?"

Er trat näher heran, seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Nasenflügel bebten. Reiniger wusste, dass es nun ernst werden konnte.

Er musste auf der Hut sein.

"Sind Sie von der Polizei,...Reiniger?"

"Nein, ich bin Privatdetektiv."

"Ein schmieriger Schnüffler also..."

"Sie sollten Ihre Vorurteile mal ein bisschen überdenken..."

"Ich mag keine Schnüffler!", zischte der Bär. "Weder die mit einer Metallmarke noch die, die auf eigene Rechnung auf die Jagd gehen!"

Der Bär trat jetzt nahe an Bount heran und sah auf ihn herab. Er roch unangenehm nach Schweiß, aber das war bei weitem nicht das Schlimmste an ihm.

Um seine Lippen spielte ein gemeines Lächeln...

"Was Sie jetzt vorhaben, sollten Sie lieber lassen! Sie werden es sonst bereuen", meinte Bount kühl.

Der Bär grinste.

Für den Bruchteil einer Sekunde hing alles in der Schwebe, aber dann ging es Schlag auf Schlag.

Der Kerl packte Reiniger brutal am Kragen und Bount sah bereits die geballte Faust auf sich zu rasen.

Ein Treffer mit einem solchen Hammer - und er würde eine ganze Weile nicht mehr bei Sinnen sein, vielleicht auch Schlimmeres.

Der Bär bleckte die Zähne wie ein Raubtier und seine Faust raste auf Reinigers Gesicht zu...

Bount konnte im letzten Moment zur Seite weichen, obwohl sein Gegner ihn immer noch am Kragen hielt. Die Faust knallte gegen den Schanktisch. Der Bär stieß einen wütenden Schrei aus. Für den Bruchteil eines Augenblicks war Bount Reinigers Gegner handlungsunfähig und das nutzte der Privatdetektiv. Er setzte den Fuß neben das rechte Bein des Bären und hebelte ihn aus. Und ehe sich der Kerl versah, lag er dann auch schon auf den Brettern.

Bount sprang einen Schritt zur Seite, während er die Mexikanerin im Hintergrund einen Laut des Erschreckens ausstoßen hörte.

Der Bär kam wieder auf die Beine. Von seinen Augen konnte Bount in diesem Moment fast das Weiße sehen.

Er knurrte wie ein getretener Hund und schien noch nicht aufgeben zu wollen.

"Lassen Sie's gut sein Mann!", versuchte Bount zu beschwichtigen, aber dafür hatte sein Gegner jetzt keine offenen Ohren.

Bount wich einen weiteren Schritt zurück, während sein Gegenüber sich bückte und in den mittelhohen Schaft seiner Cowboy-Stiefel griff.

Eine Sekunde später hatte er ein Springmesser in der Rechten. Wie Zunge einer giftigen Klapperschlange zuckte die Klinge heraus, als der Kerl mit einem bösen Grinsen auf den Lippen näher an Bount herankam.

Bount erwog, seine Automatic zu ziehen, aber das konnte auch ins Auge gehen...

Wenn er nicht schnell genug war, würde sein Gegner das Messer vielleicht schleudern. Und je nachdem wie gut er darin war, steckte es dann einen Sekundenbruchteil später in Bounts Körper.

Bount wollte es dennoch versuchen.

Dieser unsinnige Kampf musste so schnell wie möglich beendet werden!

Aber als er zum Schulterholster greifen wollte, schnellte der Bär vor und Bount musste der scharfen Klinge erst einmal ausweichen. Es pfiff, als der Bär damit wie wild in der Luft herumschnitt und dann auf Bount zustieß.

Es war ein mörderischer Stoß, aber Bount war auf der Hut. Er packte den Messerarm seines Gegenübers und hebelte ihn herum. Der Bär stieß einen markerschütternden Schrei aus, während das Messer auf den Boden fiel.

Bount ließ seinem Gegner diesmal keine Sekunde, um zu verschnaufen, sondern verpasste ihm einen Augenaufschlag später einen wohlplatzierten Haken, der den Bären noch hinten torkeln ließ.

Der Bär taumelte gegen den Schanktisch und rutschte dann an diesem zu Boden.

Als er dann hochblickte, sah und die erste Benommenheit abgeschüttelt hatte, blickte er direkt in den Lauf von Bount Reinigers Automatic.

34

"Schön ruhig!", warnte Bount, während er die Automatic noch immer auf sein Gegenüber gerichtet hielt.

Der Bär fletschte die Zähne, aber es erschien ihm im Moment wohl nicht ratsam, etwas zu unternehmen.

"Was wollen Sie?", keuchte er, während er sich die rechte Schulter hielt.

"Antworten auf ein paar Fragen, das sagte ich doch bereits!"

"Ich brauche einen Arzt!"

"Erst unterhalten wir uns!"

"Sie haben mir den Arm ausgekugelt!"

Bount konnte da nur müde lächeln.

"Wenn Sie mich mit Ihrem Messer aufgeschlitzt hätten, wäre wohl jeder Arzt zu spät gekommen", murmelte der Privatdetektiv, während der Bär schluckte.

Bount bewegte den Lauf der Automatic hin und her.

"Kommen Sie hoch! Und dann schlage ich vor, dass wir uns einen Drink genehmigen!"

Der Bär kam wieder auf die Beine und stützte sich am Schanktisch auf.

"Es ist nichts mehr da!", meinte er. "Sämtliche Getränkevorräte wurden bereits abgeholt!"

"Dieser Laden hat wohl nie besonders viel Gewinn abgeworfen, was?", meinte Bount. Er deutete mit einer Handbewegung durch den Raum. "Die Einrichtung ist doch schon mindestens zwanzig Jahre alt! Und wenn ich die uralten MusicBoxen dahinten sehe, dann kommen mir die Tränen... Ich glaube nicht, dass man damit genug Leute hinter dem Ofen hervorlocken kann."

"Glauben Sie, was Sie wollen!", schimpfte der Bär.

"Ein Laden, der keinen Gewinn abwirft. Sieht ganz nach einer Art Tarnung aus! Eine Tarnung für andere Geschäfte..."

"Was soll das? Wovon sprechen Sie?"

"Von Crack zum Beispiel!"

Trotz seines ausgekugelten Armes wollte der Bär nach vorne springen, aber im letzten Moment besann er sich.

"Was wollen Sie, Mister Reiniger? Für wen arbeiten Sie?" Bount steckte seine Automatic ein.

"Der Mann, der Ihren Boss umgebracht hat, hat auch noch ein paar andere auf dem Gewissen. Perry Crawford, Jack McCarthy, Ray Gregor, Tony Maldini, Roy Brady und Larry Kostler. Ein paar dieser Namen dürften Ihnen wohl auch ein Begriff sein!"

"Ich habe in der Zeitung davon gelesen!", wich der Bär aus.

"Sie werden noch einiges gehört haben! Sie waren hier Rausschmeißer, nicht wahr?"

Er hob die Augenbrauen und grinste hässlich.

"Wie kommen Sie darauf, Reiniger?"

"Man sieht es Ihnen irgendwie an!"

"So?"

"Sie sind einer von der Sorte, der es Spaß machen, wenn Sie ihre Faust in der Magengrube eines anderen spüren..."

"Jedem das seine Reiniger!"

"Es geht auch nicht um Sie! Ich bin hinter diesem Killer her. Er hat eine Narbe auf der rechten Gesichtshälfte, die nicht zu übersehen ist."

Bount sah sein Gegenüber tief durchatmen.

"Ich kenne niemanden, der so aussieht, wenn Sie darauf hinauswollen, Reiniger!"

Er sagte das sehr schnell dahin, so dass es auf Bount den Eindruck machte, als hätte er seinen Widerstand noch immer nicht völlig aufgegeben.

Bount wandte sich an die Mexikanerin, was der Bär mit einem misstrauischen Blick quittierte.

"Verstehen Sie mich?", fragte Bount.

Die Mexikanerin nickte etwas zögernd warf dann einen unsicheren Blick zu dem Bären hin, so als wollte sie in seinem Gesicht ablesen, wie sie reagieren sollte.

"Comprendo", sagte sie dann. "Ich verstehe... ein bisschen. Nicht sehr gut verstehen, Senor! Noch nicht lange hier..." Sie wich noch einen Schritt zurück.

"Policia?", fragte sie.

Bount begriff sofort.

Sie war illegal in den Staaten.

Und sie hatte verständlicherweise keine Lust, in irgendeiner Form mit den Behörden zusammenzutreffen - wegen welcher Angelegenheit auch immer. Und wenn es nur wegen einer Zeugenaussage vor Gericht war.

Bount schüttelte also den Kopf.

"Nein", sagte er. "Keine Policia."

"Du hältst deine Klappe, Teresa!", fauchte der Bär. "Kapiert?"

"Halten Sie lieber die Ihre, wenn Sie nicht wollen, dass ich Sie Ihnen poliere!", versetzte Bount, wobei er den Kopf nur zur Hälfte zu dem Bären hinwandte. Der Kerl schien die Abreibung noch nicht so recht verdaut zu haben, die er wenigen Augenblicken hatte einstecken müssen.

Dann machte Bount noch zwei Schritte auf die Mexikanerin zu.

"Kennen Sie einen Mann mit einer solchen Narbe?" Und dabei fuhr Bount sich mit dem Zeigefinger in entsprechender Weise über das Gesicht. Selbst wenn sie kein Wort Englisch verstanden hätte, wäre so wohl klargeworden, was gemeint war. Sie schluckte und schwieg.

Und dabei griff ihre Hand um Hals und spielte mit einem kleinen vergoldeten Kreuz herum.

In ihren dunklen Augen lag Furcht.

Sie schien noch nicht entschieden zu haben, ob sie Bount helfen sollte oder nicht.

"Ich habe zugehört, was Sie eben gesagt haben", sagte sie dann akzentbeladen und bedächtig nach jedem Wort suchend. "Ist dieser Mann wirklich ein Mörder?"

"Sehr wahrscheinlich, ja. Er hat sechs Menschen getötet und wird vielleicht noch weitere umbringen!"

Sie schluckte erneut.

Bount sah, wie es in ihrem Inneren arbeitete und er war sich jetzt ziemlich sicher, dass sie irgendetwas wusste, was mit dieser Sache in Zusammenhang stand.

Bount trat zu ihr hin und fasste sie bei den Schultern. Sie hatte eine Gänsehaut.

"Sie brauchen keine Angst zu haben!", erklärte Bount, obwohl er sich da gar nicht so sicher.

Als die Mexikanerin dann zu ihm aufblickte, sagte sie mit fester Stimme: "Ich habe ihn gesehen!" Bount horchte auf.

"Den Kerl mit der Narbe?", vergewisserte er sich. Sie nickte.

"Ja."

"Wann?"

"Er kam hier her", begann sie. "Es ist vielleicht eine Woche her und es war so wie heute. Noch nichts los. Ich war am Putzen."

"Was wollte er?"

"Ich weiß es nicht. Er hat sich umgesehen."

"Das ist alles?"

"Dann hat er sich nach Mr. Gardener erkundigt."

"Und?"

"Er war nicht da. Er ist dann wieder gegangen."

"Gut", meinte Bount und drehte sich um. Mehr war hier wohl nicht herauszuholen.

Bount sah das Messer auf dem Boden liegen und er sah auch, dass der Rausschmeißer wie gebannt dorthin starrte. Er hatte es bis jetzt nicht gewagt, danach zu greifen, weil er wusste, dass er nicht schnell genug sein würde...

Aber wenn Bount am Ausgang angekommen war, würde das eine andere Situation sein...

Und genau das schien auch in seinem Kopf herumzuspuken. Bount blieb bei dem Messer stehen und kickte es dann über den glattgebohnerten Boden in die andere Ecke des Raumes. Es verschwand irgendwo zwischen Tischbeinen.

Dann ging Bount weiter in Richtung Ausgang.

35

Etwas musste es doch geben!, dachte Bount mit einem Anflug von Verzweiflung. Etwas, das alle Ermordeten miteinander verband - und das diesem geheimnisvollen Killer ein Motiv gab, einen nach dem anderen von ihnen umzubringen.

Bounts nächstes Ziel war das Penthouse von Mrs. Gregor, der Witwe des ermordeten Söldnervermittlers und Waffenhändlers. Zunächst war sie misstrauisch und ließ ihn draußen vor der Tür an der Sprechanlage warten.

Aber Bount konnte sie davon überzeugen, dass es vielleicht auch in ihrem Sinne war, den Mann zu fassen, der Ray Gregor umgebracht hatte.

"Gut", meinte Mrs Gregor. "Ich werde Sie hereinlassen." Wenig später stand ihm eine etwa vierzigjährige, kräftig gebaute Frau gegenüber, die ihn freundlich hereinbat. Der Wohnungseinrichtung nach konnten Ray Gregors dunkle Geschäfte nicht allzu schlecht gegangen sein.

"Ich habe von Ihnen gehört, Mister Reiniger!", meinte Mrs. Gregor und bot Bount einen Sessel im Wohnzimmer an, den der Privatdetektiv gerne annahm.

"Ich hoffe, Sie haben nur Gutes gehört, Mrs. Gregor!", gab Bount zurück.

"Sie sollen gut sein, vielleicht sogar der Beste. Jedenfalls haben Sie einen guten Ruf, was Ihren Job angeht!"

"Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wer hinter dem Mord an Ihrem Mann stecken könnte?", fragte Bount. Sie schüttelte den Kopf.

"Die Polizei kommt nicht recht voran. Aber Sie können ja auch Ihr Glück versuchen, Reiniger. Und vielleicht haben Sie mehr davon."

"Ich werde es dringend brauchen..."

Und dann fiel Bount Reinigers Blick auf ein Foto an der Wand und er stutzte.

"Was ist los, Mister Reiniger?"

"Das Foto dort..."

Bount war sich sicher, dass es das gleiche Foto war, das er bereits in der Wohnung von Brady gesehen hatte.

"Mein Mann war in der Army..."

"In Vietnam?"

"Ja. Wie kommen Sie darauf?"

Bount zuckte mit den Schultern.

"Nur so. Es könnte von seinem Alter her zutreffen."

"Er kam damals mit einem kleinen Vermögen zurück. Das war sein Startkapital... Ich habe ihn kurz danach kennen gelernt." Bount runzelte die Stirn.

"Ich kenne eine Menge Leute, die etwas dagelassen haben ", meinte Bount dann. "Arme und Beine zum Beispiel. Aber das einer mit einem Haufen Geld zurückkommt... Das ist schon bemerkenswert, oder?" Bount deutete auf das Bild. "Kann ich es mal sehen?"

"Ja, natürlich."

Sie nahm es von der Wand und reichte es Bount, der es sich zum ersten Mal mit wirklicher Aufmerksamkeit ansah. Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag!

"Kann ich mal telefonieren?", fragte er.

36

Als Bount in sein Büro in der 5th Avenue zurückkehrte, wartete June mit einer Neuigkeit auf.

"Rogers hat angerufen."

"Und?"

"Arthur Dickson wurde tot in einem Hotelzimmer aufgefunden. Nach Angaben des Portiers trug der Mann, der das Zimmer gemietet hatte, den Namen Bridger und hatte eine Narbe auf der rechten Gesichtshälfte..."

"Wo ist dieser Bridger jetzt?"

"Untergetaucht. Rogers meinte, es hätte ausgesehen, wie nach einem Kampf. Die beiden scheinen sich über irgendetwas uneins gewesen zu sein. Dickson hatte auch eine Waffe dabei - und hat ebenfalls geschossen..."

"...aber allem Anschein nach wohl nicht getroffen, was?"

"Nein, so sieht es aus. Was kann das zu bedeuten haben, Bount?"

Reiniger zuckte mit den Schultern und meinte dann: "Vielleicht steckten dieses Narbengesicht und Dickson irgendwie unter einer Decke... Und dann kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Vielleicht wollte einer von ihnen Spiel aussteigen, das da im Gange ist..."

"Rogers meinte, ob du dir den Tatort mal ansehen möchtest, Bount!"

Aber Reiniger schüttelte den Kopf.

"Nein, im Moment gibt es Wichtigeres?"

"Wichtigeres? Was meinst du damit?"

"Vielleicht können wir ein Menschenleben retten, June! Wenn wir schnell genug sind und uns unsere grauen Zellen nicht im Stich lassen!"

June wirkte verwirrt.

"Ich begreife kein Wort, Bount!", meinte sie und zog einen Schmollmund.

"Einen Augenblick!"

Er legte seinen Mantel zur Seite und wandte sich dann wieder an June. Dann griff Bount in die Innentasche seines Jacketts und hielt ihr dann ein Foto unter die Nase. Es war schwarzweiß und machte den Eindruck, schon uralt zu sein.

"Hier!", meinte Bount. "Es gibt jede Menge Arbeit!"

37

June hatte noch immer nichts verstanden, aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Bount erklärte ihr knapp, worum es ging.

"Schau dir die Männer auf dem Foto mal genau an..."

"Ein paar Soldaten... Sieht schon etwas älter aus? Vietnam?"

"Richtig, Vietnam. Erkennst du keinen der Kerle wieder?" Sie starrte noch einmal hin und schüttelte dann den Kopf.

"Nein."

"Dann dreh das Bild mal um. Da sind die Namen derer notiert, die hier zu sehen sind."

"'Von links nach rechts: Tony Maldini, Roy Brady, Joel Gardner, Paul Thorrell, Jack McCarthy, Ray Gregor, Luke O'Malley und Sam Berringer.'", murmelte June. "Aber das sind doch..."

Bount nickte.

"Genau. Alle Opfer haben gemeinsam, dass sie offensichtlich in Vietnam in derselben Einheit gedient haben. Nur zwei von ihnen sind noch am Leben."

"Berringer und O'Malley!"

"Ja. Es würde mich nicht wundern, wenn einer von ihnen das nächste Opfer werden würde..."

"Aber, was sollte dahinterstecken?"

Bount zuckte mit den Schultern.

"Vielleicht Rache? Möglicherweise ist dort damals etwas geschehen, von dem wir bis jetzt noch keine Ahnung haben... Ich weiß es nicht. Und ich habe auch keine Ahnung wie Dickson und der missglückte Anschlag am Friedhof in diese Sache hineinpassen."

June March atmete tief durch.

"Okay, Bount! Dann verrate mir mal, wie es jetzt weitergehen soll!"

"Wir werden ein bisschen telefonieren müssen!", meinte er.

"Wenn sich O'Malley oder Berringer auftreiben lassen, können die uns vielleicht ein paar wertvolle Antworten geben!"

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738911978
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
vier alfred bekker krimis mörder

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Vier Alfred Bekker Krimis - Mörder sprechen nicht mit jedem