Zusammenfassung
Krimi von Thomas West
Der Umfang dieses Buchs entspricht 131 Taschenbuchseiten.
Die beiden FBI-Agenten Jesse Trevellian und Milo Tucker haben es mit einer ungewöhnlichen Mordserie zu tun: Die Getöteten wurden mit einem Pfeil vergiftet, der Curare enthielt. Dieses Gift lähmt die Atmung, und die Opfer ersticken qualvoll. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass es sich bei den Ermordeten um Vietnamveteranen aus einem Trupp handelte, die seinerzeit ein vietnamesisches Dorfes überfallen und ausgemerzt hatten – allerdings waren nur drei Soldaten verantwortlich gemacht und von einem US-Kriegsgericht verurteilt worden … anscheinend will sich nach fast dreißig Jahren jemand an den übrigen rächen …
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Todesgrüße aus der Vergangenheit
Krimi von Thomas West
Der Umfang dieses Buchs entspricht 131 Taschenbuchseiten.
Die beiden FBI-Agenten Jesse Trevellian und Milo Tucker haben es mit einer ungewöhnlichen Mordserie zu tun: Die Getöteten wurden mit einem Pfeil vergiftet, der Curare enthielt. Dieses Gift lähmt die Atmung, und die Opfer ersticken qualvoll. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass es sich bei den Ermordeten um Vietnamveteranen aus einem Trupp handelte, die seinerzeit ein vietnamesisches Dorfes überfallen und ausgemerzt hatten – allerdings waren nur drei Soldaten verantwortlich gemacht und von einem US-Kriegsgericht verurteilt worden … anscheinend will sich nach fast dreißig Jahren jemand an den übrigen rächen …
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.
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© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
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1
"Reißt ihnen die Eier ab, verflucht noch mal!" Die Chikago Bulls lagen mit drei Punkten im Rückstand, und Richie brüllte sich die Kehle heiser. In seinem dröhnenden Fernsehapparat brachen die letzten fünf Minuten des Spiels an. Die Zeit arbeitete für die Sacramento Kings. Und gegen Richie, der fünfzig Dollar auf seine Mannschaft, die Bulls, gewettet hatte.
Er stemmte seinen unglaublich fetten Körper aus dem Sessel, und ging zum Kühlschrank. Ohne den Fernsehschirm aus den Augen zu lassen, griff er in seine Bierdosengalerie. Er riss den Verschluss von der Dose und setzte sie an die Lippen. Es sollte das letzte Bier seines vierundfünfzigjährigen Lebens sein.
Die Haustürglocke übertönte den Lärm aus dem Fernsehgerät. Richie schob das Fenster neben der Außentreppe hoch. Ein Fremder stand vor der Haustür und lächelte ihn an. "Meine Kids haben den Ball in Ihren Garten gekickt."
"Holen Sie ihn sich", brummte Richie und wies auf das offen stehende Gatter. Er zog das Fenster wieder herunter und eilte zum Fernseher zurück. Vielleicht hätte er sich gewundert, dass von den Kindern des Mannes weit und breit nichts zu sehen gewesen war, aber die Bulls kämpften knapp zwei Meter vor der gegnerischen Grundlinie. "Gibt's Ihnen, Jungs! Los! Macht sie fertig!"
Einige Sekunden lang sah es verdammt nach einem Ausgleich aus, und Richie hatte absolut nicht den Kopf, über den komischen Vogel nachzudenken, der da eben vor seiner Tür gestanden hatte. Hätte er es getan, wäre er vielleicht nicht an die Terrassentür gegangen, als der Fremde vom Garten aus ans Fenster klopfte.
Fluchend und ächzend erhob er sich ein zweites Mal. Im Zeitlupentempo bewegte er sich rückwärts auf die Terrassentür zu. Die Kings wehrten den Angriff ab. Es war zum Heulen. "Scheiße!", bellte Richie und sah auf die Uhr: Noch drei Minuten. Die fünfzig Dollar konnte er abschreiben. "Scheiße!"
Das Klopfen am Fenster wurde ungeduldiger. "Ich komme ja schon!" Er hasste Leute, die ihn während eines Footballspiels störten. Normalerweise konnte man alles von ihm kriegen. Richie Perlman war die Freundlichkeit in Person, keiner Fliege hatte er je was zuleide getan, sein ganzes Leben lang nicht. Abgesehen von den Jahren in Vietnam. Klar, aber das war schon nicht mehr wahr. Nur, wenn ihm einer in ein Footballspiel platzte, noch dazu wenn die Chikago Bulls ... Er riss die Terrassentür auf. "Was'n los, Mann?!"
"Der Ball liegt in ihrem Spinatbeet, da will ich Ihnen nicht reintreten." Die grauen Augen des Fremden lächelten aus einem braungebrannten, wettergegerbten Gesicht. Sein graues Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und trotz des heißen Sommertages trug er einen langen, hellen Mantel.
"Sieht aus wie ein Apache", dachte Richie und wälzte seine hundertneunzig Pfund über den Rasen dem Spinatbeet entgegen. Unter der gewaltigen Fettschicht seines Bauches zuckte etwas: Seine innere Stimme. Wenn er ihr zugehört hätte, hätte er erfahren, dass er den Mann schon irgendwo gesehen hatte. Doch Richie konzentrierte sich auf die Stimme des Kommentators. Aus der Küche verkündete sie gerade einen Punktgewinn für die Bulls. "Yeah!" Richie schlug mit der Faust in die flache Hand. Dann blieb er wie angewurzelt stehen: Im Spinatbeet entdeckte er einen frischen Maulwurfshügel und doppelt so viel Unkraut wie gestern - aber keinen Ball.
Das Zucken in seinem Bauch schoss ihm heiß durch die Brust bis in die Kehle. Woher kannte er diesen komischen Kerl? Richie schluckte und erschrak, weil er den Kloß im Hals kaum herunterbekam. Er drehte sich um, sehr langsam, als fürchtete er sich vor der Wahrheit. Der Fremde hielt etwas Längliches vor dem Mund, eine Art Stange. Richie hatte keine Zeit mehr, das Gerät zu identifizieren: Ein brennender Stich zwang seine Aufmerksamkeit zu seiner Schulter - knapp unter dem rechten Schlüsselbein hing ein seltsames Ding, gefiedert und bunt.
Der Fremde kam auf Richie zu. Er lächelte nicht mehr. Drei Schritte vor ihm blieb er stehen. Richies Beine gaben so plötzlich nach, dass er erstaunt an sich heruntersah. Er ging in die Knie, einfach so, ohne erkennbaren Anlass und wollte sich noch mit den Armen abstützen, doch seine Knochen gehorchten ihm nicht mehr. Er kippte nach hinten weg.
Der Fremde beugte sich über ihn und zog das bunte Ding aus seinem Körper. Es tat höllisch weh, aber Richie zuckte nicht einmal mit den Nasenflügeln. Jetzt kehrte das Lächeln auf das Gesicht des Mannes zurück, aber diesmal war es ein kaltes, bitteres Lächeln. "Ich freu' mich, dich noch einmal gesehen zu haben, Richie. Ich habe lange darauf gewartet."
Auf einmal war der Name des Mannes da. Richie wollte ihn herausschreien. Mehr als ein verwaschenes Wimmern brachte er nicht zustande. Es klang ziemlich albern, und der Mann grinste breit. Dann wandte er sich ab, seine Schritte entfernten sich, und Richie hörte das Gatter knarren.
Er lag da wie ausgekippt und spürte die feuchte Kühle des Rasens in sein Unterhemd dringen. Über seine Schläfe krabbelte irgendein verdammtes Insekt. Richie hätte es gern verscheucht, aber nicht einmal seine Augenlider gehorchten ihm noch. Eingezwängt in einem Kerker aus Fett und Knochen, so kam er sich vor. Sein Mund stand offen, und obwohl alles in Richie nach Luft schrie, blieb sein Brustkorb regungslos wie ein Stein. Seine Zunge rutschte langsam nach hinten.
Aus der offenen Terrassentür dröhnte die Stimme des Kommentators und das Jubelgeschrei der Fans. Der Fans von den Chikago Bulls. Die Jungens hatten es tatsächlich geschafft, das Spiel noch zu retten. Und Richies fünfzig Dollars. Aber das bekam Richie Perlman schon nicht mehr mit. Er würde nie mehr auch nur einen einzigen Dollar brauchen.
2
Die Wohnung war völlig versifft. Der Teppichboden wies ein fast regelmäßiges Muster von Brandflecken auf, an manchen Stellen hing die Tapete von den Wänden, leere Flaschen und Dosen standen auf dem Schrank und unter dem Tisch, und in den Ecken stapelten sich alte Zeitungen. Die Tür zur Toilette hatte wohl irgendjemand auf einem Flohmarkt verhökert, und ich bekam den Geruch von Pisse nicht mehr aus der Nase, seit wir uns heute Morgen hier einquartiert hatten. Ich konnte mich an Zeiten erinnern, in denen noblere Adressen für unsere Undercover-Agents angemietet worden waren.
Aber gut - wir waren hier schließlich nicht am Central Park West, sondern in einer ziemlich miesen Gegend von Little Italy. Seit Wochen ermittelten wir hier und in China Town, und zumindest den mittleren Chargen des Drogenhandels in diesem Teil New Yorks waren wir ziemlich dicht auf den Fersen. Wenn alles gut ging, würde unser Undercover-Man uns heute die dicken Fische ins Netz treiben.
Ich stand neben dem Fenster. Von der Wohnung unseres Undercover-Agenten hatte man einen guten Überblick. Die Kreuzung lag vor mir wie ein Freilufttheater. Milo kam mit einer Kanne Kaffee vom Herd und setzte sich wieder neben das Funkgerät. "Und?", fragte er. "Alles in Ordnung da unten?"
"Kann man so nicht sagen - im Augenblick wird nämlich niemand ermordet, und Drogendealer kann ich auch nirgends entdecken."
"Ist ja alarmierend", Milo reichte mir einen Becher mit dampfendem Kaffee, "womöglich ist das Reich Gottes angebrochen, und wir haben's gar nicht gemerkt."
"Dann bräuchten wir ja keine Sorge zu haben, dass wir unseren Urlaub nächste Woche doch noch stornieren müssen." Der Mann hinter dem Eisstand auf der anderen Straßenseite stieß einen Stapel Eiswaffeln um. Er kam hinter seinem Tresen hervor, um sie einzusammeln. Kurz darauf traten zwei Männer aus einer Bar und stiegen in einen schwarzen Chevy. "Ich glaub', unser Mann ist im Anmarsch", sagte ich zu Milo. Er steckte sich den Kopfhörer ins Ohr.
Ein paar Minuten geschah nichts weiter. Außer, dass der Penner hundert Meter vor dem Eisstand von seinem Pappkarton aufgestanden war, und angefangen hatte, die Passanten anzubetteln. Unsere anderen Leute - die Maler auf dem Hausgerüst, die beiden Straßenmusiker und die Wartenden an der Bushaltestelle - verhielten sich ruhig.
"Und wohin zieht es dich nächste Woche?", wollte Milo wissen. Der Gedanke an den bevorstehenden Urlaub schien ihn zu beflügeln. Kein Wunder, die zurückliegenden Wochen waren ziemlich nervenaufreibend gewesen.
"Florida", sagte ich, "ich hab' mir schon ein paar Kilo Bücher besorgt. Mit denen werde ich am Strand liegen."
Milo brach in schallendes Gelächter aus. "Jesse wird die ganze Zeit mit Büchern am Strand liegen!"
"Was gibt's da zu lachen?" Ich musste unwillkürlich grinsen. Milos Erheiterungen wirken fast immer ansteckend auf mich.
"Wenn ich dich nach dem Urlaub nach den Büchern frage, mit denen du am Strand gelegen hast, wirst du mir wahrscheinlich sagen: >Eins war blond, das andere unglaublich spannend, was seinen Badeanzug betrifft, und das dritte ...<"
Milo unterbrach sich und drückte auf den Stöpsel in seinem Ohr. "Er kommt." Er schaltete die Akustik seines Empfängers ein. Ein schwacher Piepton war zu hören. Unser Mann bei der Mafia hatte einen Sender im Stoff versteckt. Jetzt war er mit ihm unüberhörbar im Anmarsch. Er sollte das Zeug an die Käufer ausliefern und das Geld entgegennehmen.
Ich presste mich an die Wand. "Der Eiswagen fährt vor." Mit dem Feldstecher überzeugte ich mich davon, dass unser Mann am Steuer saß. Milo gab die Informationen weiter an die Jungs auf der Straße. Der Wagen hielt vor dem Eisstand. Der getarnte G-Man packte die Eisboxen neben den Stand. Der Eismann versenkte sie gleich in seiner Theke. Mindestens eine davon enthielt die heiße Ware.
Unser Mann nahm die leeren Boxen entgegen und lud sie in seinen Kühltransporter. Er schloss den Laderaum und zündete sich seelenruhig eine Zigarette an - das Zeichen. "Das Geld war wie abgemacht in den leeren Boxen", sagte ich zu Milo. Er funkte das vereinbarte Signal. Drei Männer an der Bushaltestelle entfernten sich von den Wartenden und bestiegen einen Ford. Der Eiswagen verschwand in der Seitenstraße, der schwarze Chevy hängte sich an ihn. Und der Ford mit unseren Männern. Sie würden sich direkt zum Händler führen lassen.
"Achtung Milo, unser Part beginnt." Der Eismann packte seinen Stand zusammen. Gleich würde er ihn singend oder pfeifend über den Bürgersteig schieben, wie ein harmloser, freundlicher Familienvater, der sich den ganzen Tag lang für ein paar Dollar abgerackert hat. Keiner der Passanten würde auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen, dass es sich bei dem netten Kerl um einen Kriminellen handelte, auf den in irgendeiner Hofeinfahrt schon ein eiskalter Großdealer wartete.
Der Penner rollte seinen Pappkarton zusammen und torkelte hinter dem Eismann her. Die Straßenmusikanten packten ihre Gitarren und Flöten ein. "O.K., Milo, unsere Leute sind so weit."
"Dann nichts wie los, Partner!" Er warf mir mein Jackett zu und stürmte zur Tür. Ich entsicherte meinen Revolver. Gemeinsam schlenderten wir kurz darauf über die Straße.
Zwei Stunden später war alles vorbei. Es gab eine kleine Schießerei. Aber die Dealer waren so überrascht, dass sie nicht groß dazu kamen, ihre Gegenwehr zu organisieren. Wir verhafteten fünf Männer. Einer davon war ein Großdealer, dem man bisher nichts hatte nachweisen können. Der Händler wurde bei der Geldübergabe gestellt. Ein Chinese.
Zurück in der heruntergekommenen Wohnung gab Milo die Erfolgsmeldung an den Chef durch. "Danke, Sir." Ich räumte unseren Kram zusammen. Auf Milos Stirn gesellte sich eine Falte zur anderen, und er sagte lange kein Wort. Offenbar hatte der Chef ihm allerhand Neuigkeiten zu berichten. "Ist O.K., Sir", sagte Milo schließlich und steckte sein Handy weg.
"Und? Alles in Ordnung?", fragte ich.
"Alles in bester Ordnung, Partner!" Seine spöttischer Tonfall machte mich stutzig, und ich zog fragend die Augenbrauen hoch. "Morgen früh haben wir ein Date beim Chef", grinste Milo.
"Klingt ganz nach einem neuen Fall", sagte ich, "und danach, dass wir unseren Urlaub tatsächlich stornieren müssen."
"Ich sagte doch", Milo setzte seine unschuldigste Miene auf, "es ist alles in bester Ordnung."
3
"Glückwunsch, Gentlemen", Mr. McKee gönnte uns ein anerkennendes Lächeln, "der Chinese, den wir gestern verhaften konnten, scheint der Kopf des Drogenhandels von Chelsea bis zur Lower East Side zu sein." Er nickte befriedigt. "Gute Arbeit."
"Danke,Sir", sagte Milo und grinste mich an wie ein Junge, der gerade sein Weihnachtsgeschenk ausgepackt hatte. Ein zufriedener Chef gleich am frühen Morgen - da hatte auch ich nichts gegen einzuwenden. Ich schlürfte den Kaffee, den Mandy uns hingestellt hatte. Angesichts der heiteren Miene des Chefs schmeckte er noch besser als sonst. Man sollte die Frau für einen Orden vorschlagen.
"Wenn ich recht informiert bin, haben Sie für nächste Woche Urlaub angemeldet", Mr. McKee betrachtete nachdenklich seine Fingernägel. Offenbar suchte er nach passenden Worten, um uns die Kröte schmackhafter zu machen, die wir gleich schlucken sollten. "Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie den noch verschieben könnten, da ist ein Fall reingekommen, für den ich Sie brauche."
Er schaute uns fragend an. Wir nickten fast gleichzeitig. Erstens war uns schon seit gestern Abend klar, dass der Urlaub flachfallen würde, und zweitens hatten wir keine andere Wahl. "Sie wissen ja, dass Ihre Kollegen mit dem Attentat auf Senator Salinger und der Mordserie in Greenwich Village befasst sind. Ich kann niemanden abziehen."
"Ist doch klar, Sir. Worum geht's denn?" Der gute Milo schien jetzt schon ganz heiß auf Arbeit zu sein. Nun - er würde mich schon irgendwann anstecken.
Mr. McKee schob uns einige Computerausdrucke über seinen Schreibtisch. "Da ist vor zwei Tagen ein Mann in Leonia ermordet worden. Richard Perlman hieß er, hat bei der Post gearbeitet. Neunundvierzig Jahre alt."
Ich nahm die Akte und blätterte sie durch. "Und die City Police gibt schon nach zwei Tagen den Fall an uns ab?" Meine Frage war nur schlecht getarnte Neugier. Es war klar, dass unser Chef noch nicht mal die Hälfte der Katze aus dem Sack gelassen hatte. Außerdem sah ich noch einen zweiten Stapel Blätter vor ihm auf dem Schreibtisch liegen.
"Vor einer Woche wurde ein Mann in Massachusetts ermordet, ein Universitätsprofessor aus Boston, vierundundfünfzig Jahre alt." Mr. McKee nahm die vor ihm liegenden Papiere und reichte sie Milo. "Beide Leichen wiesen eigenartige Einstichstellen auf: Zu groß für eine Injektionsnadel und zu klein für eine Stichwaffe. Die Untersuchungsberichte gehen von kleinen Pfeilen aus, wie man sie mit Blasrohren verschießt. Auch die Todesursache stimmt in beiden Fällen überein: Erstickung durch komplette Muskellähmung infolge einer Vergiftung mit Curare."
Milo und ich sahen uns an. Die linke Augenbraue meines Partners zuckte, und ich kannte ihn lange genug, um das richtig deuten zu können: Milo war, gelinde gesagt, überrascht. Und mir ging es genauso. Die Vorstellung, dass da jemand frei herumlief und seine Mitbürger mit dem Pfeilgift der südamerikanischen Indianer ins Jenseits beförderte, verursachte mir sogar einen leichten Schauder. Ein durchschnittlich fantasiebegabter Mensch wird aus dem Stand schätzungsweise hundertzwanzig Todesarten aufzählen können. Bei klarem Bewusstsein zu ersticken, weil einem die Atemmuskulatur nicht mehr gehorcht, gehört sicher zu den unangenehmsten. Der Kaffee schmeckte mir plötzlich nur noch halb so gut.
Milo sah es mehr von der praktischen Seite. "In jedem zweiten Haushalt gibt es mindestens eine Waffe. Und notfalls genügt ein kleiner Stadtbummel und man hat eine brauchbares Schießeisen gekauft - und hier benutzt einer ein vorsintflutliches Blasrohr!" Er schüttelte den Kopf. "Unglaublich! Was für ein Kerl mag das sein?!"
Mr. McKee deutete ein Schulterzucken an und erhob sich. "Sie werden es herausfinden, wie ich Sie kenne." Die Sitzung schien beendet. Ich leerte schnell meine Tasse. Der Chef verabschiedete uns. "Jesse, Milo - ich bin gespannt auf Ihren Bericht, viel Erfolg."
4
Der Mann pfiff einen alten Dylan-Song vor sich hin, als er die Toilette der Bar betrat. Er war klein und drahtig, und trotz seiner knapp fünfzig Jahre bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit eines durchtrainierten Dreißigjährigen. Er warf einen flüchtigen Blick auf die drei anderen Männer vor den Pissoirs, stellte sich dann an das freie Becken links in der Ecke und pinkelte hingebungsvoll.
Er pinkelte lange. So lange, bis zwei der Männer die Toilette verlassen hatten. Dann erst drückte er die Spüle und wandte sich dem großen Grauhaarigen in der rechten Ecke zu. "Glückwunsch, Al, ich hab's in der Zeitung gelesen - hat Richie einen Gruß an mich ausrichten lassen?"
"Ihm fehlten die Worte, er konnte nur noch gucken wie eine Kröte, die einen Truck auf sich zufahren sieht." Der Große knöpfte seinen Hosenschlitz zu und strich eine Strähne seines langen Haares aus dem braungebrannten Gesicht. Seine Stimme klang ruhig, fast kalt, und er verzog keine Miene. "Hast du den Bericht, Gino?"
Der andere zog ein Kuvert aus der Innentasche seines schwarzen Jacketts und reichte es dem Grauhaarigen. "Lies es dir durch, ich habe Russel zwei Wochen lang beobachtet, doch das Wesentliche kann ich dir in drei Sätzen sagen." Sie standen jetzt am Waschbecken. Der Graue ließ das Kuvert unter seinem hellen Sommermantel verschwinden und zog fragend die Augenbrauen hoch. "Er hat am Wochenende frei und wird zum Angeln fahren. Irgendwo in den Catskill Mountains, nicht weit von Kingston. Ich habe dir den Ort genau skizziert. Das einzige Problem - sein Hund."
"Ein Hund? Gino, du Witzbold! Hast du schon mal einem Jaguar gegenübergestanden?" Der Große lächelte kalt. "Warum hast du gerade diese Bar ausgesucht? Du hast doch früher keine Vorliebe für solche Spelunken gehabt. Bringt das die Schriftstellerei mit sich?"
Der Kleine lachte bitter auf. "Im Knast wird man bescheiden, Al. Und meine Romane verkaufen sich nicht gut, da muss man sich an billigen Whisky gewöhnen." Er ging zur Tür. "Aber es gibt noch einen anderen Grund. Folge mir in zwei Minuten, dann zeig' ich ihn dir."
Kurz darauf verließ Al die Toilette. Gino stand an einem von drei Spielautomaten, neben dem großen Fenster, das die Sicht auf die Straße freigab. Al zündete sich eine Zigarette an und stellte sich an einen der beiden freien Automaten. Sie sprachen leise und ohne sich anzusehen.
"Er ist schon da, Al, ich wollte, dass du ihn dir genau anschaust, der gute Paul hat sich ziemlich verändert." Gino fixierte die rotierenden Symbole auf seinem Apparat. "Siehst du den kleinen Laden auf der anderen Straßenseite?" Er presste die Stopptasten.
Al strich sich eine graue Strähne aus der Stirn und warf ein paar Münzen in den Spielautomaten. Dabei huschten seine Augen über die Häuserfront auf der anderen Straßenseite. "Das Anglergeschäft?"
"Er wird sich noch ein paar Köder für's Wochenende besorgen. Der rote Pick-up gehört ihm." Während sein Apparat ein gutes Dutzend Dollarstücke ausspuckte, drehte Gino sich um und nahm sein Whiskyglas von der Theke. Sein Blick wanderte über die Bargäste. Niemand schien sie zu beobachten. Er wandte sich wieder seinem Automaten zu und fütterte ihn erneut mit Dollars. "Kann aber auch sein, dass er den Wagen seiner Frau benutzt. Sie fährt einen silbergrauen Honda Civic, Baujahr '94."
Zehn Minuten später öffnete sich die Tür des Angler-Geschäftes. Ein bulliger Mann trat auf die Straße. Er trug eine US-Army Uniform, und ein Collie folgte ihm. Al spähte aus schmalen Augen zu ihm hinüber. "Ganz schön fett geworden. Und 'ne Platte wie ein Babyarsch. Was für einen Rang hat er?"
"Major, hat sich wohl im Golfkrieg ein paar Pluspunkte eingeheimst." Gino verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. "Sein Köter heißt >Saddam<."
"Wo ist er stationiert?"
"Er unterrichtet seit vier Jahren in Westpoint an der Military Acadamy."
"Die armen Jungs", sagte Al verächtlich. Der Major ließ seinen Hund in die Fahrerkabine des Pick-ups springen, stieg ein und fuhr davon.
"Kannst du aber alles nachlesen", Gino angelte die Dollars aus dem Spielautomaten. Klimpernd verschwanden sie in seiner Hosentasche. "Falls was schiefgeht, habe ich dir die Nummer meines Handys dazugelegt. Präg' sie dir ein und vernichte den Zettel, ich verlass mich auf dich." Ohne den anderen anzusehen, drehte er sich um und trank sein Glas leer. "Viel Glück, und bis nächste Woche in Baltimore." Er zahlte und schlenderte aus der Bar.
Al sah durch das Fenster, wie Gino in einen alten, braunen Kombi stieg und davonfuhr. Er bestellte einen Kaffee und setzte sich an einen Tisch. Dort überflog er Ginos Bericht. Sein Partner hatte eine gute Arbeit abgeliefert. Wie schon die beiden anderen Male. Kurz vor der Mittagspause betrat Al das Angler-Geschäft und kaufte ein paar Haken und einen Schwimmer.
5
"Clerence Gardener hieß der Mann in Boston", Milo blätterte in den Unterlagen, während wir auf den Aufzug warteten, "Professor der Medizin."
"Armer Hund", ich stellte mir vor, dass der Mann als Arzt sofort begriffen hatte, woran er starb, "hat man bei ihm auch keinen Pfeil gefunden?" Milo schüttelte den Kopf. "Dann wäre es also möglich, dass beide noch Zeit hatten, ihrem Mörder ins Gesicht zu sehen, als er die Pfeile aus ihren Körpern gezogen hat."
Wir fuhren in den 26. Stock. Ich holte mir von der State Police in Massachusetts sämtliche verfügbare Informationen über den Mord in Boston auf den Bildschirm: Tatortbeschreibung, Ergebnisse der Spurenermittlung, Obduktionsbericht und so weiter. Milo durchforstete währenddessen das NCIC nach vergleichbaren Fällen. Am späten Vormittag setzten wir uns in meine rote Karosse und steuerten Leonia an.
"Hast du was Neues unter den Daten aus Boston gefunden?", wollte Milo wissen. Wir fuhren auf dem Broadway Richtung Norden. Die Mittagshitze hing flimmernd zwischen den Türmen, und der Verkehr quälte sich schleppend durch die Straßenschluchten.
"Gardener war Internist, nicht besonders beliebt bei den Studenten." Die grünen Kronen einiger alter Bäume tauchten vor uns auf - der Union Square Park. Die Ampel sprang auf Grün, und ich bog links ab in die vierzehnte Straße. "Er wurde auf den Toiletten im Clubhaus seines Golfclubs gefunden. Perlman kriegte Besuch von seinem Mörder, während er das Spiel der Chikago Bulls gegen die Sacramento Kings in der Glotze anguckte. Seine Frau verkaufte ein paar Straßen weiter Kuchen auf einem Sommerfest ihrer Kirche."
"Dieser Blasrohrkiller scheint ja verdammt gut Bescheid zu wissen über das Privatleben seiner Opfer."
Ich nickte. "Ja, sieht ganz nach gründlicher Vorbereitung aus." Der Verkehr auf der zwölften Avenue war erstaunlich flüssig. Links, hinter den Hafenbecken, glitzerte das Sonnenlicht auf dem dunklen Band des Hudson Rivers. "Und was hat das NCIC ausgespuckt?"
"Nichts, was uns weiterhilft." Milo winkte ab. "In L.A. hat eine McKee-School-Klasse ihren Lehrer mittels Pfeil und Blasrohr umgebracht. Allerdings nicht mit Curare, sondern mit Botulin-Erregern. Der Mann starb ziemlich lange.
"Ganz schöne Schweinerei, aber nicht unsympathisch, wenn ich an meine Schulzeit denke."
"Es war übrigens der Chemielehrer", erzählte Milo, "der Prozess läuft noch. Zwei der Hauptbeteiligten sind flüchtig. Ich habe mal die Berichte angefordert."
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein paar Jugendliche von der Westküste tagelang einem Universitätsprofessor und einem Postbeamten an der Ostküste nachschnüffelten, um sie bei günstiger Gelegenheit aus dem Weg zu räumen. Aber gut - Milo und ich waren es gewohnt, vor der Arbeit an einem neuen Fall sämtliche Möglichkeiten durchzuspielen. Und unter Umständen gab es ja Parallelen, die uns weiterhalfen.
"Vielleicht haben die Studenten in Boston in der Zeitung von dem Fall gelesen und sich inspirieren lassen", gab Milo zu bedenken.
"Möglich", sagte ich, "und wie passt der Postbeamte da rein?" Milo zuckte mit den Schultern. Wir überquerten die Washington-Bridge und bogen kurz darauf in die Abfahrt nach Leonia ein. Das Perlman-Haus lag in einem kleinen Wohngebiet an der Route 95. Ein putziges Einfamilienhäuschen. Der weiße Gartenzaun glänzte frisch lackiert, das Messingschild unter dem Briefkasten schien jeden Tag mit Scheuerpulver behandelt zu werden, und der Rasen um das Haus sah aus, als wäre er mit einem Rasierapparat geschoren worden.
Eine schwarz gekleidete Frau öffnete uns, nur einen halben Kopf kleiner als Milo, blond und von beeindruckendem Körperumfang - die Perlman-Witwe. Wir zeigten unsere Dienstmarken und sprachen ihr unser Beileid aus. Sie wirkte sehr gefasst und bat uns hinein.
"Mrs. Perlman, wir wissen, dass unsere Kollegen Sie bereits mit allen erdenklichen Fragen belästigt haben, das war sicher scheußlich für Sie", ich versuchte es so taktvoll wie möglich. In unserem Job muss man sich an alles Mögliche gewöhnen - die Besuche bei Hinterbliebenen von Mordopfern gehörten zu den Dingen, an die ich mich nie gewöhnen würde. "Dürften wir Sie trotzdem noch einmal um ein paar Auskünfte bitten?"
Wir durften. Die Frau erwies sich sogar als ausgesprochen redselig. Offenbar hatte sie niemanden, bei dem sie ihrem Herzen Luft machen konnte. "Wäre er doch bloß mit zum Gemeindefest gegangen", seufzte sie, "ich hab' ihn so gebeten, aber wenn die Bulls spielten, war Richie zu nichts anderem zu gebrauchen." Als sie uns den Platz im Garten zeigte, wo sie ihn gefunden hatte, brach sie in Tränen aus. Sie hatte keine Erklärung dafür, was ihr Mann während des Footballspiels im Garten zu suchen gehabt hatte. Irgendwie musste es dem Mörder gelungen sein, Richie Perlman von seinem Heiligtum wegzulocken.
Sie führte uns im Haus herum. Die Schlafzimmerwand war mit gerahmten Fotos bepflastert: Richie als Bräutigam, Richie als Soldat, Richie als frischgebackener Großvater, Richie bierselig grinsend unter zwei Dutzend Männern. Alle um die Fünfzig und einige in Uniformen. Schien ein gemütlicher Kerl gewesen zu sein, dieser Perlman, kahlköpfig und, genau wie seine Frau, nicht eben schlank.
Milos Argusaugen saugten sich an dem Gruppenbild fest. "Was sind das für Männer?", wollte er wissen.
"Das ist der Veteranenclub", erklärte Mrs. Perlman, "Richie war doch in Vietnam. Wir waren erst zwei Jahre verheiratet. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sie trafen sich einmal im Jahr in Washington."
Mein Instinkt meldete sich. "Kannte er zufällig einen Clerence Gardener, einen Arzt in Boston?" Ich sah es Milo an, dass er dieselbe Frage auf der Zunge gehabt hatte.
"Clerence?" Die Perlman-Witwe schaute mich überrascht an. "Aber sicher - der schrieb jedes Jahr zu Richies Geburtstag eine Karte!" Sie wandte sich dem Foto zu und deutete auf einen kleinen, schnauzbärtigen Mann. "Das hier ist er. Er war in den letzten Jahren zweimal zu Besuch bei uns. Sie waren in derselben Einheit."
Später, auf der Rückfahrt, schwiegen wir ziemlich lange. Irgendwann, kurz vor Manhattan, spürte ich Milos Blicke. "Los, Partner",sagte er, "spuck's aus. Ich kenn' dich doch - wenn du so still bist, brütest du meistens einen brauchbaren Gedanken aus."
"Wir haben einen dicken, footballgeilen Postmann, und wir haben einen kleinen, unbeliebten Medizinprofessor", antwortete ich, "und beide haben etwas gemeinsam."
"Sie hatten etwas gemeinsam", korrigierte Milo.
"Eben", sagte ich.
6
Die Sonne schien warm auf die Lichtung, aus dem Wald drang das Gekreische eines Hähers, und vom dreihundert Meter flussabwärts gelegenen Wasserfall trug der Wind das Rauschen der stürzenden Wassermassen heran. Paul Russel warf die Angel aus. An dieser Stelle floss der Wildbach geradezu behäbig dahin, und Paul konnte mit Schwimmer und Würmern arbeiten.
"Ein Tag wie im Bilderbuch, was Saddy?" Er arretierte die Angelschnur und ließ sich neben seinem Hund im Gras nieder. "Weißt du noch, als wir vor zwei Wochen hier waren? Da hat's doch gekübelt auf Deibel komm raus." Er legte seine Angel ab und begann sich eine Pfeife zu stopfen. "Aber dafür haben die Biester gleich im Dutzend angebissen. Das war ein Fest, was?"
Ohne seinen Kopf von den Vorderläufen zu heben drehte der Collie seine braunen Augen zu Paul hoch, als würde er jedes Wort verstehen. "Heute werden sie sich Zeit lassen, schätze ich, bei dem Wetter beißen sie nicht so gern", Paul zündete seine Pfeife an, "aber wir haben ja Zeit", die Rauchwölkchen stiegen in das Geäst der jungen Birken hinter ihm, "ein ganzes Wochenende Zeit haben wir."
Mit niemandem sprach Paul Russel so viel wie mit seinem Hund. Nicht mal mit seiner Frau. Die hatte es aufgegeben, sich darüber zu beklagen. Immerhin hatte Paul, abgesehen davon, dass er selten zu Hause war, auch sonst noch ganz patente Seiten. Die Offiziersanwärter der Military Acadamy, bei denen er Staatsbürgerkunde und strategische Geographie unterrichtete, hielten ihn für einen verschrobenen Eigenbrötler. Und das war er auch. Sogar der Gesellschaft seiner Familie zog er die Gesellschaft seines Hundes vor. "Gegenüber meinen Kindern und meiner Frau hat Saddy zwei entscheidende Vorteile", pflegte er zu sagen, "er freut sich grundsätzlich, wenn ich nach Hause komme, und er will grundsätzlich nicht diskutieren."
Der Collie hob den Kopf von den Pfoten und spitzte die Ohren. Etwa zweihundertfünfzig Meter flussaufwärts trat ein Mann aus dem Wald. Paul beäugte ihn unwillig. Der Kerl ging ein paar Schritte am Ufer entlang, stellte dann sein Gepäck ab und zog eine Teleskoprute auseinander. "Oha, wir kriegen Konkurrenz, Saddy", Paul kramte eine Flasche aus seinem Rucksack und genehmigte sich einen Schluck Whisky, "solange er uns nicht auf die Pelle rückt, soll es uns egal sein, was Saddy?"
Der Fremde machte keinerlei Anstalten noch näher zu rücken oder gar auf ein Schwätzchen vorbeizukommen. Er saß einfach nur da, hielt sich an seiner Angel fest und starrte ins Wasser. Paul war zufrieden und gewöhnte sich an die Nähe des anderen. Bald beachtete er ihn überhaupt nicht mehr.
Fast zwei Stunden vergingen, bis der Schwimmer zum ersten Mal verdächtig zuckte. Paul griff nach der Angel und erhob sich langsam. "Achtung Saddy, ich glaube, da hat endlich einer Appetit gekriegt", flüsterte er. Der Collie hob den Kopf und spähte flussaufwärts. Der andere Angler verschwand eben im Wald. Aber das bekam Paul nicht mit. Konzentriert beobachtete er den Schwimmer. Der zuckte wieder und verschwand endlich unter der Wasseroberfläche. Paul zog an. "Ha! Wir haben ihn, Saddy, wir haben ihn, und was für einen Apparat!"
Normalerweise beantwortete der Collie Pauls Freudenschreie bei solchen Anlässen mit lautem Bellen. Heute aber schien er kein Interesse an Fischen zu haben. Er war aufgestanden und spitzte die Ohren in Richtung Waldrand.
"He, Saddy - ein Riesenkerl! Willst du mir nicht gratulieren?!" Paul lachte grölend. Die Angelrute bog sich gewaltig, und der Fisch kämpfte um sein Leben. Das waren die seltenen Augenblicke, in denen Major Paul Russel sich freuen konnte wie ein kleiner Junge. "Eine Forelle, verdammt, die hat mindestens vier Pfund!"
Der Hund lief ein paar Schritte auf den Waldrand zu und begann zu knurren. Paul runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht. "Was'n los, Saddy?", krächzte er, ohne den zappelnden Fisch aus den Augen zu lassen. Das Wasser spritzte bis ans Ufer, und endlich konnte er die riesige Forelle aufs Trockene reißen. In dem Augenblick jaulte der Collie auf und warf sich auf den Rücken. Er wand sich winselnd im Gras und schnappte nach seinem eigenen Brustfell.
Paul zog den Fisch vom Ufer weg und stürzte zu seinem Hund. "Verflucht, Saddy!" Kniend beugte er sich über ihn, doch erst als die strampelnden Bewegungen des Collies erlahmten, konnte Paul sein Brustfell untersuchen. Er tastete etwas Sprödes und zog einen kleinen Pfeil mit einem roten Federschaft aus dem Hundefell. Saddys Läufe erschlafften, er streckte sich ins Gras und hörte auf zu winseln.
Fassungslos starrte Paul auf den Pfeil. Plötzlich fuhr ihm ein brennender Schmerz ins Genick. Er sprang schreiend auf und riss sich einen Pfeil aus dem Nacken. Ein trockenes Floppen drang aus dem Buschwerk am Waldrand, als hätte jemand eine Pressluftflasche kurz auf- und gleich wieder zugedreht. Der zweite Pfeil traf ihn zwischen den Rippen. Paul hatte schon keine Kraft mehr, ihn herauszuziehen. Er spürte, wie seine Knie weich wurden. Mit weit aufgerissenen Augen sah er das Gebüsch unter den Birken sich teilen. Ein Mann kam langsam auf ihn zu. Der andere Angler. In der Hand hielt er ein langes Rohr. Paul erkannte ihn sofort. "Al ..."
Paul schlug hart auf dem Boden auf. Der mit dem Blasrohr beugte sich über ihn und riss ihm den Pfeil aus der Brust. Der Major hob nicht mal die Hand, um sich zu wehren. "Mit besten Grüßen auch von Ronnie und Gino", grinste der andere und entfernte sich.
Das Letzte, was Paul Russel sah, war die Forelle. Direkt vor seinem Gesicht tanzte sie auf und ab und schnappte nach Luft. Paul starb noch vor dem Fisch.
7
Wir waren von New York City aus etwa 65 Meilen durch das Hudson Valley nach Norden geflogen. In der Gegend von Kingston zog der Pilot den Helikopter nach Westen. Vor uns lagen jetzt die sanft geschwungenen Bergkuppen der Catskill Mountains. Der Copilot mit der Karte in der Hand deutete auf den Lauf eines kleinen Flusses, der sich etwa zweihundert Meter südlich unseres Kurses durch den dichten Wald schlängelte. Der Pilot ließ die Maschine nach links wegsacken.
Immer wenn ich in diese unverschämt schöne Gegend kam - es war selten genug - fiel mir mein Geographielehrer ein. Der pflegte über die Catskills zu sagen, sie seien die schönste Gegend der Welt. >Das Paradies, in dem Milch und Honig fließt<, hatte er diese Landschaft sogar mal genannt. Nun gut - mit dem Paradies hatte ich noch nie viel im Sinn. Und wir wollten hier auch nicht Milch und Honig suchen, sondern interessierten uns für den Schauplatz eines Mordes und für eine Leiche. Aber ich musste meinem alten Pauker recht geben - einfach atemberaubend, die Catskill Mountains. Kaum zu glauben, dass nicht mal eine Flugstunde entfernt Great Babylon seine Betonkrallen in den grauen Smogdunst reckte.
Milo, neben mir im Heck der Maschine, schien sich gerade zu überlegen, ob er seinen Urlaub nicht in irgendeiner Blockhütte zwischen den Hügeln dort unten verbringen sollte. Schweigend starrte er durch das Seitenfenster auf die grandiose Wildnis herab. Schon seit einer halben Stunde hatte er kein Wort mehr gesagt.
Ich neigte mich zu ihm. "Verdammt schöne Gegend, was?!", brüllte ich, um den Rotorenlärm zu übertönen, der die Kabine erfüllte.
Milo fuhr herum und nickte geistesabwesend. Offenbar hatte ich ihn aus irgendwelchen hübschen Gedanken gerissen. "Keine noch so schöne Gegend ohne Killer!", brüllte er zurück. Da hatte ich's wieder - von wegen Paradies. Immerhin war mein gottesfürchtiger Geographielehrer widerlegt. Also gut - wir waren hier nicht, um Urlaub zu machen, sondern unseren Job. Mein Partner mit seiner trockenen Art hatte mich auf den Teppich geholt.
Der Helikopter flog nur wenige Meter über den Baumwipfeln. Wir folgten zehn Minuten lang dem Lauf des kleinen Flusses. Ein schmaler, asphaltierter Waldweg war zeitweise zwischen den Wipfeln zu erkennen. Mal verlief er ein paar hundert Meter am Fluss entlang, dann krümmte er sich wieder in den Wald hinein. Wohl eine Seitenstraße, die von der Route 28 in die Catskills hineinführte.
Eine Lichtung öffnete sich, und der Copilot deutete energisch auf sie. Ich presste mein Gesicht an die Scheibe. Es war ein Waldparkplatz. Ein gutes Dutzend Fahrzeuge stand darauf. Auf einem blinkte ein rotes Licht. Ich entdeckte zwei Männer. Sie winkten zu uns herauf. Der Pilot drehte eine Runde über dem Parkplatz und setzte dann zur Landung an. Milo riss die Seitentür auf und beugte sich heraus. "Zwei Meter weiter nach links!", brüllte er dem Piloten zu. "Ein Stück zurück! Gut so!" Er lotste den Piloten zwischen eine riesige Pfütze und ein mannshohes Gebüsch, das mitten auf dem Parkplatz wucherte. Ein Ruck ging durch die Maschine, und wir setzten auf.
Ich sprang aus dem Helikopter und rannte gebückt unter den Rotoren durch auf die beiden Männer zu. Fast gleichzeitig mit Milo war ich bei ihnen. Sie drückten uns flüchtig die Hände und nannten ihre Namen, die ich wegen des Rotorenlärms nicht verstand. Egal - ich kriegte mit, dass es sich um Beamte der State Police handelte, und das reichte mir. Genau die hatte ich erwartet. Sie eilten uns voraus in den Wald.
Nach fünf Minuten kamen wir am Fluss an. Eine Menge Leute machten sich im Gras und im Gebüsch zu schaffen. Beamte der New York State Police, die meisten in Zivil. Wahrscheinlich die Spurensicherung des Bureau of Investigation. Aus einer Gruppe löste sich ein Mann in einem hellen Sommeranzug und mit tiefschwarzer Hautfarbe. Einer von diesen baumlangen, breitschultrigen Burschen, wie man sie sonst nur in Basketballmannschaften findet. Er kam auf uns zu und entblößte sein beneidenswert weißes Gebiss.
"Hello, Mr. Trevellian, Mr. Tucker! Schön, dass Sie so schnell kommen konnten!" Er begrüßte uns wie zwei alte Bekannte. So gründlich ich auch die Karteien in meinen grauen Zellen durchwühlte - mir wollte beim besten Willen nicht einfallen, wo ich dieses Prachtstück von Mann schon einmal gesehen hatte. "Schon viel von Ihnen gehört", plauderte er munter drauf los, "ich bin Captain Nelson Rockford vom BI. Hab' Sie gleich benachrichtigen lassen. Gestern erst hab' ich gehört, dass Sie sich mit Leichen wie unserer hier befassen. Kommen Sie."
Genau genommen waren es drei Leichen, zu denen er uns führte. Die des Fisches und die des Mannes lagen sich Auge in Auge gegenüber. Es war grotesk. Milo schüttelte den Kopf und seine Augenbraue zuckte. Wenige Schritte in Richtung Waldrand lag noch ein toter Collie. "Eine Pfadfindergruppe hat sie entdeckt", erklärte Rockford.
Eine blonde Frau in weißen Jeans und rotem T-Shirt hockte neben dem seltsam verkrümmten und korpulenten Körper des ermordeten Mannes. Sie nickte uns kurz zu. "Eintritt des Todes vor ca. sechs Stunden", dozierte sie, ohne uns weiter zu beachten, "Todesursache: Ersticken. Zwei kleine Einstichstellen, eine im Nacken und eine an der Brustseite, hier." Sie wies auf einen kleinen Blutflecken auf dem beigen Polohemd des Toten.
Der Captain räusperte sich. "Dr. Anderson", stellte er die Frau vor.
Vermutlich wollte er auch uns noch vorstellen, aber die Polizeiärztin unterbrach ihn. "Im Brustfell des Hundes fand sich eine ähnliche Einstichstelle. Sicher ist nur, dass er ebenfalls erstickt ist."
Die Lady schien zu der Sorte Frauen zu gehören, die dazu neigten, ihren Job zu ernst zu nehmen. Ein eisiger Hauch ging von ihr aus. Und hübsch war sie - genau der Typ Frau, auf den mein Partner abfuhr. Unwillkürlich schaute ich Milo an. Tatsächlich hing ein Leuchten in seinem Blick, und seine Augen hatten sich grinsend auf die Gestalt der jungen Ärztin geheftet. "Und woran starb der Fisch?", wollte er wissen.
Sie fuhr herum und schickte ihm einen giftigen Blick hinauf. Dann ließ sie sich zu einem Lächeln herab. "Ich schicke ihnen gern den Obduktionsbericht, Mister."
Ich war zwar gespannt, wie Milo es anstellen wollte, diesen Eisberg zu schmelzen, aber noch mehr interessierte mich der Tote. "Haben Sie schon die Identität des Mannes?", wandte ich mich an den athletischen Captain.
"Paul Russel", er winkte mit einem Führerschein, "lebt in Westpoint, arbeitet dort in der Kadettenschmiede. Er ist ... er war Major der Army." Milo riss seine Augen von der blonden Lady los. Wir sahen uns schweigend an. Mir war klar, dass er dasselbe dachte wie ich. Während Milo die Fakten notierte, packte ich mein Handy aus und verzog mich unter die Bäume.
Kurz darauf war ich mit der Perlman-Witwe verbunden. Es war genauso, wie ich es befürchtet hatte: Auch dieser Russel hatte zum Club der Vietnamveteranen gehört, er war sogar mit auf dem Männergruppenbild drauf. "Wären Sie so freundlich, uns dieses Foto vorübergehend zur Verfügung stellen, Mrs. Perlman?" Sie war so freundlich, und ich rief in der Zentrale an, damit jemand das Bild abholte.
Zurück am Tatort bekam ich gerade noch mit, wie die Ärztin und Milo Karten austauschten. Ich unterdrückte ein Grinsen - dieser Kerl! So zuverlässig er als Partner war, so genial erwies er sich auch, wenn es darum ging, unerreichbare Frauenherzen zu knacken. Ich nahm mir vor, ihm gelegentlich zu sagen, dass ich stolz auf ihn bin. "Ich wäre so weit, Jesse", er schwenkte seinen vollgeschriebenen Notizblock und wandte sich dann wieder an die Lady, die plötzlich gar nicht mehr wie ein Eisberg wirkte, "also abgemacht, ich ruf' Sie an!" Sie winkten sich zu, und wir verschwanden im Wald.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (ePUB)
- 9783738909258
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (April)
- Schlagworte
- todesgrüße vergangenheit thriller