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Alle Götter des Alls: Science Fiction Erzählungen

von Alfred Bekker (Autor:in)
©2017 150 Seiten

Zusammenfassung

Alfred Bekker

Alle Götter des Alls: Science Fiction-Erzählungen

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Inhalt

Alfred Bekker

DIE NAMEN DER GÖTTER

Alfred Bekker: DER GÖTTERMACHER

Alfred Bekker: SÜNDENBOCK

Alfred Bekker:

IN DEN GLIBBERIGEN TENTAKEL-KLAUEN EINER SCHWACHSINNIGEN SUPERINTELLIGENZ

Alfred Bekker: FORTSCHRITT

Alfred Bekker: EIN MITTEL GEGEN DIE FURCHT

Alfred Bekker: DER VERBORGENE GOTT

Alfred Bekker: DER ATTENTÄTER

Alfred Bekker: DIE GOLDENEN GÖTTER VON ANDABAN

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Alfred Bekker

Alle Götter des Alls: Science Fiction-Erzählungen

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Inhalt

Alfred Bekker

DIE NAMEN DER GÖTTER

Alfred Bekker: DER GÖTTERMACHER

Alfred Bekker: SÜNDENBOCK

Alfred Bekker:

IN DEN GLIBBERIGEN TENTAKEL-KLAUEN EINER SCHWACHSINNIGEN SUPERINTELLIGENZ

Alfred Bekker: FORTSCHRITT

Alfred Bekker: EIN MITTEL GEGEN DIE FURCHT

Alfred Bekker: DER VERBORGENE GOTT

Alfred Bekker: DER ATTENTÄTER

Alfred Bekker: DIE GOLDENEN GÖTTER VON ANDABAN

***

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author; Cover Steve Mayer mit Pixabay

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Alfred Bekker

DIE NAMEN DER GÖTTER

Drei Tage schon ging Lim'an durch das Wüste Land. Die Sonne brannte blutrot vom Himmel und schien alles Leben unter sich mit einem Schlag verdorren lassen zu wollen. Die Wasservorräte des jungen Mannes waren mehr oder weniger aufgebraucht und außerdem musste Lim'an ständig an die BÖSE KRAFT denken, die noch immer dort wütete. Jene BÖSE Kraft, die unsichtbar und vor undenkbar langer Zeit beinahe alles Leben auf der Welt vernichtetet hatte.

Die BÖSE KRAFT hatte sich wieder zurückgezogen, so hieß es. Aber es gab immer noch Orte, an denen sie noch sehr mächtig war. Orte wie das Wüste Land. Aber der Fluch der BÖSEN KRAFT lag nicht nur auf unwirtlichen Gegenden wie dieser, die von der Sonne so verbrannt waren, dass ohnehin niemand hier hätte leben können. Mitunter lauerte sie auch an anderen, völlig unscheinbaren Plätzen, denen niemand auf den ersten Blick ansehen konnte, welch tödlicher Fluch auf ihnen lastete. Unsichtbar wütete sie, diese furchtbare Kraft, die von den ruchlosen Vorvätern der Ahnherren entfesselt worden war. Aber tödlich.

Nur wenige waren in der Lage, in den von ihr beherrschten Zonen zu leben. Wunderliche Männer zumeist. Schamanen, die mit der Welt der Geister und Götter in Verbindung standen und mit ihrer Hilfe hier existieren konnten. Schamanen wie der weise Kara-Tan, der Lim'an einst aus seinem Stamm auserwählt hatte.

Zwölf Jahre war Lim'an damals gewesen, jetzt war er achtzehn. Jener Abend, als der Schamane in seinem Dorf erschienen war, stand Lim'an immer noch so vor Augen, als wäre es erst gestern geschehen. (»Du bist der Auserwählte, Lim'an«, hatte Kara-Tan gesagt. Er war in eine dunkle Kutte gehüllt gewesen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. »Kein gewöhnlicher Sterblicher hat jemals mein Gesicht gesehen, Lim'an. Der Einfluss der BÖSEN KRAFT hat es verändert. So schlimm, dass es die Menschen zu sehr erschrecken würde...«)

Lim'an blinzelte gegen die gleißende Sonne. (Die BÖSE KRAFT. Du spürst sie nicht, aber sie ist allgegenwärtig. Sie durchdringt alles - unsichtbar. Jedes Sandkorn ist von ihr durchdrungen, jeder Stein, jeder Fels...)

Der junge Mann schauderte unwillkürlich. Er sog die heiße, staubige Luft in sich auf. Der Sand war überall, kroch in seine Schuhe, seine Kleidung, scheuerte die Haut in den Kniekehlen und an den Achseln wund.

(Die Zeichen der Erschöpfung. Du spürst sie. Oder ist das schon der Einfluss der BÖSEN KRAFT?)

Langsam ging Lim'an weiter, schleppte sich vorwärts, den hohen, schroffen Felsen entgegen. Wie die bizarren Panzer gezackter Ungeheuer ragten sie empor.

Lim'an fühlte sich schwindelig. Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen.

(Hat der Schamane sich am Ende doch geirrt?, dachte er. Bist du gar nicht fähig, ein Auserwählter zu sein und der BÖSEN KRAFT zu widerstehen?)

Taumelnd bewegte sich Lim'an vorwärts. Die Orientierung hatte er längst verloren.

(»Wo werde ich dich finden?«, erinnerte er sich an die Frage, die er dem Schamanen gestellt hatte, damals, vor acht Jahren. Lim'an hatte abwartend in das undurchdringliche Dunkel gestarrt, das unter der Kapuze des Unheimlichen gegähnt hatte. Nichts als Schwärze war dort gewesen. Der Schamane hatte ein wenig den Kopf geneigt. »ICH werde DICH finden, Lim'an. Wenn die Sternenkonstellationen den richtigen Zeitpunkt anzeigen, brauchst du nichts weiter zu tun, als ins Wüste Land zu gehen. Dorthin, wo die gezackten Felsen sind...«)

Lim'an brach zusammen, fiel wie ein gefällter Baum in den heißen Sand, der zwischen seinen Fingern hindurchrann. Das letzte, was er sah, bevor die Bewusstlosigkeit ihn erlöste, war ein dunkler, hoch aufragender Schatten. Der Schamane...

*

Als Lim'an erwachte, fand er sich in einem von flackerndem Fackelschein erfüllten Raum wieder. Die Wände waren kahl.

Lim'an erhob sich von seinem Lager, das aus mehreren Decken bestand. Eine feuchte Kühle und ein leicht modriger Geruch herrschten in diesem Raum.

Der Schamane schälte sich als düsterer Umriss aus dem unruhigen Fackelschein heraus.

»Hier bist du sicher vor der BÖSEN KRAFT«, sagte er mit ruhiger, tiefer Stimme. »Die Urahnen haben dieses Bauwerk tief unter die Erde gelegt. Gewölben wie diesem ist es zu verdanken, dass überhaupt Menschen die BÖSE KRAFT überlebt haben.«

Der Schamane klopfte mit der Faust gegen den Stein der Wände.

»Durch diese Mauern vermag nur ein geringer Teil von ihr hindurchzudringen.«

»Ein geringer Teil?« echote Lim'an. »Ich verstehe kein Wort!«

»Das wird sich bald ändern.«

»So gelangt die BÖSE KRAFT auch hier her, an diesen Ort?«

»Sie gelangt überall hin.«

»Aber...«

»Sie tötet - wenn auch ganz langsam. Je weniger man sich ihr aussetzt, desto länger wird man überleben. Darum verlasse diese Gewölbe nur mit einem guten Grund...«

»Ja«, nickte Lim'an.

Er schluckte. In diesem Moment wünschte er sich, der Schamane hätte ihn nie auserwählt, wäre nie in sein Dorf gekommen, um ihn eines Tages zu sich zu rufen.

(Aber nun bist du hier. Willst du etwa wieder zurück in dein Dorf? Du weißt genau, dass es kein Zurück gibt.)

Kara-Tan, der Schamane, trat näher an Lim'an heran, reichte ihm dann eine Flasche.

»Trink, Lim'an. Das wird dich stärken. Und ab morgen werde ich dich in die Geheimnisse der Alten Götter einweihen, zu denen die Urahnen beteten.«

»Jene Alten Götter aus dem Zeitalter der Sternenschiffe?« fragte Lim'an, der die alten Legenden am Lagerfeuer immer interessiert mit angehört hatte.

»Ja«, nickte der Schamane. »Sie - und andere.«

*

Am nächsten Tag verließen Lim'an und Kara-Tan das Gewölbe, in dem sie übernachtet hatten. Sie erreichten nach einem Fußmarsch von einer Stunde ein halb unter Sand begrabenes, quaderförmiges Gebäude. Der größte Teil des Gebäudes war jetzt unter gewaltigen Sandmassen verborgen. Aber das, was noch immer über die Erdoberfläche hinausragte, war imposant genug.

Seit der Zeit, als die BÖSE KRAFT über die Welt kam, hatte nie wieder ein Mensch auf Erden etwas ähnlich Großes erbaut. Lim'an erstarrte in ehrfürchtigem Schauder. Er vergaß sogar die Gefahr, die von der allgegenwärtigen BÖSEN KRAFT nach wie vor ausging.

»Hier lagern Tausende von alten Schriften«, erklärte Kara-Tan. »Es sind so unermesslich viele, dass niemand lange genug lebt, um sie alle lesen zu können...«

»Die Schriften der Götter?«

»Ja.«

»Auch Schriften aus der Zeit der Sternfahrer?«

»Auch das.«

Sie betraten jene heiligen Hallen durch einen kleinen Nebeneingang. Lim'an wunderte sich, wie wenig Sand ins Innere des Gebäudes gelangt war. Lange Reihen von Regalen standen dicht nebeneinander. Die Zahl der staubbedeckten Folianten war nicht zu schätzen.

Der Schamane deutete auf eine lange Reihe silbrig glänzender Bände.

»Dies ist eine der Chroniken aus der Sternfahrerzeit, für die du dich so sehr zu interessieren scheinst... Die Geschichte eines Unsterblichen...«

»Perry Patton - der Erbe des Kosmos - die große Science Fiction-Serie!«, flüsterte Lim'an. »Ich habe die Alten am Lagerfeuer von Perry Patton erzählen hören...«

»Wenn ich dich die Schrift unserer Urahnen gelehrt habe, wirst du die Wahrheit über die Sternfahrer selbst nachlesen können.«

Lim'an atmete tief durch. Ein Prickeln durchlief seinen gesamten Körper. Ein Gefühl der Erhabenheit. Lohnte es dafür nicht auch, selbst die Gefahren der BÖSEN KRAFT in Kauf zu nehmen?

Scheu strich Lim'an mit der Hand über die Buchrücken. Der Staub vergangener Zeitalter wirbelte auf. Wie durch einen Nebel drang die Stimme des Schamanen.

»Ich möchte dir jetzt das Wichtigste all dieser Schriften zeigen«, erklärte er.

Mit sicherem Griff nahm er einen unscheinbaren schwarzen Band aus dem Regal und hielt ihn Lim'an hin. Dieser starrte auf die für ihn nichtssagenden Buchstaben: >JÖRG WIELAND, PSEUDONYME - EIN LEXIKON. Decknamen der Autoren deutschsprachiger erzählender Literatur. <

»Dieses Buch enthält die wahren Namen jener Götter, die all diese Chroniken geschrieben haben und uns durch sie ihr Wort kundtun«, erklärte der Schamane mit feierlicher Stimme.

Alfred Bekker:

DER GÖTTERMACHER

Er gehörte nicht zu den Millionen Göttern der Galaxis, aber er hatte viele von ihnen gemacht. Es war gewissermaßen illegal und es gab Leute, die darin etwas Unmoralisches und ethisch Verwerfliches sahen, aber Joe Lakran (auch unter Namen wie Leichen-Joe oder Götter-Joe bekannt) fand nichts dabei. Für ihn war es ein Broterwerb wie jeder andere und zudem recht krisensicher und einträglich, denn der menschliche Bedarf an Göttern war größer als sich gemeinhin vermuten lässt. Die Nachfrage überstieg bei weitem das Angebot und nur Lakran selbst wusste genau, wieviel ihm das Göttermachen inzwischen eingebracht hatte.

Und dabei war das Produzieren von Göttern durchaus keine leichte Aufgabe. Es erforderte viel Sachverstand, Geschäftssinn und Einfühlungsvermögen in die Mentalität der jeweiligen Planetenbevölkerung.

Aber Lakran war unbestritten ein vollendeter Meister seines Fachs. Er konnte Götter aus dem Nichts zum Leben erwecken und aus einer boshaften Laune heraus wieder sterben lassen. Er war mächtig (auch wenn nur wenige von seiner Macht ahnten) und in manchem sogar mächtiger als die Regierungen aller Planeten zusammen: Er war der Puppenspieler, der Mann hinter der Bühne, der aus dem Verborgenen heraus die Fäden zog und die Marionetten tanzen ließ.

Die Bühnen, auf denen er spielte, waren ganze Planeten und auf diesen Bühnen war er Herr über Leben und Tod, über Sieg und Niederlage, über Gut und Böse.

»Es gibt einen einzigen höchsten Gott, der über allen anderen steht!«, rief Lakran mit seltsam verzerrtem Gesicht den Maschinen und Monitoren seines Raumschiffs zu. »Und dieser höchste Gott bin ich, Joe Lakran!«

Sein strahlendes Ego war heller als der leuchtende Mittelpunkt der Galaxis.

*

In Lakrans Augen war es weder zynisch noch überheblich, sein Raumschiff CORPUS DEI genannt zu haben. Für ihn war es lediglich ein zusätzlicher Gag bei der Sache. Hier auf der CORPUS DEI verbrachte er mehr als neunzig Prozent seiner Zeit, nur umgeben vom Schiffscomputer, von Monitoren und Schaltkonsolen und von Androiden verschiedenster Art.

Die einen waren dazu bestimmt, als Götter zu fungieren; die anderen, um Lakran zu erfreuen.

(Hier handelte es sich um vier vollkommen identische weibliche Androiden, von denen drei im Kälteschlaf lagen und nur dazu da waren, den vierten zu ersetzen, falls sich bei dem ein Funktionsfehler zeigen würde.)

Den Kontakt mit Menschen aus Fleisch und Blut vermied er fast völlig. Einerseits war er ihm zu schwierig und kraftraubend, andererseits misstraute er der gesamten Menschheit aus Prinzip. Vielleicht hasste er sie insgeheim auch. Er hasste alles, worüber er nicht Herr sein konnte.

*

»Wir befinden uns jetzt im Orbit von Neu Uruguay«, sagte der Schiffscomputer und kommentierte damit das Bild auf dem Hauptmonitor: eine gelb-braune Scheibe, die aus der Schwärze des Weltraums aufgetaucht war.

Lakran nickte zufrieden und fragte: »Wann waren wir das letzte Mal auf Neu Uruguay? Ich hab's vergessen.«

»Vor genau 333 Jahren, 3 Monaten und 3 Tagen - alles in Neu Uruguay-Zeit gerechnet«, kam die Antwort prompt.

»Sehr gut... Dann sind wir also pünktlich...«

Pünktlichkeit war eine wichtige Tugend für einen Göttermacher - ebenso wie die Fähigkeit, in geschichtlichen Zusammenhängen und größeren zeitlichen Dimensionen zu denken. Und natürlich Geduld. Ohne Geduld ging es auch nicht. Schon unzählige Male (zuletzt eben vor 333 Jahren) hatte die CORPUS DEI im Orbit von Neu Uruguay gestanden und während dieser Aufenthalte hatte Lakran den Boden für den kommenden Gott gedüngt. Er hatte Androidenpropheten losgeschickt, die ihn ankündigten und mythische Keime für die Zukunft legten, er hatte hier und da in politische und gesellschaftliche Strukturen eingegriffen und sie zu seinen Gunsten verändert.

Und er hatte gewartet. Er konnte warten und er hatte Jahrhunderte Zeit für seine Vorhaben. Das Phänomen der Zeitdilatation machte es möglich. Die CORPUS DEI brauchte sich einfach nur mit annähernder Lichtgeschwindigkeit zu bewegen und während dann für Lakran nur Wochen vergingen, waren es im übrigen Universum Jahrhunderte. Eine Form der Zeitreise quasi - allerdings nur in eine Richtung.

Bei seinem letzten Aufenthalt auf Neu Uruguay hatte Lakran seinen Androidenpropheten verspreehen lassen, dass der Erlöser in genau 333 Jahren, 3 Monaten und 3 Tagen käme.

(Die 3 war eine heilige Zahl auf Neu Uruguay: die Dreieinigkeit Vater, Sohn und heiliger Geist, die drei Ernten im Jahr, die drei Monde des Planeten, die drei Propheten, die Lakian geschickt hatte - die drei Augen, an denen die Neu Uruguayer ihren Messias erkennen würden!)

Neu Uruguay war ein Planet mit mildem Klima, welches in den meisten Regionen mehrere Ernten im Jahr erlaubte. Die Bevölkerung lebte größenteils von der Arbeit auf den gigantischen, nicht selten viele tausend Quadratkilometer umfassenden Farmen und vegetierten ohne nennenswerte Lebensqualität und soziale Sicherheit, oft am Rande des Existenzminimums, dahin, während eine kleine Schar privilegierter Großgrundbesitzer, die über neunzig Prozent der bewirtschaftbaren Planetenoberfläche unter sich aufgeteilt hatten, in schier unermesslichem Reichtum schwelgte.

Es war eine groteske Grausigkeit: Auf Neu Uruguay, einem Planeten, der Nahrungsmittel exportierte, verhungerten Menschen. Und dabei hätte der Planet das Zeug dazu gehabt, ein ökologisches und soziales Utopia zu werden: Die Bevölkerungszahl war niedrig (auch wenn sie stetig stieg und in vielleicht tausend Jahren die kritischen Werte erreicht haben würde), die Oberfläche war größtenteils als agraische Nutzfläche verwendbar und die wenigen Industriebetriebe konnten dem planetarischen Ökosystem nicht gefährlich werden. Wenn nur der Reichtum besser verteilt gewesen wäre...

Verschiedene Regierungen hatten versucht, eine Landreform durchzuführen, waren aber immer am Widerstand der privilegierten Oberschicht gescheitert. Nichts konnte gegen den Willen der großen Farmer geschehen, zu allem mussten sie ihren Segen geben. Wie die gerade amtierende Regierung auch politisch gefärbt war - sie hatte keine Chance gegen das Nahrungskartell. Denn passte den wahren Herrschern Neu Uruguays etwas nicht, so brauchten sie nur eine Einstellung der Produktion anzudrohen und sie konnten mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass ihren Wünschen Rechnung getragen wurde.

Zwangsläufig musste das so sein, denn das Wahrmachen dieser Drohung hätte den sofortigen Zusammenbruch der Wirtschaft, Hungerkatastrophen und vielleicht sogar Bürgerkriege als Folgen gehabt.

Die Lage der (größtenteils ungebildeten) Landbevölkerung hatte sich über die Jahrhunderte hinweg stetig verschlechtert und tat es noch. Die Reichen wurden noch reicher, die Armen versanken mehr und mehr im Elend.

Letztendlich war dies alles durchaus in Lakrans Interesse. Die Armen Neu Uruguays hatten jahrhundertelang auf ein Wiedererscheinen Christi gewartet und Lakran hatte sie durch gelegentliches Entsenden von Propheten, durch Verbreiten gewisser Mythen von Wundern und dergleichen mehr in ihren Werten bestärkt, ja, es zum Teil auch erst wachgerufen. Die von Anfang an dagewesenen Religiösität der Neu Uruguayer war ihm dabei natürlich eine große Hilfe gewesen.

Inzwischen schienen alle Mühen sich gelohnt zu haben. Jetzt endlich waren die Verhältnisse da, die ein Messias für sein Kommen brauchte!

*

Lakran trat an den gläsernen Sarg heran, in dem der dreiäugige Mann lag: Christus für Neu Uruguay. Er hatte trotz seines nichtmenschlichen Aussehens etwas tief Menschliches und Warmherziges in seinen Zügen, etwas, womit er die Massen fangen würde, etwas, das ihm helfen würde, die Summen einzubringen, die Lakran sich von ihm versprach.

Während seines Tiefschlafs war der dreiäugige Androide einer speziellen Hypno-Programmierung ausgesetzt gewesen. Er würde über jede Einzelheit seiner zukünftigen Messias-Rolle genaustens informiert sein.

»Weck ihn auf«, sagte Lakran zu dem allgegenwärtigen Schiffscomputer. Und er wurde geweckt.

Als der gläserne Sarg sich automatisch öffnete und sich der neue Messias zögernd erhob (nackt und sichtlich orientierungslos) und ihn mit nicht-verstehenden Augen anstarrte, da beglückwünschte Lakran sich innerlich. »Ja, ich glaube, du wirst ein erfolgreicher Messias werden.«

Er musterte ihn von oben bis unten. »Aber bis du dich rentierst, wird's wohl noch 'ne ganze Weile dauern.«

Er lachte ein hässliches, freudloses Lachen und der Androide öffnete halb den Mund.

»Nein, sag' nichts!« kam Lakran ihm zuvor. »Für Situationen wie diese bist du geistig nicht konditioniert. Du begreifst nichts und ich werde dir auch nichts begreiflich machen. Du bist einfach nur eine Maschine, verstehst du? Eine Maschine, die ihre Aufgabe erfüllt und Geld einbringt. Sonst nichts. Muss eine Maschine kapieren, wirklich kapieren, was sie tut?«

Verständlicherweise sagte der Androide nichts. Er schluckte nur und starrte Lakran an wie ein Wesen aus einem anderen Universum.

»Von einer Maschine, einem Werkzeug wird nicht erwartet, dass es etwas kapiert. Und du bist so ein Werkzeug. Alles, was du zu tun hast, ist, das zu machen, wozu du programmiert bist.«

Das offensichtliche völlige Unverständnis das Androiden entlockte Lakran die Ahnung eines sadistischen Lächelns.

»Habe ich dich verwirrt? Ich bitte um Verzeihung. Also, hör' mir mal gut zu: Du bist der Messias, der wiedererstandene Christus und du wirst diese Rolle von Anfang bis Ende perfekt durchspielen.«

Der Androide sagte plötzlich: »Ja!« Und an seinen Gesichtszügen war zu erkennen, dass er irgendetwas Vertrautes gehört hatte, etwas, das er in sein begrenztes Denkschema einzuordnen vermochte. »Ja«, sagte er nochmals. »Wahrlich! Ich bin der Messias!«

Lakran klopfte ihm auf die Schulter. »Komm, mein Messias, wir müssen uns beeilen.«

Aber der Androide schien keinerlei Eile zu haben.

»Zuerst suchen wir was zum Anziehen für dich und dann bringt dich der Materietransmitter der CORPUS DEI dorthin, wo du deine Mission erledigen wirst.«

Das Gesicht des Androiden wurde nun seltsam verklärt und schien aus Verzückung am gerade entdeckten Ego förmlich dahinzufließen.

»Ich«, sagte er, »bin der Messias, der Sohn Gottes!«

*

Lakran strich der schwarzhaarigen Androidin mit den dunkelbraunen Augen über den Hintern und dachte: Von meinem problemlosen Lebensstil können selbst die Götter nur träumen.

Die Schwarzhaarige sah ihn mit ihren großen Augen geheimnisvoll an. Das konnte sie besonders gut.

Lakran ließ seine Hand über ihre Haare gleiten, diese schwarzen, dicken Pferdehaare, und sagte: »Irgendwie ist das unheimlich praktisch mit dir: Du redest nicht, du meckerst nicht, du stellst keine Ansprüche und außerdem bist du völlig auf meine Bedürfnisse abgestimmt. Und du bist jemand, der mir zuhört, ganz gleich, was ich auch sage.«

Er sah sie an und sie sagte: »Ja.« Das einzige Wort, das man ihr beigebracht hatte, das einzige, das sie zu sagen brauchte... Das einzige, das Lakran nicht störte.

Sie konnte dieses Ja in tausend verschiedenen Variationen sagen, jeweils der Situation angemessen. Sie konnte es fragend oder bestimmt sagen, ausrufend, verzückt oder so, als würde noch etwas folgen, aber natürlich folgte nie etwas.

»Ich meine, du bist zwar keine echte Frau, aber das macht nichts. Dafür bist du problemlos und das ist für mich die Hauptsache.«

Obwohl sie natürlich nichts von dem verstand, was er sagte, hatte er sich angewöhnt, mit ihr zu reden. Was dabei herauskam, waren Monologe, deren Pausen durch die tausend Schattierungen des Wörtchens Ja ausgefüllt wurden. Er redete mit ihr, wie man mit einem Teddy oder einer Puppe redet - und in der Tat erfüllte sie für ihn auch wohl dieselbe Funktion wie Stofftiere sie für kleine Kinder erfüllen. All das, was an verkümmerter Mitmenschlichkeit und Liebe noch in ihm war, projizierte er gewissermaßen auf sie, ein Wesen, dessen Fähigkeiten sich im Vollzug des Geschlechtsverkehrs, im Ja-sagen und Mit-großen-Augen-geheimnisvoll-blicken erschöpften. Aber das lief natürlich nur unterschwellig in ihm ab und er hätte sich nie dazu bekannt.

Wenn ihn jemand gefragt hätte: »He, Joe, was bedeutet diese Puppe für dich?«, so hätte er in etwa zur Antwort gegeben: »Sie ist eine Maschine. Eine Maschine, die einen Auftrag zu erfüllen hat. Ich habe sie in Harrington auf Neuwelt von der Karlaainen KG gekauft zusammen mit drei anderen weiblichen Androiden, die ihr bis aufs Haar gleichen und für sie einspringen können, falls sich ein Funktionsfehler zeigen sollte. Sie ist nichts weiter als ein Ding - und ich bin der Besitzer.«

Später lag er dann wach da und konnte nicht einschlafen. Erinnerungen krochen in ihm hoch, drängten sich an die Oberfläche seines Bewusstseins und verhinderten, dass er zur Ruhe kam. Bilder tauchten auf und verschwammen wieder. Flüchtige Szenen aus Albtraumvergangenheiten.

*

Er sah eine enge Gasse und ineinandergeschachtelte Slumsiedlungen neben einem ultramodernen Raumhafen: Das war San Elviro auf Lakago, jener Ort, an dem er aufgewachsen war. San Elviro war nichts weiter als ein großes, dreckiges Loch und wenn man dort lebte, fühlte man sich wie eine gefangene Ratte.

Lakago war eine der ärmsten Welten der Galaxis. In früheren Zeiten war der Planet einmal wohlhabend gewesen, aber der damalige Wohlstand war aus der Zukunft geborgt worden: Rücksichtslos hatte man die Resourcen verbraucht, die Luft verpestet, das planetare Ökosystem zerstört.

Für ein paar Jahrhunderte hatte es so ausgesehen, als würden Wohlstand und Produktivität auf Lakago ewig steigen, aber dann war alles anders gekommen. Man hatte es versäumt, aus den ähnlichen Schicksalen anderer Planeten zu lernen: Die Wirtschaft und das Sozialgefüge brachen zusammen, ebenso die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser.

Heute war Lakago ein Entwicklungsplanet mit vielen Sorgen und kaum einer Perspektive.

Damals hatte Joe Lakran zu den Benachteiligten gehört, jetzt benachteiligte er andere. Und er hatte nicht einnal ein schlechtes Gewissen dabei.

»Ein Gewissen«, hatte ihm einmal jemand gesagt (jemand aus diesen elenden Gassen von San Elviro), »ein Gewissen, das ist etwas für gute Zeiten. Kommen schlechte, muss man darauf wohl oder übel verzichten - so wie man dann auch auf anderen Luxus verzichten muss.«

Lakran glaubte, genügend Bestätigungen für die Wahrheit, die er in diesen Worten zu erkennen meinte, gefunden zu haben. Er war nur auf Grund seiner Fähigkeit zu äußerster Rücksichtslosigkeit zu dem geworden, was er heute war. Und er war sich dessen auch vollkommen bewusst.

Er hatte sich langsam hoch geboxt, immer am Rande der Legalität (oft auch schon auf der anderen Seite dieser Grenze) und mit den Jahren war aus einem Niemand ein Gott über den Göttern und ein Manipulator ganzer Zivilisationen geworden.

»Wir befinden uns im Orbit von Dagatalia 4«, meldete der Schiffscomputer und Lakran verzog das Gesicht. Der Gott dieses Planeten war Zrach, ein grausames, jähzorniges und wütendes Wesen, aber (wie Lakran fand) genau passend für diese Welt. Jedenfalls konnte er sich über die Rentabilität dieses Unternehmens in keiner Weise beklagen: Die Bewohner spendeten ihrem Gott Drogen, die - in der ganzen Galaxis beliebt - sich schnell zu Geld verwandeln ließen.

»Transmitter klar machen«, befahl Lakran dem Computer. Er war gekommen, um sich den Lohn für seine Arbeit zu holen.

*

In Harrington auf Neuwelt wohnte Borl Karlaainen, einer der wichtigsten Androidenhändler der Galaxis. »Ich weiß, Herr Lakran, wozu Sie die Androiden benutzen, die Sie von mir abkaufen. Sie haben schon mit meinem Großvater Handel getrieben und der wusste ebenfalls Bescheid.«

Karlaainen war seit undenklich langer Zeit das erste menschliche Wesen, mit dem Lakran sprach. Der Göttermacher musterte abschätzig das protzige Büro des Geschäftsmannes. Gegen mich bist du gar nichts! dachte er selbstzufrieden und mit einem überheblichen Lächeln um die Lippen.

Karlaainen hingegen machte ein überaus besorgtes Gesicht. »Ich meine, es geht mich zwar nichts an, aber...«, fuhr er schließlich fort, »...aber ich muss Ihnen doch mit aller Deutlichkeit sagen, dass ich Ihr Tun missbillige.«

»Es hat Sie niemand nach ihrer Meinung gefragt, Herr Karlaainen!«

»Ich weiß. Und ich bin auch weit davon entfernt, Ihnen etwa Vorschriften machen zu wollen, aber was Sie da tun, ist einfach ein Verbrechen. Sie nehmen freien Völkern ihre Chance, sich eigenständig zu entwickeln. Sie nutzen sie aus, ohne ihnen wirklich etwas zu bieten außer Hokuspokus.«

»Ich biete ihnen sprituelle Erbauung und die Möglichkeit, sich stärkeren, mächtigeren Wesen unterzuordnen.«

»Und Sie glauben, dass das die Leute glücklich macht?«

Lakran zuckte mit den Schultern. »Ob es sie glücklich macht, weiß ich nicht. Es ist mir letztlich auch gleichgültig. Tatsache ist aber, dass sie danach verlangen.«

Lakran hielt einen Moment lang inne, zeigte deutlich, dass ihn dieses Gespräch zutiefst langweilte und fuhr dann fort: »Wissen Sie, mein lieber Herr Karlaainen, es steht Ihnen im Grunde genommen schlecht an, über mich zu urteilen und den moralischen Zeigefinger zu erheben, denn eigentlich tun wir doch beide dasselbe: Wir versuchen, um jeden Preis Geld zu machen. Und dazu ist uns jedes Mittel und Opfer recht.«

Karlaainen sah Lakran nachdenklich an. »Geld verdienen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, für Sie ist das mehr! Geld ist Ihnen inzwischen völlig unwichtig geworden, es muss Ihnen unwichtig geworden sein, denn Sie haben doch mehr davon als Sie ausgeben können. Da steckt doch etwas ganz anderes dahinter...«

Das Schweigen, das jetzt folgte, war knisternd und angespannt. Schließlich brummte Lakran: »Bei Ihnen etwa nicht?«

*

Auf Maharalawa sorgte Lakran für die Verbreitung einiger Mythen, deren Saat erst in ferner Zukunft aufgehen würde. Das Erschaffen einer Religion war ein Prozess, der einer langfristig angelegten Vorbereitung und Planung bedurfte.

*

Auf Laroche unterhielt Lakran seit langem eine gut funktionierende Kirche. Im Namen eines Erleuchteten wurde Geld gesammelt und direkt auf eines von Lakrans Tarnkonten bei der Bank von Grandville auf Neufrankreich überwiesen. Die CORPUS DEI war hier hergekommen, weil Lakran mal wieder nach dem Rechten schauen wollte. Außerdem verschaffte es ihm jedesmal ein gerüttelt Maß innerer Befriedigung, wenn er sah, wie er selbst auf einer Welt mit hochentwickelter Kultur die Fäden zu ziehen vermochte.

*

»Weißt du«, sagte Lakran zu der Schwarzhaarigen, »eigentlich habe ich es gar nicht mehr nötig, Götter zu machen. Meine wirtschaftlichen Verhältnisse sind so, dass ich mich zur Ruhe setzen und mein Leben in einer Luxusvilla in Grandville auf Neufrankreich oder in Athen auf Alpha Centauri 2 in Ruhe und Frieden verbringen könnte. Aber ich tu es nicht!«

Er hielt inne und musterte sie mit einem durchdringenden, fast fanatischem Blick.

»Was glaubst du, warum ich es nicht tu?«

Ihre braunen Augen verrieten Spannung und Neugier, aber Lakran wusste, dass alles nur Fassade war, die zu ihrem perfekten Funktionieren dazu gehörte.

Es störte ihn nicht. Es störte ihn nicht, dass alles nicht echt war; er lebte damit und genoss es.

»Ja?«, sagte sie ihr einziges Wort, das sie in tausend verschiedenen Nuancen zu sagen vermochte, jeweils der Situation angepasst.

»Ich will's dir sagen: Es macht mir - Spaß! Verstehst du?«

»Ja.«

»Ich habe Spaß daran, Götter zu erschaffen, Zivilisationen nach meiner Laune zu verändern, Macht auszuüben. Es ist wie ein wundervoller Drogenrausch, aus dem man niemals erwachen möchte.«

*

Als die CORPUS DEI das nächste Mal im Orbit von Neu Uruguay stand, waren zehn Planetenjahre vergangen. Kein besonders großes Zeitintervall, aber Lakran konnte mit der Arbeit zufrieden sein, die der Messias geleistet hatte.

AlfredBekker:

SÜNDENBOCK

Er war überall. Er war in den Holovisionsprojektoren, in den Speiseautomaten und den Fußgängerförderbändern, die die selten hungrigen aber dafür umso genusssüchtigeren Passagiere an den gewaltigen Buffets entlang fuhren.

Seine sanfte Stimme war es, die jeden, der dies wünschte, zu einer bestimmten Zeit weckte.

Es gab kaum Wünsche, die er nicht erfüllen konnte. Seine Sensoren ließen ihn alles wahrnehmen und erfassen, sein Informationsnetz durchdrang das gesamte Raumschiff.

Er war der Diener der Passagiere. Er war Steward und Kapitän in einem, zugleich Navigator, Steuermann und Alleinunterhalter. Es gab an Bord keine Funktion, für die er nicht verantwortlich zeichnete.

Er war eine Maschine, die Intelligenz beherbergte und alles an Bord mit einer eigenen Art von Leben erfüllte. Dennoch war es schwierig, ihn als Person zu betrachten. Sein Intellekt war von so hoher Komplexität, dass er dem Menschen mindestens so weit überlegen war, wie dieser seinerseits dem Hund.

Dennoch... Trotz all seiner Fähigkeiten, trotz seiner für menschliche Gehirne unvorstellbaren Präzision, trotz des hochwertigen Materials, aus dem seine Chips waren, war es zur Katastrophe gekommen. Es war nicht sein Fehler gewesen, gewiss nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein künstlicher Intellekt fehlerhafte Schlüsse zog, war weitaus geringer als die für einen Hauptgewinn im Lotto. Nein, es war etwas ganz anderes gewesen: etwas, das sich nicht im Voraus erahnen ließ.

Ein Naturereignis, so konnte man es bezeichnen. Jedenfalls lag es außerhalb dessen, was er beeinflussen konnte.

Es war ziemlich bald nach dem Eintritt in den Hyperraum über das Schiff hereingebrochen und da es in den vergangenen hundert Standardjahren bereits vier ähnliche Fälle gegeben hatte und die verfügbaren Daten hierzu in ihm gespeichert waren, hatte er sofort gewusst, was sich abspielte: Ein Orkan fünfdimensionaler Teilchen ließ seine Wut an dem Schiff aus, ohne dass einer der Passagiere davon zunächst irgendetwas bemerkt hätte. Aber auf den Überlichtantrieb und den Hyperfunk hatte das Ganze fatale Auswirkungen.

Sie fielen in den Normalraum zurück, irgendwo im interstellaren Raum und dort würden sie für die nächsten hundert Millionen Jahre auch bleiben. So lange würde es jedenfalls dauern, bis das Schiff, manöverierunfähig und hilflos, von einer der nahegelegenen Sonnen, die bis dahin eine Supernova war, verschlungen, verbrannt und atomisiert würde.

Sein Präzisionshirn hatte das genau ausgerechnet, nüchtern und sachlich, wie es seiner Programmierung entsprach.

Als er den Passagieren bekanntgab, was geschehen war, reagierten diese wütend, empört und verzweifelt.

Er registrierte die Gespräche, die sie führten, ihr Weinen, ihre verzweifelten Diskussionen... Seine Sensoren trugen ihm diese Informationen unaufhörlich zu und er wusste (da er sozialpsychologische Vergleichsdaten besaß), dass dies alles normal war. Sie waren Menschen und sie fürchteten sich vor den nächsten hundert Millionen Jahren; eingesperrt in einem stählernen Sarg bis ans Ende ihrer Tage.

Zum Schluss würde nur noch er übrigbleiben, allein, sachlich und nüchtern. Aber da er kein Mensch war, bereitete ihm das auch keine Alpträume. Er nahm die Lage hin, wie sie war, denn er wusste, dass er sie nicht ändern konnte.

Immer drängender kam mit der Zeit der Strom der Fragen, die die Menschen an ihn stellten.

»Was wirst du tun?«

»Was für Möglichkeiten gibt es, unsere Position herauszufinden?«

»Wie können wir eine Nachricht nach Hause schicken?«

Er erklärte ihnen, was sein überlegender Geist dazu zu sagen hatte und dass sie vernünftigerweise versuchen sollten, aus ihrer Lage das Bestmögliche zu machen. Schließlich würden die Lebenserhaltungssysteme des Schiffs noch weit über ihre anzunehmende Lebensspanne hinaus funktionieren.

Er registrierte ihre Niedergeschlagenheit, aber er konnte diesmal nicht erfüllen, was sie von ihm wünschten.

Die Zeit ging dahin und es schien ihm so, als hätte sich die Mehrheit weitgehend mit der bestehenden Situation abgefunden. Man ging den allgemeinen Vergnügungen nach, man genoss es, sich an den langen Buffets entlangfahren zu lassen, um mal hier und mal dort zu nippen, man ergötzte sich am Klatsch.

Dann aber begann er die ersten Aggressionen zu registrieren, die sich eindeutig gegen ihn richteten. Es kam nur vereinzelt vor, aber dennoch war es bemerkenswert.

Jemand demolierte einen Holovisionsprojektor, während er rief: »Du bist an allem Schuld, du verdammter Computer! Weil du einen Fehler gemacht hast, sind wir hier lebendig begraben!«

Jemand anderes hatte sich darauf spezialisiert, seine Sensoren aufzuspüren und zu zerstören.

Zunächst war das kein Problem. Er schickte seine Roboterkolonnen aus, die den Schaden behoben. Aber der Hass gegen ihn begann sich auszuweiten wie eine ansteckende Krankheit. Immer mehr Passagiere nickten, wenn jemand erklärte, der Zentralcomputer sei an allem Schuld und hätte versagt.

In den Gesprächen hörte er manchmal sogar Stellungnahmen, die irrationalerweise behaupteten, er habe die Katastrophe absichtlich herbeigeführt, um sie alle ins Verderben zu führen.

Wieder jemand anderes behauptete, Anzeichen dafür entdeckt zu haben, die Katastrophe habe so, wie man es ihnen erklärt hatte, gar nicht stattgefunden. Sie sei fingiert, um die Passagiere zu quälen!

»Ich sag' euch eins: Haut ihm eins auf sein sadistisches Elektronenhirn und seine verfaulten Chips und alles ist wieder okay! Ich wette, der Hyperfunk funktioniert in Wahrheit noch und wir können dann eine Botschaft nach Hause senden. Die werden uns dann holen!«

Er schaute in sein sozialpsychologisches Vergleichsmaterial und wenn er einen Kopf gehabt hätte, so hätte er ihn sicherlich geschüttelt. Er konnte verstehen, dass hier und da Aggressionen auftraten, aber er verstand nicht, weshalb sich der Hass und die Gewalt gegen ihn, ihren Wohltäter, richteten!

Vermutlich sind meine Datenspeicher zum menschlichen Verhalten nicht umfangreich genug, dachte er.

Das war kein Wunder, denn schließlich sollte er ja ein Raumschiff führen und sich nicht als Psychiater betätigen.

Von Tag zu Tag wurde es schlimmer. Die Passagiere begannen jetzt, sich zu Gruppen zusammen zu rotten und blindwütig zu zerstören.

Er hörte ihre Gespräche (obwohl bereits ein Gutteil seiner Sensoren beschädigt war) und so erfuhr er, was sie zu tun beabsichtigten, was ihre Ziele waren. Sie wollten ihn vernichten, wollten sein zentrales Datenverarbeitungssystem, sein Gehirn treffen und zerstören.

Er unternahm nichts gegen sie, denn einen Selbsterhaltungstrieb wie organische Lebewesen besaß er nicht. Er registrierte lediglich (und dies mit wachsender Verwunderung), was geschah.

Es schien alles so unlogisch, so irrational, so absolut unverständlich.

Dann erreichten sie seinen zentralen Programmspeicher. Sie hatten eine ganze Weile suchen müssen, um ihn zu finden und sie begnügten sich auch keineswegs damit, ihn einfach abzuschalten. Sie zerstückelten ihn. Modul für Modul, Chip für Chip...

Alfred Bekker:

IN DEN GLIBBERIGEN TENTAKEL-KLAUEN EINER SCHWACHSINNIGEN SUPERINTELLIGENZ

Marc O'Popel bohrte sich ungeniert in der Nase, während er auf das weite, karge Land blickte. Irgendwie war er bei seinem Sprung durch die Dimensionen nicht da gelandet, wo er hätte landen sollen. Jedenfalls war ihm sofort klar, dass dies nicht seine Heimatwelt Wol war.

Ach, du Scheiße, ging es ihm durch den Kopf. Das hatte ihm gerade noch gefehlt: gestrandet in oder zwischen den Dimensionen - oder meinetwegen auch unten drunter oder oben drauf oder von allem ein bisschen.

Ein technischer Defekt?

Etwas in der Art musste es sein. Seinen Gefährten Fretz Linar hatte er jedenfalls verloren. Weit und breit nichts zu sehen.

Dass dies nicht seine über alles geliebte Heimatwelt WOL war, war schon daran zu erkennen, dass es sich offenbar um eine Welt handelte, an deren Himmel eine Doppelsonne stand, deren Zwielicht alles in ein ziemlich schmuddeliges Licht tauchte.

Marc war allein. Vor ihm ein paar zerklüftete Felsen zur einen, eine sandige Ebene zur anderen Seite.

Na, großartig, dachte er.

»Ist da irgendein Arsch?«, rief er lauthals und ohne die ernsthafte Erwartung, darauf eine Antwort zu bekommen.

»Nur dein eigener!«, rief das Echo zurück.

Das ließ Marc die Stirn runzeln. Ein antwortendes Echo? Nicht schlecht. Das war selbst für einen Ritter der Blaugrauen Garde erstaunlich.

»Hallo!«, rief Marc, nur um die Sache noch mal zu testen.

»Dummer Sack!«, kam es zurück.

Marc O'Popel erschauerte bis ins popelige Mark. Tatsächlich schien er es hier mit dem überaus seltenen, aber durchaus wissenschaftlich beschriebenen Phänomen des intelligenten Echos zu tun zu haben. Vielleicht saß aber auch einfach nur jemand hinter einem Felsen und machte sich einen Jux?

Andererseits - es war unzweifelhaft Marcs Stimme. Da war er selbst sich hundertdreißigprozentig sicher.

»Komm schon hervor, du Feigling!« rief Marc.

»Ich bin unsichtbar!«

»Klar, wenn du dich versteckst!«

»Ich bin nur zu hören, nicht zu sehen!«

»Verarsch mich nicht!«

»Würde ich nie wagen!«

»Ach, nein?«

»Ich bin doch dein Echo!«

Marc atmete tief durch. »Wenn du mein Echo wärst, würdest du nur wiederholen, was ich sage. Vielleicht auch etwas weniger!«

»Tja, mein Lieber, du scheinst nicht von hier zu kommen.«

Das war allerdings richtig. Konnte es sein, dass in dieser fremden Dimension andere Naturgesetze galten? Eigentlich gab es keinen Grund, der dagegen sprach.

»Du kommst von einer anderen Welt, nicht wahr?« meinte das Echo. »Du kannst es ruhig zugeben. Wir bekommen ab und zu Besucher von anderen Welten. Sie tauchen einfach aus dem Nichts auf, so wie du. Und auf dieselbe Weise verschwinden sie auch wieder.«

Marc ließ den Blick noch immer in der irren Hoffnung schweifen, den Sprecher endlich ausmachen zu können. Aber da war nichts zu sehen, was wie ein sprechendes Lebewesen wirkte und in der Lage war, die hochwohlpopelige Stimme des Ritters der Blaugrauen Garde nachzuahmen.

Du siehst schon Gespenster!, ging es ihm durch den Kopf.

Vielleicht befand er sich in Wahrheit bereits in einer Irrenanstalt und dieses Echo war nur der akustische Spiegel einer hohen Dosis Psychopharmaka, die vielleicht den letzten Rest Verstand aus seinem Gehirn pusteten, dafür aber verhinderten, dass er an Herzschlag starb.

Na ja, man konnte unmöglich alle Vorteile auf seiner Seite haben.

»Ich schätze, ich bin durch ein Versehen hier«, meinte Marc.

»Ah, ja«, sagte das Echo. »Das sagen sie alle, die armen Besucher... Alle, denen dann das letzte Stündlein schlägt...«

»Wieso das?«

»Ich will dich nicht beunruhigen, Fremder!«

»Heraus mit der Sprache!«

»Du scheinst mir unverhältnismäßig erregt zu sein!«

Marc atmete tief durch. Dann fragte er in sachlichem Ton: »In was für eine Welt bin ich hier geraten?«

Das Echo kicherte. »In die Welt der schrecklichen Superintelligenz Hollmannioc, die es sich zur Angewohnheit hat werden lassen, alle Fremden bei lebendigem Leibe zu verspeisen...«

»Hm.«

»Tja, tut mir leid, Fremder!«

»Mir auch.«

»Pech für dich, dass du hier gelandet bist.«

»Scheiß-Zufall.«

»Zufall?« Das Echo lachte schallend. »Du armer Irrer! Das ist kein Zufall! Hollmannioc lockt all die Fremden doch hier her. In seinem Thronsaal steht ein riesiger Dimensionsmagnet, der allerlei Schrott aus dem Limbus heran holt.«

In diesem Moment verdunkelte sich der Himmel. Eine Corona von insektenartigen Flugrobotern surrte heran, jeder von ihnen so groß wie ein Mann. Die Roboter kamen schnell. Ihre Propeller wirbelten den Sand auf. Es dauerte nur wenige Augenblicke und Marc war eingekreist.

»Man sollte nicht unbewaffnet auf fremde Welten gehen«, knurrte er grimmig. Und sein Echo meinte: »Stimmt genau!«

»Hilf mir lieber, anstatt klug zu quatschen!«

»Wie denn?«

»Was weiß ich?«

»Meinst du vielleicht, ich will es mir mit der erhabenen Superintelligenz Holmannioc verderben? Ich weiß, was man jenen geschieht, die das Missfallen des großen Hollmannioc erregt haben... Und allein bei dem Gedanken daran graut es mir schon...«

Marc versuchte indessen verzweifelt, den langen Greifarmen der Flugroboter auszuweichen. Aber vergeblich. Ein Lähmstrahl erwischte den Ritter der Blaugrauen Garde und streckte ihn der Länge nach hin. Alles, was Marc dann sah, war namenlose Schwärze...

*

Marc erwachte in einem schlecht beleuchteten Thronsaal. Auf einem monströsen Thron, der aus einem merkwürdig glitzernden Material gefertigt war, befand sich ein seltsamer, klebrig wirkender Klumpen. Erst auf den zweiten Blick war zu erkennen, dass es sich um ein Lebewesen handelte.

Zwei trübe Glupschaugen starrten Marc gierig an. Lange Tentakel bildeten sich plötzlich aus der ansonsten amorphen Masse und streckten sich in Marcs Richtung. Ein ekliges Schmatzgeräusch drang vom Thron herüber.

»Steh auf, du Unwürdiger!« zischte eine Stimme, die allerdings wohl nicht dem Schleimklumpen gehörte.

Marc wirbelte herum und sah in das grinsende Gesicht eines großen Mannes, der in seiner Rechten eine Waffe hielt, die entfernte Ähnlichkeit mit einem Gegenstand hatte, den Marc O'Popel nur zu gut kannte: Einer Wasserpistole.

Marc erhob sich. »Was wollt ihr von mir? Ich habe niemandem etwas getan!«

Zur Strafe bekam Marc einen Schuss mit der Wasserpistole mitten in Gesicht. »Hier!« rief der große Mann. »Schmecke einen Schluck meines morgendlichen Eigen-Urins, der für dich eigentlich viel zu schade ist! Ich bin der edle Derrick van den Klon, Großwesir der Superintelligenz Hollmannioc. Und ich möchte mit Respekt behandelt werden! Wenigstens von dir, der du nur ein Gefangener bist, wenn mich hier schon sonst niemand gut behandelt!«

Marc sah sich um. Er dachte an Flucht, aber an den Türen, die hinaus führten, sah er bewaffnete Wachposten. Und diese trugen nicht nur Wasserpistolen, über deren unappetitlichen Inhalt man nur spekulieren konnte, sondern darüber hinaus auch Hellebarden und Schwerter. Flucht war so gut wie ausgeschlossen.

Marc kniff die Augen zusammen. Als er die Wachposten so ansah, glaubte er schier, unter Halluzinationen zu leiden. Aber er täuschte sich nicht. Und mochten die Naturgesetze dieser Dimension sich vielleicht ein bisschen von dem unterscheiden, was er so kannte - auf seine fünf Sinne konnte er sich verlassen. Die Wächter waren allesamt völlig identisch und sahen aus wie Derrick van den Klon.

Oh Gott, dachte Marc. In was für eine perverse Menagerie bin ich denn hier geraten?

Ein Rülpser kam von dem Thron herab.

»Achtung!« riefen alle Derrick van den Klons im Raum wie aus einem Mund. »Die Superintelligenz spricht!«

Aus der amorphen Masse formte sich ein Schlund, der anfing, Wörter zu produzieren - oder zumindest etwas, was entfernte Ähnlichkeit damit hatte. »Bringt ihn in den Kerker!« knurrte Hollmannioc.

Gleich fünf von den blassgesichtigen Derricks griffen in der nächsten Sekunde nach Marc. Unter normalen Umständen hätte er sie natürlich mit dem kleinen Finger besiegen können, aber der letzte Dimensionssprung schien doch recht kraftraubend gewesen zu sein.

*

Im Kerker erlebte Marc eine Überraschung, nachdem er sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte. Er war nämlich nicht allein. In einer Ecke der finsteren Zelle saß ein weiterer Gefangener. Als dieser sich aufrichtete und das spärliche Licht, das von draußen durch das kleine vergitterte Fenster kam, in sein Gesicht fiel, machte Marc erstaunt: »Uff!« Der Gefangene war Derrick van den Klon beziehungsweise eines seiner offenbar zahllosen Abilder.

»Was machst du hier drin, Großwesir?« fragte Marc schneidend.

»Was?«

»Na, zumindest hast du äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm!«

Der van den Klon seufzte. »Du wirst es nicht glauben, aber ich bin das Original!«

»Der wirkliche Derrick van den Klon?« Marc lachte rau. »Vermutlich sagen sie das alle!«

»Wer verlangt, dass du es mir glaubst?«

Marc überlegte. »Niemand, wenn ich so darüber nachdenke.«

»Na, also. Und wer bist du?«

»Marc O'Popel, Ritter der Blaugrauen Garde. Ein unglücklicher Umstand und ein paar fiese Roboter haben mich hier her verschlagen!«

Derrick van den Klon grinste schief. »Das geht den meisten so, die hier sind. Auch ich kam einst als Fremder hier her...«

Marc schluckte und kalte Schauder gingen ihm unwillkürlich über den Rücken. »Erzähle, du Unglücklicher!« beschwor Marc seinen Mitgefangenen. »Erzähle, so dass ich mich auf das, was mir bevorsteht, geistig vorbereiten kann!«

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738910414
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Dezember)
Schlagworte
alle götter alls science fiction erzählungen

Autor

  • Alfred Bekker (Autor:in)

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Titel: Alle Götter des Alls: Science Fiction Erzählungen