Zusammenfassung
In dieser Zeit bricht die STERNENKRIEGER, ein Raumkreuzer des Space Army Corps , unter einem neuen Captain zu gefährlichen Spezialmissionen in die Weite des fernen Weltraums auf...
Alfred Bekker schrieb die fesselnden Space Operas der Serie CHRONIK DER STERNENKRIEGER. Seine Romane um DAS REICH DER ELBEN, die GORIAN-Trilogie und die DRACHENERDE-SAGA machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er schrieb für junge Leser die Fantasy-Zyklen ELBENKINDER, DIE WILDEN ORKS, ZWERGENKINDER und ELVANY sowie historische Abenteuer wie DER GEHEIMNISVOLLE MÖNCH, LEONARDOS DRACHEN, TUTENCHAMUN UND DIE FALSCHE MUMIE und andere. In seinem Kriminalroman DER TEUFEL VON MÜNSTER machte er mit dem Elbenkrieger Branagorn eine Hauptfigur seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einem höchst irdischen Mordfall. Zuletzt erschien DER BEFREIER DER HALBLINGE bei Blanvalet.
INHALT
Band 25 Aussichtslos
Band 26 Schläfer
Band 27 In Ruuneds Reich
Band 28 Die verschwundenen Raumschiffe
Band 29 Die Spur der Götter
Band 30 Mission der Verlorenen
Band 31 Planet der Wyyryy
Band 32 Absturz des Phoenix
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Chronik der Sternenkrieger, Band 25 bis 32 – Großband 4
von Alfred Bekker
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Ein CassiopeiaPress E-Book
© 2014 by Alfred Bekker
© der Digitalausgabe 2014 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich (Westf.)
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Mitte des 23. Jahrhunderts werden die von Menschen besiedelten Planeten durch eine kriegerische Alien-Zivilisation bedroht. Nach Jahren des Krieges herrscht ein brüchiger Waffenstillstand, aber den Verantwortlichen ist bewusst, dass jeder neue Waffengang mit den Fremden das Ende der freien Menschheit bedeuten würde. Zu überlegen ist der Gegner.
In dieser Zeit bricht die STERNENKRIEGER, ein Raumkreuzer des Space Army Corps , unter einem neuen Captain zu gefährlichen Spezialmissionen in die Weite des fernen Weltraums auf...
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Alfred Bekker schrieb die fesselnden Space Operas der Serie CHRONIK DER STERNENKRIEGER. Seine Romane um DAS REICH DER ELBEN, die GORIAN-Trilogie und die DRACHENERDE-SAGA machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er schrieb für junge Leser die Fantasy-Zyklen ELBENKINDER, DIE WILDEN ORKS, ZWERGENKINDER und ELVANY sowie historische Abenteuer wie DER GEHEIMNISVOLLE MÖNCH, LEONARDOS DRACHEN, TUTENCHAMUN UND DIE FALSCHE MUMIE und andere. In seinem Kriminalroman DER TEUFEL VON MÜNSTER machte er mit dem Elbenkrieger Branagorn eine Hauptfigur seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einem höchst irdischen Mordfall. Zuletzt erschien DER BEFREIER DER HALBLINGE bei Blanvalet.
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INHALT
Band 25 Aussichtslos
Band 26 Schläfer
Band 27 In Ruuneds Reich
Band 28 Die verschwundenen Raumschiffe
Band 29 Die Spur der Götter
Band 30 Mission der Verlorenen
Band 31 Planet der Wyyryy
Band 32 Absturz des Phoenix
Band 25 Aussichtslos
Captain Brabak Gossan blickte gebannt auf den Panorama-Schirm des Sondereinsatzkreuzers MARIA STUART. Zwei Drittel des Schirms wurden von der scheinbar dreidimensionalen Darstellung eines Morrhm-Mutterschiffs eingenommen. Dem abgehörten Funkverkehr nach, war es durchaus möglich, dass es sich sogar um das Flaggschiff jenes Verbandes handelte, dem das Space Army Corps im Kessimu-System eine Falle gestellt hatte.
„Gauss 1 bis 6 weiter auf Dauerfeuer!“, befahl Lieutenant Commander Brett Carlos, der Taktikoffizier, den Waffenoffizieren der nach vorne ausgerichteten schwenkbaren Gauss-Geschütze. Dutzende von Treffern rissen jetzt die Außenhülle des gewaltigen Schiffes auf.
„Captain, wir empfangen das Peil-Signal eines Kommunikators, wie er dem Standard-Modell des Space Army Corps entspricht“, meldete Lieutenant Terry Knight, der rothaarige Funkoffizier. „Es ist Captain Sunfrost!“
*
Captain Gossan hielt es jetzt nicht länger im Kommandantensessel. Er erhob sich. „Auf den Schirm damit, Lieutenant Knight!“, befahl er.
„Jawohl, Sir.“
Knight nahm ein paar Schaltungen an seiner Konsole vor. Mit angestrengtem Gesicht glitten seine Finger über den Touchscreen und berührten in atemberaubender Geschwindigkeit Dutzende von Sensorpunkte, deren genaue Position dem Funkoffizier der MARIA STUART längst in Fleisch und Blut übergegangen waren.
Auf dem Hauptschirm wurde die Außenansicht des Morrhm-Mutterschiffs inzwischen durch ein grobkörniges, zitterndes Bild ersetzt.
Eine Frau von Anfang dreißig in der Uniform des Space Army Corps war zu sehen. Allerdings wirkte die Uniformjacke stark ramponiert. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Ihr Gesicht wirkte eingefallen und bleich. Mein Gott, sie ist kaum wieder zu erkennen, dachte Gossan. Die Gefangenschaft muss sie so gezeichnet haben...
„Hier spricht Captain Rena Sunfrost. Ich...“
Der Ton brach ab.
Das Bild begann zu zittern.
„Die Übertragung bricht ab“, stellte Lieutenant Knight fest. „Das Signal ist zu schwach.“
„Wir dürften uns ohnehin im Reichweitengrenzbereich von Captain Sunfrosts Kommunikator befunden haben“, ergänzte Ortungsoffizierin Lieutenant Petra DeKerk.
Das Bild verschwand und machte wieder einer Außensicht des Morrhm-Schiffes Platz. DeKerk schaltete eine schematische Ansicht des Mutterschiffs der Weltraumbarbaren auf ein Bildschirmfenster. Ein roter Punkt blinkte im oberen Drittel des Schiffes auf. „Das ist die letzte Peilung der Position von Captain Sunfrost“, erklärte DeKerk.
„Captain, wir müssen etwas tun, um die Sklaven an Bord zu retten“, meldete sich Commander Brent Davis zu Wort. Der Erste Offizier der MARIA STUART blickte auf die Anzeigen seiner Konsole und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Es werden Tausende von Biozeichen aufgezeichnet. Die meisten davon scheinen K'aradan zu gehören. Mal ganz abgesehen davon, dass auch das Schicksal eines Space Army Corps Offiziers auf dem Spiel steht, dürften es uns unsere K'aradan-Verbündeten ziemlich übel nehmen, wenn wir eine allzu rücksichtslose Vorgehensweise an den Tag legen.“
„Finden Sie, wir gehen zu rücksichtslos vor, I.O.?“, stellte Captain Gossan eine Gegenfrage.
„Ich kritisiere nicht ihre Vorgehensweise, sondern gebe nur zu bedenken, dass wir diesen Aspekt nicht aus den Augen verlieren sollten!“
Captain Brabak Gossans Gesicht gefror zu einer Maske. Das einzige, was man nicht gebrauchen kann, wenn man den Befehl hat, mehrere, nicht miteinander vereinbare Ziele zu erreichen, ist Klugscheißerei, ging es ihm ärgerlich durch den Kopf. Seine Nerven waren bis auf das äußerste gereizt, auch wenn er davon nichts nach außen dringen ließ. Natürlich wollte er die Gefangenen möglichst schonen. Andererseits war es unumgänglich, dass so viele der Morrhm-Mutterschiffe zerstört wurden wie möglich, damit diese Plage der Randgebiete des K'aradan-Reichs endlich ein Ende hatte. Andernfalls war damit zu rechnen, dass die Weltraumbarbaren ihre Raubzüge bis auf unbestimmte Zeit fortsetzten.
In diesem Augenblick meldete Gauss 1 mehrere Jäger von Backbord, die wenige Augenblicke zuvor die Hangars auf dem Mutterschiff verlassen hatten.
Lieutenant Commander Brett Carlos koordinierte den Gegenangriff.
Die Morrhm-Jäger zerbarsten wenig später einer nach dem anderen im Feuer der Gauss-Geschütze. Trümmerteile irrlichterten durch das All. Die Geschosse der MARIA STUART trafen teilweise auch den Bereich um den Hangarschott. Die gesamte Sektion des Morrhm-Schiffes platzte förmlich auseinander.
„Feuer einstellen!“, befahl Captain Gossan.
„Sir, die Distanz zum Morrhm-Schiff fällt unter 30 000 Kilometer“, stellte Commander Brent Davis fest. Der Erste Offizier hob die Augenbrauen und überprüfte noch einmal den Entfernungsmesser.
„Bremsmanöver einleiten, Ruder!“, lautete Gossans Befehl.
Lieutenant Kjell Hansson, seines Zeichens Rudergänger der MARIA STUART, wurde von zunehmender Hektik ergriffen. Immer wieder tickten seine Fingerkuppen auf die entsprechenden Sensorpunke des Untermenues der Schiffsteuerung. Ohne Reaktion.
„Sir, das Bremsmanöver lässt sich nicht auslösen.“
„Notbremsung mit Überbrückung des Hauptrechners“, mischte sich Brett Carlos ein.
„Das System reagiert nicht“, berichtete Kjell Hansson. Sein Gesicht war aschfahl geworden. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. „Partieller Systemausfall!“
„Wie ist da möglich?“, fragte Gossan.
„Möglicherweise steht das Teilversagen unseres Bordrechners in Zusammenhang mit der Transmission, die wir gerade bekommen“, meldete sich jetzt Lieutenant Knight zu Wort. Der rothaarige Kommunikationsoffizier überprüfte ein paar Einstellungen.
Gossan trat an Knights Konsole heran und blickte ihm über die Schulter. „Von was für einer Transmission reden Sie da?“
„Das wüsste ich auch gerne. Wir bekommen über ein sehr eigenartiges Signal Datensätze in unsere Speichersysteme eingespielt.“
„Ich habe den Vorgang hier auf der Anzeige!“, erklärte Commander Davis.
„Wer schickt uns da etwas? Admiral Nainovel von der LEVIATHAN?“, knurrte Gossan.
„Die Richtung stimmt“, sagte Davis. „Aber das Signal stammt nicht von der LEVIATHAN, sondern von Tamo...“
Davis aktivierte eine schematische Übersicht des Kessimu-Systems und zoomte den Doppelplaneten Kessira-Tamo heran. Der Ursprungsort lag tief unter der Eiskruste von Tamo.
„Übertragung unterbrechen!“, befahl Gossan.
„Unterbrechung unmöglich“, meldete Terry Knight. Der Rothaarige versuchte es noch mit einer Überbrückungsschaltung, aber die funktionierte einfach nicht. Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück. „Tut mir leid Sir, da hat uns jemand die Kontrolle über den Bordrechner aus der Hand genommen.“
Gossans Augen verengten sich. Er wandte sich an Davis. „I.O., was ist das für eine Transmission, die uns da erreicht?“
„Sieht aus wie Datenmüll, Sir. Völlig sinnlose Zeichenkolonnen, die unsere Speichermodule überlaufen lassen.“
„Heißt das, wir haben mit weiteren Systemausfällen zu rechnen?“
„Ganz sicher, Captain.“
„Wir werden in einer Viertelstunde mit dem Mutterschiff kollidieren, wenn es uns bis dahin nicht gelingt, die Kontrolle über die Steuerung zurückzuerlangen“, meldete Hansson.
Gossan ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten.
„Na, großartig“, knurrte er. „DeKerk! Alarmmeldung an Admiral Nainovel!“
„Sir, kein Peilsignal und keine ID-Kennung der LEVIATHAN mehr anmessbar!“, rief Knight.
Commander Brent Davis bestätigte dies, nach einem Blick auf seine Anzeigen, die zumindest noch teilweise funktionierten. „Die LEVIATHAN ist funktechnisch genauso tot wie die STAR CHASER und die STERNENKRIEGER“, stellte er fest.
„Mister Knight, senden Sie den Alarmspruch trotzdem ab. Wir wissen schließlich nicht, ob wir unseren Instrumenten noch trauen können und vielleicht empfängt ihn ja doch noch jemand.“
*
Eine weitere Erschütterung erfasste die VONDRASH. Der Widerhall mehrerer Explosionen in den äußeren Sektionen des Flaggschiffs der Zuur-Morrhm ließ den Boden vibrieren.
Rena Sunfrost verlor kurz das Gleichgewicht und musste sich an der Wand des Korridors festhalten.
Ihr Gegenüber stieß einen Laut aus, der Ähnlichkeit mit einem dröhnendem Gelächter besaß, dessen genaue Bedeutung sich aber weder Rena noch der Translator ihres Space Army Corps Kommunikators zu interpretieren getraute.
Atraan, der breitschultrige Stammeshäuptling der Zuur-Morrhm, parierte die Erschütterung einfach mit einem weiten Ausfallschritt seines rechten Beins. Die Beine der Morrhm waren sehr stämmig, die Füße so groß, dass die Weltraumbarbaren auch unter ungünstigsten Bedingungen einen sicheren Stand hatten.
Er öffnete das breite Maul mit den keilerartigen Hauern. Aber noch ehe er einen artikulierten Laut hervorbringen konnte, hatte Rena bereits das Wort ergriffen.
Es kümmerte sie dabei nicht im mindesten, dass dies einer Sklavin nicht zustand.
Es ging jetzt um alles oder nichts. Die Morrhm schickten sich an, das Schiff zu verlassen und hatten offenbar nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, was aus den Tausenden von Sklaven – überwiegend K'aradan, aber auch Angehörige von mehreren Dutzend anderen Rassen – werden sollte.
„Hängt ihr Morrhm nicht auch am Leben?“, fragte Rena Sunfrost.
Atraan sah sie an.
Sie – sein Eigentum, das ihm weit weniger wert war, als das Monoschwert oder die plump anmutende, aber dafür panzerbrechende Projektilpistole an seinem Gürtel.
„Nicht so wie ihr“, erwiderte Atraan. „Ein Morrhm-Krieger bezieht die Möglichkeit des eigenen Todes stets in seine Überlegungen ein. Er weiß, dass die Wahrscheinlichkeit eines frühen Endes viel größer als die eines langen Lebens ist. Und er weiß auch, dass es nicht darauf ankommt, eine lange Zeitspanne unter den Augen der Götter gewandelt zu sein. Wir sind alle irgendwann in Trooms Reich, aber bis dahin kommt es darauf an, ruhmreiche Taten zu vollbringen...“
„Wie ruhmreich ist es, Sklaven auf einem explodierenden Schiff zurückzulassen?“
„Wie ruhmreich ist es, all den Besitz hier zurückzulassen, den wir nicht in unseren Shuttles mitnehmen können, du Närrin! Das ist dasselbe. Etwas, über das sich ein Morrhm-Krieger keine Gedanken macht.“ Er trat näher. Eine der Frauen des Häuptlings steckte ihren mit Hauern bewehrten Kopf durch die Tür.
Es war Poggra. Rena Sunfrost erkannte sie daran, dass ihr der Hauer rechts unten abgebrochen war – bei einem besonders heftig durchgeführten Beißritual, wie die anderen Frauen Atraans lästerten.
„Es wird Zeit, Gebieter.“
Atraan drehte sich zu ihr um.
„Behalte deinen Speichel und geh schon mal“, sagte er. Wie Rena inzwischen wusste, bedeutete die Aufforderung, seinen Speichel zu behalten, eine durchaus höflich gemeinte Aufforderung, ein Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt in intimerem Rahmen zu verschieben.
Poggra war als keineswegs beleidigt, sondern stieß einen gurrenden Laut aus, der bei weiblichen Morrhm Ausdruck höchster Vorfreude war.
Bei männlichen Morrhm war die Bedeutung desselben Lauts keineswegs so genau festgelegt, sondern hing stark vom Kontext ab. Zwischen offener Aggression und dem Ausdruck einer Emotion, die man wohl als das Morrhm-Äquivalent für Zuneigung bezeichnen musste, war alles möglich und wie man die jeweilige Bedeutung herausfinden konnte, hatte Rena in all der Zeit, die sie nun schon unter den Weltraumbarbaren zubrachte, noch nicht herausfinden können.
„Warte nicht mehr zu lange, mein Lieblingsschlächter“, gurrte sie. „Ich kann es kaum erwarten, wie du das Blut von Kommandant Taur spritzen lässt, wenn du ihm sein Schiff wegnimmst!“
Mit diesen Worten verschwand Poggra.
Da kann sich ja jeder Ehemann nur glücklich schätzen, wenn er so ein holdes Weib errungen hat, ging es Rena durch den Kopf. Und in Atraans Fall sind es ja sogar gleich mehrere dieser Grazien...
Der Häuptling der Zuur-Morrhm näherte sich Rena bis auf einen Schritt.
So nahe, dass sie den ziemlich intensiven Ledergeruch in der Nase hatte, der von seinem Gürtel und den Schulterriemen ausging.
„Vielleicht hat es für den weiteren Verlauf der Schlacht einen Vorteil für uns, wenn ich euch zur Rettung verhelfe...“
„Ja, vor allem im Fall einer Gefangenschaft!“
„Das ziehe ich weniger in Betracht. Vor allem denke ich daran, dass ein Teil eurer Kräfte durch die Rettungsarbeiten gebunden wird. Und das Schiff, das uns angegriffen hat, wird ganz sicher in der Nähe der VONDRASH bleiben, bis sie explodiert.“ Ein glucksender Laut drang tief aus der Kehle des Häuptlings. „Komm mit mir, Sklavin. Ich werde dir etwas zeigen!“
*
Der Morrhm-Häuptling brachte Sunfrost in den Maschinentrakt. Über seinen Kommunikator nahm er zwischenzeitlich Kontakt mit Poggra und seinem Clan auf. Schließlich hatte er keineswegs die Absicht, an Bord der VONDRASH zurückgelassen zu werden. Die Selbstzerstörungsanlage war schließlich aktiviert.
Unterwegs versuchte Rena über ihren Kommunikator Kontakt zu den sich offenbar nähernden Space Army Corps Einheiten zu bekommen.
Möglicherweise lag eines der Schiffe ja in Reichweite.
Schließlich empfing sie sogar die ID-Kennung der MARIA STUART.
Gott sei Dank, durchfuhr es sie.
Sie meldete sich. Auf dem Mini-Display erschien das von Schlieren durchzogene Gesicht von Captain Brabak Gossan. Ein bekanntes Gesicht nach all der Zeit als Sklavin... Nichts kann besser für die nötige Dosis Euphorie sorgen, die ich wohl brauchen werde, um den Rest auch noch durchzustehen! Gleichgültig, wie dieses ganze Spiel auch immer enden mag...
Sie hatte kaum einen einzigen Satz herausbringen, geschweige denn die MARIA STUART vor der drohenden Explosion warnen können, als die Verbindung bereits wieder abgebrochen war. So sehr sie auch an ihre Gerät herumschaltete, sie ließ sich nicht wiederherstellen.
„Gib es auf, Sklavin“, sagte Atraan schließlich.
Rena glaubte, die non-verbalen Signale, die diese Äußerung begleiteten, inzwischen gut genug interpretieren zu können, um ein gewisses Amüsement erkennen zu können.
Am besten ich mache gar nicht erst den Versuch, die Psyche eines Morrhm verstehen zu wollen, ging es ihr durch den Kopf. Gleichzeitig versuchte sie, ihren Hass zu unterdrücken. Denn sie wusste, dass sie der nicht weiterbringen würde. Es hieß jetzt einen kühlen Kopf zu bewahren. Alles andere führte nur in eine Sackgasse. Du hast keine Chance, also kannst du sie auch nutzen.
Überall an Bord der VONDRASH herrschte das blanke Chaos. Sklaven der unterschiedlichsten Herkunft und Morrhm, die zu den Hangars gelangen wollten, begegneten sich auf den Korridoren. Niemand bewachte noch die Gefangenen. Hier und da versuchten einige der K'aradan-Sklaven, die Gelegenheit auszunutzen und ihre Wut an den offensichtlich auf dem Rückzug befindlichen Morrhm auszulassen. Es war der Mut der Verzweiflung, der sie dazu trieb, denn natürlich hatten sie unbewaffnet nicht den Hauch einer Chance. Immer wieder waren grässliche Schreie zu hören. Und manchen, die von Monoschwertern zerhackt wurden, blieb nicht einmal mehr dazu die Gelegenheit.
Über einen per Kommunikator ausgegebenen Rundspruch erfuhr Atraan – und damit auch Rena –, dass eine Hangarsektion durch Treffer des Gegners vollkommen zerstört war.
Atraan dirigierte daraufhin über Funk seinen Clan zu einer anderen Hangarsektion um.
Als Poggra ihn mit Fragen darüber zu nerven begann, was er denn noch so Dringendes zu erledigen hätte, schaltete er ihre leise, gurgelnde Stimme einfach ab.
Schließlich erreichten sie einen Kontrollraum.
Die Bedienungsmannschaft hatte ihn längst verlassen.
Ganz in der Nähe war eine Explosion zu hören.
Der Boden erzitterte und Rena dachte für einen Moment darüber nach, dass das Chaos im Maschinentrakt wahrscheinlich mit einem deutlich erhöhen Niveau an Radioaktivität einherging. Aber das ist jetzt alles nicht mehr so wichtig... Hauptsache dieses Inferno überleben und dabei nicht diejenigen ins Verderben ziehen, die hier im Kessimu-System gewartet haben, um diesen Marodeuren das Handwerk zu legen...
Atraan aktivierte eine Konsole.
Sie reagierte mit einem Lichtblitz an der Stelle, an der sich eigentlich eine Anzeige hätte öffnen müssen.
Beißender Qualm stieg aus dem Gehäuse auf.
Atraan kümmerte sich nicht weiter darum, sondern ging zur nächsten Konsole und hatte hier mehr Glück. Sie war noch in Betrieb. Er aktivierte die Anzeigen. Ein Teil der Wand verwandelte sich in einen Bildschirm, der sich wiederum in verschiedene Fenster teilte.
Eines dieser Fenster zeigte ein sich näherndes Raumschiff.
Atraan stieß einen Laut aus, der wohl nichts anderes als pure Überraschung signalisierte. Er wandte den Kopf in Renas Richtung. „Ich wusste gar nicht, dass dein Volk ein Anhänger der Hrrangor-Taktik ist“, stellte er fest.
„Ich auch nicht“, bekannte Rena. „Zumal ich keine Ahnung habe, was das sein soll!“
Atraan lachte dröhnend.
„Hrrangor ist ein Held unserer Geschichte. Und zwar aus einer Zeit, als wir angeblich nur auf einer einzigen Welt lebten und nicht mit Raumschiffen, sondern auf gewaltigen Flößen einen Ozean aus purem H20 befuhren. Natürlich glaubt heute niemand mehr diese Geschichten, aber auch wenn sich Mütter diese Geschichten ausgedacht haben mögen, um ihre Kinder zu erschrecken und sie dazu zu bewegen, ihnen zu gehorchen, wird die Taktik eines selbstmörderischen Angriffs, der die eigene Zerstörung miteinkalkuliert, noch heute nach diesem Helden namens Hrrangor benannt.“
„Ging es nicht eigentlich darum, dass du mir zeigen wolltest, wie wir Sklaven uns retten können?“, fragte Rena Sunfrost.
Sie hatte zunächst gezögert, diese Frage zu stellen. Schließlich war ihr durchaus klar, dass ihr Schicksal am seidenen Faden hing und Atraan es sich durchaus auch wieder anders überlegen konnte. Schließlich war sein Interesse an einer Rettung der Sklaven nicht gerade als überragend zu bezeichnen, sondern entsprang vielmehr einer halb boshaften Laune.
Atraan kümmerte sich nicht weiter um Renas Einwand.
Stattdessen schaltete er mit geradezu provozierender Ruhe an den Kontrollen der Konsole herum und veränderte den Darstellungsmodus. Eine schematische Darstellung samt Kursextrapolation des derzeitigen Kurses machte auch Rena auf den ersten Blick klar, dass das sich nähernde Space Army Corps Schiff auf einem Kollisionskurs war. Rena hatte das Schiff längst als Sondereinsatzkreuzer MARIA STUART identifiziert. Auch sie war jetzt durch den Kurs, den das Schiff eingeschlagen hatte, zutiefst irritiert.
Rena war zwar kein gelernter Rudergänger und der neue Mesonenantrieb der SEKs erlaubte ein deutlich erhöhtes Maß an Manövrierfähigkeit – aber dass dieses Schiff dem drohenden Zusammenprall wohl kaum noch ausweichen konnte, lag auf der Hand.
Was soll das? Hat Gossans Crew die Kontrolle über das Schiff verloren?
„Hrrangor forderte die Götter heraus. Der Totengott Troom hatte beschlossen, seine Seele zu nehmen, aber während normalerweise selbst jeder Morrhm-Krieger anerkennt, dass Troom die einzige Macht des Universums repräsentiert, der man sich nicht widersetzen kann, wollte Hrrangor dies nicht akzeptieren. Wenn es schon für ihn selbst keine Rettung geben sollte, dann doch wenigstens für alle, die nach ihm von diesem ständigen Begleiter aller Krieger heimgesucht wurde. Und so fasste er einen Plan.“
Ich für mein Teil wäre schon glücklich darüber, selbst einen Plan zu haben, wie ich Troom entkommen könnte, dachte Rena voller Ungeduld.
Die Ruhe, die der Morrhm-Häuptling an den Tag legte, war für Rena nur noch sehr schwer erträglich. Was will er mit seiner Erzählung bezwecken? Mir vorführen, wie sehr ich – im Gegensatz zu ihm – am Leben hänge? Aber eine so subtile, verfeinerte Form des Sadismus ist bei einem Barbaren wie ihm wohl kaum anzunehmen...
Atraan fuhr fort: „Hrrangor nahm sich vor, Troom zu besiegen. Als der Totengott ihm erschien, fuhr er ihm mit einem Floß entgegen, das bis zum Rand mit primitivem Sprengstoff gefüllt war. Als er Troom erreicht hatte und der Totengott ihn mit seinen finsteren Schattenarmen umfing, ließ er die Ladung hochgehen.“
„Ich nehme an, die Sache war ein Desaster“, versuchte Rena die Erzählung ungeduldig abzuschließen. „Schließlich hat der Tod nichts von seiner Macht eingebüßt.“
„Vollkommen richtig“, stimmte Atraan zu. „Hrrangor hat einfach nicht bedacht, dass man den Tod nicht töten kann...“
„Wie wahr!“
„Aber der Kommandant dieses Sichelschiffes scheint diese Erfahrung erst selbst machen zu wollen, dieser Narr!“
Man kann tatsächlich an einen Kamikaze-Angriff denken, überlegte Rena. Obwohl das nun wirklich nicht zu den taktischen Vorgehensweisen gehört, die man auf der Space Army Corps Akademie beigebracht bekommt!
Auf der Anzeige an der Wand sah Rena jetzt Kolonnen von Zeichen. Rena war noch weit davon entfernt, sie wirklich lesen zu können. Aber das Erstaunliche an diesen Zeichenkolonnen konnte selbst einer Analphabetin nicht entgehen.
Es ist immer dasselbe Zeichen! Wie Datenmüll! Als ob jemand die gesamte Information durch Nullen ersetzt hätte!
„Da scheint auch nicht mehr alles zu funktionieren“, knurrte Atraan. „Aber es wäre wohl ein Wunder, wenn es anders wäre.“ Er deutete auf das Display. „Auf den großen Schirm bekomme ich es jetzt nicht mehr, aber in etwa einer Viertelstunde werden sich mehrere Sauerstoffblasen aus einer speziellen, transparenten Kunststofffolie bilden. Das ist der einzige Weg für euch Sklaven, die VONDRASH noch zu verlassen!“
„Eine Sauerstoffblase?“, fragte Rena ungläubig.
„Was dagegen einzuwenden? Ihr könnt doch bekanntermaßen nur wenige Augenblicke lang ohne Sauerstoff auskommen.“
„Wir werden erfrieren!“
„Nur wenn sich die Blase direkt in einem planetaren Schatten befinden sollte. Ansonsten besteht eher die gegenteilige Gefahr – dass sich die Blase durch die Bestrahlung durch das Zentralgestirn aufheizt und ihr bei lebendigem Leib gegart werdet. Naja, ich nehme an, dass eure Leute alles tun werden, um euch schnell genug zu retten...“ Ein Laut, der an ein Kichern erinnerte, kaum zwischen den Hauern des Morrhm hervor. Schließlich fuhr er fort: „Ich habe das Programm initialisiert. Jetzt könnt ihr nur noch hoffen, dass euch Troom noch einmal das Tor zu seinem Reich des Todes versperrt. Wenn du das dreieckige Sensorfeld berührst, wird eine Rundspruchfunktion für das gesamte Schiff ausgelöst. Vorausgesetzt, sie funktioniert noch, kannst du damit die Evakuierung koordinieren.“ Atraan bedachte Rena mit einem Blick, wie sie ihn von dem Morrhm-Häuptling nie zuvor gesehen hatte. Er verzog den Mund in die Breite, sodass seine Hauer deutlicher hervortraten.
„Falls du in Gefangenschaft geraten solltest, werde ich an dich denken, Atraan“, sagte Rena.
„Du wirst in jedem Fall an mich denken, Sklavin.“
„Was ist mit der Selbstzerstörungssequenz?“
„Ich habe die zeitliche Codierung etwas verändert, das ist alles. Lass dich überraschen!“
„Was soll das heißen?“
„Ach, dass ihr Säugetierabkömmlinge auch immer die Langeweile einem ereignisreichen Leben vorziehen müsst! Leb wohl, Sklavin!“
Mit diesen Worten verließ der Häuptling den Raum und ließ Rena stehen.
Die Gedanken rasten nur so durch Renas Hirn.
Man kann alles Mögliche von ihm halten – nur sollte man seine Intelligenz niemals unterschätzen!
Die tiefere Absicht hinter Atraans Vorgehen schien plötzlich glasklar vor ihr zu liegen.
Sie ist so einfach! Er hofft, dass weitere Space Army Corps Schiffe durch die Blasen mit evakuierten Sklaven angelockt werden. Wenn dann das große Inferno losbricht, ist der Zerstörungseffekt um so größer.
*
„Gaus 1-4 evakuieren!“, befahl Lieutenant Commander Brett Carlos. „Die Sektion muss sicherheitshalber abgeschottet werden. Es steht ein Aufprall bevor und es ist mit schweren Schäden zu rechnen.“ Der Taktikoffizier der MARIA STUART wartete ungeduldig die Bestätigungen der betreffenden Waffenoffiziere ab.
Innerhalb von weniger als einer halben Minute war die Sektion evakuiert und abgeschottet.
Carlos machte eine entsprechende Meldung an den Captain.
Captain Gossan nickte zur Bestätigung nur leicht. Was jetzt geschieht ist nicht aufzuhalten, ging es ihm durch den Kopf.
„Maximaler Schwenk nach Steuerbord!“, meldete Hansson. Der Rudergänger hatte in den letzten Minuten wirklich alles getan, was in seiner Macht stand. Lieutenant Keith McCall, der Leitende Ingenieur, war in einer Interkom-Dauerkonferenz zugeschaltet worden und hatte zusammen mit seinem Team aus erstklassigen Technikern ebenfalls an diesem Problem gearbeitet. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Es war selbst bei voller Ausnutzung der durch den Mesonenantrieb gegebenen Manövriermöglichkeiten nicht zu verhindern, dass die MARIA STUART mit einem ihrer Sichelbögen die Außenhülle des Morrhm-Mutterschiffs touchierte.
Welche Auswirkungen das für beide Schiffe hatte, war noch überhaupt nicht abzuschätzen. Die Außenhülle des Morrhm-Mutterschiffs bestand aus einer Legierung, die über keine besonders ausgeprägten Panzereigenschaften zu verfügen schien. Zumindest ließ die Auswertung der aus dem bisherigen Gauss-Beschuss gewonnenen Daten diesen Rückschluss zu.
„Noch drei Minuten bis zum Kontakt“, meldete Kjell Hansson.
„Sir, weitere Systeme fallen durch Überlauf der Datenspeicher aus“, meldete unterdessen DeKerk.
„Zugriff dieses fremden Datenstrahls auf unseren Rechner ist nicht zu stoppen“, ergänzte McCall.
„Dann unterbrechen Sie einfach die Energiezufuhr, L.I.!“, entfuhr es Gossan mit hochrotem Kopf. „Schlimmer kann es dadurch auch nicht werden.“
„Energiezufuhr befindet sich nicht mehr in unserem Zugriff“, meldete McCall.
„Das kann ich leider nur bestätigen“, sagte Hansson.
„Captain!“, rief Lieutenant Knight. „Noch immer keine Antwort von Admiral Nainovel und dem Rest unserer Flottille. Das einzige, was ich momentan empfange, ist ein allgemeines Notrufsignal im Normalfunkbereich. Es stammt aus dem Orbit von Kessimu VII und beinhaltet die Kennung einer Landefähre der ALEXANDER.“
„Was ist mit der ALEXANDER?“
„Offenbar wurde sie von den Morrhm geentert. Es gibt nur eine Handvoll Überlebende. Und noch etwas: Diese Meldung ist mehrere Stunden alt.“
„Na großartig“, knurrte Gossan sarkastisch. „Dann können wir voller Optimismus unserem eigenen Untergang entgegenfliegen.
„Aufprall in wenigen Sekunden!“, rief Hansson.
Gossan ließ sich in seine Kommandantensessel nieder und hielt sich vorsorglich an den Handläufen fest.
Ein furchtbares, knarrendes Geräusch durchlief das Schiff. Der Bereich, in dem sich die Gauss-Geschütze 1-3 befanden, schrammte in die Außenhaut des Morrhm-Schiffes hinein. Sofort wurde der Totalausfall der betreffenden Waffenstationen gemeldet. Risse traten auf. Panzerplatten wurden deformiert und drückten sich ins Innere des Schiffes. Die Atemluft entwich aus der betreffenden Sektion, die glücklicherweise bereits abgeschottet war. Die MARIA STUART hakte sich fest und verlieh dem riesigen Morrhm-Raumer jetzt einen leichten Drall. Langsam begann eine chaotische Eigenrotation des Mutterschiffs.
„Starke Deformationen an der Halbsichelsektion auf Backbord“, meldete DeKerk.
„Captain, wir hängen fest!“, meinte Hansson. „Ohne eine Wiedererlangung der Antriebskontrolle kommen wir hier nicht weg.“
Das Licht begann zu flackern.
„Ich sagte ja, dass fortwährend weitere Teilsysteme durch den Überlauf der Datenspeicher in Mitleidenschaft gezogen werden“, kommentierte DeKerk dieses Ereignis. Sie drehte sich herum und wandte sich an den Ersten Offizier. „Mister Carlos, bitte überprüfen Sie doch die im Moment gerade eingehenden Daten...“
„Zwei Sauerstoffblasen“, murmelte dieser mit zerfurchter Stirn. „Den Taster-Daten nach besteht die Außenhaut aus einem äußerst widerstandsfähigen und transparenten Stoff auf Karbon-Basis.“
„Auf den Schirm damit!“, befahl Captain Brabak Gossan.
Petra DeKerk kam diesem Wunsch sofort nach.
Zu ihrer Überraschung funktionierte die hochauflösende Bildschirmdarstellung mit quasi dreidimensionaler Qualität noch fehlerfrei. Sicher nur eine Frage der Zeit, wann das nicht mehr der Fall sein wird, wenn diese Schwemme an Datenmüll weiter anhält, ging es DeKerk durch den Kopf.
Wie gigantische Kaugummiblasen wölbten sich die soeben georteten und mit einer Sauerstoffatmosphäre gefüllten Blasen an verschiedenen Stellen aus der Außenhülle des Morrhm-Mutterschiffs heraus. Zunächst waren es nur zwei, wie DeKerk gemeldet hatte. Aber schon bald wurden eine dritte und eine vierte Sauerstoffblase geortet.
„Captain, ich denke wir haben es mit einem sehr ungewöhnlichen Rettungssystem zu tun“, stellte Commander Brent Davis fest. „Zumindest kann ich innerhalb der Blasen die ersten Biozeichen von K'aradan und einigen anderen Lebensformen orten.“
„Was ist mit den Morrhm?“, fragte Gossan.
Brent Davis schüttelte nach eingehender Prüfung seiner Anzeigen bedauernd den Kopf. „Nein, bislang haben wir da leider keinen einzigen zu verzeichnen. Aber der Anteil der Menschen unter den Sklaven dürfte sehr gering sein, sodass es vielleicht auch nur eine Frage der Zeit ist, wann wir einen herausfiltern können.“
„Vorausgesetzt, unser Rechnersystem macht noch so lange mit“, gab Captain Gossan nachdenklich zurück. Letzteres war nämlich äußerst fraglich.
*
Poggra zoomte auf dem Hauptbildschirm des Sturm-Shuttles, mit dem auch Atraan die VONDRASH verlassen hatte, eine der Sauerstoffblasen heran, die jetzt aus der Außenhülle traten und sich soweit aufblähten, dass sie zu platzen drohten.
„Einzelne Säugetierabkömmlinge sind schon durch die transparente Karbon-Kunststoffhülle sichtbar“, stellte sie amüsiert fest. „Ahnen sie wirklich nicht, was dein Plan beinhaltet, mein skrupelloses Massenmörderlein?“
Atraan knurrte.
Der aasige Atem, der aus der dunklen Maulhöhle zwischen seinen Hauern hervordrang, bedeutete, dass sich beim Häuptling der Zuur-Morrhm die obere Magenklappe geöffnet hatte. Eine bei Morrhm typische physiologische Reaktion des Widerwillens. Atraan mochte es nämlich nicht, wenn seine Frauen ihn mit Kosenamen bedachten.
Zusammen mit Dutzenden von anderen vollkommen überfüllten Shuttles retteten sich die Morrhm der VONDRASH zu der baugleichen LASHGRA, die unter dem Kommando des Unterhäuptlings Taur stand.
„Wir bekommen eine Transmission von der LASHGRA“, meldete Poggra.
„Ist es Taur?“, knurrte Atraan.
„Seine persönliche Kennung ziert den Quellcode dieser Nachricht“, stellte Poggra fest. „Willst du diese aus Trooms Hölle überhaupt noch einmal einer Funkaudienz für würdig erachten?“
„Im Moment sind wir leider von ihm abhängig“, gab Atraan zu bedenken.
„Er würde es nicht wagen, etwas gegen dich zu unternehmen, solange der Kampf andauert.“
„Da magst du sogar recht haben“, antwortete Atraan. „Ganz egal, was man über Taur sagen mag – er hat ein gewisses Maß an Ehre.“
„Was vielleicht gleichbedeutend damit ist, dass er sich wie ein Dummkopf verhält.“
Atraan stieß einen Laut aus, der wie ein tief empfundenes Seufzen klang. Wie ich das hasse, dachte er. Aber Mord ist nun einmal unter uns Morrhm die Interaktionsform mit der längsten Tradition. Und das hat auch gewisse Vorteile – denn es gibt keine Form, die klarer wäre!
Gesicht und Oberkörper des Kommandanten Taur erschienen auf dem Hauptschirm des Shuttles.
„Sei gegrüßt, Häuptling der Zuur“, brachte Taur zumindest verbal den pflichtgemäßen Tribut dar, den er seinem Anführer gegenüber schuldig war. „Die Hilfe in der Not sei dir von Herzen gegönnt und die Hangartore der LASHGRA stehen für dich und die deinen offen!“
„Dafür danke ich dir“, erwiderte Atraan, der es hasste, in einer Situation zu stecken, in der er zu so einer Heuchelei gezwungen war.
Aber der Augenblick der Wahrheit sollte noch kommen.
Die Wahrheit des Monoschwertes. Alles andere zählt ohnehin nicht, überlegte er.
„Eine Frage hätte ich aber gerne von dir beantworte. Weshalb hilfst du den Sklaven dabei und hast dein Schiff nicht längst mit Hilfe der Selbstzerstörung in ein Inferno für den Feind verwandelt?“
„Das Inferno wird noch zu sehen sein, so wahr ich hier stehe. Es wird sich nur ein wenig verzögern. Und was die Gefangenen angeht, sie sind nur die Köder...“
„Eine Kriegslist hinter der Maske der Barmherzigkeit. Wer hätte das gedacht?“
Ja, glaube nur nicht, dass ich die Wahrheit hinter der Maske DEINER Barmherzigkeit nicht auch erkennen würde, dachte Atraan voller Grimm. Aber es gelang ihm, sich weitgehend zu beherrschen. Äußerlich wirkte der Morrhm-Häuptling fast so erstarrt wie eine Statue. Es war ihm nichts anzumerken.
Der Kontakt wurde unterbrochen.
„Ich fürchte, er wird dich gleich mit einem Mordkommando empfangen, Atraan“, warnte Poggra.
Aber in diesem Punkt war Atraan anderer Meinung.
„Das glaube ich nicht!“
„Und was veranlasst dich zu deinem Optimismus?“
„Taur weiß, dass er es selbst tun muss. Er muss mich mit eigenem Schwert töten, wenn er den Respekt der Krieger haben will. Sonst wird er sich allenfalls kurzfristig an die Spitze schwingen können und das weiß er genau.“
„Er ist größer und stärker als du!“
„Und doch bin ich der bessere Kämpfer. Es gab seit Generationen niemanden, der sich so lange an der Spitze der Zuur halten konnte, wie ich.“
„Ich kann dir nur raten, vorsichtig zu sein.“
„Das bin ich, Poggra. Sei unbesorgt.“
„Der Gedanke, in Taurs Harem eingegliedert zu werden, erfüllt mich nicht gerade mit Freude. Er soll ein lausiger Beißer sein.“
„Na, wenn das deine einzige Sorge ist, Poggra.“
Sie stutzte. „Weshalb?“
„Ich habe gehört, er soll die Frauen seiner Feinde zerstückeln und sich die Leber zubereiten lassen. Aber das ist bestimmt nur ein Gerücht...“
„Wie auch immer, du wirst dich auf einen sofortigen Angriff gefasst machen müssen.“
„Nein, dazu hätte Taur nicht den Mut. Und das nicht, weil er mich als Kämpfer so sehr fürchtet, denn wie du richtig bemerkt hast, bin ich sowohl kleiner als auch schwächer.“
„Was sollte ihn davon abhalten, Atraan?“, hakte
Poggra nach.
„Die Vorsicht. Er wird erst losschlagen, wenn er tatsächlich glauben kann, dass alle anderen Unterhäuptlinge und ihre Gefolgschaft tatsächlich auf seiner Seite stehen.“
Wenig später flog das Shuttle des Häuptlings der Zuur-Morrhm durch eines der offenen Hangartore der LASHGRA ein.
Die Landung war etwas holprig. Das Beiboot wurde ziemlich durchgeschüttelt und als es auf dem Boden aufsetzte, war der Antigrav offenbar nicht richtig dosiert. Das Shuttle schrammte mit den Kufen an der Unterseite über den Boden und wurde erst durch die Innenwand gestoppt.
Währenddessen schloss sich das Hangartor.
„Irgendwelche Besonderheiten?“, fragte Atraan eher beiläufig, während Poggra den Schadensbericht von der Anzeige ablas. „Wir sind auf jeden Fall noch manövrierfähig. Abgesehen von ein paar Beulen bei uns und in der Hangarwand ist wohl nichts passiert!“
„Was ist los? Hat dich deine Begabung als Pilot verlassen?“
„Nein, wir haben irgendeinen kleineren Schaden an der Software unseres Bordrechners. Ich lasse gerade das Diagnoseprogramm laufen. Das hängt alles offenbar mit einem Peilstrahl zusammen, den wir vor kurzem empfangen haben.“
„Sieh zu, dass das Problem gelöst wird“, wies Atraan Poggra an.
„Ja, Gebieter“, sagte sie und benutzte dabei die traditionelle unterwürfige Formel, die sie jedoch nicht so ganz Ernst zu nehmen schien.
Der Bildschirm zeigte jetzt die Umgebung in dem gewaltigen Hangar, in dem derzeit nur wenige Raumschiffe untergebracht worden waren. Nur eine Handvoll Jäger hatte Kommandant Taur noch zur Verteidigung seines eigenen Schiffes zurückgelassen. Außerdem waren da natürlich vor allem die anderen Sturm-Shuttles, mit denen die Morrhm-Besatzung von der VONDRASH geflohen war.
„Luftdruck und künstliche Schwerkraft sind hergestellt“, las Poggra die Anzeigen ab.
„Also auf ins Vergnügen“, meinte Atraan.
Er passierte als erster die Außenschleuse seines Shuttles.
Ein Innenschott des Hangars öffnete sich.
Taur erschien mit einem zahlreichen Gefolge.
So einen Massenauflauf an Getreuen veranstaltet man nur, wenn man ein Publikum für eine Machtdemonstration braucht, überlegte Atraan. Oder wenn man sich ausgesprochen unsicher fühlt.
Atraan setzte darauf, dass letzteres der Fall war.
Er trat Taur entgegen. Dieser blickte immer wieder zur Seite, sodass er seine Gefolgsleute aus den Augenwinkeln heraus sehen konnte.
„Das Schlachtenglück hat uns verlassen, Häuptling. Es ist lange her, dass wir in der Geschichte unseres Stammes den Verlust eines Mutterschiffs zu beklagen hatten.“
Während Taur diese Worte in einem Tonfall getragener Feierlichkeit von sich gab, straffte er seine Körperhaltung, so als wollte er demonstrativ auf die Tatsache hinweisen, dass er der größere der beiden Krieger war.
Seine Gefolgschaft wirkte abwartend.
Wie oft hast du so etwas schon durchgemacht, überlegte Atraan. Die Aufmärsche dieser Art, an die du dich erinnern kannst, sind kaum noch zu zählen. Es ist immer dasselbe Spiel. Und zwar eines, das inzwischen niemand so gut beherrschen dürfte wie ich – denn all diejenigen, die über eine auch nur annähernd ähnlich große Erfahrung verfügen, sind längst tot... Gestorben durch den bläulich blitzenden Schwung meines Monoschwertes...
Taurs Hinweis auf das mangelnde Kriegsglück konnte man durchaus bereits als die Ankündigung eines Machtkampfes auffassen.
Aber du Feigling versteckst das noch in scheinbar sachlicher Kritik und dem Ausdruck eines Bedauerns, das wir alle teilen und dir deshalb nicht vorgeworfen werden kann. Wie immer auf Nummer sicher, Taur? Das wird nicht ausreichen, um gegen mich zu bestehen!
„Wir alle hier machen uns sehr ernsthafte Gedanken darüber“, stellte Taur fest.
Sind deine Argumente und dein Schwertarm so schwach, dass du dich erst der Unterstützung aller versichern musst, du Wurm? Atraan verzog das Maul, sodass seine Hauer hervortraten. Speichel tropfte an ihnen herunter.
„Ich hoffe, diese Gedanken sind zum Wohl aller!“, sagte Atraan gedehnt.
„Das Wohl des Stammes steht über allem“, gab Taur eine formelhafte Erwiderung.
„Das freut mich zu hören, denn wir stehen mitten in einer Schlacht, die über das Fortbestehen unseres Stammes entscheiden kann. Deswegen wäre es wichtig zu wissen, dass die Stammesoberen und Mutterschiffkommandanten hinter ihrem Häuptling stehen.“
„Daran sollte niemals irgendein Zweifel aufkommen. Aber Zweifel darüber, welchen Weg wir einschlagen sollen, sind wohl angebracht.“
Hey, du bist ja richtig mutig, ging es Atraan durch den Kopf. Sein Maul wurde noch breiter. Das war ja schon fast so etwas wie eine Herausforderung.
„Wer sagt das? Hat derjenige auch einen Namen?“, hakte Atraan nach.
„Es sind viele und viele Namen tragen sie“, war die Antwort des Schiffskommandanten. Hier und da kam zustimmendes Geraune auf.
Du lässt mir keine andere Wahl, dachte Atraan. Noch ehe es zu weiteren Äußerungen der Zustimmung kam, zog er sein Monoschwert. Bläuliches Flimmern umgab die Klinge, während sie durch die Luft wirbelte.
Taur hatte sein eigenes Schwert bereits zur Hälfte aus der Scheide gerissen, als Atraans Klinge ihm den Oberarm sauber knapp unterhalb der Schulter abtrennte.
Der Schwertarm fiel mitsamt der Waffe zu Boden.
Mit einem klirrenden Geräusch blieb die Waffe dort liegen. Die prankenartige Faust des Kommandanten der LASHGRA krallte sich noch immer um den Schwertgriff, an dessen Ende sich ein Kristall befand, der ein Drei-D-Wappen seines Besitzers zu projizieren vermochte. Dieser Mechanismus wurde nun versehentlich ausgelöst. Taurs schreckgeweiteter Blick wurde dadurch für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt.
Es war der letzte Augenblick, den Taur bewusst erlebte, denn die anschließende Kombination von Hieben zerteilte seinen restlichen Körper in ein halbes Dutzend Einzelteile.
Dann verharrte der Häuptling der Zuur-Morrhm in martialischer Pose über Taurs sterblichen Überresten. Das Blut seines Kontrahenten perlte einfach von der Klinge. Es fand dort auf Grund der besonderen molekularen Struktur der Monoschneide keinerlei Halt.
Niemand im Hangar wagte es, auch nur heftig zu atmen.
„Gibt es noch irgendwelche Fragen, was die künftige Strategie angeht?“, fragte Atraan.
Er wirkte äußerlich vollkommen ruhig.
Das ist eines der Geheimnisse. Niemandem nimmt man es ab, dass er einen Stamm beherrschen kann, der dasselbe nicht einmal mit sich selbst schafft!
Sehr zögernd nahm Atraan schließlich eine entspanntere Haltung ein. „Ich sehe, dass es offenbar in diesem Punkt keinerlei Diskussionsbedarf mehr gibt.“
„Der neue Kommandant der LASHGRA sei willkommen!“, meldete sich einer der anwesenden Krieger zu Wort. Er hieß Grontzor und war für seinen Opportunismus bekannt, obwohl er dazu auf Grund seiner körperlich selbst für Morrhm-Verhältnisse sehr robusten Erscheinung gar keinen Anlass hatte. Zunächst zögernd, dann immer lauter, stimmten die anderen in diesen Ruf mit ein.
„Ich sehe, dass wir uns gut verstehen werden!“, schloss Atraan schließlich. „Und da wir uns in einer mehr als gefährlichen Situation befinden, schlage ich vor, dass sich alle Anwesenden umgehend wieder auf ihre Posten begeben.“
Ein Chor zustimmender Laute kam Atraan entgegen.
Das wäre schon einmal geschafft, dachte er. Sein Blick glitt tiefer, auf Taurs blutige Überreste. Eigentlich schade um ihn. Aber irgendwann musste es wohl zu dieser Konfrontation kommen... Und es ist nun einmal in jeder Auseinandersetzung ein unschätzbarer strategischer Vorteil, den Zeitpunkt der Schlacht bestimmen zu können. Und mehr habe ich auch nicht Getan...
Die Gruppe, die einst Taurs Gefolgschaft gebildet hatte, zerstreute sich nun.
„Einen Augenblick!“, dröhnte Atraans Stimme durch den Raum. „Grontzor möge bitte noch einen Augenblick hier bleiben. Ich habe ihm etwas zu sagen.“
Einige der Morrhm fletschten Grontzor gegenüber die Hauer, was wohl in erster Linie daran lag, dass sie es bedauerten, die Situation nicht ebenso konsequent und opportunistisch ausgenutzt zu haben.
Jetzt schien dem internen Aufstieg dieses Karrieristen nichts mehr im Wege zu stehen.
Atraan wartete, bis die anderen den Hangar verlassen hatten.
Grontzor neigte leicht den Kopf und deutete eine Verbeugung an.
„Du wolltest mich sprechen, mein Häuptling und Schiffskommandant?“, fragte er.
„Das ist richtig.“
„Ich werde so loyal auf deiner Seite sein, wie ich es zuvor bei Taur war“, versicherte er.
Atraan musterte sein Gegenüber. „Ach, wirklich? Vielleicht solltest du noch hinzufügen: Wie du es bei jedem anderen tun würdest, der zufällig an der Spitze wäre!“
„So ist nun einmal der Lauf der Dinge.“
„Ja, mag sein.“
Grontzors Blick wandte sich dem Monoschwert zu, das Atraan die ganze Zeit über nicht aus seiner Pranke gelegt hatte.
Fast so, als bräuchte er die Klinge noch.
Grontzor ahnte, was sein Gegenüber vorhatte und riss seine eigene Waffe heraus. Aber er tat dies völlig überhastetet. Sein erster Hieb war unbeholfen und es war für Atraan ein Leichtes, ihm auszuweichen.
Der Häuptling antwortete mit einem schnellen Stoß, der knapp unterhalb des Brustpanzers in den Körper seines Gegners eindrang. Grontzors Augen erstarrten.
„Ich mag keine Opportunisten“, erklärte Atraan. „Das war es, was ich dir noch sagen wollte... Ich hoffe, die Botschaft kommt nicht bereits zu spät!“
Leblos sank Grontzor zu Boden
Atraan zog sein Monoschwert aus dem Körper des Anderen und steckte es zurück an den Gürtel.
„Sollen wir hier aufräumen?“, fragte Poggra, die etwas abseits stand und mit Wohlgefallen zugesehen hatte, wie sich ihr Gatte Respekt verschafft hatte.
„Nein. Lasst sie liegen. Es ist vielleicht ganz gut, wenn der einer oder andere daran erinnert wird, was ihm blüht, wenn er sich mit mir anlegt!“
„Wie du meinst, Atraan!“
In diesem Moment schrillte überall auf der LASHGRA ein Alarmsignal...
Atraan und Poggra wechselten einen kurzen Blick. Dann griff Atraan zu dem Kommunikator an seinem Gürtel und nahm Verbindung mit der Brückencrew auf.
„Hier spricht Atraan, Oberhäuptling aller Zuur und neuer Kommandant der LASHGRA! Was ist bei euch los?“
*
Es gibt Situationen, in denen man nur falsch handeln kann, überlegte Steven Van Doren. Es ist nicht das erste Mal, dass du das erfahren musst. Der Erste Offizier des Sondereinsatzkreuzers STERNENKRIEGER starrte auf die Anzeigen seiner Konsole. Er hatte eine Positionsübersicht eingeschaltet. Immerhin funktionierte sie noch, auch wenn sie nur noch im Abstand mehrerer Minuten aktualisiert wurde, was eigentlich nicht dem Standard der auf der STERNENKRIEGER installierten Technik entsprach. Aber diese Anzeige litt wie alle anderen Systeme an Bord des Sondereinsatzkreuzers unter dem Zugriff einer fremden Macht.
Mit einem Datenstrahl wurden große Mengen an völlig sinnlosen Zeichen versandt, die nach und nach die Datenspeicher der STERNENKRIEGER füllten und so ein System nach dem anderen zum Kollaps brachten.
Wenn dieser Vorgang in demselben Tempo fortschritt, wie es bisher zu beobachten gewesen war, wurde die Lage bald prekär – und das nicht nur deshalb, weil die Morrhm-Shuttles jetzt freie Bahn hatten, um zu entern, sondern auch weil die Lebenserhaltungssysteme ebenfalls irgendwann nicht mehr funktionierten.
Der gesamte Flottenverband unter Admiral Nainovel schien davon betroffen zu sein. Ebenso die K'aradan-Verbände der lokalen Systemverteidigung und die private Kampfflotte des regierenden Hauses Kessir, dessen Stammlehen der Doppelplanet Kessira-Tamo war.
Steven Van Dorens Gedanken schweiften ab.
Sie gingen zurück in jene Situation während des zweiten Qriid-Krieges, als er sich dafür entschieden hatte, entgegen der Befehlslage der Besatzung eines havarierten Qriid-Schiffes das Leben zu retten.
Um zwei Rangstufen war er seinerzeit dafür vom Oberkommando des Space Army Corps degradiert worden. Einen davon hatte er inzwischen durch Beförderung wieder wettgemacht. Commander Van Doren. Captain war er bereits gewesen und jemand wie Ned Nainovel, mit dem er zusammen die Space Army Corps Akademie auf Ganymed besucht hatte, war sogar Admiral.
So ist das Leben, da hilft alles lamentieren nichts. Besser man findet sich mit den Gegebenheiten ab, anstatt verpassten Chancen hinterher zu trauern.
Im Übrigen stand er bis heute zu seiner damaligen Entscheidung. Es gab Situationen, in denen auch ein Befehl nicht bindend war. Es gab höhere Werte, als die Pflichterfüllung gegenüber dem Space Army Corps und den Humanen Welten, die diese Raumkriegsflotte der Menschheit schützen sollte.
Steven Van Doren war bereit gewesen, die Konsequenzen zu tragen.
Und jetzt?
Die Positionsanzeige wurde mal wieder aktualisiert. Die einzelnen Markierungen, die jeweils Jäger und Sturm-Shuttles der Morrhm repräsentierten, machten dabei kleine Sprünge. Sie näherten sich unaufhaltsam und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die ersten sich bis zur STERNENKRIEGER und den anderen Space Army Corps Einheiten im Orbit von Kessira durchgeschlagen hatten und zu ihrer äußerst rabiaten Nahkampftechnik übergingen. Aufschweißen, eindringen, Gefangene machen. Das war ihre Devise. Allerdings hinterließen sie auch schon mal ein paar atomare Sprengsätze, wenn sie meinten, dass etwas zerstört werden müsste. Da sie selbst sehr strahlungsresistent waren, kümmerten sie die Folgen nicht weiter.
Es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen damals und heute, ging es Steven Van Doren jetzt durch den Kopf. Damals hatte ich die Möglichkeit, zu entscheiden. Ich konnte als Handelnder in die Geschehnisse eingreifen. Jetzt bin ich zum Zuschauen verdammt. Ich sehen, wie sich die Morrhm-Sturm-Shuttles nähern, aber es gibt nichts, was ich im Moment dagegen tun kann.
„Wir müssen einen Weg finden, den Zugriff dieses Datenstrahls zu beenden“, erklärte Captain Warrington.
Auch er macht einen Unterschied zu damals aus, wurde es Van Doren klar. Und das in zweifacher Hinsicht. Erstens war ich damals selbst Captain und zweitens stellt insbesondere DIESER Captain in auswegloser Situation ein ganz besonderes Problem dar...
Captain Warrington fehlte einfach der entscheidende Killer-Instinkt. Er war zwar ein hochbegabter Mann, der die Akademie mit Auszeichnung durchlaufen hatte und auch später in seiner Laufbahn als Offizier eine makellose Erfolgsstory vorweisen konnte. Von der über Generationen zurückzuverfolgenden militärischen Vergangenheit und Tradition seiner Familie einmal ganz abgesehen. Letztere umgab ihn mit einem Nimbus, der ihn offenbar in der Vergangenheit für manche Vorgesetzte unangreifbar gemacht hatte.
Milton Warrington – dieser Name zählte einfach etwas in der noch kurzen Geschichte des Space Army Corps.
Dass dieser Milton Warrington seinen Namen mit einer römischen III schrieb, schien dabei ein Detail zu sein, das allzu schnell in Vergessenheit geriet.
Es war eben doch ein Unterschied, ob man selbst eine Legende war oder nur deren Nachfahre.
Jedenfalls war Warrington niemand, dessen Führung sich jemand wie Van Doren gerne überließ. Es fehlte dem Ersten Offizier der STERNENKRIEGER einfach das Vertrauen in Warringtons Fähigkeiten.
„Das Ortungssystem weist eine zunehmende Fehlerquote auf“, stellte Wiley Riggs fest. Der Ortungsoffizier schüttelte langsam den Kopf. „Die Morrhm-Einheiten scheinen auch etwas von ihrer Manövrierfähigkeit eingebüßt zu haben. Jedenfalls steht fest, dass sie ebenfalls von Tamo aus angepeilt werden.“
„Dass die Sicherheitsvorkehrungen der Morrhm ausgeklügelter sind als die des Space Army Corps und der K'aradan-Schiffe, halte ich für ausgeschlossen“, sagte Van Doren.
„Trauen Sie barbarischen Spezies keine technischen Errungenschaften zu?“, fragte Warrington an seinen Ersten Offizier gewandt.
„Doch, das schon“, murmelte Van Doren und dachte gleichzeitig: Sie wollen das doch jetzt wohl nicht im Ernst mit uns diskutieren wollen, Captain – oder?
Warrington schien tatsächlich keine Lust zu haben, dieses Thema zu vertiefen.
„Wenn wir nichts unternehmen, wird in spätestens einer halben Stunde das erste Sturm-Shuttle an unserer Außenwand andocken“, sagte Riggs. „Und dass die Brüder nicht gerade zimperlich sind, haben sie ja bereits mehr als unter Beweis gestellt!“
Es war nicht nötig, dass Riggs das näher erläuterte.
Aufschweißen, eindringen und niederkämpfen – eine weitergehende Strategie schienen die Morrhm nicht zu kennen. Nicht einmal der schonende Umgang mit der potenziellen Beute schien bei ihnen zur Gewohnheit oder gar zum Teil ihres Gesetzes geworden zu sein.
„Wir könnten versuchen, die Gauss-Geschütze aus der Kontrolle des Bordrechners herauszunehmen“, schlug Lieutenant Commander Robert Ukasi, seines Zeichens Taktikoffizier an Bord der STERNENKRIEGER vor. Er war darüber hinaus die Nummer drei in der Hierarchie an Bord und hatte daher auch noch einiges an Pflichten zu erledigen, was akut mit dieser Stellung an Bord in Zusammenhang stand.
Schließlich musste er für den Fall, dass der Erste Offizier von Bord ging oder möglicherweise dauerhaft ausfiel, an dessen Stelle treten.
„Gauss-Geschütze, die manuell bedient werden?“, fragte Warrington ungläubig. „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie hoch die Trefferquote ohne Rechnerunterstützung wäre?“
„Lassen Sie all diese Geschütze zusammenschalten“, fuhr Ukasi fort. „Ich versuche sie dann von meiner Konsole aus synchron zu bedienen. Und was die Berechnungen angeht, die ansonsten das Zielprogramm des Bordrechners erledigen muss, so könnte ich das vielleicht übernehmen.“
„Sie?“, fragte Captain Warrington erstaunt. Er erhob sich jetzt aus seinem Kommandantensessel. „Ich weiß aus Ihren Personalunterlagen, dass Sie als hervorragender Mathematiker gelten und man Ihnen schon während ihrer Zeit auf Ganymed riet, den Dienst im Space Army Corps gar nicht erst anzutreten, sondern stattdessen eine Tätigkeit an einem Forschungsinstitut, einer Universität oder in einem Industrieunternehmen anzustreben.“
Aber Ukasi hatte sich seinerzeit darauf nicht eingelassen und es schien als hätte er seine ganz persönlichen Gründe, um im Space Army Corps zu dienen. Gründe, die mit seiner Herkunft und dem Tod seiner Eltern zu tun hatten. Er war einfach der tiefen Überzeugung, dass die Menschheit eine schlagkräftige Raummacht brauchte, die in der Lage war, die von Menschen besiedelten Welten in der Galaxis so wirksam zu schützen, dass sie kein leichtes Angriffsziel mehr waren.
„Was meinen Sie, Van Doren?“
„Ich habe schon auf der alten STERNENKRIEGER I beobachten dürfen, wie Lieutenant Commander Ukasi die Daten zur Schiffssteuerung schneller berechnete als der Computer. Also warum sollten wir es nicht versuchen?“
„Ganz meine Meinung“, mischte sich Ruderoffizier John Taranos ein, wofür er von Captain Warrington einen tadelnden Blick erhielt.
„Gut“, wandte sich der Captain an den Taktikoffizier. „Tun Sie alles, was Sie für nötig halten, Lieutenant Commander Ukasi.“
„Aye, aye, Captain.“
„Lassen Sie sich von Erixon helfen.“
„Ich nehme an, dass unser L.I. im Maschinentrakt alle Hände voll zu tun hat, um den normalen Betrieb aufrecht zu erhalten, Sir“, wandte Ukasi ein. „Schließlich nützt es uns nichts, sollte es uns gelingen, die Morrhm abzuwehren und anschließend ersticken wir, weil die Lufterneuerung nicht mehr funktioniert.“
*
Ukasi nahm Kontakt zu den Waffenoffizieren auf, die jeweils eines der 10 Gauss-Geschütze bemannten, über die die STERNENKRIEGER verfügte. Ukasis Idee einer Synchronschaltung stieß nicht bei allen auf Gegenliebe. Lieutenant Branco Delkey, der Waffenoffizier von Gauss 1 meinte beispielsweise, dass es doch wesentlich effektiver sei, die Geschütze einzeln zu schwenken und von Hand Ziele auszuwählen.
Lieutenant Paul Mandagor, stieß ebenso in dasselbe Horn wie Kai Retseb von Gauss 2.
Aber in diesem Punkt ließ Ukasi nicht mit sich reden. Er hatte offenbar in seinem Kopf bereits eine sehr präzise Vorstellung und machte sich nun daran, den Plan in die Tat umzusetzen.
Die ersten Sturm-Shuttles der Morrhm näherten sich der STERNENKRIEGER bis auf wenige hundert Kilometer. Ihre Waffen benutzten die Morrhm erst im Nahkampf. Das galt sowohl für ihre Jäger, als auch für die Fußkrieger, mit den Monoklingen.
Nach zahllosen erfolglosen Versuchen gelang es Ukasi schließlich die Computerkontrolle über das Zielvisier auszuschalten. Die Gauss-Geschütze wurden parallel geschaltet und vom Bordrechner vollkommen abgekoppelt. Jeder Schwenk mit einer dieser Waffen bedeutete eine Bewegung aller. Aber noch gab es die Schwierigkeit, dass überhaupt kein Schuss ausgelöst wurde, wenn die Waffen im Einsatz waren.
„Bandit 1,3 und 7 in bedenklicher Nähe“, meldete Lieutenant Riggs.
Ukasi ließ immer wieder die Geschütze sich hin und her bewegen und löste die Feuerfunktion aus. Der Taktikoffizier atmete auf. „Wenigstens lässt sich jetzt wieder feuern“, stellte er fest.
Bandit 3 wurde getroffen und zerplatzte. Aber die beiden anderen Sturm-Shuttles näherten sich weiter.
Lieutenant Jamalkerim bemühte sich weiter darum, Kontakt zu den anderen Schiffen herzustellen. Aber nach wie vor sendete keine der im Orbit um Kessira befindlichen Space Army Corps Einheiten noch ein ID-Signal.
„Allerdings bin ich mir inzwischen auch nicht mehr sicher, ob unsere Kommunikationsanlage überhaupt noch in der Lage ist, diese Signale ordnungsgemäß zu verarbeiten“, sagte sie. „Ich habe da so meine Zweifel. Der System Check-up ergibt ein paar höchst seltsame Fehleranzeigen.“
„Ich nehme an, das sind alles Nebenwirkungen der zunehmenden Speicherüberlastung, die wir zu verzeichnen haben“, antwortete Van Doren.
Plötzlich stießen die persönlichen Kommunikatoren von Van Doren, Taranos und Warrington EINEN Summton aus.
Der Captain und sein Erster Offizier tauschten einen verwunderten Blick, ehe Van Doren das Gespräch entgegennahm.
Warrington und Taranos folgten seinem Beispiel.
Auf dem Mini Display erschien das Gesicht eines Mannes mit Vollbart.
„Hier spricht Captain Theo Tulane von der FAR GALAXY EXPLORER. Wir empfangen keinerlei ID-Kennungen der anderen Space Army Corps-Schiffe oder der K'aradan-Verbände und es ist bisher nicht gelungen, Funkkontakt zu einem der anderen Schiffe wiederherzustellen...“
„Jetzt haben Sie es offenbar geschafft“, sagte Warrington.
„Offenbar ist es Ihnen gelungen, drei persönliche Kommunikatoren an Bord der STERNENKRIEGER anzusteuern“, gab Warrington zur Antwort.
Tulane grinste breit.
„Drei? Wir haben insgesamt über hundert Geräte angesteuert. Aber offenbar wirkt sich dieser Peilstrahl auch auf Geräte aus, die nicht unmittelbar mit dem Bordrechner in Kontakt stehen und blockieren zumindest teilweise die Zugänge!“
„Erstaunlich, dass Sie es geschafft haben, uns auf diesem Weg überhaupt zu erreichen...“, stellte Van Doren fest. „Unseren - zugegebenermaßen unzuverlässigen Ortungsdaten nach - ist die Distanz zwischen FAR GALAXY EXPLORER und STERNENKRIEGER dazu im Augenblick eigentlich zu groß.“
„Ich habe ein paar begabte Techniker an Bord“, erklärte Tulane. „Die haben mehrere der Dinger zusammengeschaltet und das Signal um fünfhundert Prozent verstärkt! Wie Sie sehen ist der Erfolg dennoch bescheiden.“
„Sir, die FAR GALAXY EXPLORER ändert den Kurs“, meldete Riggs. Der Ortungsoffizier der STERNENKRIEGER hatte seit fünf Minuten zum ersten Mal wieder aktualisierte Positionsdaten.
Tulane bekam die Meldung offenbar mit, denn er ging sofort darauf ein.
„Wir verzeichnen Systemausfälle auf allen Ebenen, sind aber offenbar als einzige Space Army Corps Einheit im Nahbereich von Kessira-Tamo noch manövrierfähig. Naja, wenn man das so nennen kann. Die Funktionen sind stark eingeschränkt, aber wir kommen hier immerhin weg!“
„Was haben Sie vor, Tulane?“, fragte Warrington und sein Tonfall bekam jetzt eine Schärfe, die man ansonsten von ihm nicht gewohnt war. „Soweit ich weiß, wurden Sie offiziell wieder in Dienst gestellt und sind damit ein Space Army Corps Offizier mit allen Rechten und Pflichten.“
„He, was ist mit Ihnen los, Warrington? Immer locker bleiben. Nur, weil Admiral Nainovel im Moment genauso unerreichbar ist wie der Rest des Space Army Corps Kontingents hier im Kessimu-System, heißt das doch noch lange nicht, dass Sie jetzt seine Vertretung übernehmen müssen, Warrington. Im Übrigen darf ich Sie daran erinnern, dass wir für den Fall, dass diese Reaktivierung überhaupt rechtens ist, gleichrangig wären!“
„Mit welchem Ziel verlassen Sie den Orbitalbereich von Kessira-Tamo?“, fragte Warrington.
„Das ist ganz einfach. Noch verfügen wir über eingeschränkte Manövrierfähigkeit und können hier weg. Der Datenstrahl hat seinen Ursprung unter dem Eis von Tamo.“
„Das haben wir inzwischen auch schon herausgefunden.“
„Mit zunehmender Entfernung besteht die Möglichkeit, dass die Verbindung vielleicht unterbrochen wird.“
Van Doren mischte sich in das Gespräch wieder ein und sagte: „Soweit wir wissen, sind auch unsere Sondereinsatzkreuzer, die am Angriff auf die Mutterschiffe beteiligt sind, sowie die Einheiten um Kessimu VII von diesem Strahl betroffen. Durch eine größere Distanz werden Sie es also wohl kaum schaffen, diesem Einfluss zu entgehen.“
„Der Einfluss dieses Signal reicht nach unseren Berechnungen sogar ein halbes Lichtjahr über die Bahn des äußersten Kessimu-Planeten hinaus“, gab Tulane seinem Gegenüber Recht.
„Welchen Sinn hat Ihre Aktion dann?“
„Ganz einfach: Wir sehen eine Chance, auf 0,4 LG zu beschleunigen und in den Sandström-Raum zu gelangen. Spätestens dann müsste die Verbindung unterbrochen werden!“
„Das Risiko kennen Sie, es gibt unter den gegebenen Umständen keine Garantie dafür, dass die Sandström-Aggregate fehlerfrei funktionieren“, gab Van Doren zu bedenken.
Tulane nickte. „Ja, aber wir sehen keine Alternative. Sobald wir es geschafft haben, die Verbindung zu kappen, werden wir versuchen, Ihnen zu helfen. Auf welche Weise auch immer...“
„Hatten Sie Verbindung mit Professor von Schlichten und seinem Forscherteam auf Tamo?“, hakte Van Doren nach. Tulane nickte. „Allerdings nur kurz, dann ist der Kontakt abgebrochen. Übrigens – falls es Sie beruhigt: Der Vorschlag, den Datenstrahl durch Eintauchen in den Sandström-Raum zu kappen, stammt von Professor von Schlichten und der versteht mehr von diesen Dingen, als wir alle zusammen.“
„Dieses Signal enthält fünfdimensionale Komponenten“, stelle Ukasi fest. „Allerdings muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass es auch im Sandström-Raum aktiv ist.“
„Ist es nicht“, stellte Tulane klar.
Van Doren hob die Augenbrauen. „Sagt von Schlichten?“
Tulane nickte. „So ist es.“
Das Bild auf dem Minidisplay wurde zittrig. Tulane sagte noch etwas, war aber nicht mehr zu hören. Augenblicke später verschwand auch das Bild. Die Verbindung war abgebrochen. Kein Kontakt, meldete eine aufblinkende Anzeige.
„Ich möchte wissen, was von Schlichten da unten auf Tamo angestellt hat!“, meinte Ukasi.
„Ich nehme an, er hat das versucht, wovon er und der Far Galaxy Konzern schon lange träumen – nämlich das uralte Wissen der Alten Götter zu retten“, glaubte Susan Jamalkerim.
„Ich weiß nicht, ob retten wirklich der richtige Ausdruck ist“, kommentierte Warrington. „Stehlen klingt irgendwie passender.“
„Seien wir ehrlich. Um dieser Versuchung zu widerstehen muss man wohl die menschliche Größe eines Qriid haben“, murmelte Van Doren.
„Ich frage mich, weshalb die Morrhm von diesem Datenstrahl kaum betroffen zu sein scheinen“, meinte Taranos. „Zumindest viel weniger, als das bei uns der Fall ist!“
„Ich nehme an, dass sie schlicht eine viel einfachere Technik besitzen, die weniger auf Rechnerunterstützung angewiesen und deswegen auch weniger anfällig ist“, lautete Van Dorens Vermutung.
Eine Pause des Schweigens entstand. Verbissen versuchte Ukasi die beiden herannahenden Sturm-Shuttles doch noch zu erwischen.
Aber die Trefferwahrscheinlichkeit war ohne elektronische Hilfe extrem gering.
Schon das Ukasi die die Angreifer um eine Einheit hatte reduzieren könne, grenzte an ein Wunder.
Schließlich wandte sich der Taktikoffizier an den Captain. „Schicken Sie Naderw los!“
„Mit dem Jäger? Ukasi, Sie wissen, wie überlegen die andere Seite in diesem Punkt ist. Die LEVIATHAN hat mindestens die Hälfte ihrer Jägerflotte verloren!“
„Es ist im Moment kein Jäger in unserer Nähe, sondern nur zwei Sturm-Shuttles, die ausgeschaltet werden müssen. Und die sind in Bewaffnung und Manövrierfähigkeit unseren Jägern keineswegs unterlegen.“
„Der nächste Morrhm-Jäger befindet sich bei 345-56-332!“, meldete Riggs. „Zumindest vor zehn Minuten. So alt sind meine Daten nämlich mittlerweile.“
„Das bedeutet: weit genug entfernt, sodass Naderw es wagen könnte“, mischte sich Van Doren ein.
„Ich schicke ungern Besatzungsmitglieder in den sicheren Tod“, sagte Warrington.
„Wenn es den Morrhm erst gelingt uns zu entern, gibt es ein Gemetzel“, stellte Ukasi klar.
Warrington atmete tief durch und straffte seine Haltung. „Gut. Lieutenant Jamalkerim, stellen Sie eine Verbindung zu unserem Piloten her!“
„Nehmen Sie besser den Kommunikator“, erwiderte Jamalkerim. „Ich vermelde gerade einen teilweisen Ausfall des Interkom-Systems. Vielleicht bekomme ich das wieder hin.“
„Dann viel Glück dabei“, knurrte Warrington.
*
Name: Son Galt
Rang: Sergeant in der Marineinfanterie des Space Army Corps
Position: irgendwo im Orbit von Kessimu VII
Immer wieder gingen Son Galt diese Gedanken durch den Kopf. Es war wie eine Schleife, die ihn davor bewahrte, den Verstand zu verlieren.
In seinem raumtauglichen schweren Kampfanzug trieb er durch das All. Über Helmfunk hatte er verschiedene Notrufe mitanhören müssen. In drei Shuttles hatten sich die Überlebenden der ALEXANDER abgesetzt. Zwei dieser Landefähren vom L-Typ waren von Jägern der Morrhm eiskalt abgeschossen worden. Man vermutete kampffähiges Personal an Bord, das den Barbaren nur am Boden in die Quere kommen konnte.
Son Galt blickte durch die dünne Atmosphäre des trocken-kalten, marsähnlichen Planeten Kessimu VII. Der atmosphärische Druck betrug 20 Millibar und war damit zwar fast dreimal so stark wie ein Hochdruckgebiet auf dem Mars, was jedoch nur zwei Prozent des auf der Erde herrschenden durchschnittlichen Luftdrucks betrug.
Aber die Atmosphäre von Kessimu VII hatte eine Besonderheit.
Sie bestand zu mehr als vierzig Prozent aus Sauerstoff.
Wolkenformationen aus Kohlendioxid und Wasser bildeten sich in der Atmosphäre. Auf Grund der geringen, vor allem subplanetaren Wasservorkommen, bedeckten diese Wolken jedoch immer nur kleine Teile der Planetenoberfläche. Dort kam es dann allerdings immer wieder zu heftigsten elektrischen Entladungen, die auf grund des hohen Sauerstoffanteils der Atmosphäre in Form von bizarren Feuerstahlen ihren Weg zur Oberfläche nahmen. Die Luft brannte. Es gab selbst aus dem Weltraum sichtbare dunkle Flecken, wo derartige Brandblitze gewütet hatten. Wind und Wetter brauchten mehrere Standardwochen, um sie wieder vom Antlitz des Planeten zu tilgen.
Morrhm-Jäger waren in die Atmosphäre eingetaucht.
Son Galt zoomte sie mit seinem Helmvisier heran.
Da ist wieder dieses Störsignal, das der interne Rechner meines Anzugs nicht so richtig zu interpretieren weiß, ging es Galt durch den Kopf. Automatisch wurde eine Abfrage gestartet, die eine Datenübertagung einleiten sollte. Aber da es sich nicht um ein Signal mit Kennung des Space Army Corps oder Privatstreitkräfte des K'aradanischen Adelshauses Kessir handelte, wies Galt die Anfrage ab.
Bereits ein Dutzend Mal hatte dieses Signal versucht, sich selbstständig in sein System einzulinken.
Seltsam, dachte Galt.
Aber seine Aufmerksamkeit wurde nun durch etwas anderes abgelenkt.
Auf seinem Helmdisplay konnte er die herangezoomten Morrhm-Jäger deutlich identifizieren. Die dünne Atmosphäre von Kessimu VII sorgte für eine hervorragende klare Sicht, wie man sie auf der Erde nie gehabt hätte.
Die Jäger flogen den einzigen Raumhafen des Planeten an.
Wenig später konnte man aus dem All mehrere gewaltige Atompilze sehen, die sich langsam miteinander vereinigten. Die Jäger selbst hatten alle Mühe, der sich ausbreitenden elementaren Urgewalt zu entkommen. Offenbar hatte man die Auswirkungen des hohen Sauerstoffgehalts in der Atmosphäre nicht so richtig bedacht.
Ein Feuerball bildete sich, umschloss die zusammenwachsenden Atompilze wie eine Sonnenkorona.
Wie eine gigantische Blüte des Bösen, überlegte Son Galt.
Plötzlich meldete sich eine Stimme über die Frequenz seines Helmfunks.
„Hier Lieutenant Commander David Kronstein. Wir haben Sie geortet, Sergeant Galt und sind gleich bei Ihnen, um Sie an Bord zu nehmen.“
„Hier Galt! Ich freue mich, dass Sie mich nicht vergessen haben, Lieutenant Commander Kronstein.“
„Es wird leider eine Weile dauern, bis wir Ihre Position erreicht haben. Außerdem haben wir hier ein paar Störungen im Rechnersystem, die wir hoffentlich bald in den Griff bekommen.“
„Haben die zufällig mit einer nervenden Anfrage nach Datentransfer zu tun?“, fragte Galt.
„Woher wissen Sie das?“
„Selbst mein Anzugrechner war davon betroffen.“
„Dann hoffe ich, dass wir in Kontakt bleiben. Zum Rest der Flottille haben wir ihn nämlich verloren.“
*
„Zielobjekt erreicht“, meldete Mira O’Hara.
David Kronstein, der neben der Pilotin in der ALEXANDER L-2 Platz genommen hatte, sah sich die Ortungsergebnisse an. Das System arbeitet nur mit eingeschränkter Leistung, ging es ihm durch den Kopf. Er schaltete sich durch das Menue und stellte fest, dass ein Datentransfer ablief.
„Haben Sie den Transfer auf Port 467 C autorisiert, O’Hara?“, fragte Kronstein.
„Nein, Sir!“
„Dann stoppen Sie ihn!“
„Da können Sie von Ihrer Konsole sehr viel leichter, wenn Sie das Menue bereits geöffnet haben.“
„Ich habe es bereits versucht, aber die entsprechende Funktion reagiert nicht.“
„Was bekommen wir denn da aufgespielt?“, fragte Garcia.
„Sieht aus wie Datenmüll“, meinte Kronstein. Als ehemaliger Kommunikationsoffizier der STERNENKRIEGER kannte er sich mit Computersystemen hervorragend aus und so war ihm klar, dass sehr bald zum Datenüberlauf einzelner Speichersektionen und damit zu weiteren Fehlfunktionen kommen würde. Es scheint so, als hätten wir auch aus diesem Grund gar keine andere Wahl, als auf Kessimu zu landen, überlegte er.
Der im All schwebende Sergeant Son Galt erschien jetzt auf dem Hauptschirm der L-2.
Er machte ein paar Bewegungen mit den Armen und schien zu winken. Anscheinend ahnte er, dass die optischen Sensoren der L-2 ihn in ihrem Zoom hatten.
„Schön, wenn man selbst in dieser Lage noch Humor hat“, lautete Stroemfelds Kommentar.
Als Rudergänger der ALEXANDER war es für ihn schwer auszuhalten, dass eine Jägerpilotin und nicht er selbst die Steuerkonsole unter Kontrolle hatte. Aber auch er musste zugeben, dass es an O’Haras Manövern nichts auszusetzen galt.
Stroemfeld Bemerkung wurde schweigend hingenommen.
Da man vor wenigen Augenblicken erst die Vernichtung der beiden anderen ALEXANDER-Fähren miterlebt hatte, schienen die meisten diesen lockeren Kommentar für unpassend zu halten.
Aber Kronstein kannte den Rudergänger inzwischen längst gut genug, um zu wissen, dass Stroemfeld damit nur seine Anspannung zu überspielen versuchte.
Alle, die jetzt an Bord der L-2 sind und Sergeant Galt – 9 Überlebende von ursprünglich über hundert Mann Besatzung, dachte Kronstein und ein bitterer Geschmack bildete sich in seinem Mund. Er musste schlucken. Und was uns betrifft ist noch gar nicht gesagt, dass wir durchkommen.
Die anderen beiden Fähren waren bereits in die Stratosphäre von Kessimu VII eingeflogen, als sie durch Jäger der Morrhm abgeschossen worden waren. Schafften es schon die wenigen Jäger der Humanen Welten kaum, mit der atemberaubenden Manövrierfähigkeit der Morrhm-Modelle mitzuhalten, so waren Landefähren vom Standard-Typ wie die L-2 praktisch chancenlos. Wir werden eine ganz schön große Portion Glück brauchen, um durchzukommen!
Corporal Doy Masters, der auf einem der hinteren Sitze in der Fähre Platz genommen und seinen Helm zunächst abgesetzt hatte, setzte ihn sich nun wieder auf und aktivierte den Helmfunk.
Er bekam Kontakt mit Galt.
„Gleich ist es vorbei, Sarge.“
„Dass wir das schwerste Stück noch vor uns haben ist mir durchaus bewusst, Corporal!“
„Das wird schon klappen!“
„Noch etwas! Sie werden mich mit dem Fangnetz hereinholen müssen. Mein Antigravaggregat ist nämlich während des Kampfes an Bord der ALEXANDER schwer beschädigt worden und nicht mehr einsatzfähig.“
*
Die L-2 steuerte auf den durch das All taumelnden Marineinfanteristen zu. Die Anziehungskraft von Kessimu VII zog dessen Körper seit geraumer Zeit an und beschleunigte ihn leicht. Son Galt hatte keine Möglichkeit, darauf ohne ein funktionierendes Antigrav-Pak Einfluss zu nehmen. Die Servokraft-Verstärkung seines Anzugs nützte ihm dabei nichts, denn er hätte sich von irgendetwas abstoßen müssen.
Als die L-2 sich Galt genug genähert hatte, wurde ein Fangnetz aus Kunststoff ausgeworfen, das zum Einfangen kleinerer Objekte im Weltraum diente. Danach dauerte es nur noch wenige Minuten, bis Son Galt an Bord war und die Außenschleuse passiert hatte.
„Es gibt weitere Systemausfälle“, stellte Mira O’Hara fest. „Wir können froh sein, wenn wir noch einigermaßen heile auf der Oberfläche ankommen!“
„Ich verstehe nicht, wieso sich der Systemzugang dieses Datenstrahls nicht einfach kappen lässt“, entfuhr es Kronstein.
„Tatsache ist, dass bereits sechzig Prozent aller Datenspeicher an Bord mit diesem rätselhaften Datenmüll gefüllt wurden.“
Kronstein lehnte sich in seinem Schalensitz zurück.
„Tun Sie mir einen Gefallen, O’Hara.“
„Wenn es in meiner Macht steht – jeden, Sir!“
„Suchen Sie für uns ein Landegebiet, in dem die Auswirkungen der atomaren Verseuchung nicht ganz so deutlich zu Tage treten.“
O’Hara strich sich eine verirrte Strähne aus dem Gesicht und lächelte matt. „Ich werde es versuchen, Ihre Wünsche zu berücksichtigen, Sir. Aber ehrlich gesagt, bin ich schon froh, wenn wir nicht bereits beim Durchmarsch durch die Atmosphäre verglühen.“
*
An Bord der VONDRASH...
Rena Sunfrost hatte immer wieder versucht, in den Bordrechner des Morrhm-Mutterschiffes einzudringen, um die Schaltung für die Selbstzerstörung zu finden.
Du kannst den Schriftsatz nur unzureichend und außerdem bist du auch alles andere als eine Spezialistin für Morrhm-Technik, rief sie sich ins Gedächtnis.
Als schließlich ganz in ihrer Nähe ein Aggregat explodierte und die Konsole, an der sie sich bis dahin befunden hatte, nicht mehr reagierte, sah sie schließlich ein, dass sie auf diese Weise nicht vorwärts kam.
Beißender Qualm drang durch eine Ritze zwischen zwei Wandelementen des Kontrollraums.
Wird Zeit, dass du auch von hier verschwindest.
Rena atmete tief durch. Dutzende von Gedanken wirbelten im selben Sekundenbruchteil durch ihren Kopf. Was war jetzt das Richtige? Wenn das, was Atraan gesagt hatte, der Wahrheit entsprach, dann war die gesamte Evakuierung der Sklaven zum Scheitern verurteilt, wenn wenig später die Selbstzerstörungsschaltung dafür sorgte, dass alles in einem gewaltigen Inferno endete. Einem Inferno, das nach den Plänen des Morrhm-Häuptlings auch noch möglichst viele Schiffe der anderen Seite mit in Tod und Zerstörung hineinreißen sollte.
Alles hing davon ab, auf welche Zeitspanne der Countdown der Selbstzerstörung eingeschaltet war.
Aber Rena fand einfach keine Möglichkeit, das herauszufinden.
Auf der Bildschirmwand des Kontrollraums sah sie wieder die monotonen Zeichenkontrollen, die offenbar auch auf dem Morrhm-Mutterschiff einen Datenspeicher nach dem anderen zu füllen begannen.
Was ging da vor sich?
War im Zuge des allgemeinen Chaos irgendeine Nonsensschaltung aktiviert worden?
Rena entschied, darüber nicht länger nachzudenken.
Sie verließ den Kontrollraum und eilte einen Korridor entlang. Ein Teil der Deckenverkleidung brach herunter und ein weißes Gas strömte aus, dessen Geruch ihr schier den Atem raubte. Die Zeit der Sklaverei hatte ihre Gesundheit ohnehin mehr oder weniger ruiniert. Die Strahlung und das schlechte Essen waren dafür in erster Linie verantwortlich. Sie war müde und abgeschlagen. Lethargie begann von ihr Besitz zu ergreifen. Ist nicht eigentlich alles umsonst? Du hast dein Bestes gegeben, um das Leben der Sklaven und auch dein eigenes zu retten. Vielleicht warst du einfach nicht gut genug, reichte deine Kraft schlicht und ergreifend nicht aus...
Rena versuchte, diese Gedanken aus ihrem Hirn zu verbannen. Sie wusste um die lähmende Wirkung dieser Depressionen. Durchhalten! Aufgeben kannst du, wenn die letzte Explosion der VONDRASH dich in Einzelteile im All verstreut und die Sauerstoffblasen platzen lässt wie ein paar billige Silvesterknaller...
Eine Lautsprecherstimme ertönte.
In der Sprache der Morrhm wies eine Kunststimme darauf hin, dass die Rettungsblasen in Kürze vom Schiff abgetrennt würden.
Rena begann zu laufen. Schweiß perlte ihr von der Stirn. Durch die schematischen Darstellungen auf den Anzeigen der Konsole, an der sie herumgeschaltet hatte, wusste sie, wo ungefähr die Zugänge zu den Blasen waren.
Schließlich hatte sie einen dieser Zugänge erreicht. Es handelte sich eigentlich um einen Hangarausgang. Es gab eine leistungsfähige Anlage, die unentwegt Atemluft in den riesigen Ballon aus einer sicherlich künstlich hergestellten, hauchdünnen und vollkommen transparenten Karbonfaser pumpte und sie sich weiter aufblähen ließ.
Durch den offenen Hangarschott sah sie unzählige K'aradan und Angehörige mehrerer Dutzend anderer Rassen schwerelos durcheinander schweben. Zwei Qriid waren ebenso darunter wie vereinzelte Xabo. Und natürlich war die Sauerstoffblase auch voll von den spinnenartigen Wesen, die offenbar nicht nur jedes Morrhm-Schiff des Stammes der Zuur vollkommen verseucht hatten, sondern auch auf so gut wie allen Welten der Umgebung zu finden waren.
Auch sie schwebten in der Schwerelosigkeit und strampelten dabei mit ihren Beinchen. Manchmal verhakten sich mehrere von ihnen ineinander und man konnte den Eindruck gewinnen, dass sie einen einzigen, bizarren Organismus bildeten.
Rena machte schließlich den letzten Schritt in die Blase. Sie geriet außerhalb des Einflussbereichs der an Bord herrschenden künstlichen Schwerkraft, von der Rena annahm, dass sie ungefähr dem Erdniveau entsprochen hatte.
Ein durchdringendes Signal ertönte. Das Schott wurde geschlossen.
Die Blase wurde aber durch mehrere Hochdruckrohre weiter mit Atemluft vollgepumpt.
Sie dehnte sich noch weiter aus.
Rena schätzte den Durchmesser auf gut hundertfünfzig Meter. Mit einem Geräusch, das an einen quietschenden Luftballon erinnerte, wurde die Öffnung der Blase durch einen Mechanismus verschlossen. Sie löste sich von der VONDRASH und schwebte in den Weltraum.
Rena ruderte etwas vorwärts. Wie ein Fisch in einem Aquarium, dachte sie.
Man hatte eine fantastische Außensicht, wie sie kein Raumflug vermitteln konnte. Die Luftblase schwebte zusammen mit inzwischen vier anderen durch das All. Durch die chaotische Rotation, in die das Flaggschiff der Zuur-Morrhm aus irgendeinem Grund geraten war, sorgte die Zentrifugalkraft dafür, dass die Blase regelrecht vom Schiff weggeschleudert wurde. Der Abstand vergrößerte sich rasch. Aber es würde bei dem geringen Tempo Tage dauern, bis wir weit genug entfernt wären, um nichts mehr von der Explosion abzubekommen, dachte Sunfrost.
Sie seufzte und versuchte, sich nicht der Resignation hinzugeben. Du hast es fast geschafft. Schließlich bist du in Freiheit – auch wenn du nicht weißt, wie lange du diese Freiheit genießen kannst...
Rena ruderte auf die transparente Karbon-Membran zu.
Sie war hauchdünn. Eine sehr feine, verletzlich wirkende Grenze zwischen all den Lebensformen, die hier umher schwebten und dem lebensfeindlichen Nichts des Weltalls.
Für Augenblicke gab sich Rena dem faszinierenden Anblick hin, der sich hier bot. Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sich das Mutterschiff so weit gedreht hatte, dass Rena die Ursache der chaotischen Eigenrotation bemerkte.
Ein Sondereinsatzkreuzer, durchfuhr es sie.
Im ersten Moment glaubte sie ihr eigenes Schiff, die STERNENKRIEGER, zu sehen, dass sich mit der Backbord- Sicheleinheit durch die Außenhülle der VONDRASH gebohrt hatte.
Aber das war nicht der Fall.
Sie erkannte den großen Schriftzug und die optische Kennung der MARIA STUART.
Rena griff zum Kommunikator.
Vielleicht bekomme ich ja noch einmal Kontakt, überlegte sie – obwohl es für ihre Warnungen jetzt wohl zu spät war.
Grelle Blitze leuchteten in der Ferne auf. Eine Atomsonne bildete sich und überstrahlte für Minuten selbst das Licht des Zentralgestirns.
Offenbar war noch ein weiteres Mutterschiff der Morrhm soeben zerstört worden.
Ob es jenes Schiff war, auf das Atraan und seine engsten Angehörige geflüchtet waren, wusste Rena nicht.
Aber eine gewisse Freude konnte sie einfach nicht verhehlen.
Die Blasen mit den evakuierten Gefangenen drifteten jetzt mehr und mehr auseinander.
Eigentlich kann man es niemandem empfehlen, uns zu retten!
*
O’Hara lenkte die L-2 im Tiefflug über eine weitere, karge Ebene. In der Ferne erhoben sich schroffe, fast dreißig Kilometer hohe Gebirge, die jede irdische Erhebung bei weitem in den Schatten stellten.
„Ich frage mich, welche Strategie dahinter steckt, den Raumhafen zu vernichten“, meinte Charles Rahmani. Der Waffenoffizier der ALEXANDER schüttelte verständnislos den Kopf.
„Sie sollten nicht von sich auf andere schließen“, erwiderte Dr. Girard McFadden, der Schiffsarzt.
Rahmani runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“
„Ganz einfach: Sie denken, dass hinter allem, was die andere Seite tut, eine ausgefeilte Strategie steht, aber das scheint mir nicht der Fall zu sein. Es sei denn, Sie fassen die Verbreitung von Schrecken als Strategie auf.“
„Ich nehme an, dass die Morrhm es auf eine Staffel von Atmosphären-Kampfgleitern abgesehen hatte, die dort stationiert waren“, meinte Mira O’Hara. „Zumindest hatte ich deren Signaturen noch auf dem Schirm, bevor das Inferno da unten losging. Jetzt haben die Morrhm freie Bahn, um die Mineralienlager der Bergwerkssiedlungen zu plündern.“
„Haben Sie schon einen geeigneten Landeplatz für uns ausgesucht, O’Hara?“, fragte David Kronstein.
„Wir müssen nahe an eine der Bergwerkssiedlungen herankommen und dabei möglichst weit von dem Atominferno entfernt bleiben. Im Moment steuere ich Kar’Anan an.“ O’Hara aktivierte eine schematische Darstellung, die einen Teil des Bildschirms einnahm. Danach war Kar’Anan eine Bergwerkssiedlung auf der dem Raumhafen Kar’Kessimu entgegen gesetzten Hemisphäre des Planeten. Dreihundert K'aradan lebten dort – Bergbauspezialisten im Dienst des Adelshauses Kessir und ihre Familien.
„Wir finden dort alles, was wir brauchen“, fuhr O’Hara fort.
„Ich nehme an, dass sich die Schlacht um das Kessimu-System noch einige Zeit hinziehen wird“, sagte Kronstein. „Es wird also eine Weile dauern, bis uns jemand abholen kommt.“
„Und was diesen Vogel hier angeht, werden wir den kaum wieder starten lassen können, wenn die Vermüllung der Datenspeicher in diesem Tempo voranschreitet“, ergänzte O’Hara.
Wenig später fiel die Ortung aus. Aber da gute Sicht herrschte, war es für eine geübte Pilotin wie O’Hara keine Schwierigkeit, die Siedlung auch so anzufliegen. Sie lag am Fuß eines sehr charakteristischen Gebirges. Eine Kette von zwanzig bis dreißig Kilometer hohen Vulkankratern zog sich über tausend Kilometer fast parallel zum Äquator, bis sie sich mit einer anderen Gebirgsformation traf. Beide zusammen bildeten beim Anblick aus dem All ein T.
O’Hara steuerte Kar’Anan den Umständen entsprechend sicher an. Die charakteristischen Kuppelbauten waren deutlich zu sehen. Das Sonnenlicht des Zentralgestirns von Kessimu spiegelte sich in dem teilweise transparenten Material. Zylinderförmige Silos nahmen die Rohstoffe auf, die in einer vollautomatischen Fabrik sofort weiterverarbeitet wurden. Normalerweise brachte ein steter Strom von Transportgleitern sie nach Kar Kessimu, von wo aus sie dann für den interplanetaren Transport verschifft wurden.
Aber Kar’Kessimu existiert nicht mehr, rief sich David Kronstein ins Gedächtnis. Während des Anflugs auf Kar’Anan schweiften Kronsteins Gedanken kurz ab. Die marsähnliche Landschaft von Kessimu VII ließ ihn an jene Welt im Sol-System denken, die auch für ihn im Verlauf der letzten Jahre zur zweiten Heimat geworden war.
Den roten Planeten.
Die Heimat seiner Freundin Yona.
Ihre Worte klangen ihm im Kopf. Worte, die auf nichts anderes hinausliefen, als dass sie ihre Beziehung in einen Hold-Status versetzt hatten. Eine Pause, so lautete die offizielle Sprachregelung zwischen ihnen. Aber Kronstein befürchtete, dass das nur der Anfang vom Ende war. Irgendwann hat es so weit kommen müssen, dachte Kronstein. So faszinierend es ist, an Bord eines Raumschiffs von Krisenherd zu Krisenherd durch das All zu fliegen – ein beziehungsfreundlicher Beruf ist das nun wirklich nicht...
Der Gedanke daran, dass es zwischen ihm und Yona vielleicht schon zu Ende war, versuchte er zu verdrängen. Die aktuelle Lage hatte schon genug entmutigende Aspekte.
Die Landung, die O’Hara wenig später in der Nähe der Kuppelbauten hinlegte, war für ihre Verhältnisse ungewöhnlich holprig.
Edward Stroemfeld verdrehte die Augen, nachdem alles vorbei und die L-2 noch fast zweihundert Meter über den trockenen, aufgesprungenen Wüstenboden von Kessimu VII geschrammt war.
„Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie das besser gemacht hätten, Stroemfeld“, kam O’Hara einer bissigen Bemerkung des Rudergängers der ALEXANDER zuvor. „Der Höhenmesser und die hinteren Antigravmodule haben sich auf den letzten zweihundert Metern vor der Landung noch von der Kontrolle durch den Bordrechner verabschiedet – und unter solchen Umständen sollten Sie mir das erst einmal nachmachen!“
„So wie es aussieht, ist die Maschine jetzt in einem Zustand, der das wohl definitiv ausschließt“, erwiderte Stroemfeld beißend.
David Kronstein blickte erst auf die Anzeigen der Funkanlage und anschließend aktivierte er seinen persönlichen Kommunikator.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?“, fragte O’Hara.
„Wir bekommen ein automatisches ID-Signal der Siedlung“, stellte er etwas irritiert fest. „Ich schlage, wir ziehen uns Druckanzüge an und verlassen die Fähre, um uns umzusehen!“
„Lassen Sie Corporal Masters und mich vorangehen, Sir!“, schlug Sergeant Galt vor.
Kronstein drehte sich zu den Beiden um.
„In Ordnung.“
*
Wenig später traten die beiden Marines mit dem Gauss-Gewehr im Anschlag ins Freie. Über dem nahen Gebirgszug brauten sich einige der gefürchteten Gewitter zusammen, die für Kessimu VII so charakteristisch waren. Um die Krater hatten sich jeweils Kränze aus schmutzig-weißen Wolken gebildet, aus denen Feuerstrahlen herab schossen, die bis zu zwanzig Sekunden lang sichtbar blieben und sich dabei immer weiter auszudehnen schienen.
„Hier brennt die Luft!“, meldete sich Son Galt über Helmfunk.
„Ich glaube, der Einsatz eines Thermostrahlers dürfte sich unter diesen Umständen wohl prinzipiell verbieten“, gab Doy Masters zurück.
„Es sei denn, man ist selbstmörderisch veranlagt!“
„Du sagst es.“
Corporal Masters griff an die Hüfte und trennte sein mobiles Ortungsgerät von der Magnethalterung. Er schwenkte das Gerät etwas herum, um den gescannten Bereich möglichst groß zu halten.
„Sarge, wenn ich den Daten dieses Moduls glauben darf, befinden wir uns in einer Geisterstadt.“
„Keinerlei Biozeichen?“
„Nein.“
Die beiden Männer gingen in ihren schweren Kampfanzügen auf das Hauptgebäude der Siedlung zu. Es besaß die Form eines Quaders, aus dem mehrere zylinderförmige Türme in den Himmel ragten. Diese Türme waren natürlich mit einer besonderen Blitzableiteranlage verbunden.
Sergeant Galt deutete mit dem Lauf seines Gauss-Gewehrs auf Spuren, die sich in den Boden eingegraben hatten. „Ich nehme an, hier sind Transportschiffe gelandet, um die Menschen von Kar’Anan an Bord zu nehmen und zu evakuieren.“
Doy Masters lachte heiser.
„Wahrscheinlich sind diese Transportschiffe längst von den Morrhm gekapert worden und die K'aradan von Kar’Anan können sich darauf gefasst machen, den Rest ihrer Tage als Sklaven zu verbringen.“
„Vorausgesetzt, wir holen sie nicht heraus!“
„So günstig stand die Schlacht nicht für uns!“
„Auch wieder wahr.“
Sergeant Galt nahm einen letzten Scan der Umgebung vor. Es war tatsächlich nicht ein einziges Bio-Zeichen eines K'aradan zu finden – von Menschen ganz abgesehen.
„Sehen wir uns mal um, was wir hier vorfinden, um zu überleben“, knurrte Masters.
Galt wurde plötzlich abgelenkt.
Irgend etwas tauchte am Horizont auf. Galt hatte in den Jahren, in denen er sich bei den Marines des Space Army Corps zum Sergeant hochgearbeitet hatte, einen sechsten Sinn für die Gefahr entwickelt. Einen Sinn, der ihm sofort und unmissverständlich signalisierte, wann er zu handeln hatte.
Mit Hilfe des in sein Helmvisier integrierten Zooms holte er die bislang für ihn kaum punktgroßen Objekte näher heran.
Dachte ich es mir doch, ging es ihm durch den Kopf. Sturm-Shuttles der Morrhm!
*
„Sauerstoffblasen“, fragte Captain Theo Tulane ungläubig. Der Kommandant der FAR GALAXY EXPLORER lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander.
„Ich weiß, wie seltsam das klingt, aber das trifft es genau!“, erklärte Ortungsoffizier Joseph Bramsson. „Und in diesem Fall glaube ich nicht an eine Fehlfunktion des Ortungssystems.“
„Immerhin eine effektive Art und Weise Tausende von Besatzungsmitgliedern zu evakuieren“, stellte Alex Enarom fest. Der Erste Offizier verschränkte die Arme vor der Brust.
„Es ist sind Sklaven – keine Besatzungsmitglieder“, korrigierte Tulane. „Gefangene, die sich befreien konnten...“
Bramsson aktivierte eine schematische Darstellung, die veranschaulichte, wie sich die Luftblasen mit den Gefangenen langsam von dem brennenden Wrack fortbewegten.
„Sie sind hilflos und müssen möglichst schnell aus den Blasen herausgeholt werden, wenn sie überleben sollen!“
„Es sind zwei unserer Sondereinsatzkreuzer in unmittelbarer Nähe – und ein weiterer hat es so gut wie erreicht“, meldete Bramsson. „Allerdings sendet keines dieser Schiffe noch eine ID-Kennung...“
„...oder ist über Funk erreichbar!“, ergänzte Debra Abdurrahman. Die Kommunikationsoffizierin der FAR GALAXY EXPLORER blickte noch einmal auf das Display ihrer Konsole und runzelte die Stirn. „Beides kann wohl nur bedeuten, dass diese Einheiten erheblich mehr unter der Speichervermüllung zu leiden haben als wir! Allerdings ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis wir da aufgeholt haben.“
„Wir müssten den Gefangenen in den Blasen helfen. Selbst, wenn die Space Army Corps Einheiten voll einsatzfähig wären, könnten sie wahrscheinlich nicht alle an Bord nehmen...“, erklärte Alex Enarom.
„Wir werden das verschieben müssen, I.O.“, entschied Tulane. „Zuerst müssen wir den Sprung in den Sandström-Raum hinter uns gebracht haben, um damit hoffentlich wieder die volle Kontrolle über die Systeme zu erlangen.“
„Ich muss Sie darauf hinweisen, dass sich diese Kontrolle erst dann wieder einstellen wird, sobald ein ausreichend großer Anteil der Speicher von dem aufgespielten Datenmüll gereinigt wurde“, gab Abdurrahman zu bedenken.
„Das ist mit bewusst“, murmelte Tulane düster. „Aber immerhin besteht dann eine reelle Chance, das hinzubekommen.“
„Und wie verhindern wir einen erneuten Zugriff des Datenstrahls?“, fragte Waffenoffizier Jack Raimi.
„Eine gute Frage“, meinte Enarom.
„Auf die wir leider im Moment wohl noch keine Antwort haben“, schloss Tulane die Aussprache. „Aber ich sehe keinen anderen Weg. Wenn wir jetzt einfach Kurs auf die Luftblasen nehmen, werden wir in Kürze genauso manövrierunfähig dahindümpeln wie der gesamte Rest unserer Flottille.“ Tulane erhob sich jetzt von seinem Kommandantensessel und wandte sich an den Rudergänger. „Unsere gegenwärtige Geschwindigkeit, Mister Duval?“
„Exakt 3,8934 LG“, erwiderte Duval. „Allerdings habe ich Zweifel daran, dass die Sandström-Aggregate uns für längere Zeit im Zwischenraum halten werden.“
Tulanes Augen wurden schmal. „Was soll das heißen?“
„Dass mir der L.I. bereits jetzt Ausfälle meldet, die sich innerhalb des Systemchecks ergeben haben, der jedem Sandström-Flug vorausgeht.“
„Captain, auch eine sehr kurze Sandström-Flugphase müsste den Zweck des Manövers eigentlich erfüllen und uns vom Zugriff des Datenstrahls trennen“, glaubte Enarom.
„Funk! Geben Sie mir den L.I.!“, befahl Tulane.
„Aye, aye, Sir!“
Wenig später erschien das Gesicht von Moshe Yonk, dem Leitenden Ingenieur der FAR GALAXY EXPLORER auf einem Nebenbildschirm.
Yonk riet dringend zu einem sehr kurzen Eintauchen in den Sandström-Raum. „Ich schlage vor, die Sequenz zum Wiedereintritt sofort nach Eintauchen in den Sandström-Raum zu aktivieren. Normalerweise würde ich mit einem Sandström-Aggregat, dessen Datenspeicher bereits überwiegend vor dem Kollaps stehen, überhaupt keine Reise mehr machen, aber in diesem Fall ist es wohl unsere einzige Chance, den unerwünschten Kontakt loszuwerden.“
Unerwünschter Kontakt – dieser Ausdruck dürfte die Untertreibung des Jahrhunderts für dieses Phänomen sein, ging es Tulane durch den Kopf. Ein Ausdruck, der wahrscheinlich besser auf Admiral Nainovel und seine Reaktivierungsorder passt als auf diesen Mechanismus, der aus der Tiefe unter dem Eispanzer von Tamo auf unser System zugegriffen hat!
Einen Augenblick stand Theo Tulane mit nachdenklichem Gesicht da. Er zupfte sich auf eine für ihn sehr charakteristische Weise an seinem Bart und nickte schließlich sehr entschieden. „Ich folge Ihren Vorschlägen“, erklärte er. „Mister Duval, halten Sie unseren Aufenthalt im Zwischenraum sowohl zeitlich als auch räumlich gesehen so kurz wie möglich!“
„Jawohl, Sir“, kam Duvals Bestätigung.
Noch zehn Minuten vergingen, bis die FAR GALAXY EXPLORER die zum Eintritt in den Sandström-Raum nötige Geschwindigkeit erreicht hatte.
Das Forschungsschiff in den Diensten des Far Galaxy Konzerns entmaterialisierte.
Von den Ortungsschirmen der Morrhm verschwand es einfach und tauchte mehrere astronomische Einheiten entfernt wieder auf.
„Wiedereintrittsmanöver abgeschlossen“, erklärte Duval. „Geschwindigkeit liegt mit 5,1 LG zwar deutlich über dem Normalwert, ist aber noch gerade tolerabel. Die Differenz ist dadurch bedingt, dass die Kontrollen des Sandström-Aggregats offenbar nicht mehr einwandfrei reagierten.“
„Gut, dass wir uns nur so kurz im Zwischenraum aufgehalten haben“, lautete Enaroms Kommentar. „Andernfalls wären wir vielleicht mit achtzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit ins Normaluniversum zurückgestürzt und sofort verdampft.“
„Was ist mit dem Zugriff des Datenstrahls?“, hakte Tulane nach.
Sowohl Duval als auch Bramsson machten sich sofort an die Überprüfung des Bordrechners.
„Keine Anzeichen für einen Zugriff mehr erkennbar“, meldete Duval schließlich. „Unser Plan hat offensichtlich funktioniert!“
Tulane atmete tief durch. „Na, wenigstens etwas.“
„Wir empfangen übrigens wieder ein ID-Signal der SONNENWIND“, ergänzte Abdurrahman. „Entweder die Besatzung hat inzwischen ebenfalls eine andere Möglichkeit gefunden, mit dem Problem fertig zu werden, oder...“ Sie sprach nicht weiter. „So wie sich mir das jetzt darstellt, lag es nicht an der SONNENWIND, sondern an uns. Unser System war einfach nicht in der Lage, das Signal zu interpretieren.“
„Versuchen Sie Kontakt aufzunehmen.“
„Ja, Sir.“
*
Augenblicke später war die Stimme von Captain Chip Barus, dem Kommandanten des Sondereinsatzkreuzers SONNENWIND zu empfangen. „Leider verfügen wir im Moment nur über eine Möglichkeit der Übertragung von Audio-Signalen“, erklärte Barus. „Hier an Bord geht alles drunter und drüber, nachdem fast kein System mehr einwandfrei läuft. Immerhin funktionieren die Gauss-Geschütze noch, auch wenn wir uns nicht mehr auf die Zielerfassung verlassen können. Aber es ist uns trotzdem gelungen, ein weiteres Mutterschiff der Morrhm zu zerstören.“
Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Heldentat, ein unbewaffnetes Riesenschiff nicht zu verfehlen, lag Tulane eine bissige Bemerkung auf der Zunge.
„Sind Sie manövrierfähig?“, fragte Tulane.
„Nur eingeschränkt.“
„Bekommen Sie ein kurzes Eintauchen in dem Sandström-Raum hin?“
„Ausgeschlossen. Unser Sandström-Aggregat reagiert überhaupt nicht mehr und das Mesonentriebwerk läuft mit einer Kapazität von dreißig Prozent seiner Leistungskraft, weil das System zur Steuerung der Energieversorgung durch eine rätselhafte Datenübertragung so in Mitleidenschaft gezogen wurde, dass wir froh sein können, keine größeren Einschränkungen bei der Lebenserhaltung hinnehmen zu müssen.“
„Haben Sie nähere Erkenntnisse über die Gefangenen, die mit den Luftblasen entkommen konnten?“
„Nur, dass wir sie schnell an Bord unserer Schiffe nehmen müssen, wenn wir noch jemanden retten wollen. Ich hoffe, Sie können bald bei uns sein, weil wir kaum in der Lage sind, uns selbst zu helfen.“
„In drei bis vier Stunden frühestens“, erklärte Tulane.
*
Lieutenant Commander David Kronstein und die anderen Überlebenden der ALEXANDER verließen die Landefähre, deren Systeme inzwischen ohnehin keinen Neustart mehr zugelassen hätten. Sämtliche Datenspeicher waren mit sinnlosem Zeichenwirrwarr überlastet.
Nachdem Son Galt das Herannahen der Morrhm-Sturm-Shuttles gemeldet hatte, blieben nur wenige Augenblicke, um die zur Standardausrüstung der L-2 gehörenden Raumanzüge überzustreifen. Im Gegensatz zu den Anzügen der Marines waren die Standard-Druckanzüge natürlich kaum gepanzert.
Kronstein ging als Erster ins Freie.
Das Donnergrollen von den nahen Vulkankratern war ohrenbetäubend. Auch der Helm des Druckanzugs dämpfte diese Geräusche kam ab. Immer wieder blitzte es aus dem Wolkenkranz um den Kraterrand. Feuerspuren suchten ihren gewundenen Weg durch die Atmosphäre.
Die Schwerkraft von Kessimu VII lag bei sechzig Prozent der Erdnorm. Für Menschen ein sehr günstiger Wert. Einerseits hatte man deutlich mehr Kraft als auf der Erde, aber andererseits war die Gravitation stark genug, um weiterhin im Wesentlichen die gewohnten Bewegungsabläufe beibehalten zu können.
Die Leitende Ingenieurin Montserrat Yukikawa folgte Kronstein ins Freie.
„Am besten, Sie suchen die Gebäude auf und verstecken sich dort“, sagte Galt. „Es wird dort mit Sicherheit gepanzerte Strahlenschutzräume oder dergleichen geben. Die halten vielleicht auch einen Beschuss durch die Primitiv-Bewaffnung der Morrhm aus.“
„Wäre es nicht besser, wir würden an Bord der L-2 bleiben?“, fragte Stroemfeld, der als Dritter das Beiboot der havarierten ALEXANDER verließ.
„Nein“, sagte Galt. „Ich wette drei zu eins, dass die L-2 das erste Ziel dieser Riesenheuschrecken da oben am Himmel sein wird!“
„Los, alle raus und in die Gebäude!“, befahl Kronstein unmissverständlich. Vielleicht sollte ich Leute wie Stroemfeld öfter darauf hinweisen, dass ich nach dem Tod des Captains das Kommando innehabe!
George Garcia und Turgut Bakir passierten als nächste die Außenschleuse. Garcia führte mit einem mobilen Ortungsgerät einen kurzen Umgebungsscan durch.
„Passen Sie auf, Kronstein!“, sagte er.
„Wieso?“
„Es ist bei ihren Füßen!“
Kronstein blickte hinab. Der Boden hob sich leicht, brach auf und ein skorpionähnliches, handgroßes Wesen befreite sich vom Erdreich. Noch ehe Kronstein reagieren konnte, erfasste der Partikelstrahl eines Nadlers den Körper des Wesens und zerstörte ihn.
Kronstein machte einen Satz zurück.
Es war Stroemfeld, der geschossen hatte. „Diese Welt ist offenbar nicht so tot, wie sie auf den ersten Blick scheint“, lautete sein Kommentar.
„Danke, Lieutenant.“
„Keine Ursache. Aber wir sollten in Zukunft die Augen offen halten...“
Nachdem auch Rahmani, Dr. McFadden und O’Hara die L-2 verlassen hatten, ging die Gruppe in Richtung der Gebäude.
Garcia wies ihnen mit Hilfe seines Ortungsgerätes den Weg.
Sie erreichten schließlich den Eingang eines Gebäudekomplexes. David Kronstein legte ein Modul an und innerhalb weniger Augenblicke war er in den internen Rechner eingedrungen. Das Außenschott glitt zur Seite.
„Na bitte, wer sagst’s denn!“, sagte Stroemfeld.
„Es wurde nicht einmal eine Verschlüsselung durchgeführt“, meinte Kronstein überrascht.
„Kein Wunder, die K'aradan haben diese Ort offenbar vollkommen überstürzt verlassen“, meinte Charles Rahmani.
„Die meisten von denen, die von den Transportern abgeholt wurden, werden wahrscheinlich inzwischen längst in Gefangenschaft der Morrhm geraten sein“, glaubte Dr. McFadden.
Galt und Masters waren dabei, an unterschiedlichen Positionen in Stellung zu gehen.
Kronstein drehte sich noch einmal um. Es gefiel ihm nicht, die beiden zurückzulassen. Aber sie waren nun einmal die einzigen, die entsprechend ausgebildet und ausgerüstet waren, um den Angreifern Widerstand leisten zu können.
Schließlich folgte Kronstein den anderen.
„Die Strahlenschutzräume sind unterirdisch angelegt“, meldete Garcia nach einem Blick auf sein Ortungsgerät. „Offenbar kommt es hier regelmäßig zu einem Partikelregen wie beim Sonnenwind des Sol-Systems. Das Material, aus dem die Gebäude sind, zeigt deutliche Spuren auf Nano-Ebene davon.“
„Momentan sind die Strahlungswerte aber absolut im Rahmen“, ergänzte Dr. McFadden mit Blick auf seinen eigenen Scanner, den er etwas herumschwenkte. „Aber das kann sich angesichts der dünnen Atmosphäre schnell ändern.“
„Zumal Kessimu VII zwar in seiner Geschichte eine Phase erheblicher vulkanischer Aktivität gehabt haben muss, aber inzwischen in seinem Inneren völlig erkaltet sein muss. Jedenfalls gibt es kein nennenswertes Magnetfeld.“
Kronstein hob die Augenbrauen. Noch eine Gemeinsamkeit mit dem Mars, ging es ihm durch den Kopf.
Sie fanden einen Antigrav-Schacht, der abgeschaltet war, sich aber leicht reaktivieren ließ.
*
Vielleicht hätten wir uns doch besser einen Landeplatz irgendwo mitten in der endlosen Steinwüste dieses Planeten suchen sollen, überlegte Galt, während er sich mit seinem Gauss-Gewehr in Stellung begeben hatte.
Masters befand sich mehrere Hundert Meter von ihm entfernt bei einem anderen Gebäude. Die Position des Corporals hatte Galt ständig als Markierung in einer schematischen Übersicht vor sich, die im linken unteren Eck seines Helmdisplays sichtbar war.
Durch Blickkontakt ließ sich das Menue vergrößert anzeigen, wenn es wichtig werden sollte.
Ansonsten waren die beiden Marines ständig durch Helmfunk miteinander verbunden. Um während des bevorstehenden Gefechtes nicht durch die Helmkommunikation der anderen Überlebenden gestört zu werden, hatten sie auf einen anderen Kanal geschaltet.
Die Morrhm entdeckten natürlich sofort das Beiboot der ALEXANDER.
Eines der Sturm-Shuttle feuerte mit einem Projektilgeschütz auf die L-2. Die Projektile pflügten erst über den Boden und trafen im nächsten Moment die Fähre. Sie explodierte. Glühende Trümmerteile flogen durch die Luft und wurden jeweils von Feuerauren umflort. Eine Welle aus Druck und Hitze breitete sich aus, die im Umkreis von dreihundert Metern absolut tödlich war. Flammen tanzten aus dem Boden oder entstanden plötzlich in der Luft.
„Krieg führen ist auf einer Welt mit über vierzig Prozent Sauerstoff kein Vergnügen“, sagte Galt.
„Da sollten wir mal eine Übung auf dem Merkur durchführen, damit wir uns an so etwas gewöhnen.“
„Der Merkur hat eine Atmosphäre?“, wunderte sich Galt.
„Ja, auch wenn der Luftdruck mit 10-13 bar so niedrig ist, dass es einem Laborvakuum sehr nahe kommt. Aber der Sauerstoffanteil beträgt 42 Prozent!“
„Kommen Sie von dort oder woher wissen Sie das?“
„Geburtsort: Goethe – im Zentrum des gleichnamigen Kraters. Lesen Sie nie die Personalakten Ihrer Leute, Sarge?“
„Ich will jedem eine Chance geben.“
„Oh...“
Son Galt registrierte über sein Ortungsgerät, dass selbst die Biozeichen der Skorpionkrabbler, die von seiner Anzugortung gespeichert worden waren, plötzlich in dem betroffenen Gebiet verloschen.
Habe ich mir doch gleich gedacht, dass die da nicht lange fackeln, dachte Galt. Er überprüfte die Strahlungswerte. Es handelte sich offenbar um einen konventionellen Sprengsatz, ohne atomare Komponente. Die Werte waren nämlich normal.
Es war Galt durchaus klar, dass dies nichts mit einer plötzlichen Hinwendung zu humanitären Werten auf Seiten des Gegners zu tun hatte. Vielmehr sah Galt darin einen Indiz, dass die Morrhm es tatsächlich auf die Silos mit Mineralien abgesehen hatten. Deren Nano-Struktur wäre durch eine Verstrahlung in Mitleidenschaft gezogen worden und das wollte man auf der anderen Seite offenbar vermeiden.
Galt aktivierte die Zielerfassung seines Gauss-Gewehrs, die mit Masters’ System koordiniert wurde, um zu verhindern, dass die Marines auf dieselbe Maschine zielten.
„Es geht los, Corporal!“, murmelte er über Helmfunk.
„Alles klar, Sarge.“
Galt feuerte um den Bruchteil einer Sekunde früher als Masters. Kurz nacheinander wurden zwei der Sturm-Shuttles getroffen. Sie zerbarsten und ließen einen Regen von Trümmerteilen niedergehen. Die Atmosphäre um die explodierenden Shuttles geriet in Brand. Feuerbälle blähten sich auf.
Auch die nachfolgenden Maschinen wurden in Mitleidenschaft gezogen. Eine setzte zur Notlandung an.
Sie feuern nicht einfach zurück oder lassen hier alles in einem Atompilz vergehen, dachte Galt. Die Mineraliensilos müssen ihnen offenbar sehr wichtig sein...
Die nächsten beiden Sturm-Shuttles setzten zur Landung an.
Die Außenschotts öffneten sich. Einige der Morrhm-Krieger sprangen bereits aus einer Höhe von fünf Metern aus dem Shuttle, rollten sich geschickt am Boden ab und gingen sofort in Stellung.
Ein Shuttle konnte Masters noch treffen. Dann wurde ein Hagel von panzerbrechenden Projektilgeschossen in seine Richtung abgegeben.
Auf die Entfernung konnte man einem Marine im schweren Panzeranzug damit aber kaum gefährlich werden, zumal die Morrhm keine guten Schützen waren und ihre Waffen wohl eindeutig für den Nahkampf gedacht waren. Innerhalb von Augenblicken waren Dutzende von ihnen am Boden. Danach erst gelang es Galt, einen weiteren Sturm-Shuttle zu treffen. Die Maschine wurde von zwei Gauss-Geschossen durchschlagen. Die Reibung mit der Atmosphäre sorgte auf Kessimu VII immer gleich für eine Feuerspur, wie man sie ansonsten auch bei den Blitzen beobachten konnte. Nur, dass diese Feuerspuren absolut geradlinig waren.
An Bord des Morrhm-Shuttles brach ein Brand aus. Die letzten Krieger sprangen von Bord, während das brennende Shuttle auf seinem Antigravaggregat davon schwebte. Ohne Kontrolle trudelte es auf ein Gebäude zu, während die Flammen immer höher schlugen. Schließlich krachte es in das Gebäude hinein – einen quaderförmigen Bau, den Galts Scan als Wohnhaus identifiziert hatte.
Ein Flammenpilz schoss fast hundert Meter in die Höhe.
Augenblicke später waren nur noch verrußte Trümmer zu sehen.
Die abgesetzten Morrhm-Krieger gingen in Deckung, schnellten dann hoch, um sich hinter der nächsten Anhöhe oder dem nächsten Felsbrocken erneut zu verbergen.
„Jetzt werden sie es auf einen Kampf Mann gegen Mann anlegen“, sagte Galt über Helmfunk.
„Wie viele sind es Ihrer Zählung nach?“, fragte Masters.
„Fünfzehn oder zwanzig Krieger, Corporal.“
Masters feuerte. Das Gauss-Geschoss pflügte durch einen kleinen Hügel hindurch, über dessen Kamm einer der Morrhm-Krieger seinen Kopf gesteckt hatte.
„Jetzt sind es ein paar weniger!“, kommentierte er.
Die Anzeige seines Helmdisplays blinkte auf. „Da nähert sich aus Westen ein weiteres Shuttle!“, stellte er fest.
Galts Ortungsgerät hatte die Maschine ebenfalls erfasst.
„Sieht so aus, als würde das Shuttle bereits außerhalb unserer Sichtweite landen!“, stellte Galt dann fest.
„Na logisch, die haben Angst, dass wir sie auch vorzeitig vom Himmel holen, Sarge!“
„Das bedeutet, dass sich jetzt eine weitere Horde von Morrhm-Kriegern auf dem Fußweg hierher aufgemacht hat. Bei der geringen Schwerkraft werden die hier schneller auftauchen, als uns lieb ist!“
*
Joseph Bramsson blickte angestrengt auf die Anzeigen der Ortungskonsole. Fast vier Stunden waren vergangen, seit die FAR GALAXY EXPLORER kurz in den Sandström-Raum eingetaucht war und es damit geschafft hatte, die Verbindung zu dem mysteriösen Datenstrahl zu kappen.
Alle Systeme arbeiteten seitdem einwandfrei.
Allerdings gab es immer wieder Zugriffsversuche auf die Speicherplätze des Bordrechners. Um diesmal einen schleichenden Kollaps zu verhindern, hatte sich der Leitende Ingenieur Moshe Yonk eine Methode ausgedacht, die zwar ziemlich rabiat, dafür aber bislang erfolgreich war. Die Systeme des Bordrechners waren so rekonfiguriert worden, dass beim Eindringen der Fremddaten sofort ein Reset mit einer Neukalibrierung des jeweiligen Teilsystems geschaltet wurden.
Dieses Vorgehen führte dann zwar zu einem partiellen Systemausfall, aber der war innerhalb einer Viertelstunde behoben. Und so lange ließen sich sogar Dunkelheit, Ausfall der Sauerstofferneuerung oder ein Wegfall der künstlichen Schwerkraft ertragen.
Aus diesem Grund hatte die FAR GALAXY EXPLORER auch etwas länger als geplant gebraucht, um die Sauerstoffblasen mit den evakuierten Sklaven zu erreichen.
Eine dieser Blasen hatte sich bereits ein ganzes Stück von dem ursprünglichen Flaggschiff der Morrhm entfernt und flog dem Forschungsschiff in den Diensten des Far Galaxy Konzerns quasi entgegen. Die anderen Blasen entfernen sich hingegen.
Auf diese Weise wird uns die Entscheidung darüber, welche Blase wir ansteuern immerhin abgenommen, dachte er beinahe erleichtert, denn es graute ihn davor, darüber entscheiden zu müssen, wer sofort gerettet werden konnte und wer noch warten musste.
Warten war möglicherweise gleichbedeutend mit dem Tod...
Schließlich war die FAR GALAXY EXPLORER gegenwärtig die einzig manövrierfähige Einheit auf Seiten des Space Army Corps und der verbündeten K'aradan.
Wir werden noch nicht einmal alle Überlebenden aus EINER Sauerstoffblase an Bord nehmen können, sah Theo Tulane die Lage vollkommen illusionslos. Der Gedanke daran, mit Sicherheit den Großteil der Überlebenden dieser Blase zurücklassen zu müssen, war für Tulane ein Albtraum. Darüber werde ich doch noch in zwanzig Jahren meinem Therapeuten die Couch voll flennen. So etwas vergisst man nicht. Und jeder, der von sich behauptet, das wegstecken zu können, der lügt.
„Captain, mehrere Raumschiffe materialisieren aus dem Sandström-Raum“, meldete Bramsson. „Es sind Tellerschiffe der mit der ID-Kennung der imperialen Kriegsflotte des K'aradan-Reichs!“
„Funk! Stellen Sie sofort eine Verbindung zu diesen Schiffen in Konferenzschaltung her!“, wandte sich Tulane an Debra Abdurrahman.
„Aye, aye, Sir!“, bestätigte sie, während ihre Finger bereits über die Sensorfelder des Touchscreens glitten.
„Senden Sie das ganze mit der Notrufkennung, damit es auch entsprechend beachtet wird. Und schalten Sie anschließend direkt zum L.I.“
„Jawohl.“
Über Interkom nahm Captain Tulane zunächst jedoch selbst Kontakt zu Moshe Yonk auf.
„Ein paar K'aradan-Kriegsschiffe sind soeben materialisiert! Ich möchte, dass Sie Kontakt aufnehmen und Ihnen Ihre Methode erklären, um es gar nicht erst zu einem Speicherkollaps kommen zu lassen.“
„Ich, Sir?“
„Für diplomatisches Geplänkel von Captain zu Captain haben wir leider keine Zeit. Grüßen Sie die Kommandanten der anderen Seite unbekannterweise von mir oder geben Sie sich selbst als Captain aus. Das ist mir gleichgültig. Und noch was! Die sollen sich gleich hier her begeben, wenn sie noch ein paar K'aradan-Leben retten wollen!“
Captain Tulane sah seinem Leitenden Ingenieur an, dass dieser sicher noch irgendeinen Einwand vorbringen wollte. Gerade noch rechtzeitig, um das zu verhindern, schaltete Tulane die Verbindung ab.
Tulane hielt es jetzt nicht länger in seinem Kommandantensessel, in dem er schon die ganze Zeit über ziemlich unruhig hin und her gerutscht war.
Er erhob sich und wandte sich an seinen Rudergänger.
„Aktuelle Geschwindigkeit, Duval?“
„0,00102LG. Kontakt mit der Sauerstoffblase in 11 Minuten.“
„Die Verbindung zum Andocken ist bereit“, meldete Enarom. „Allerdings weiß keiner von uns, wie das ultrafeine Karbon-Material reagieren wird, wenn wir es auftrennen. Es wird zweifellos Sauerstoff dabei ins All entweichen...“
„Schwieriger als das Andocken wird die Trennung der Verbindung sein“, prophezeite Duval.
Über Interkom meldete sich Dr. Bros Cheng, der Schiffsarzt der FAR GALAXY EXPLORER. Er befand sich im Vorraum der Außenschleuse. „Das medizinische Team steht zur Versorgung der Evakuierten bereit“, erklärte Dr. Cheng. „Ich fürchte nur, dass die Kapazitäten hinten und vorne nicht reichen.
„Gut“, nickte Tulane.
„Bleiben Sie dabei, dass es keine Auswahlkriterien gibt, Captain?“
„Ja. Wir nehmen so viele auf wie möglich und werden dann die Schotten schließen müssen. Das geht leider nicht anders.“
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Die letzten Minuten vergingen wie in Zeitlupe.
Mit regungslosem Gesicht verfolgte Tulane, wie sein Schiff an die Blase andockte. Für Rudergänger Duval war das ein schwieriges Manöver. Niemand konnte einschätzen, wie widerstandsfähig das das hauchdünne, transparente Material tatsächlich war, dass die Blase zusammenhielt.
Eine schlauchartige Verbindung wurde bis auf das Äußerste ausgefahren. Routinemäßig saugte sich das Ende dieser Verbindung an der Karbon-Oberfläche fest.
„Das Material hält“, atmete Duval schließlich auf. „Wir können die ganz normale Standardprozedur beim Eindocken an eine nichtmetallische Oberfläche verwenden.“
„Bekommen Sie die Schlauchverbindung dicht?“, vergewisserte sich Enarom.
Duval nickte. „Ja, Sir. Es wird jetzt automatisch der Zugang in die Karbon-Membran geschnitten – aber fragen Sie mich nicht, ob wir den später wieder verschließen können.“
Noch einmal vergingen angespannte angstvolle Momente.
Dann meldete Dr. Cheng das Eintreffen der ersten Evakuierten.
*
Rena Sunfrost taumelte zusammen mit einem Dutzend K'aradan in den schlauchartigen Gang, der die Blase mit der FAR GALAXY EXPLORER verband. Dort gab es Griffe, mit deren Hilfe die Fortbewegung in der Schwerelosigkeit leichter war.
Als sie schließlich die Schleuse erreichte, spürte sie wieder die volle Erdschwerkraft. Sie hatte das Gefühl, eine zentnerschwere Last auf die Schultern geladen zu bekommen.
Du bist gerettet. An Bord eines Schiffes, in dem Menschen an der Steuerkonsole sitzen... Rena konnte es kaum fassen.
Ein Mann mit grauen Haaren und hoher Stirn sprach sie an. Die schmalen Augen zeigten einen asiatischen Einschlag. Er schwenkte eine Medoscanner herum und fuhr damit vom Kopf abwärts den Körper entlang. „Mein Name ist Dr. Cheng, ich bin der Schiffsarzt. Nach dem, was mein Medoscanner anzeigt, waren Sie erheblichen Strahlenbelastungen ausgesetzt und ich möchte Ihnen daher ein Medikament verabreichen, dass...“
Rena hörte überhaupt nicht zu. Die Gedanken rasten nur so durch ihren Kopf.
„Ich bin Rena Sunfrost, Captain im Dienst des Space Army Corps und möchte, dass Sie mich sofort mit Ihrem Kommandanten verbinden...“
„Ich denke, das hat Zeit, Captain Sunfrost!“
„Nein, hat es nicht. Das brennende Wrack des Morrhm- Mutterschiffs kann jederzeit explodieren.“
„Natürlich. Es ist stark beschädigt und...“
„Die Morrhm habe eine Selbstzerstörungssequenz aktiviert und die Luftblasen mit den Gefangenen dienen nur dazu, möglichst viele Schiffe anzulocken, damit die Zerstörungen auf unserer Seite besonders verheerend sind...“
„Sie müssen sich erst einmal beruhigen, Captain Sunfrost...“
„Nein, Sir! Ich will mit dem Captain sprechen!“
Ihre Augen glänzten fiebrig.
Rena spürte, dass sie am Ende ihrer Kraft war. Es war purer Zufall, dass die FAR GALAXY EXPLORER genau an der Seite der Blase andockte, an der sie sich zu diesem Zeitpunkt gerade befand, so dass sie zu den ersten Geretteten gehörte. Aber nach Renas Empfinden erwuchs daraus auch eine Verpflichtung. So gern sie sich auch einfach zurückgelehnt hätte – sie konnte den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen.
Dr. Cheng aktivierte seinen Kommunikator.
„Captain? Es scheint hier ein Problem zu geben...“
*
Wenig später wurde Rena Sunfrost von einem Sanitäter zur Brücke gebracht. Zuvor war ihr ein Medikament gegen die Folgen der Verstrahlung verabreicht worden.
Rena war überrascht, als sie den Captain erkannte.
„Captain Tulane!“, stieß sie überrascht hervor. „Ich hätte nicht gedacht...“
„...dass wir uns unter solchen Umständen wiedersehen, Sunfrost?“ Ein mildes Lächeln spielte um Tulanes Lippen. „Willkommen an Bord. Ich hoffe, Sie haben die Zeit in der Morrhm-Sklaverei einigermaßen überstanden.“
„Ich bin mehr oder weniger stark verstrahlt worden, Sir.“
„Glücklicherweise hat der Konzern, für den ich inzwischen arbeite, einiges dafür getan, dass es gegen die Folgen inzwischen eine sehr wirksame medikamentöse Behandlung gibt.“
„Ich weiß.“
„Wenn Sie Glück haben, kommen Sie ohne dauerhafte Zellschädigungen davon und können sogar noch Kinder in die Welt setzen, falls Sie das wollen.“
„Im Moment geht es mir mehr um den Augenblick, Sir!“ Sie deutete auf den Panorama-Schirm, auf dem eine herangezoomte Darstellung des Morrhm-Flaggschiffs zu sehen war. „Das Ding wird uns allen um die Ohren fliegen! Ich habe versucht, die Selbstzerstörung rückgängig zu machen, aber meine Kenntnisse der Schrift der Alten Götter ist sehr begrenzt...“
Rena redete sich förmlich in Rage.
Für einen Moment hatte sie das Gefühl, sich in einem Traum zu befinden. Einem Traum, der sich noch nicht so recht entschieden hatte, ob er Wunsch- oder Albtraum werden wollte.
„Die Schrift der Alten Götter?“, echote Tulane und unterbrach sie damit.
„Die Morrhm verwenden deren Zeichensatz“, erklärte sie.
„Dann wären Sie sicherlich ein begehrter Gesprächspartner für Professor von Schlichten. Kennen Sie ihn?“
„Captain Tulane, der Häuptling dieses Morrhm-Stammes hat mir seinen Plan ins Gesicht gesagt!“ Rena fasste noch einmal alles zusammen, was es dazu zu sagen gab.
„Wir hatten ja bereits den Verdacht, dass eine Selbstzerstörung vorbereitet wird“, äußerte sich Enarom.
„Es werden seit Stunden Brände innerhalb des Schiffes registriert“, ergänzte Bramsson. „Es brechen immer wieder Teile der Außenpanzerung heraus. Kühlgase und Atemluft treten in großen Mengen aus – aber wenn die Morrhm wirklich planen würden, ihr Flaggschiff als Waffe einzusetzen, dann wäre es doch längst explodiert!“
„Ganz meine Meinung“, nickte Jack Raimi.
„Sie unterschätzen Atraan!“, sagte Rena Sunfrost. „Dieser Häuptling hat sich sehr genau überlegt, was er tut. Und ich bin mir sicher, dass er sich auch ausgerechnet hat, wann frühestens die ersten Schiffe die Blasen erreicht haben könnten!“
„Achtung, an Bord des Wracks ist eine Atomexplosion ausgelöst worden“, meldete Bramsson.
„Das ist wahrscheinlich nur der Zünder für das eigentlicher Inferno“, war Sunfrost überzeugt.
„Die MARIA STUART sitzt nach wie vor an der Außenhülle fest“, gab Enarom zu bedenken.
„Seit einer Stunde ist es allerdings nicht mehr möglich, Funkkontakt aufzunehmen“, stellte Debra Abdurrahman fest. „Ursache ist wahrscheinlich die altbekannte Speicherüberlastung.“
„Versuchen Sie es trotzdem auf allen Frequenzen – auch wenn diese Warnung wahrscheinlich zu spät kommen wird!“
„Eine weitere Explosion!“, rief Bramsson. „Der Energiestatus steigt exponentiell. Das Ding fliegt in Kürze auseinander!“
„Unser Abstand ist zum Glück einstweilen groß genug“, glaubte Duval.
Aber Enarom war da skeptischer. „Niemand von uns weiß, was geschieht, wenn uns eines ihrer Raumsprung-Triebwerke um die Ohren fliegt.“
„Und dazu könnten die Atomsprengsätze die Zünder sein“, schloss Rena Sunfrost.
Tulane ging zwei Schritte hin und her. Er fasste sich dabei an das von Barthaaren überwucherte Kinn. Dann schnipste er mit den Fingern der rechten Hand und entschied. „Ruder! Beschleunigen Sie!“
„Sir, die Evakuierung ist noch nicht abgeschlossen! Die Blase...“
„Die Blase werden wir einfach mit uns ziehen.“
„Das ist Wahnsinn!“
„Die Evakuierung muss eben unter erschwerten Bedingungen fortgesetzt werden. Anders geht es nicht.“
„Keine Reaktion der MARIA STUART“, meldete Abdurrahman.
In diesem Augenblick verwandelte sich das ehemalige Flaggschiff der Zuur-Morrhm in eine Atomsonne.
*
Captain Gossan starrte wie gebannt auf das grelle Licht, das den Panorama-Schirm seines Schiffes jetzt vollkommen ausfüllte. Mehrere Techniker waren in Raumanzügen draußen im All und versuchten, die MARIA STUART aus ihrer Zwangslage zu befreien. Mit Thermoschneidbrennern frästen sie Teile aus der Außenhülle des Morrhm-Mutterschiffs heraus, um endlich zu erreichen, dass der Sondereinsatzkreuzer sich von dem Wrack löste.
Zu starten war unmöglich. Die Systeme reagierten allesamt nicht mehr.
In diesem Moment ging eine Erschütterung durch das Schiff, die Gossan beinahe zu Boden warf.
Lieutenant Knight wurde aus seinem Schalensitz geschleudert.
Das Licht flackerte.
„Strahlungswerte steigen!“, meldete Petra DeKerk. Die Stimme der Ortungsoffizierin überschlug sich. „Da muss im Inneren des Triebwerksreaktors eine Fusionsreaktion ausgelöst worden sein.“
Gossan fühlte sich, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen.
Er schaltete eine Interkom-Verbindung zum Maschinentrakt.
Das Gesicht von Keith McCall erschien auf einem Nebenbildschirm. Schlieren und Pixelfehler verunstalteten ihn. Außerdem war die Darstellung nur im Zwei-D-Modus. Offenbar war auch in diesem Teilsystem bereits der Speicherplatz knapp.
„Trennen Sie den Bordrechner vom Mesonentriebwerk, nachdem Sie maximalen Schub gegeben haben! Danach erfolgt ein kompletter Neustart des Gesamtsystems!“, ordnete Gossan an.
Auf McCall Stirn erschien eine tiefe Furche. „Wie bitte?“
„Keine Fragen – sofort handeln!“
„Wir haben dann keine Kontrolle über das Mesonentriebwerk! Und wenn der Bordrechner abgeschaltet ist, stehen wir ohne Andruckabsorber, Licht, Sauerstoff, künstlicher Schwerkraft und so weiter da!“
„Das ist mir bewusst, McCall !“
„Und was ist mit unserer Crew da draußen?“, warf Davis ein.
„Ich übernehme die Verantwortung“, sagte Gossan tonlos. „Aber uns bleibt keine andere Wahl.“
„Temperatur der Außenhülle steigt auf über 800 Grad!“, meldete DeKerk.
Das Mesonentriebwerk startete mit maximaler Beschleunigung. Ein Ruck ging durch das Schiff. Die schon beinahe freigeschweißte Sichelsektion fräste sich ein Stück durch die Außenhülle des Morrhm-Schiffes. Dann war die MARIA STUART frei.
Ein Rumoren ging durch den Boden der Brücke.
Die MARIA STUART beschleunigte.
„Rechnerkontrolle abgekoppelt!“, meldete McCall.
„Captain, unsere Außencrew!“, meldete DeKerk blass.
„Sie hatte keine Chance“, antwortete Gossan. Wie zur Bestätigung war auf dem Bildschirm zu sehen, wie sich die Hülle des Morrhm-Schiffes in ein glühendes Etwas verwandelte.
Völlig unkontrolliert raste die MARIA STUART ins All. Während sich der Feuerball langsam ausdehnte und beinahe das Heck des Sondereinsatzkreuzers erreichte, meinte Davis: „Es wird uns auseinanderreißen, Captain!“
„Ja, vielleicht...“ Die Verbindung zu McCall brach ab. Gossan gab über Audiokanal noch einmal den Befehl zum Neustart des Systems.
„Ich bin mir nicht sicher, ob er Sie verstehen konnte, Captain“, sagte Knight.
„Ich hoffe nur, dass er das Richtige tut!“
Im nächsten Augenblick wurde es stockdunkel.
*
„Es sind einfach zu viele, wir können sie nicht aufhalten“, meinte Masters über Helmfunk.
Die Morrhm-Krieger pirschten sich nach und nach an die Siedlung heran. Sie fanden Deckung im Gelände und auch, wenn es Galt und Masters gelungen war, viele von ihnen schon aus der Distanz auszuschalten - bei allen war das nicht möglich.
Und sobald sie erst einmal in der Siedlung waren und auf Nahkampf-Distanz herankamen, waren sie gefährlich.
Galt bog um die Ecke eines quaderförmigen Gebäudes, als sich gleich ein halbes Dutzend Morrhm auf ihn stürzte. Der Marineinfanterist hatte sie schon seit längerem mit Hilfe des Ortungssystems auf seinem Helmdisplay angezeigt bekommen und ihre Bewegungen im Gelände verfolgt.
Mit dem Gauss-Gewehr traf er die ersten tödlich, aber dann traf ihn ein Schuss aus einer Morrhm-Pistole.
Der Schuss ging mitten vor die Brust, drückte die Panzerung fast einen Zentimeter ein und schleuderte ihn gegen die Wand. Die Servo-Steuerung seines Anzugs wurde irrtümlich aktiviert. Der rechte Arm sprang nach oben. Das Gauss-Gewehr schleuderte durch die Luft. Galt konnte nichts dagegen tun.
Die überlebenden Krieger stürmten auf ihn zu. Mit dem Thermostrahler hätte er die ganze Gruppe auf einmal stoppen können, aber bei der speziellen Zusammensetzung der Atmosphäre von Kessimu VII wäre das einem Selbstmord gleichgekommen. Also griff er zum Nadler.
Zu spät.
Ein schlecht gezielter Partikelstrahl traf den erstbesten Morrhm-Krieger am Brustpanzer. Ein klackerndes Geräusch war zu hören. Der Morrhm war in Sekundenschnelle über Galt und hieb mit seinem Monoschwert zu. Kaum mehr als die bläulich schimmernde Ionisationsspur war zu sehen. Unter seiner Atemmaske stieß der Morrhm ein dumpfes Brüllen aus und hieb durch das bewegliche Halsstück von Galts schwerem Kampfanzug.
Der Helm samt Kopf rollte über den Boden.
Masters hatte den Angriff über sein Ortungssystem mitbekommen.
Mit weiten Sätzen erreichte er den Ort des Geschehens. Entsetzt sah er, was mit Galt geschehen war. Von allen Seiten tauchten jetzt Morrhm Krieger auf und umringten ihn.
Einen kurzen Moment zögerte er.
Dann ließ er das Gauss-Gewehr sinken. Stattdessen griff er zum Thermostrahler und feuerte. Mit einer schwenkenden Bewegung ließ er den Hitzestrahl über seine Gegner glühen. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich das gesamte Areal im Umkreis von zweihundert Metern in einen Feuerball. Das Außenmikro seines Anzugs ließ die Schreie der Morrhm an Masters Ohr dringen. Aber wenige Augenblicke später war eine Temperatur erreicht, gegen die auch der Kampfanzug eines Marines nicht mehr schützte.
*
Warum ist die Selbstzerstörung auf der VONDRASH mit so großer Verzögerung ausgelöst worden?, fragte sich Atraan, während er auf der Brücke der LASHGRA mit den Fingern der rechten Pranke auf dem Armlauf des Kommandositzes herumtickte. Es muss mit demselben Phänomen zu tun haben, das auch hier an Bord dafür sorgt, dass die Rechnerleistung sich verlangsamt...
Inzwischen hatte man auch bei den Morrhm die Ursache dieses Phänomens gefunden. Ein von der Eiswelt Tamo ausgehender Datenstrahl sorgte für eine langsame Überflutung mit Datenmüll. Das war offensichtlich auch die Ursache für die Lähmung, unter der die Verbände des Gegners litten. Da sie über eine viel höher entwickelte Computertechnik verfügten und kaum Systeme ohne Rechnersteuerung an Bord hatten, traf es sie viel härter und früher.
Notfalls können wir auf Rechnerunterstützung weitgehend verzichten – nur nicht bei der Kalibrierung der Überlichttriebwerke!
Der Gedanke, dass die Morrhm-Flottille vielleicht schon in Kürze nicht mehr in der Lage war, einen Raumsprung durchzuführen, beunruhigte ihn.
Normalerweise war ein Morrhm-Mutterschiff nach 36 Stunden zu seinem erneuten Sprung fähig. Aber schon jetzt sorgte der Angriff per Datenstrahl dafür, dass sich die Module sehr viel langsamer aufluden.
Auf dem Bildschirm sah er, wie sich der Feuerball ausbreitete, zu dem die VONDRASH geworden war. Viel zu langsam. Eigentlich hätte eine Explosion ausgelöst werden sollen, die im weiten Umkreis für Zerstörung sorgte und auf jeden Fall die beiden in der Nähe befindlichen Schiffe des Gegners zerstört hätte. Jetzt sorgte die Feuerwelle nur dafür, dass die Blasen, in die sich die Sklaven gerettet hatten, eine nach der anderen zerplatzten. Nur eine blieb übrig. Das gegnerische Schiff hatte bereits angedockt und zog die Blase wie im Schlepptau hinter sich her. Aber es war auf jeden Fall außerhalb der Reichweite dieser Explosion. Selbst jenes Schiff, das mit dem Wrack der VONDRASH kollidiert war, konnte sich augenscheinlich retten. Es flog auf einem völlig unkontrolliert wirkenden Kurs, aber mit hoher Beschleunigung, fast so, als hätte man die Triebwerksenergie als Treibsatz einer primitiven Rakete benutzt.
Es war ein so guter Plan, dachte Atraan.
Er ballte beide Pranken zu Fäusten. Er musste sich damit abfinden und an die Gegenwart denken. Vor allem aber an die Zukunft.
Dann traf er eine Entscheidung.
Es ist riskant. Aber diese Entscheidung rettet vielleicht den Stamm!
„Wir ziehen uns zurück. Sämtlichen Einheiten wird befohlen, zu ihren Mutterschiffen zurückzukehren, sofern diese noch existieren.“
„Aber die Schlacht steht gar nicht so schlecht – und nachdem es erst so aussah, als würden sie unsere Mutterschiffe der Reihe nach vernichten...“
„Mein Befehl steht fest“, erklärte Atraan. „Ich will nicht riskieren, dass wir keinen Raumsprung mehr hinbekommen.“
*
„Können Sie keinen Kontakt zu von Schlichten bekommen?“, fragte Rena Sunfrost, die sich inzwischen ein Bild der Lage gemacht hatte.
„Das ist leider seit geraumer Zeit unmöglich, Sunfrost“, antwortete Tulane. „Ich nehme an, der Grund dafür liegt einfach darin, dass auch die von der Gruppe des Professors benutzte Technik in Mitleidenschaft gezogen wurde. Außerdem hatte die Gruppe keinen Sandström-Sender dabei, da die FAR GALAXY EXPLORER normalerweise die ganze Zeit über im Orbit gewesen wäre.“
„Ich verstehe“, murmelte Sunfrost. „Aber ich bin überzeugt davon, dass wir den Schlüssel zum Gewinn dieser Schlacht auf Tamo finden... Dieser Datenstahl muss abgeschaltet werden.“
Tulane grinste. „Sie sind noch immer mit ganzer Seele Space Army Corps Offizier – so wie damals, als Sie mein I.O. auf der SURVIVOR waren.“
„Sie nicht?“
„Ich wurde nur reaktiviert und bin ansonsten mein eigener Herr. Das erweitert ganz gewaltig die Perspektive, Sunfrost. Würde ich Ihnen auch einmal empfehlen.“
„Ich schlage vor, das ein anderes Mal zu diskutieren.“
„Sicher. Aber zu Ihrer Beruhigung: Ich habe durchaus vor, so schnell wie möglich nach Kessira-Tamo zurückzukehren. Schon deshalb, weil ich mit den evakuierten Sklaven an Bord irgendwo bleiben muss.“
„Der Platz an Bord wird nicht für alle reichen“, stellte sie fest.
„Ich weiß. Die K'aradan-Raumer werden den Rest übernehmen.“ Tulane atmete tief durch. „Wissen Sie, dass Sie ein ungeheures Glück haben, gerade in diese Blase geraten zu sein.“
„Ja, weiß“, murmelte Rena Sunfrost tonlos. Sie hatte auf dem Panorama-Schirm verfolgen müssen, wie die anderen Rettungsblasen von dem Feuerball verschlungen worden waren, zu dem das explodierende Wrack geworden war. „Aber darüber denke ich erst nach, wenn alles vorbei ist.“
Tulane nickte. „Ich verstehe, was Sie meinen.“
„Captain, zwei Dreadnought-Schlachtschiffe sind soeben aus dem Sandström-Raum materialisiert“, meldete Bramsson. „Es sind die LIBERTY und die NELSON.“
Tulane nickte zufrieden. „So weit ich weiß, hat mit dem rechtzeitigen Auftauchen der Nelson niemand mehr gerechnet“, meinte der Captain der FAR GALAXY EXPLORER.
„Es hat wohl auch kaum jemand damit gerechnet, dass sich die Schlacht so lange hinziehen würde“, meinte Rena.
Tulane wandte sich an die Kommunikationsoffizierin. „Funk, übermitteln Sie den beiden Dreadnoughts unsere Methode, um sich vor dem Zugriff des Datenstrahls zu schützen.“
„Aye, aye, Sir“, bestätigte Debra Abdurrahman. „Übrigens trifft gerade eine Transmission der MARIA STUART ein.“
„Auf den Schirm damit!“
Im nächsten Moment erschien das Gesicht von Captain Chip Barus auf dem Panorama-Schirm der FAR GALAXY EXOPLORER. Es sah ziemlich mitgenommen aus.
„Sie waren funktechnisch eine Weile tot, Barus“, meinte Tulane.
„Um ein Haar nicht nur funktechnisch. Wir haben die Zeit eines totalen Rechner-Resets ohne Steuerung, künstliche Schwerkraft und Andruckabsorber fliegen müssen. Die Hälfte der Besatzung ist mehr oder weniger schwer verletzt. Und unser Außenteam, das versucht hatte, uns aus dem Morrhm-Wrack zu schneiden...“ Barus schluckte. „Dafür werde ich die volle Verantwortung übernehmen.“
*
Die K'aradan-Schiffe übernahmen die Evakuierung der letzten Luftblase. Die FAR GALAXY EXPLORER war ohnehin bereits bis auf den letzten Platz belegt. Die medizinische Abteilung kam kaum nach.
Währenddessen nahmen die beiden Dreadnoughts Kurs auf die restlichen Morrhm-Mutterschiffe.
Von der NELSON wurde ein Rückzugsbefehl an sämtliche Morrhm-Einheiten im Kessimu-System aufgefangen und entschlüsselt.
„Wir dürfen nicht zulassen, dass die Mutterschiffe entkommen.“
„Auch wenn es nochmals den Tod vieler Sklaven bedeutet?“, fragte Tulane.
„Wenn sie jetzt entkommen, werden sie immer weiter plündern und morden. Abgesehen davon ist die Sklaverei unter den Morrhm nichts anderes als ein in die Länge gezogenes Todesurteil.“
„Sie haben gut reden. Schließlich wurden Sie gerettet!“
„Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern, Captain.“
„Ich dachte eigentlich, dass Sie seit den Ereignissen auf Dambanor II gelernt hätten, dass nicht alles immer schwarz oder weiß ist, Sunfrost.“
Tulane gab den Befehl, Kurs auf Kessira-Tamo zu nehmen. Die ersten Jägerverbände kamen ihnen bereits entgegen. Aber ein Teil der Morrhm-Krieger schien dem Befehl ihres Häuptlings nur sehr zögernd Folge leisten zu wollen.
Rückzug entsprach nicht ihren speziellen Vorstellungen von Ehre, die Rena Sunfrost ja in ihrer Zeit als Sklavin zu genüge kennen gelernt hatte.
Insbesondere schienen die Morrhm im Nahbereich von Kessira-Tamo nicht begreifen zu wollen, weshalb dieser Rückzug notwendig sein sollte. Schließlich schien die Schlacht gut für sie zu stehen. An nahezu allen, wehrlos im Orbit dahindümpelnden Space Army Corps Einheiten hingen angedockte Sturm-Shuttles.
Es versetzte Rena einen Stich, als sie auf dem Ortungsschirm des Ersten Offiziers sah, dass davon auch die STERNENKRIEGER betroffen war.
Tulane schien Renas Gedanken zu erahnen.
„Wir können ihnen nicht einmal helfen“, sagte er. „An Bord werden sich schreckliche Kämpfe abspielen, aber unsere Waffen sind einfach zu grob, um damit ein angedocktes Sturm-Shuttle zu treffen!“
„Ich weiß“, murmelte Renas tonlos.
Mehrere Stunden würde die FAR GALAXY EXPLORER brauchen, um Kessira-Tamo zu erreichen. Viel zuviel Zeit, um nachzudenken, ging es Rena durch den Kopf. Sie spürte bereits, wie sich verhängnisvolle Gedankenschleifen zu bilden begannen. Wieso hast du überlebt – und so viele andere nicht?
Rena hatte wie jeder Kadett an der Space Army Corps Akademie einen Grundkurs in Trauma-Psychologie belegt und wusste daher, dass dies der Anfang von etwas sein konnte, was sie ihr ganzes Leben lang verfolgen würde. Am Ende wirst du dich schuldig fühlen, weil du überlebt hast. Lass es nicht so weit kommen.
*
Titus Naderw ließ den Jäger von hinten an das Sturm-Shuttle heranfliegen. Die Verbindung zur STERNENKRIEGER war längst abgebrochen. Naderw hatte nur noch vereinzelt bruchstückhafte Signale bekommen, die der Bordcomputer nicht richtig zu verarbeiten wusste. Drei Shuttles der Morrhm hatte der an Bord der STERNENKRIEGER stationierte Geschwader-Lieutenant mit seinem Jäger inzwischen abgeschossen.
Aber natürlich konnte Naderw allein die STERNENKRIEGER nicht schützen. Mehrere Shuttles waren innerhalb der letzten Stunden durchgekommen und versuchten dann anzudocken, um das Schiff zu entern.
Mit den Gauss-Geschützen konnte man nichts mehr ausrichten. Marines in schweren Kampfanzügen wurden dann ausgeschleust. Mit ihren aufgeschnallten Antigravpaks brachten sie sich in eine gute Schussposition und versuchten die Shuttles mit Hilfe ihrer Gauss-Gewehre zu zerstören, bevor es die Morrhm geschafft hatten, an der Andockstelle die Panzerhülle der STERNENKRIEGER aufzubrechen. Wenn erst eine größere Zahl von Morrhm an Bord gelangt war, war es meistens schon zu spät. Im direkten Nahkampf hatten selbst die Marines oft das nachsehen, also musste vorher gehandelt werden. Diejenigen Angreifer, die es dennoch schafften, an Bord zu gelangen, wurden dann von einem weiteren Trupp Marines erwartet.
Naderw griff den Jäger an, indem er die Spitzen des Jägers senkte und sofort feuerte. Er musste das Shuttle erwischt haben, bevor es in Schussweite der Gauss-Geschütze geriet, die von Ukasi ohne Rechnerunterstützung abgefeuert wurden.
Funkkontakt zur STERNENKRIEGER gab es schon seit Stunden nicht. Das Kommunikationssystem des Schiffes musste komplett zusammengebrochen sein. Irgendwann wird dieser Datenstrahl auch mich erwischen, dachte Naderw. Und dann werde ich hilflos durch das All dümpeln, ohne dass jemand in der Lage sein wird, mir zu helfen.
Naderw feuerte noch ein paar Mal. Die Gauss-Geschosse durchschlugen die Außenhülle des Shuttles und traten auf der anderen Seite des Gefährtes wieder aus. Einige Schusskanäle von gut zehn Zentimetern bildeten sich. Einer davon zog sich quer durch die Triebwerkssektion. Naderw drehte ab, denn sein Strahlungsmesser zeigte bedenkliche Werte. Die Morrhm verwendeten sehr einfache, primitive Technologien, die mitunter ziemlich schmutzig waren. Aber Strahlung schien ihnen nichts auszumachen. Gegen die Explosion des Reaktors waren sie jedoch machtlos.
Naderw beschleunigte seine Maschine im Maximum Modus und stellte fest, dass der viel geringere Werte als normal anzeigte. Eine Überprüfung ergab, dass das System durch einen Datentransfer gelähmt wurde. Also doch!, ging es ihm durch den Kopf. Irgendwann musste es ja auch mich erwischen.
Überall im Orbitalbereich von Kessira war dasselbe Bild zu sehen. Die Space Army Corps Einheiten und ihre K'aradan-Verbündeten waren nahezu alle manövrierunfähig.
Erstaunlicherweise drehten jetzt die ersten Morrhm-Shuttles und -Jäger ab. Vielleicht hatte das mit den Geschehnissen bei den Mutterschiffen zu tun. Die Ortung des Jägers reichte nicht weit genug, um das genauer beurteilen zu können, aber Naderw hielt den Beginn des Rückzugs für ein gutes Zeichen. Das bedeutet, es ist bald vorbei, glaubte er.
Die FAR GALAXY EXPLORER erschien auf seiner Ortungsanzeige, die in sein Helmdisplay integriert war. Für Anzeigen in der Kabine war nämlich kaum Platz.
„Hier Titus Naderw, Geschwader-Lieutenant der STERNENKRIEGER im permanenten Jagd-Einsatz. Können Sie mich hören?“
„Hier Captain Tulane.“
Eine andere Stimme mischte sich aus dem Hintergrund heraus ein.
„Naderw? Sind Sie das? Hier spricht Sunfrost.“
„Captain!“, freute sich der Geschwader-Lieutenant. „Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht.“
„Naja, gut ist etwas übertrieben.“
„Sie sind am Leben und darauf kommt es an, Ma’am. Leider habe ich schon seit längerer Zeit keinen Kontakt zu Captain Warrington, sodass ich die Nachricht von Ihrer Befreiung nicht weitergeben kann.“
„Captain Warrington?“, echote Rena.
Naderw zögerte. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als es ihr zu sagen, ging es ihm durch den Kopf. Allerdings hätte ich es lieber gehabt, wenn dieser Job nicht ausgerechnet an mir hängen geblieben wäre.
„Captain Milton Warrington III. Er führt gegenwärtig das Kommando auf der STERNENKRIEGER.“
„Ach, so...“
Rena Sunfrosts Stimme klang tonlos. So schwach, wie Naderw es eigentlich nicht von seiner ehemaligen Kommandantin kannte. Aber natürlich war ihm klar, dass die Gefangenschaft einen Menschen sehr verändern konnte. Wer weiß, was sie durchmachen musste, überlegte der Geschwader-Lieutenant.
Naderw hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
„Es tut mir leid, Ma’am. Aber man hat Sie zwischenzeitlich für tot gehalten und daher...“
„Das ist schon in Ordnung, Mister Naderw. Ich muss mich selbst erst an den Gedanken gewöhnen, dass ich noch am leben bin.“
*
„Versuchen Sie noch mal über Normalfunk Kontakt mit von Schlichtens Gruppe zu bekommen“, befahl Theo Tulane an Debra Abdurrahman gewandt.
„Aye, Sir!“, bestätigte die Funkerin. „Allerdings möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich das schon seit einer geraumen Weile tue – nämlich seit wir uns in einer Distanz zu Kessira-Tamo befinden, die nicht erwarten lässt, erst stundenlang auf eine Antwort im Normalfunkbereich abwarten zu müssen.“
„Captain, lassen Sie mich mit einem Beiboot nach Tamo fliegen, um zu sehen, was da los ist!“, lautete der Vorschlag von Alex Enarom.
Tulane nickte. „Sie haben Recht, wir werden nicht darum herumkommen, dort mal nach dem rechten zu sehen. Allerdings habe ich einen etwas anderen Plan, I.O.“
„So?“
„Ich werde selbst das Außenteam leiten. Sie bleiben hier und führen das Kommando. Falls noch ein paar angriffslustige Morrhm-Einheiten hier in der Gegend herumschwirren, machen Sie kurzen Prozess.“
„Ich würde Sie gerne begleiten, Captain Tulane“, sagte Rena Sunfrost.
Tulane sah sie erstaunt an. „Immer noch so ehrgeizig wie damals, was?“
„Etwas dagegen einzuwenden?“
„Ganz gewiss nicht. Wenn ich im Space Army Corps geblieben wäre, müsste ich wahrscheinlich irgendwann in nächster Zeit mit ansehen, dass Sie mich beim Aufstieg auf der Karriereleiter souverän überholen. Mal davon abgesehen, dass man das, was ich im Space Army Corps gemacht habe, vielleicht nicht unbedingt als Karriere bezeichnen sollte.“ Tulane verzog das Gesicht. „Jemand wie Sie passt wahrscheinlich einfach besser in diesen Laden als ich. Um ehrlich zu sein, habe ich mich schon damals immer etwas fremd gefühlt.“
„Captain, ich habe – zugegebenermaßen geringe – Kenntnisse in der Schrift der Alten Götter...“
„Wo haben Sie das denn gelernt?“ Er schüttelte den Kopf. „Jemand wie Sie hat seinen Tag wahrscheinlich so perfekt organisiert, dass er neben dem normalen Job eines Raumschiff-Captains auch noch Fernkurse an der Olvanorer-Brüderschule auf Sirius III belegen kann.“
„Captain, ich verdiene Ihren Spott nicht. Und ich meine es sehr ernst. Die Schrift der Alten Götter wurde auch von den Morrhm verwendet. Daher stammen meine Kenntnisse. Und ich vermute mal, dass niemand aus Ihrer gegenwärtigen Crew darüber verfügt – abgesehen von den Mitgliedern des von Schlichten-Teams, von denen wir aber nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist.“
„Sunfrost, ich weiß nicht, ob Sie in der Verfassung sind, um...“
„Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen, Sir!“
Tulane bedachte sie mit einem sehr ernsten Blick. „Sie haben schon einmal eine Situation unterschätzt und dafür fast mit dem Leben bezahlt“, stellte er nüchtern fest.
„Ihr Schiffsarzt hat mir Medikamente gegeben, die dafür sorgen, dass ich einsatzfähig bin“, erwiderte Sunfrost. „Also machen Sie sich keine Sorgen darüber, dass Sie einen Pflegefall mit auf eine Außenmission nehmen.“
Tulane atmete tief durch. „Okay“, sagte er.
*
Wenig später wurde die Landefähre L-2 ausgeschleust. Sie flog auf Tamo zu, diesen Eisklumpen mit einem schmutzigen Kern, der zusammen mit Kessira einen gemeinsamen Gravitationsschwerpunkt umkreiste. Alle Mitglieder des Außenteams, das Captain Tulane auf die Schnelle zusammengestellt hatte, trugen Druckanzüge.
Rena hatte auf einem Platz in der zweiten Sitzreihe der Passagierkabine Platz genommen. Von dort aus konnte sie gut beobachten, welche Schaltungen der Pilot Larry DeVries vornahm.
Tulane hatte neben ihm Platz genommen.
Bramsson und Yonk gehörten ebenfalls zum Team.
Eigentlich wäre das ein Job für Bruder Guillermo und Lieutenant Erixon von der STERNENKRIEGER, dachte Rena. Aber die beiden von der STERNENKRIEGER abzuholen, hätte einen zu großen Zeitverlust bedeutet, zumal die Lage dort völlig unklar war.
Rena versuchte nicht weiter darüber nachzudenken. Du musst jetzt alle Kraft darauf konzentrieren, diese Mission durchzuführen. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, diesen lähmenden Datenstrahl abzuschalten. Alles andere ist im Moment ineffektiv...
„So schweigsam, Sunfrost?“, fragte Tulane.
„Es kann ja nicht jeder so eine optimistische Frohnatur sein wie Sie, Sir!“
„Ich sehe, Sie haben zumindest Ihren Humor wieder, Sunfrost. Das halte ich durchaus für ein gutes Zeichen.“
„Achtung, der Datenstrahl versucht, uns seine Transmission aufzuzwingen“, meldete DeVries.
„Ich denke, es kommt erst zu einem Speicherüberlauf, nachdem wir unser Ziel erreicht haben“, stellte Moshe Yonk fest. „Wir sollten daher einfach weiterfliegen...“
„Dann tun wir das doch!“, erwiderte Captain Tulane.
Das Beiboot der FAR GALAXY EXPLORER wurde von DeVries im Tiefflug über die Oberfläche der Eiswelt gesteuert, die die fruchtbare Hauptwelt des Hauses Kessir begleitete.
Inzwischen trafen Ortungsdaten ein, die den Schluss nahe legten, dass der Rückzug der Morrhm weiter anhielt. Allerdings schienen sie insbesondere auf der Oberfläche Kessiras verbrannte Erde hinterlassen zu wollen. Jedenfalls gab es mindestens ein Dutzend Orte, an denen sie Atombomben eingesetzt hatten.
„Diese Wesen als Barbaren zu bezeichnen ist wohl keineswegs übertrieben!“, murmelte Joseph Bramsson ziemlich grimmig, nachdem ihm die Methodik dieser Angriffe klar geworden war.
DeVries lenkte das Beiboot auf die Kessira abgewandte Seite von Tamo.
Tamos Eigenrotation war mit der Kessiras so synchronisiert, dass die Eiswelt ihrem Partner in diesem Planetentandem immer dieselbe Seite zuwandte – ähnlich wie es bei der Erde und ihrem Mond der Fall war.
Schließlich fand die Navigationsanlage der Fähre dort den Eingang zu einem Tunnel, der künstlich angelegt worden war, um das Artefakt im Inneren der Eisschicht erreichen zu können.
Sie landeten dicht neben dem Eingang dieses Schachtes, der in die Tiefe führte und erst erkannt werden konnte, wenn man sich in unmittelbarer Nähe befand.
Ein weiteres Shuttle stand dort.
Mit ihm waren von Schlichten und sein Team aus hochkarätigen Wissenschaftlern im Dienst des Far Galaxy Konzerns zum Artefakt gelangt.
„Kontaktaufnahme mit dem georteten Shuttle zeigt keinerlei Reaktion“, meldete Bramsson, der neben der Ortung auch noch den Funkverkehr zu überwachen hatte.
Zumindest für die Dauer dieser Mission war das so.
„Sind Biofunktionen der Besatzung zu orten?“, fragte Tulane.
„Negativ, Captain“, erklärte Bramsson schließlich nach eingehender Untersuchung mit Hilfe des Ortungssystems der FAR GALAXY EXPLORER. Die Ortungsanlage an Bord konnte sich wirklich sehen lassen.
„Sie bleiben hier und halten die Stellung“, wandte sich Theo Tulane an DeVries.
„Habe ich mir fast gedacht, dass Sie mich diesmal nicht mitnehmen, Captain.“
„Tragen Sie es mit Fassung“ sagte Tulane. „Abgesehen davon: Wer weiß, was von Schlichten und seiner Gruppe zugestoßen sein mag? Eines steht fest: Was immer dort unten zu finden sein mag und uns Sorgen bereiten sollte: Sie wird es kaum erreichen!“
„Warum sind Sie da so sicher?“, fragte Bramsson.
Nacheinander verließen die Männer und Frauen das Beiboot. Tulane ging zuerst. Rena folgte ihm, dann traten Bramsson und die anderen ins Freie.
Moshe Yonk gelang es, mit einem Modul in den Rechner des anderen Beibootes zu gelangen und die Schleuse zu öffnen. Zusammen mit Tulane und Bramsson ging er an Bord. Rena folgte etwas später.
Es war niemand in der Fähre.
„Der Pilot hat die Fähre wahrscheinlich verlassen, als er nichts mehr von den anderen hörte“, glaubte Tulane.
Rena aktivierte einen Rechnerzugang. Die endlosen Zeichenkolonnen waren schnell gefunden. Sämtliche Datenspeicher liefen über.
„Hier dürfte so gut wie nichts mehr funktionieren“, sagte sie.
*
Mit Hilfe ihrer aufgeschnallten Antigravaggregate ließen sich Tulane, Sunfrost und der anderen Mitglieder des Außenteams in die Tiefe tragen. Dazu gehörten auch zwei Security Guards des Far Galaxy Sicherheitsdienstes, die mit Gauss-Gewehren ausgerüstet waren. Rena erfuhr, dass es sich um ehemalige Marines handelte, die bei dem High Tech Konzern Nummer Eins in den Humanen Welten einen lukrativeren Job mit weniger Risiko gefunden hatten. Ihre Namen standen an ihren Anzügen: Blistor und McMurdo.
Nur die Helmleuchten und fluoreszierende Streifen an den Anzügen sorgten für etwa Licht.
Schließlich erreichten sie den freigelegten Eingang des Artefaktes.
Moshe Yonk öffnete es mit Hilfe eines Moduls.
Die Gruppe betrat einen Schleusenraum. Nach kurzer Zeit stand eine Sauerstoffatmosphäre zur Verfügung. Der Druck entsprach irdischem Niveau. Dasselbe galt für die Schwerkraft.
In der Decke befanden sich Leuchtelemente, die für ausreichend Helligkeit sorgten.
„Hier scheint ja noch alles zu funktionieren“, meldete sich Bramsson zu Wort. Er hob sein Ortungsgerät. „Ich habe hier die ID-Signatur mehrerer Kommunikatoren auf dem Schirm – darunter auch den von Professor von Schlichten.“
„Dann sollten Sie uns dorthin führen, Mister Bramsson“, forderte Tulane.
Sie passierten ein Schott. Ein langer, kahler Korridor schloss sich an. Er mündete in einen Raum, in dem viele zylinderförmige Konsolen standen. Gläserne Kästen mit sorgfältig gelagerten Eiern standen dazwischen.
„Das ist Wsssarrr-Brut“, stellte Rena fest.
„Überrascht Sie das wirklich, Sunfrost?“, fragte Tulane.
„Nein, es ist eigentlich ganz logisch...“
Zwischen den Brustkästen und den Konsolen wucherte noch etwas anders.
Organisches Material, das wie Körpergewebe aufgebaut war!
„Fragen Sie mich nicht, woher das Zeug kommt!“, sagte Bramsson, während die anderen fassungslos auf die überall hervorquellende organische Masse starrten. „Ich weiß nur, dass es auf jeden Fall organischer Natur ist.“
„Diese Substanz quillt aus jeder Ecke“, stellte Rena fast angewidert fest.
Tulane deutete auf eine Stelle, an der sie sogar eine Wand durchbohrt zu haben schien.
Wie ist das möglich?, fragte sich Sunfrost.
Laut sagte sie: „Gab es irgendwelche Anzeichen dafür, dass in dieser Anlage nicht nur Brut, sondern auch ausgewachsene Wsssarrr existieren?“
Bramsson schüttelte den Kopf und blickte dabei unverwandt auf die Anzeige seines Ortungsgerätes.
Wenn es im Inneren des Artefakts erwachsene Exemplare der Arachnoiden gab, wäre das vielleicht eine Erklärung dafür gewesen, dass Professor von Schlichten und sein Team sich nicht meldeten. Schließlich hegten die Wsssarrr einen schier unstillbaren Hunger auf die Gehirne anderer Arten.
Als die Gruppe schließlich in einen großen, hallenartigen Raum trat, fanden sie drei menschliche Körper, die mit einem klebrigen, weißen Faden eingewickelt waren. Nur die Köpfe ragten noch heraus, der Rest steckte in einer Art Zwangsjacke aus einem Material, das große Ähnlichkeit mit Spinnenseide hatte.
„Professor!“, stieß Tulane hervor. Er begann sofort damit, ihn zu befreien und dafür zu sorgen, dass er aus diesem einer Zwangsjacke ähnelnden Kokon endlich aussteigen konnte.
Aus den anderen Kokons wurden seine Mitarbeiter herausgeschnitten. Dr. Xandra Dominguez kannte Rena. Bei dem zweiten Assistenten handelte es sich um einen Mann, von dem Rena später erfuhr, dass er Jakob Isaaksson hieß und einen Doktortitel der Far Galaxy Akademie auf Sedna sowie einen weiteren der Brüderschule von Sirius III vorweisen konnte.
Von Schlichten sah Rena ziemlich erstaunt an. „Es freut mich, Sie zu sehen, Sunfrost.“
„Die Geschichte, wie es dazu kam, werde ich mir für ein anderes Mal aufheben“, erwiderte Rena.
Von Schlichten nickte. „Einverstanden.“
Tulane deutete auf die Reste des Kokons. „Wir hatten keine ausgewachsenen Wsssarrr in unserem Bioscanner“, stellte er fest. „Allerdings weiß ich auch nicht, in wie fern man sich auf unsere Apparate verlassen kann.“
„Sie meinen wegen diesem aggressiven Datenstrahl?“, schloss der Professor.
„Genau.“
„Aber ich kann Ihnen versichern, dass tatsächlich keine Arachnoiden in dieser Anlage sind. Jedenfalls keine Lebenden...“
Tulane runzelte die Stirn. „Was meinen Sie damit?“
„Wir trafen ein paar Exemplare, die uns angegriffen haben. Es handelte sich wohl um geschlüpfte Brut, die hier heranwuchs. Uns blieb keine andere Wahl, als sie zu töten.“
„Aber wer hat Sie gefangengenommen, Professor von Schlichten?“, fragte Rena.
„Sehen Sie diese gallertartige organische Substanz, die überall hindurchdringt? Sie bohrt sich mit Hilfe ätzender Säuren sogar durch Wände und hat einen Großen Teil des Artefakts bereits eingenommen.“
„Was ist das?“
„Als wir es erkannten, war es schon zu spät“, erklärte von Schlichten. „Die genetische Struktur der Wsssarrr ist so fremdartig, dass wir Schwierigkeiten hatten, sie zu analysieren, zumal das auch nicht unser Gebiet ist. Aber es gab in dieser Anlage noch ein paar Datenspeicher, die Informationen darüber enthielten.“
„Spannen Sie uns nicht auf die Folter!“
„Es handelt sich um eine Wsssarrr-Königin.“
„Wie bitte?“
„Ja. Offenbar sind alle gewöhnlichen Wsssarrr männlich, während die Weibchen zu riesenhafter Größe anwachsen und eigentlich nur dem Hervorbringen von befruchtungsfähigen Eiern dienen. Offenbar erreichten sie in der Entwicklung der Wsssarrr ein Stadium, das sie ohne technische Hilfsmittel nicht mehr lebensfähig sein lässt. Darum haben sie eine instinktive Fähigkeit entwickelt, ihre Nervenbahnen mit technischen Systemen zu verbinden.“
„Dann ist diese Königin, wie Sie sie nennen, vielleicht auch für den Datenstrahl verantwortlich, der im gesamten System die Speicher mit Zeichensalat vollmüllt?“, hakte Tulane nach.
Von Schlichten nickte. „Es ist noch viel schlimmer. Über ein überlichtschnelles Übertragungssystem, das auf höherdimensionalen Impulsen aufbaut, werden diese Nonsensbotschaften über Tausende von Lichtjahren übertragen. Bis nach Spider II, die Heimat der Wsssarrr, bis die Qriid sie verdrängten. Von dort stammt auch die Brut. Ein Vergleich der Isotopenverteilung mehrerer Schwermetalle lässt da keinen Zweifel.“
„Und wer hat Sie in diesen klebrige Kokon eingeschnürt?“, fragte Sunfrost. Sie war an Bord der LASHGRA selbst beinahe zum Opfer eines Wsssarrr geworden, meinte sich aber zu erinnern, dass die Fäden dieser Arachnoiden eine andere Konsistenz hatten.
„Roboter“, sagte von Schlichten. „Roboter, die aussehen wie Wsssarrr und offenbar darauf programmiert waren, die Königin zu versorgen. Übrigens auch mit organischem Material. Teile der Brut wurden herangezüchtet. Wir haben Beweise dafür gefunden, dass sie in die in den wuchernden Körper der Königin reintegriert wurden.“
Rena hob die Augenbrauen. „Im Klartext heißt das wohl: Aufgefressen!“
Von Schlichten verzog das Gesicht. „Ein Begriff, der die nötige wissenschaftliche Distanz zum Forschungsobjekt vermissen lässt, Captain Sunfrost.“
In diesem Augenblick öffnete sich ein Schott.
Mehrere Spinnenartige Roboter strömten in den hallenartigen Raum. Captain Tulane wandte sich an Blistor und McMurdo, die beiden Sicherheitsdienstler.
„Feuern Sie!“, befahl er.
„Und zwar mit den Gauss-Gewehren!“, rief von Schlichten. „Die Nadler sind fast wirkungslos!“
Die beiden Security Guards zögerten nicht. Sie legten die Gauss-Gewehre an und feuerten.
Nur Augenblicke später lagen ein halbes Dutzend spinnenförmige Roboterwracks in der Nähe des Schotts.
„Und wie geht es jetzt weiter, Professor?“, frage Tulane.
„Ich nehme an, wir müssen diese Königin töten, bevor sie noch länger mit der hochsensiblen Technik dieser Anlage herumspielt“, schloss Rena.
Von Schlichten bestätigte dies. „Ja – und damit hatten meine Kollegen und ich auch bereits begonnen, bevor diese Roboter uns gefangen nahmen. Folgen Sie mir!“
*
Von Schlichten führte die Gruppe in einen weiteren Raum. Zwei Drittel davon wurden von der Körpermasse der Königin ausgefüllt, die sich offenbar während des ungehemmten Wachstums den Gegebenheiten in ihrer Form auf groteske Weise angepasst hatte. Einige menschengroße Wsssarrr-Körper waren von dieser Masse integriert und zu einem Teil ihrer selbst gemacht worden.
Dr. Xandra Dominguez deutete auf eine Apparatur, die aus mehreren zusammengeschlossenen Modulen bestand. „Damit wollten wir einen energetischen Impuls abgeben, der sich über die Nervenbahnen des Monstrums verbreitet“, erklärte sie.
„Mit tödlicher Wirkung?“, fragte Rena.
Xandra nickte. „Davon gehen wir aus.“
Professor von Schlichten rieb sich die Hände und roch daran. „Dieses Zeug, mit dem die Roboter uns eingewickelt haben, stinkt entsetzlich. Aber das sollte uns nicht davon abhalten, jetzt unser Werk zu vollenden!“
*
Anderthalb Stunden später startete das Beiboot der FAR GALAXY EXPLORER wieder von der Oberfläche Tamos. Die Situation im Kessimu-System veränderte sich zusehends. Die Morrhm waren auf breiter Front auf dem Rückzug, während die NELSON und die LIBERTY unbarmherzig die Mutterschiffe der Morrhm angriffen. Unterstützt wurden sie dabei von den Sondereinsatzkreuzern MARIA STUART, SONNENWIND und AMSTERDAM, die ihre Einsatzfähigkeit zunehmend zurückgewannen. Die Attacken durch den Datenstrahl hatten vollständig aufgehört, nachdem die mit der Technik des Artefakts verbundene Wsssarrr-Königin getötet worden war.
Von Schlichten konnte das allerdings nur mäßig erfreuen. Schließlich hatte dieses monströse Wesen auch sämtliche Speicher des Artefakts mit Datenmüll überschrieben. Aber damit nicht genug! Auch die zuvor in wochenlanger Arbeit gefertigten Kopien dieser Speicher, die von Schlichten und sein Team angefangen hatten zu erstellen, waren durch die Attacke des Datenstrahls vernichtet worden.
Von Schlichten hatte das Wissen der Alten Götter zum Greifen nahe gewähnt.
Jetzt war so gut wie nichts davon geblieben.
Und das wenige, das noch erhalten war, bestand aus Bruchstücken oder es handelte sich um Daten, die von den Wsssarrr eingegeben worden waren, die offenbar doch ein sehr weitergehendes Verständnis der Technologie jenes Volkes erlangt hatten, die man als die Erhabenen oder die Alten Götter kannte.
Es dauerte Stunden, bis die ersten Space Army Corps Einheiten im Orbit von Kessira wieder manövrierfähig waren. Die meisten waren nicht gleich in der Lage, wieder in die Kämpfe einzugreifen. Aber aus dem Sandström-Raum materialisierten weitere Unterstützungskräfte der K'aradan und vereinzelt auch Space Army Corps Schiffe, die in der Gegend operiert hatten. Bald schon waren die Morrhm-Mutterschiffe entweder dahindümpelnde Wracks oder hatten sich in Atomsonnen verwandelt. Hier und da wurden Rettungsblasen entfaltet, während die Morrhm-Besatzung mit Hilfe von Sturm-Shuttles zu fliehen versuchte. Durch die Bindung gegnerischer Kräfte bei der Evakuierung der Blasen erhoffte man sich offenbar taktische Vorteile.
Aber daran, dass das Ende der Zuur-Morrhm gekommen war, konnte niemand mehr zweifeln. Am wenigsten die Zurr selbst, die sich nicht ergeben wollten.
Rena Sunfrost verbrachte diese Zeit bereits in der Ambulanz von Dr. Boris Cheng. Tulane hatte darauf bestanden.
„Wir werden mit der Therapie gegen Ihre Strahlenschäden fortfahren“, kündigte Cheng an.
„Ja“, murmelte Sunfrost tonlos.
Sie lag auf einer Liege und berührte mit den Fingerspitzen der rechten Hand das Amulett, das ihr um den Hals hing. Jenes Amulett, dass aus dem verbeulten Projektil einer Steinschlosswaffe bestand, durch das sie während ihrer Zeit als Erster Offizier der Survivor auf Dambanor II beinahe getötet worden war.
Ihre Gedanken gingen zurück.
Sie erinnerte sich daran, in der Krankenstation aufzuwachen und an Tulanes Gesicht. Hier schließt sich offenbar der Kreis, dachte sie. Bedenke, dass du sterblich ist, auch wenn du nach diesem Ritt auf der Rasierklinge vielleicht auf die Idee kommen könntest, dass dies bei dir nicht der Fall sein könnte...
Die Stimme Dr. Chengs bildete eine sonore Hintergrundmusik. Sie hörte kaum zu. Irgendwann schlief sie ein.
Als sie erwachte, stellte die diensthabende Krankenschwester eine Verbindung zur STERNENKRIEGER her.
„Hier Van Doren. Ich hoffe, es geht Ihnen schon wieder besser, Captain.“
„Ich kann nicht klagen“, sagte Rena. „Ich bin nur sehr müde, aber man sagte mir, dass das normal sei.“ Rena blickte auf die Zeitangabe im unteren linken Eck des Bildschirms und erschrak. Sie hatte fast 24 Stunden verschlafen.
„Und wie geht es der STERNENKRIEGER?“, fragte sie.
„Schwere Schäden und zwanzig Tote. Aber wir sind inzwischen wieder manövrierfähig und Admiral Nainovel hat uns den Auftrag gegeben, die wenigen Überlebenden der ALEXANDER von Kessimu VII zu bergen... Jemand, den Sie gut kennen, würde gerne auch noch ein paar Worte mit Ihnen wechseln. Die Morrhm hatten beim Abzug noch eine Atombombe auf die Bergwerkssiedlung geworfen, in der sich die Überlebenden verkrochen hatten. Aber zum Glück braucht man auf Kessimu VII Strahlenschutzräume gegen den Sonnenwind, sodass die Gruppe überleben konnte...“
Im nächsten Moment erschien David Kronsteins Gesicht auf dem Bildschirm.
„Es freut mich, Sie wohlauf zu sehen“, sagte Kronstein. „Ich nehme an, dass wir im Moment dieselben Medikamente verschrieben bekommen haben...“
*
Die Funkstille war aufgehoben und daher gab es an Bord der FAR GALAXY EXPLORER auch über eine Datenleitung per Sandström-Funk aktuelle Berichte aus dem Mediennetz der Humanen Welten.
Als Rena das nächste Mal erwachte, waren gerade die Berichte über den Ausgang der Wahlen innerhalb der Humanen Welten eingetroffen.
Menschenmengen jubelten Admiral Gregor Raimondo zu, der erst einen langen Beifall abwarten musste, ehe er sprechen konnte. „Ich danke all denen, die den Kandidaten unseres Bündnisses das Vertrauen ausgesprochen haben für ihren Mut. Dieser überwältigende Wahlsieg wird der Beginn eines tief greifenden Reformprozesses sein, an dessen Ende die Humanen Welten nicht mehr eine schwache Konföderation von Menschheitswelten sein werden, von denen letztlich doch jede ihren eigenen Weg geht. Am Ende dieses Prozesses werden wir einen Staat haben, der diesen Namen auch verdient und in der Lage ist, all die Milliarden Bürger unserer Planeten sowohl vor inneren wie auch vor äußeren Feinden wirksam zu schützen. Nie wieder soll die Menschheit so nahe an den Rand des Abgrunds geraten, wie es während des Etnord-Kriegs der Fall war. Dafür stehe ich mit meinem Namen – und mit meiner Vergangenheit als Offizier des Space Army Corps.“
Erneut brandete Beifall auf, den ein Kommentator aus dem off für eine Frage nutzte, die ihm offenbar auf der Seele lag. „Viele von uns werden Raimondo sicher zustimmen, wenn er eine Reform der Humanen Welten anmahnt. Aber gleichzeitig bewegt mich die Frage, welche Zugeständnisse er an seinem radikalen Bündnispartner Humanity First in Zukunft machen wird, um Julian Lang im Amt des Vorsitzenden des Humanen Rates zu beerben.“
Rena atmete tief durch.
Da ist man mal kurz weg vom Fenster und schon ist nichts mehr wie es war, wenn man zurückkehrt...
*
Erdorbit, Orbitaleigenheim von Admiral Raimondo.
Der Gast schlug die Beine übereinander.
„Die Nachricht von der Vernichtung der Zuur-Morrhm hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können, Admiral. Man rechnet die Operation Ihnen an, obwohl das unverdient ist.“
„Man hätte mir wahrscheinlich auch einen Fehlschlag angerechnet, weil mein Name nun einmal mit dem Space Army Corps verbunden ist.“
Der Gast musterte Raimondo einige Augenblicke und fragte schließlich: „Was ist das für ein Gefühl, Raimondo? Sie sind am Ziel...“
„Ich weiß es noch nicht.“
„Vor sechzehn Jahren hatten Sie schon einmal eine Chance, die Macht zu ergreifen.“
„Damals war es zu früh. Vielleicht war ich auch zu jung und nicht mutig genug.“
„Ja, mag sein.“
„Und ich hatte nicht die richtigen Verbündeten.“
„Jetzt haben Sie sie?“
„Genau das ist der Punkt, der mir Sorge bereitet.“
Der Gast lächelte. „Ich sage Ihnen eins, Raimondo: Diesen Tag wird man später als den Beginn einer neuen Ära begreifen. Nichts wird so bleiben, wie es war. Gar nichts.“
„Ich weiß“, murmelte der Admiral. Und bei dem Gedanken daran, fröstelte es ihn.
Band 26 Schläfer
„Austritt aus dem Sandströmraum“, meldete Lieutenant John Taranos, der Rudergänger der STERNENKRIEGER II. „Austrittsgeschwindigkeit vierzig Prozent LG. Bremsmanöver ist eingeleitet.“
Captain Rena Sunfrost schlug die Beine übereinander und lehnte sich im Kommandantensessel zurück. Zusammen mit Schiffen mehrerer anderer galaktischer Völker folgte sie den Spuren der „Erhabenen“, einer Spezies, die vor langer Zeit große Teile der Milchstraße beherrscht und einen bis heute unerreicht hohen technischen Entwicklungsstand erreicht hatte. Die gemischte Flottille war einem Transmittersignal hier her gefolgt – in das System einer Sonne der Spektralklasse G.
„Captain, ich messe die Signaturen mehrerer Morrhm-Mutterschiffe an“, meldete Ortungsoffizier Lieutenant Wiley Riggs. „Außerdem gibt es Anzeichen für Kampfhandlungen.“
Sunfrost atmete tief durch. „Vor diesen Weltraumbarbaren scheint man wirklich nirgendwo sicher zu sein...“
„Und dann ist da noch etwas, Ma’am“, stellte Riggs mit einem Stirnrunzeln fest, während sein Blick auf das Display seiner Konsole gerichtet war. Seine Fingerkuppen berührten ein paar Sensorpunkte auf dem Touchscreen. Wenig später teilte sich auf dem Panorama-Schirm ein Fenster ab, das eine schematische Systemübersicht zeigte. „Sieben Planeten umkreisen das Zentralgestirn“, stellte Riggs fest. „Aber sie bewegen sich alle auf einer einzigen Umlaufbahn!“
*
Commander Rena Sunfrost, persönliches Logbuch:
Nachdem es mir gelang, der Gefangenschaft der Morrhm zu entkommen, ist einige Zeit vergangen. Die Zeit an Bord eines Sklavenschiffs dieser barbarischen Spezies hat sich tiefer in meine Psyche gegraben, als alles, was ich zuvor in Ausübung meines Dienstes für das Space Army Corps erlebt habe.
Auch wenn es der Flotte der Verbündeten gelang, die Morrhm vorerst zurückzuschlagen, bin ich überzeugt davon, dass wir noch mehr von ihnen hören werden, als uns lieb ist.
Man hatte mich für tot erklärt.
Es ist seltsam, die damit in Zusammenhang stehenden Dateivermerke zu lesen und ich wurde dadurch an mein Erlebnis während meiner Zeit als Erster Offizier an Bord der SURVIVOR unter Captain Theo Tulane erinnert, als mich die Kugel einer primitiven Steinschlosswaffe um ein Haar getötet hätte. Bedenke, dass du sterblich bist. Die jüngsten Geschehnisse haben mich darin bestätigt, diesen Satz nie zu vergessen.
Inzwischen bin ich wieder im Dienst und habe wieder die Position inne, in der ich mich bisher mit Abstand am wohlsten gefühlt habe: Ich habe das Kommando über die STERNENKRIEGER II zurückerhalten. Captain Milton Warrington III ist unterdessen die Karriereleiter hinaufgefallen und dient nun im Sicherheitsstab der Humanen Welten, den der Ratsvorsitzende Julian Lang kürzlich eingerichtet hat - übrigens sehr zum Verdruss von Admiral Raimondo, der sich wohl übergangen fühlte.
Wie auch immer, Warringtons Vater und Großvater wären sicher stolz auf ihn.
Und davon abgesehen hat er sein aktives Kommando ja nach einer gewonnenen Raumschlacht aufgegeben.
Wer weiß, ob dem Dritten Warrington dies ein zweites Mal gelungen wäre.
Zur Zeit ist die STERNENKRIEGER Teil einer Mission, an der sich außer dem Bund der Humanen Welten von Sol auch Schiffe anderer verbündeter Sternenreiche beteiligen, darunter K'aradan, Fulirr und Ontiden sowie ein Schiff der schlangenartigen Shani. Deren Bedeutung geht zwar nicht über ihr lokales Heimatsystem hinaus und abgesehen von der sehr widerstandsfähigen Beschichtung der Außenhüllen ihrer Raumschiffe sind von ihnen auch keine erwähnenswerten technologischen Leistungen bekannt. Die Kommandantin des Shani-Schiffes kenne ich aus einem schon etwas zurückliegenden Einsatz, bei dem unserer Crew die Kontaktaufnahme mit dieser Spezies oblag. Seitdem verbindet mich mit der Shani-Kommandantin so etwas wie Freundschaft, obwohl ich mir ehrlich gesagt nicht sicher bin, ob der Shani-Begriff dafür wirklich dasselbe beinhaltet wie das, was man unter Menschen damit üblicherweise meint.
So unbedeutend die Shani im Vergleich mit den anderen beteiligten Sternenreichen auch sein mögen, bei der Mission, die jetzt vor uns liegt, sind wir darauf angewiesen, sämtliches Wissen zu sammeln, das im Laufe von Jahrtausenden über jene Spezies bekannt wurde, die als die Alten Götter bekannt sind und sich selbst die Erhabenen nannten.
Ihren Hinterlassenschaften gilt die Expedition, auf die sich der gemischte Flottenverband begeben hat, dem auch die STERNENKRIEGER zugeordnet wurde.
Überall im Kosmos sind wir schon auf Hinweise auf dieses geheimnisvolle Volk gestoßen, dass vor unvorstellbar langer Zeit die Galaxis beherrscht haben muss und dessen technologische Errungenschaften die der Menschheit um ein Vielfaches überstiegen.
Das Erbe der Erhabenen könnte die Zukunft für uns alle sichern. Aber ich fürchte, in dem Moment, in dem das technologische Erbe der Alten Götter frei verfügbar vor uns läge und ihre Geheimnisse enträtselt wären, würde das im Krieg gegen die Etnord entstandene Bündnis von Sternenreichen sofort zerbrechen und wieder einer ungezügelten Rivalität Platz machen. Einer Rivalität, bei der es dann darum ginge, wer die größten Stücke dieses Erbes für sich zu sichern vermag.
Aber das ist nur meine private Meinung.
Der Humane Rat scheint diese Bedenken nicht zu teilen.
*
Nach und nach trafen auf der STERNENKRIEGER die ID-Signale der ebenfalls aus dem Sandströmraum materialisierenden Einheiten ein, die für die Qriid, Fulirr, Ontiden, Shani und K'aradan an dieser Expedition teilnahmen. Auch ihnen bot sich das erstaunliche Bild eines Sonnensystems, dessen Anordnung auf keinen Fall natürlichen Ursprungs sein konnte.
„Wenn das nicht die Handschrift der Alten Götter ist, dann weiß ich es auch nicht“, meinte Lieutenant Commander Steven Van Doren, seines Zeichens Erster Offizier der STERNENKRIEGER.
„Die Ortung zeigt Energieentladungen an, die Traser-Schüssen der Qriid ähneln“, berichtete Wiley Riggs. „Aber nur ähneln. Sie feuern auf die Sturm-Shuttles der Morrhm und sind offenbar ganz erfolgreich dabei. Allerdings scheinen einige der Verteidiger-Einheiten die Seiten gewechselt zu haben und kämpfen für die Angreifer.“
„Könnte es sich um gekaperte Schiffe handeln?“, fragte Rena Sunfrost.
Lieutenant Commander Robert Ukasi, seines Zeichens Zweiter Offizier der STERNENKRIEGER und für die Taktik, sowie die Koordination der zehn schwenkbaren Gauss-Geschütze zuständig, mischte sich jetzt ein. „Mir scheint das taktische Verhalten der abtrünnigen Verteidiger darauf hinzudeuten, dass Ihre Vermutung stimmt, Captain“, erklärte er. „Genaueres wissen wir nach einem etwas längeren Beobachtungszeitraum sowie einer rechnergestützten taktischen Analyse.“
„Führen Sie die bitte durch, Lieutenant Commander Ukasi.“
„Ja, Ma’am.“
„Das könnte ein interessanter Aspekt bei der Beurteilung der Lage sein“, äußerte sich Van Doren.
Über Interkom meldete sich Bruder Guillermo aus dem Kontrollraum C des Maschinentrakts. Sein Gesicht erschien auf einem Nebenbildschirm. Zusammen mit den Wissenschaftlern Jack Metz und Yasuhiro von Schlichten sowie dem qriidischen Austauschoffizier Nirat-Son befasste sich Bruder Guillermo mit der Auswertung der eingehenden Ortungsdaten. Der Olvanorer-Mönch, der als wissenschaftlicher Berater mit Offiziersprivileg an Bord der STERNENKRIEGER diente und mit bürgerlichem Namen Guillermo Benford hieß, zog die Augenbrauen zusammen. Sein jugendlich erscheinendes Gesicht, das häufig genug dazu beitrug, dass man ihn unterschätzte, wirkte sehr ernsthaft und angestrengt.
„Captain, das Signal, dem wir gefolgt sind, lässt sich bis zu einem bestimmten Punkt im Abstand von 1,2 astronomischen Einheiten zum Zentralgestirn verfolgen.“
„Dann muss sich dort die Transmitteranlage der Alten Götter befinden, die wir suchen.“
„Das ganze System scheint eine Anlage der Alten Götter zu sein – oder der Erhabenen, um nicht den Fash’rar-Namen für diese Spezies zu benutzen, der ja wohl kaum neutral gewählt war.“
Rena Sunfrost schmunzelte leicht. Als ob der Name ‚die Erhabenen’ neutral gewählt wäre, lieber Bruder Guillermo, ging es ihr durch den Kopf. Aber darüber werden wir vielleicht ein anderes Mal diskutieren...
„Sieben Planeten bewegen sich auf einer nahezu kreisförmigen Umlaufbahn mit einem Abstand von 1,2 AE vom Zentralgestirn und einem Abstand voneinander, der jeweils einem Siebtel des Kreisbogens entspricht. Wenn man diese Planeten mit Linien verbinden würde, hätte man ein fast perfektes Heptagon.“
„Wie bei den Monden auf dem Planeten der Fash’rar im Tardelli-System!“, entfuhr es Van Doren.
Bruder Guillermo nickte. „Ja! Aber damit hören die Gemeinsamkeiten nicht auf. Jede dieser Welten verfügt wiederum über sieben Monde, die ihren Mutterplaneten ebenfalls in einem exakten Siebeneck umkreisen. Professor Metz ist der Ansicht, dass es sich bei diesem System um das größte Artefakt der Erhabenen handeln könnte, auf das wir bis jetzt gestoßen sind.“
„Lässt sich schon etwas über die einzelnen Welten sagen?“, erkundigte sich Sunfrost.
„Warten Sie, ich schalte Ihnen eine detaillierte Übersicht auf den Nebenschirm, soweit die vorhandenen Ortungsdaten bisher vorliegen.“
„Tun Sie das, Bruder Guillermo.“
Das Gesicht des Olvanorers verschwand vom Nebenschirm und machte einer schematischen Systemübersicht platz, die im Gegensatz zu jener, die vom Ortungssystem automatisch erstellt worden war, noch wesentlich mehr Angaben enthielt. Bruder Guillermo musste sie bearbeitet haben.
Die sieben Welten und ihre Monde waren zu sehen.
„Da die Planeten die Eckpunkte eines Siebenecks bilden, habe ich sie wie in der Geometrie üblich gegen den Urzeigersinn mit Buchstaben des Alphabets durchnummeriert und dasselbe mit den Monden getan. Ausgangspunkt war dabei jeweils der Punkt mit dem geringsten Abstand zu unserer gegenwärtigen Position. AA ist also der uns derzeit am nächsten gelegene Mond des derzeit uns am nächsten gelegenen Planeten dieses Systems...“
„Das selbst noch keinen Namen besitzt, wie ich annehme“, unterbrach ihn Sunfrost, denn normalerweise war es das Privileg des Captains, neu entdeckten Systemen einen Namen zu geben.
„Wenn Sie den Namen, den ihm seine Bewohner gegeben haben nicht übernehmen wollen, dann haben Sie recht“, erwiderte der Olvanorer.
„Können Sie uns schon etwas über die einzelnen Welten sagen?“, fragte Sunfrost.
„A und C sind interessant“, erklärte Bruder Guillermo. „A schon allein deswegen, weil dort erdähnliche Bedingungen herrschen, sieht man einmal davon ab, dass es keinen planetenumspannenden Ozean, sondern nur Binnenmeere gibt, die zusammen etwa ein Viertel der Planetenoberfläche ausmachen, was natürlich klimatische Auswirkungen hat. Aber insgesamt dürften auf A die Bedingungen ganz angenehm sein. Starke Funkaktivität spricht für eine technikorientierte Kultur mit modernen Kommunikationsmitteln. Wahrscheinlich gehören zu ihr die Verteidigerschiffe. Abgesehen davon befinden sich im Orbit nicht nur die obligatorischen sieben Monde, sondern auch ein Quaderartefakt, wie es bereits von anderen Orten her bekannt ist. Allerdings ist dieses von der doppelten Größe des von Spider II bekannten Objekts. Im Übrigen lässt sich das Signal, dem wir gefolgt sind, dorthin zurückverfolgen.“
Sunfrost nickte zufrieden. „Dann ist dort unser Ziel“, murmelte sie und fügte in Gedanken hinzu: Vorausgesetzt, man lässt uns bis dorthin vordringen. „Was ist mit den anderen Welten?“
„Besiedelbar, aber mit wesentlich extremeren Umweltbedingungen. Funkaktivität ist wesentlich geringer. Und Nummer C fällt deutlich aus dem Rahmen. Der Planet hat die fünffache Erdmasse und ist von enormer Dichte. Er besteht fast vollkommen aus schweren Metallen und Transuranen mit einer Protonenzahl von deutlich über 200.“
„Strahlung?“, hakte Van Doren sofort nach.
Bruder Guillermo schüttelte den Kopf. „Nein. Kein Anzeichen für das Vorhandensein von radioaktiven Substanzen. Erstaunlicherweise fehlt sogar bei den stark vertretenen Metallen Uran, Wolfram und Blei jeglicher Anteil an radioaktiven Isotopen. Und die Trans-200-Elemente liegen in einer absolut stabilen Form vor. Keine Gamma-Strahlung, keine Neutronenstrahlung, kein radioaktiver Zerfall... Nichts dergleichen!“
„Sieht fast so aus, als hätte da jemand eine Art umgekehrter Anreicherung des Materials durchgeführt“, mischte sich Professor Dr. Jack Metz ein. Der Bildausschnitt, den der Nebenschirm zeigte, veränderte sich etwas, sodass nun auch Metz zu sehen war. Im Hintergrund war Professor von Schlichten damit beschäftigt, ein paar Einstellungen am Rechner vorzunehmen.
Der hagere Wissenschaftler, der zwischenzeitlich wieder bei seinem alten Arbeitgeber, dem Far Galaxy Konzern, tätig gewesen war und sich für diese Mission hatte beurlauben lassen, schien keinerlei Neigung zu haben, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Das Verhältnis zwischen Captain Sunfrost und von Schlichten war seit ihrer ersten Begegnung während einer Mission zur Testung von Antimateriewaffen, immer angespannt gewesen, auch wenn inzwischen wohl der gegenseitige Respekt überwog.
In diesem Augenblick mischte sich Lieutenant Susan Jamalkerim, die Kommunikationsoffizierin der STERNENKRIEGER, zu Wort. „Captain, uns erreicht eine Transmission von der erdähnlichen Hauptwelt A.“
„Meinen Sie, unser Translatorsystem hat bereits genügend Material aufgenommen, um eine vernünftige Übersetzung hinzubekommen?“, fragte Van Doren.
„Sir, das war nicht nötig“, erklärte Jamalkerim. „Der Bordrechner zeigt mir, dass sich bereits umfangreiches Sprachmaterial dieser Spezies in den Speichern unseres Bordrechners befindet.“
„Auf den Schirm damit!“, verlangte Sunfrost.
„Was Lieutenant Jamalkerim sagte, kann ja wohl nur bedeuten, dass sie bereits irgendwann mit Raumschiffen der Menschheit zusammengetroffen sind und ihr Sprachmaterial deshalb in unserer allgemeinen Space Army Corps Datenbasis landete“, meinte Van Doren.
Auf dem Hauptschirm erschien nun das Gesicht eines grünhäutigen, haarlosen Humanoiden, auf dessen Kopf ein Knochenkamm wuchs. Die Augen waren bernsteinfarben. Die Gesichtszüge wurden durch hart geschnittene Linien dominiert.
„Hier spricht Befehlshaber Mentoraan, Koordinator der Abwehrflotte von Nostanor. Unserer Analyse nach gehören Sie nicht zu den Raumbarbaren, die uns derzeit heimsuchen und gegen die wir uns mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Leider sind wir nicht die einzigen, die mit dieser Pest des Universums zu tun haben und falls Sie die Absicht haben, uns zu helfen, sind Sie im Nostanor-System als Bundesgenossen willkommen. Falls nicht, sind wir unsererseits an einem Kontakt nicht interessiert und fordern Sie auf, das System wieder zu verlassen, da wir ansonsten Ihre Sicherheit nicht garantieren können. Mentoraan Ende.“
Das Bild des Nostan-Befehlshabers machte einer Folge von Symbolen Platz und ein Sekundenbruchteil später war die Übertragung beendet.
„Die Nostan scheinen sich nicht lange mit diplomatischen Finessen aufzuhalten“, stellte Sunfrost fest.
„Kurz und knapp zur Sache. Diese Art der Kommunikation hat durchaus ihre Vorteile“, erwiderte Van Doren. „Die Transmission ging übrigens parallel auch an die anderen Schiffe unseres Verbandes.“
„Ich schlage vor, wir erweisen uns als gute Verbündete, sorgen für den Abschuss einiger Morrhm-Jäger und haben anschließend vielleicht die Chance, das Quaderartefakt untersuchen zu dürfen“, lautete der Vorschlag des Taktikoffiziers. Lieutenant Robert Ukasi drehte sich herum und hob die Augenbrauen.
„Das entspricht auch meiner Ansicht. Jamalkerim, senden Sie eine entsprechende Nachricht an alle.“
„Sie wollen keine Konferenzschaltung durchführen?“, wunderte sich Van Doren.
„Wir werden weder die Ontiden noch die Qriid oder irgendjemanden sonst von unseren Begleitern um Erlaubnis fragen“, erklärte Sunfrost. „Die können sich uns anschließen, wenn sie wollen oder auch nicht, wenn sie glauben, dass es irgendwo sonst eine vielversprechendere Möglichkeit gibt, dem Geheimnis der Alten Götter etwa näher zu kommen.“ Sie wandte sich noch einmal an Susan Jamalkerim. „Formulieren Sie es so, dass niemand unter unseren Bundesgenossen beleidigt ist.“
„Ja, Ma’am“, nickte die Kommunikationsoffizierin.
Sunfrost erhob sich aus ihrem Kommandantensessel. „Und jetzt möchte ich gerne wissen, was für ein Volk die Nostan sind. Ich habe nämlich noch nie von dieser Spezies gehört.“
„Ich schlage vor, Sie richten diese Frage an Bruder Guillermo“, meinte Van Doren.
Lieutenant Jamalkerim meldete sich zu Wort. „Mehrere Morrhm-Jäger und Sturm-Shuttles haben den Kurs geändert“, sagte sie und aktivierte eine Positionsübersicht, die in einem Teilfenster des Panorama-Schirms dargestellt wurde.
„Captain, man braucht keine rechnergestützte taktische Analyse, um zu sehen, dass das ein Abfangkurs ist“, lautete Ukasis Kommentar.
„Lassen Sie sie auf keinen Fall herankommen, Ukasi“, verlangte Sunfrost. „Mister Taranos, gehen Sie auf direkten Kurs zu dieser erdähnlichen Welt – Nostanor A, nach der von Bruder Guillermo eingeführten Terminologie.“
„Aye, aye, Ma’am“, bestätigte John Taranos. „Wir werden in etwa anderthalb Stunden mit den ersten Morrhm-Jägern bis auf Gefechtsdistanz zusammentreffen.“
„Da kommt noch ein weiteres Problem auf uns zu“, stellte Van Doren fest.
„Wovon sprechen Sie, I.O.?“, hakte Sunfrost nach.
Van Doren veränderte den Zoomfaktor des Panorama-Schirms.
Ein Raumschiff wurde sichtbar. Es hatte eine unregelmäßige Form. Das Grundelement bestand jedoch aus einer quaderförmigen Einheit, von der mehrere Verstrebungen ausgingen, die zu kleineren, zumeist Kugel- oder zylinderförmigen Sektionen.
„Das ist ein Nostan-Schiff“, erklärte Jamalkerim.
„Ja, aber im Gegensatz zu den anderen ist es gerade erst aus dem Sandströmraum materialisiert“ erklärte Van Doren. „Die Analyse des Funkverkehrs legt den Schluss nahe, dass es den Morrhm gelungen ist einige Nostan-Schiffe zu kapern.“
„Sie glauben, dass dies eine dieser abtrünnigen Einheiten ist?“, vergewisserte sich Sunfrost.
„Der Funkverkehr lässt sich so deuten“, bestätigte Van Doren. „Außerdem gibt es deutliche Unterschiede in den Energiesignaturen – so als würde dieses Schiff von jemandem geflogen, der sich damit vielleicht nicht so gut auskennt.“
„Lieutenant Jamalkerim, versuchen Sie noch mal Kontakt zu diesem Befehlshaber der Nostan-Flotte zu bekommen“, verlangte Sunfrost.
„Ja, Ma’am.“
Sunfrost wandte sich an Ukasi. „Glauben Sie, dass unsere Plasma-Schirme gegen die Strahlenwaffen eines Nostan-Schiffs wirken?“
„Ja“, nickte Ukasi. „Die Wirkungsweise ist der der qriidischen Traser tatsächlich sehr ähnlich. Genaues kann man natürlich noch nicht sagen.“
„Nostan-Bandit 1 geht auf Abfangkurs und dürfte uns in einer Stunde erreichen“, meldete Taranos.
*
„Es waren keineswegs die Olvanorer, die zuerst Kontakt mit den Nostan hatten“, erklärte Bruder Guillermo wenig später über Interkom, nachdem er in den Computerarchiven ein paar Minuten nachgeforscht hatte. „Ich weiß nicht, ob der Name Marina Ihnen etwas sagt?“
Sunfrost hob die Augenbrauen. „Ein System am äußeren Rand der Humanen Welten im Grenzbereich zu den K'aradan. Allerdings ist es das in den letzten zehn Jahren recht ruhig gewesen.“
„Das Marina-System ist 52 Lichtjahre von der Erde entfernt und wurde seit der Jahrhundertwende von Menschen besiedelt. Vor allem Marina III, wo es eine florierende Algenindustrie gab, die Rohprodukte für synthetische Eiweißfabrikanten im gesamten umliegenden Sektor lieferte. Bis im Jahr 2216 eine Flotte von bisher unbekannten Wesen auftauchte, die das System für sich beanspruchten. Sie nannten sich Nostan und hatten offenbar die Absicht, selbst eine Kolonie im Marina-System zu gründen.“
„Das war zwei Jahre vor Gründung des Space Army Corps“, erwiderte Sunfrost.
Bruder Guillermo nickte. „Dementsprechend gab es auch keine koordinierte Verteidigung. Die Nostan wurden von Fulirr und K'aradan vertrieben, die das System zu ihrem Schlachtfeld machten und dann abzogen. Ehe die unzureichend ausgerüstete Hilfsflotte am Ort des Geschehens auftauchte, die von den Humanen Welten nach einige Hin und Her aufgestellt worden war, waren sowohl die Nostan als auch Fulirr und K'aradan wieder verschwunden. Man entschied daraufhin, dass das System nicht zu sichern sei und evakuierte die Siedler. Erst zehn Jahre später machte man einen erneuten Versuch, Marina zu besiedeln.“
„Wenigstens hat man damals das Sprachmaterial der Nostan aufgezeichnet“, sagte Van Doren. „Ich erinnere mich. Zu meiner Zeit auf der Akademie wurde der Marina-Fall immer als eine Art Auslöser zur Gründung des Space Army Corps dargestellt. Allerdings war mir nicht mehr klar, dass die Nostan etwas damit zu tun hatten...“
„Die Informationen über sie waren ausgesprochen spärlich. Aber immerhin gibt es ein paar Bilddateien und Aufzeichnungen der Sendungen, die die Nostan seinerzeit ins Mediennetz des Marina-Systems einspeisten, anhand derer sich die Physiognomie eindeutig identifizieren lässt“, ergänzte Bruder Guillermo.
„Für mich stellt sich jetzt die Frage, ob sich die Bewohner Nostanors an das unfreundliche Zusammentreffen im Marina-System erinnern“, sagte Sunfrost.
„Das ist nicht gesagt“, gab Bruder Guillermo zurück. „Schließlich spricht viel dafür, dass es sich um eine Kolonistengruppe handelte. Jene Nostan, die damals versucht haben, das Marina-System an sich zu reißen, waren vermutlich zur Auswanderung entschlossen und sind vielleicht nie nach Nostanor zurückgekehrt, sondern haben sich irgendwo anders eine neue Heimat gesucht.“
„Allerdings haben wir nie von ihnen gehört“, stellte Van Doren fest.
Sunfrost seufzte. „Jedenfalls wissen wir, dass sie in der Lage sind, Raumschiffe zu bauen, die ziemlich weite Distanzen überbrücken. Schließlich sind wir fast 1500 Lichtjahre von der Erde entfernt – deren Position aus dieser Entfernung mit der des Marina-Systems ja fast identisch erscheint!“
„Vorsicht!“, erwiderte Bruder Guillermo. „Wer die Raumschiffe der Nostan tatsächlich konstruiert, ist noch nicht raus.“
„Was meinen Sie damit?“
„Die Außenhülle ähnelt in ihrer Struktur auffällig den bisher untersuchten Quader-Artefakten.“
„Sie meinen, die Nostan haben nur Technik der Alten Götter übernommen?“, hakte Sunfrost sogleich nach.
Bruder Guillermo zuckte mit den Schultern. „Wie groß der Anteil ihrer Technik ist, den sie selbst entwickelt haben und jener, den sie von den Erhabenen übernahmen, lässt sich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht bestimmen, aber dass sie Technik der Alten Götter übernommen haben, steht meiner Ansicht nach außer Frage.“
„Eigenartig, ich hätte den Alten Göttern in puncto Waffentechnik schon etwas mehr zugetraut“, äußerte sich Lieutenant Commander Ukasi.
„Wer sagt uns, dass sie uns ihr gesamtes Arsenal bereits vorgeführt haben“, gab Van Doren zu bedenken.
Ein paar Minuten später bekam Lieutenant Jamalkerim noch einmal Kontakt zu Befehlshaber Mentoraan. Dieser gab in seiner knappen, präzisen Art an, dass die Nostan auf zahlreichen anderen Welten siedelten – davon allein zwanzig in Systemen der näheren galaktischen Umgebung. Die scheinbar abtrünnigen Schiffe seien bei Morrhm-Überfällen auf mehrere dieser Kolonien gekapert worden. „Glücklicherweise sind diese Barbaren nicht in der Lage, das volle Waffenarsenal der Schiffe zu nutzen, sodass wir nicht annehmen, dass sich daraus ein größeres Problem ergibt“, beendete Mentoraan seine Ausführungen.
An einer Antwort von Captain Sunfrost war er wie schon beim ersten Kontakt nicht weiter interessiert.
Schon eine Sekunde nachdem er zu sprechen aufgehört hatte, erschienen auf dem Bildschirm wieder eine Reihe rätselhafter Schriftzeichen, die bereits verblasst waren, noch ehe das Translatorsystem alles übersetzt hatte, was der Nostanische Befehlshaber sagen wollte.
„Also genau wie wir vermutet haben“, murmelte Sunfrost.
„Also eins muss man den Brüdern lassen – die Kunst der diplomatischen Konversation haben sie nicht erfunden“, lautete Van Dorens Kommentar.
„Nennen Sie es eine im Hinblick auf Kürze und Effektivität optimierte Kommunikationskultur“, erwiderte Sunfrost. „Wie die Lakonie der Spartaner.“
Van Doren hob die Augenbrauen. „Hoffen wir nur, dass sie in anderer Hinsicht weniger Ähnlichkeit mit den Spartanern der irdischen Antike haben.“
*
Zyrolaan trug das golden schimmernde Abzeichen des Herrschers-auf-Zeit um den Hals, das ihn als den derzeitigen, durch Wahl bestimmten absoluten Machthaber der sieben Welten von Nostanor auswies.
Der purpurne Mantel reichte bis zum Boden und kontrastierte stark mit der leuchtend grünen Farbe seiner Haut und dem blauen, tunikaartigen Gewand, das ihn von den Schultern bis zu den Knien bedeckte. Darunter trug er noch enganliegende beige Hosen.
Zyrolaan gehörte dem Geschlecht Nummer 5 an, was zu gewissen Komplikationen geführt hatte. Vor allem deshalb, weil diverse Vorurteile diesem Geschlecht mangelnde emotionale Präsenz, Kommunikationsfähigkeit und eine gewisse Fetischisierung der Technik vorwarfen.
Aber eine Mehrheit der Nostan hatte entschieden, dass es Zeit für einen grundlegenden Wandel in der politischen Kultur Nostanors war. Einen Wandel, bei dem ein kühler Logiker, der bereit war, notfalls Traditionen über Bord zu werfen, vielleicht genau der Richtige war, um das Volk der Sieben Nostanor-Welten zu vertreten.
Streng genommen war schon die Bezeichnung „Sieben Welten von Nostanor“ ein Ausdruck, der politisch gefärbt war. Schließlich lebten neunzig Prozent der Bevölkerung auf Nostanor A – wobei die Nostan selbst die Planeten ihres Systems natürlich nicht mit Buchstaben durchnummerierten, sondern dazu unübertragbare Tonhöhen benutzten, die wiederum für eine ganz spezielle Verbindung von mathematischen Symbolen, Farben und Tonhöhen standen, die der Erfahrung nach in extra-Nostanische Idiome oder Zeichensysteme einfach nicht übertragbar war.
Die Nostan waren nämlich extreme Synästhetiker, in deren Hirnen die Eindrücke von Formen, Farben, Töne und Gerüchen auf sehr komplexe Weise miteinander vernetzt waren.
Das dies das Lernen sehr erleichterte und es den Nostan ermöglichte, sich selbst flüchtig aufgenommene Fakten beinahe wie in einem fotografischen Gedächtnis merken zu können, war eine Tatsache. Etwas, das der Überzeugung Nahrung gab, dass die Nostan allen anderen Völkern im Universum überlegen waren. Allen bis auf eines, von dem unter den meisten Völkern die Legende umging, es sei verschwunden oder ausgestorben.
Aber die uralte Zivilisation, die sich selbst als das „Reich der Erhabenen’ bezeichnet hatte, war in Wahrheit nicht ausgestorben.
Die Nostan wussten es besser.
Und das begründete einen Großteil ihres Stolzes und ihres Gefühls der Überlegenheit.
Zyrolaan schritt durch die große Wandelhalle – tausend Meter unter der Oberfläche der Hauptwelt Nostanor A. Damit war sie in jedem Fall vor Angriffen – von wem auch immer sie geführt werden sollten – sicher. Der kuppelartige Bau hatte gewaltige Ausmaße. Die Decke der Kuppel bot die Illusion eines blauen Himmels und ließ nicht vermuten, dass tausend Meter Erdreich und Gestein darüber lagen, ehe man den echten Himmel von Nostanor A sehen konnte.
Projektoren zauberten eine Ansicht des Nostanor-A-Himmels auf die Innenseite der Kuppel – und das in einer Qualität, die nicht nur absolut dreidimensional war, sondern auch die durch den Synästhetizismus der Nostan gesteigerten optischen Ansprüchen genügte.
Eine perfekte Illusion, dachte Zyrolaan. Aber eine Illusion, die auf einer Technik basiert, die wir nur einigermaßen verstehen, aber nicht beherrschen – geschweige denn, dass wir uns selbst als ihre Schöpfer bezeichnen könnten...
Aber das würde sich ändern.
Die Erfolge, die Zyrolaan in seiner bisherigen Amtszeit vorweisen konnte, waren noch bescheiden und es gab viele Widerstände der Traditionalisten zu überwinden, die alles, was von den Erhabenen stammte, als heilig und sakrosankt ansahen.
Aber die Technologie der Erhabenen musste weiterentwickelt und den Bedingungen dieser Zeit angepasst werden. Alles andere bedeutete nur einen langsamen Niedergang.
Zyrolaan hörte einen Summton, der für ihn mit einem ganz bestimmten Rot und einer Geruchsnuance verbunden war.
Jemand mit höchster Priorität verlangte nach einer Interkom-Verbindung mit dem Herrscher-auf-Zeit.
Fast instinktiv stieß der Nostan einen Laut im sehr tiefen Frequenzbereich aus, der für menschliche Ohren kam hörbar gewesen wäre. Dazu nutzte er die Röhrengänge innerhalb seines Knochenkamms, die mit dem Rachen-Nasentrakt seines Gesichts verbunden waren. Mehrere Zäpfchen in diesen Gängen halfen, die genaue Tonhöhe modulieren zu können. Jeder Nostan hatte das, was irdische Musiker ein absolutes Gehör nannten, wobei jeder Tonhöhe auch eine Bedeutung zugemessen war. Die Nostan verfügten so neben der herkömmlichen Sprache noch über ein zweites, nonverbales Kommunikationssystem. Das hatten sie zwar mit fast allen sprachbegabten Spezies gemein, allerdings war bei ihnen dieses nonverbale Zeichensystem aus der Kombination von Tonhöhen und melodiösen Phrasen fast genauso differenziert wie die Sprache.
Der Ton, den Zyrolaan ausstieß, aktivierte das Interkom-System seines Gürtel-Kommunikators. Das Gerät projizierte eine Holosäule – gut drei Meter von Zyrolaan entfernt. Das lebensgroße Abbild von Befehlshaber Mentoraan wurde sichtbar.
„Ich nehme an, ich bekomme jetzt einen Lagebericht, der die positive Wendung der kriegerische Ereignisse beinhaltet“, sagte Zyrolaan, während er gleichzeitig mit Hilfe der Luftröhren innerhalb seines Knochenkamms eine Folge dunkler Begleitakkorde erzeugte, die so etwas wie einen ironischen Kommentar zum gesprochenen Wort darstellten. Aber unter Nostan konnten man auf diese Weise kommunizieren. Mit einem der zahlreichen Wsssarrr, die auf Nostanor A lebten, wäre das schon schwieriger gewesen, denn sämtliche Translatorsysteme, die sich den physiologischen Voraussetzungen der Arachnoiden anpassen ließen, fehlte die Fähigkeit, zwischen dem gesprochenen und den Nebentönen klar zu unterscheiden, was immer wieder zu Missverständnissen führte. So war Zyrolaan im Umgang mit Wsssarrr generell dazu übergegangen, auf Nebentöne des Knochenkamms zu verzichten – auch wenn dies die Kommunikation entsetzlich einfach und arm an Bedeutungsnuancen machte.
Aber sollte man machen? Auch wenn die Verwandtschaft der Wsssarrr mit den Erhabenen nicht zu leugnen war, so musste es sich doch entweder um sehr ferne Verwandte dieser Spezies handeln oder es waren einige entscheidende genetische Sequenzen im Verlauf der Wsssarrr-Geschichte deaktiviert worden.
Ein Problem, das vielleicht vor einer halben Million Nostan-Jahren entstanden war, wie führende Wissenschaftler und vor allem die Priesterschaft des Schlafenden Weisen annahmen.
Befehlshaber Mentoraan verstand die Nebentöne seines Herrschers-auf-Zeit problemlos, wie eine amüsierte Erwiderung aus einer Folge verhältnismäßig hochfrequenter Kopfkammtöne bewies.
„Wir bekommen den Angriff unter Kontrolle. Die Strategie des Gegners basiert auf dem Wunsch einer direkten Infanterie-Konfrontation und der Landung von Truppen. Wie wir aus Berichten wissen, die uns von den Kolonien erreichten, setzen sie außerdem hemmungslos primitive Atomwaffen ein, weil sie selbst offenbar sehr strahlenresistent sind.“
„Das bedeutet, wir dürfen nicht gestatten, dass einige ihrer Einheiten bis in den Orbitalbereich einer unserer Welten gelangen“, schloss Zyrolaan.
„Genau das werden wir verhindern. Aber was die Distanzbewaffnung angeht, ist der Gegner uns deutlich unterlegen. Es ist also nur eine Frage der Zeit, wann wir die Situation bereinigt haben.“
„Das freut mich zu hören.“
„Mit einzelnen gezielten Schlägen des Gegners, die dennoch sehr zerstörerisch wirken können, müssen wir trotzdem rechnen. Ihre Kampfweise nimmt wenig Rücksicht auf die eigene Sicherheit und die eigene Überlebenswahrscheinlichkeit. Daher ist immer wider mit unlogischen oder selbstmörderischen Aktionen zu rechnen.“
„Was soll man von dieser Pestilenz des Alls anders erwarten?“, erwiderte Zyrolaan. Eine rhetorische Frage, die von Tönen des Spottes begleitet wurden. Aber in diese Tonfolgen mischten sich auch Signale der Sorge. Normalerweise hatte ein Nostan den nonverbalen Äußerungsstrom seines Kopfkamms absolut unter Kontrolle, aber hin und wieder stahlen sich eben doch unbewusst ausgestoßene Töne in die Harmonie der Melodiephrasen, Akkorde und rhythmische Tonfolgern hinein, von denen manche perkussiven Klick- oder Schnalzlauten glichen, während andere eher den Charakter dunkler Klangteppiche annahmen. Ursprünglich war dieses Organ für Äußerungen des Unterbewussten zuständig gewesen. Auch die hoch entwickelte Kultur der Nostan konnte es nicht verhindern, dass diese Eigenschaft immer mal wieder zumindest in Nuancen zum Durchbruch kam. Im Allgemeinen war dies der Anlass, sich zu entschuldigen. Zumindest, wenn der Betreffende die unbewusste, unkontrollierte Äußerung selbst bemerkte. Aber was den Herrscher-auf-Zeit anging, so widersprach es seiner Rolle, sich überhaupt für irgendetwas zu entschuldigen, da man annahm, dass dies der Autoritätsposition abträglich war.
„Es gibt einige aus den Kolonien gekaperte Schiffe“, sagte der Herrscher-auf-Zeit.
Befehlshaber Mentoraan bestätigte dies. „Es sind Schiffe, die vor mehreren Nostanor-Monaten beim Angriff auf die Kolonie Tabasi gekapert worden.“
„Sind es... Originale?“
Der Herrscher-auf-Zeit zögerte, ehe er das Wort Originale aussprach. Und es wurde auch von ein paar widerstrebenden Nebentönen aus dem Knochenkamm begleitet. Der Grund dafür war einfach. Der Herrscher-auf-Zeit war das Oberhaupt einer Bewegung, die sich dafür einsetzte, dass die Nostan endlich darangingen, die Technik der Erhabenen weiterzuentwickeln. Die Auswanderergruppen der Vergangenheit, die in anderen Systemen Kolonien gegründet hatten, waren natürlich von vornherein darauf angewiesen gewesen, eigene Nachbauten von Raumschiffen und anderen technischen Gerätschaften zu produzieren.
Im Nostanor-System hatte man den Begriff Originale lange Zeit benutzt, um sich von den in der Regel technisch minderwertigen Kopien der Erhabenen-Technologie abzugrenzen.
Niemand war in der Lage die Technik der Erhabenen zu übertreffen, das war lange Zeit das Dogma der Nostanorischen Politik gewesen. Die Kolonien hingegen hatten sich den Luxus eines so destruktiven Dogmas von vorn herein nicht leisten können.
Zyrolaan hatte daher als eine seiner ersten Amtshandlungen verfügt, dass nicht mehr zwischen Originalen und kopierter Technik unterschieden werden dürfe. Weder in der Werbung, noch in der durch das Mediennetz veröffentlichten Meinung. Es durfte nur noch die individuelle Qualität eines Geräts beurteilt werden, aber ob dies aus dies ein Original der Erhabenen oder eine weiterentwickelte Kopie der Nostan war, sollte als Qualitätskriterium keine Rolle mehr spielen.
Das ausgerechnet der amtierende Herrscher-auf-Zeit, der diese Verfügung erlassen hatte, nun selbst von ‚Originalen’ sprach, entbehrte nicht einer gewissen Ironie.
Mentoraan quittierte sie mit ein paar wohlwollenden Brummlauten, die seine Worte unterlegten.
Der Befehlshaber hatte seinen Rang schon innegehabt, als noch die Traditionalisten den Herrscher-auf-Zeit gestellt hatten. Und es war anfangs nicht ganz leicht für ihn gewesen, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen.
Sein Pflichtgefühl hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Die neue Regierung war an seinen Diensten interessiert, da er unbestritten über ein hohes Maß an Erfahrung verfügte.
Also hatte er seinen ursprünglichen Plan, mit dem Regierungswechsel aus dem Befehlshaber-Amt zu scheiden, aufgegeben und sich in den Dienst des ersten Herrschers-auf-Zeit gestellt, der den sogenannten ‚Expansionisten’ nahe stand. Neben der Idee, dass die Nostan die Technik der Erhabenen weiterentwickeln sollen, befürwortete die neue Richtung nämlich auch eine Forcierung der Gründung weiterer Kolonien.
Dutzende von Welten hatten die Nostan bis jetzt besiedelt. Von manchen wusste man auf Nostanor gar nichts, da die Auswanderer meistens expansionistische Abweichler gewesen waren, die gegen den Widerstand einer langen Reihe von traditionalistischen Herrschern-auf-Zeit auswanderten. Für die Traditionalisten waren diese Auswanderer Frevler. Wie konnten sie an einem anderen Ort, als dem von Erhabenen geformten Nostanor leben? Standen nicht genügend penibel positionierte Planeten und Monde zur Verfügung? Aus insgesamt 49 Himmelskörpern bestand das Nostanor-System, von denen nur einer – der sogenannte Schlafende Weise – nicht besiedelt werden konnte. Aber abgesehen von Nostanor A war die Bevölkerungsdichte auf allen andere Welten des Siebenecks sehr gering. Die Schaffung weiterer Habitate mit annehmbaren Umweltbedingungen wäre kein Problem gewesen. Die Technologie der Erhabenen machte das möglich.
Aber die Auswanderer hatten sich auch politisch von der Bevormundung durch die Traditionalisten befreien wollen.
Zyrolaan hatte gleich nach dem Machtwechsel einen Langzeitplan entwickeln lassen, dessen Ziel es war, die Verbindung zu den Kolonien aufzunehmen und über das Stadium eines Bündnisses aller Nostan-Welten schließlich ein gemeinsames Sternenreich zu schaffen.
Aber dieses Ziel war noch in weiter Ferne.
Befehlshaber Mentoraan berichtete: „Es handelt sich bei den gekaperten Schiffen der Morrhm um Nachbauten der Kategorien zwei und drei. Keine Originale und auch keine originalgetreue Kopien, sondern nur sehr stark modifizierte Einheiten.“
„Was wohl zu erwarten war.“
„Ja – und die Kampfkraft dieser Schiffe kommt an diejenigen, die uns zur Verfügung stehen nicht heran. Was mich mehr verunsichert, ist das Auftauchen dieser Fremden... Ein Verband von völlig unterschiedlichen Raumschiffen, deren technische Grundlagen ganz verschieden sind...“
„Konnten Sie die Herkunft dieser Schiffe ermitteln?“
„Eines der Schiffe stimmt in seinen Signaturen und in seiner Technik mit Schiffen eines Volkes überein, das sich K'aradan nennt und dessen Kontaktversuche in der Vergangenheit stets abgewiesen wurde.“
„Weswegen?“, hakte der Herrscher-auf-Zeit nach.
„Wegen genetischer Unwürdigkeit“, erwiderte der Befehlshaber. „Ich habe in den Archivdaten nachgesehen. Der letzte Kontakt zu den K'aradan datiert aus dem Jahr 998.768 nach der Ordnung des Nostanor-Systems. Damals regierte Ihr Vor-Vorgänger Kempuviaan noch...“
„Ich bin nicht alt genug, um mich bewusst an diese Zeit erinnern zu können“, erwiderte Zyrolaan.
„Aber ich“, erwiderte Befehlshaber Mentoraan. „Das Urteil über die genetische Qualität war eindeutig. Diese Wesen sind von so niederer Ordnung, dass sie nicht einmal zum Verzehr geeignet sind. Den Erkenntnissen unseres Sicherheitsdienstes zu Folge beherrschen sie ein gigantisches Territorium. Wie ihnen das gelingen konnte, ist mir schleierhaft. Aber Unkraut hat ja ebenfalls die Tendenz, sich auszubreiten.“
„Was hat die Überprüfung der anderen Schiffe ergeben?“
„Stammen allesamt von bisher unbekannten Spezies. Aber unsere Feinde scheinen sie besser zu kennen, denn sie haben die Fremden sofort angegriffen!“
„Die Feinde unserer Feinde könnten ja durchaus unsere Freunde werden“, sagte Zyrolaan. „Vorausgesetzt, ihre genetische Prüfung ergibt, dass nicht sämtliche Schiffsbesatzungen aus Tieren bestehen.“
Befehlshaber Mentoraan ließ einen schrillen Doppelklang seine weiteren Worte untermalen. „Ich war von Anfang an dagegen, diesen Fremden irgendein positives Signal zu überbringen und habe das nur mit dem größten Widerwillen getan.“
„Aber wenn wir dem Weg der Expansion folgen, werden wir Kontakt zu anderen raumfahrenden Spezies suchen müssen. Das ist nicht zu umgehen.“ Zyrolaan machte eine Pause. Sein Mund verzog sich zur nostanischen Entsprechung eines Lächelns. „Sie haben angekündigt, auch der neuen Regierung dienen zu wollen, Befehlshaber. Mit allen Konsequenzen.“
„Ich diene Nostanor“, sagte der Befehlshaber, wobei sich seine Körperhaltung straffte. Er ballte die sechsfingrige Faust der linken Hand und schlug sich damit gegen den Brustkorb, sodass dabei ein dumpfer Laut entstand.
Unterstützt wurde diese Geste durch einen kraftvollen Akkord aus den Klangröhrchen des Knochenkamms.
*
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Er wünscht sich eine andere Regierung, ging es Zyrolaan durch den Kopf. Jahrtausendelang haben nur Herrscher der Traditionalisten das Amt des Herrschers-auf-Zeit bekleidet. Und jetzt denken Leute wie Befehlshaber Mentoraan wohl, dass meine Herrschaftszeit nur ein Intermezzo ist, das kurzfristig die Tradition unterbricht. Aber da hat er sich getäuscht – und viele Traditionalisten haben das wohl ebenfalls noch nicht richtig begriffen! Es hat ein Bruch in der politischen Geschichte Nostanors stattgefunden. Die Mehrheit gehört jetzt den Expansionisten und das wird lange so bleiben...
Die politischen Verhältnisse Nostanors waren sehr schwerfällig. Veränderungen brauchten lange, ehe sie sich durchsetzten. Aber Zyrolaan hatte Zweifel daran, ob die Umgebung des Siebener-Systems den Nostan diese Zeit geben würde. Schließlich sind wir nicht allein im Universum – und auch unsere edle Abstammung von den Erhabenen wird uns nicht davor retten, eines Tages das Opfer irgendeiner gierigen Macht zu werden. Und selbst genetisch primitiven Tieren wie den K'aradan ist so etwas zuzutrauen...
Eine Bewegung lenkte Zyrolaan ab.
Ein arachnoider Wsssarrr krabbelte auf ihn zu. Die Geschwindigkeit, mit der sich Angehörige dieser Spezies auf ihren spinnenartigen Beinen zu bewegen vermochten, beeindruckte den Herrscher-auf-Zeit immer wieder von neuem.
Der Wsssarrr blieb in einer Entfernung von nur etwa zwei bis drei Metern von Zyrolaan stehen. Er stoppte völlig abrupt. Das Augenkonglomerat sah den Herrscher an. Die Beißwerkzeuge schabten gegeneinander und als er zu sprechen begann und sich dabei die Fressöffnung auftat, war der Röhrenstachel zu sehen.
„Sei gegrüßt, Herrscher-auf-Zeit“, sagte der Wsssarrr.
„Ich freue mich, dass du den Weg in den Palast gefunden hast, Girrrarrrn“, erwiderte Zyrolaan. Es lebten zahlreiche Wsssarrr auch im Nostanor-System. Sie waren irgendwann vor langer Zeit mit Hilfe der Transmitteranlage, die vom großen Transportnetz der Erhabenen übriggeblieben war, hier her gelangt und wurden von den Nostan nicht nur geduldet, sondern auch geschätzt. Sie waren im Laufe der Zeit zu einem symbiotischen Teil der Nostan-Gesellschaft geworden. Insbesondere einfachere Tätigkeiten wurden von ihnen verrichtet. Darüber hinaus hatten sie ihren eigenen Umgang mit der Technik der Erhabenen und konnten den uralten Artefakten mitunter Dinge entlocken, von denen kein Nostan geglaubt hatte, dass die technischen Hinterlassenschaften sie hergaben.
„Es ist mir immer ein besonderes Vergnügen, mich mit dir auszutauschen, Girrrarrrn“, sagte Zyrolaan. Das Treffen mit Girrrarrrn war schon seit langem geplant gewesen. Lange bevor man mit einem Angriff der Morrhm hatte rechnen müssen.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, erwiderte der Wsssarrr mit einer Folge schriller Laute, die von eigenartigen Klick- und Reibegeräuschen unterbrochen und ergänzt wurden. Ein Nostan war rein physiologisch nicht in der Lage, diese Laute zu erzeugen – und umgekehrt war es dem Wsssarrr nicht möglich, mit Hilfe seiner Fressöffnung und der anderen an der Geräuscherzeugung beteiligten Organe Laute hervorzubringen, die auch nur im entferntesten eine Ähnlichkeit mit der hochkultivierten Sprache der Nostan aufwiesen.
So war für die Verständigung ein Translator unerlässlich. Zumindest auf Seiten des Wsssarrr.
Der Herrscher-auf-Zeit hingegen war stolz darauf, das Idiom der Wsssarrr zumindest zu verstehen, wenn er es auch nicht aktiv verwenden konnte.
Für den Nostan war das in seiner Jugend eine Gedächtnisübung gewesen. Auf Grund der engen synästhetischen Verknüpfung jeder semantischen Bedeutungseinheit der Wsssarrr-Sprache – von Wörtern zu sprechen wäre vielleicht nicht ganz passend gewesen – mit einprägsamen Farben und Gerüchen war es für Zyrolaan kein Problem gewesen innerhalb eines Monats diese Sprache so perfekt verstehen zu lernen, dass er den Ausführungen eines Arachnoiden ohne Schwierigkeiten zu folgen vermochte. Die Tatsache, dass es bei den Spinnenartigen keinerlei Nebenton-Ebene gab und sich auch ihr gestisches und mimisches Repertoire an nonverbalen Äußerungen eng begrenzt hielt, half ihm dabei.
Und die Einfachheit der Kommunikation, wie sie mit einem Wsssarrr möglich war, reizte ihn auf eine besondere Art und Weise. Austausch von Informationen und Meinungen ohne das, was man bei den Nostan einen doppelten Ton nannte – das war so erfrischen direkt und der Herrscher-auf-Zeit fand sogar, dass es mitunter einen völlig neuen Blick auf den einen oder anderen erörterten Sachverhalt eröffnete.
Das war – neben der persönlichen Freundschaft zu Girrrarrrn und einigen anderen Wsssarrr der Hauptgrund dafür, dass der Herrscher-auf-Zeit die Beratung mit diesen spinnenartigen Intelligenzen sehr schätzte.
„Hast du über meine Vorschläge nachgedacht, Herrscher-auf-Zeit?“, fragte der Wsssarrr.
Ein paar Nebentöne entrangen sich den Klangröhren des Nostan, ehe dieser damit abrupt wieder aufhörte, als ihm bewusst wurde, dass diese Nebenlaute ohnehin nur die Übersetzungsqualität des Translators beeinträchtigten, den der Wsssarrr benutzte. Denn im Gegensatz zu den Nostan waren die Wsssarrr nicht mit der Eigenschaft des Synästhetizismus gesegnet, sodass von ihnen im Vergleich zu den Nostan nur deutlich geminderte Gedächtnisleistungen zu erwarten waren.
Die Nostan-Sprache verstehen zu lernen überforderte die Fähigkeiten der meisten Wsssarrr schlicht und ergreifend, wie sich immer wieder herausgestellt hatte. Die edle Abstammung von den Erhabenen, die die Arachnoiden mit den Nostan teilten, bewahrte sie eben nicht vor gewissen Degenerationserscheinungen. Im Laufe der Zeit mussten bestimmte Teile jener genetischen Sequenz, die Nostan und Wsssarrr miteinander und vor allem mit den Erhabenen teilten, bei den Arachnoiden deaktiviert worden sein. Wie das kam, war bisher noch immer ein Rätsel.
„Du sprichst von dem Vorschlag, den Wsssarrr in Zukunft auch das Stimmrecht bei den Wahlen zum Herrscher-auf-Zeit zu geben“, wusste Zyrolaan sofort. Der Wsssarrr hatte ihm eine Liste mit Reformwünschen unterbreitet. Es war vieles darunter, was der Herrscher-auf-Zeit durchaus für bedenkenswert hielt. Sofern die als noch einfältiger als das vierte nostanische Geschlecht geltenden Wsssarrr überhaupt eine politische Meinung hatten, verwiesen sich deren Analysen häufig als ausgesprochen treffend. Vielleicht lag das Geheimnis in der Einfachheit der Argumentationen und der Denkprozesse, die sie hervorgebracht hatten.
Ganz gewiss aber hatte es mit der absoluten Offenheit zu tun, die insbesondere Girrrarrrn dem Herrscher-auf-Zeit entgegenbrachte. Girrrarrrn und Zyrolaan waren seit ihrer Jugend befreundet. Zyrolaan hatte zum zehnten Jahrestag seiner genetischen Konstituierung ein Wsssarrr-Ei zum ausbrüten bekommen. Ein Brutapparat war gleich dabei gewesen und zuerst hatte sich Zyrolaan über dieses Erstkonstituierungstagsgeschenk gar nicht gefreut. Es bedeutete nämlich Arbeit. Um so ein Wsssarrr-Ei musste man sich kümmern, wenn man nicht wollte, dass es schlecht wurde und sich in einen von einer Kalkhülle umgebenen stinkenden Klumpen organischer Substanzen verwandelte, der Schwefelwasserstoff absonderte.
Es damals große Mode gewesen, seinem Nachwuchs Wsssarrr-Eier zu schenken. Erstens gab es genug davon, denn in dem mit einem Transmitter ausgestatteten Quader-Artefakt der Erhabenen, das im Orbit um Nostanor A kreiste, gab es zwei Königinnen, die nichts anderes taten als Eier zu produzieren. Außerdem war in der Anlage so viel garantiert befruchtete Wsssarrr-Brut vorhanden, dass wahrscheinlich für mehrere Generationen jeder jugendliche Nostan ein Wsssarrr-Ei zum zehnten Jahrestag seiner genetischen Konstituierung bekommen konnte.
Die Traditionalisten haben das Aufkommen dieser Mode nicht gerne gesehen. Es bestehe die Gefahr, dass der Unterschied zwischen Nostan und Wsssarrr verwischt werde, was gegen die althergebrachte Ordnung sei. Aber Zyrolaan war in einer fortschrittlichen Familie groß geworden. Seine Elternfünfheit hatte ganz dem aufkommenden Zeitgeist der Expansionisten gehuldigt – und dazu gehörte nun einmal auch die Idee, dass man sich beizeiten darin üben sollte, Kontakt zu fremden Spezies aufzunehmen.
Zumindest, wenn sie genetisch einigermaßen wertvoll waren. Zyrolaan hatte das Wsssarrr-Ei vorschriftsmäßig ausgebrütet und es war Girrrarrrn geschlüpft. Den Namen hatte sich der Wsssarrr eines Tages selbst gegeben. Glücklicherweise brauchte man ihnen das Sprechen nicht beizubringen, da bei den Wsssarrr die Sprache genetisch codiert war und die Fähigkeit zum Sprechen sich irgendwann von selbst einstellte. Man brauchte dann nur noch den Translator einschalten, wenn man mit seinem Haus-Wsssarrr kommunizieren wollte.
Girrrarrrn war selbst jetzt, da Zyrolaan das Amt des Herrschers-auf-Zeit innehatte, der wichtigste Gesprächspartner, den er besaß. Manche sagten, dass die Beziehung zu einem Haus-Wsssarrr enger und inniger sein konnte als diejenige die ein Nostan normalerweise zu der sexuellen Fünfheit hatte, der er angehörte.
Die Traditionalisten wiederum befürchteten, dass jemand, der sich zu sehr mit einem Wsssarrr beschäftigte, später Schwierigkeiten hatte, überhaupt eine Fünfheit zu finden, die ihn als Partner aufnahm.
Aber das hielt Zyrolaan für ein Vorurteil.
Dass er selbst gegenwärtig nicht in einer Fünfer-Beziehung lebte, hatte mit der Aufgabe zu tun, die er übernommen hatte – nicht mit der Tatsache, dass er in seiner Umgegend einen Wsssarrr großgezogen hatte.
„Du weißt, dass ich deinen Rat immer geschätzt habe“, sagte Zyrolaan.
„Natürlich“, erwiderte der Wsssarrr. „Nur, dass ich keinerlei Bürgerrechte besitze. Ich darf zwar den Herrscher-auf-Zeit in allen Fragen beraten, weil dem Herrscher natürlich freisteht, sich beraten zu lassen, von wem immer er will. Ich selbst aber habe weder die Möglichkeit, mitzubestimmen, wer der nächste Herrscher-auf-Zeit wird, noch könnte ich selbst Herrscher-auf-Zeit werden.“
„Ich glaube, du eilst in Gedanken deiner Zeit jetzt etwas zu weit voraus“, stellte Zyrolaan fest.
„So? Ich dachte, das ist die Aufgabe eines jeden, der sich in der einen oder anderen Form mit Politik beschäftigt. Man muss vorausblicken und bedenken, welche Folgen die Entscheidungen, die man heute trifft, in der Zukunft haben werden. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?“
„Nein, ganz und gar nicht“, musste der Herrscher-auf-Zeit zugestehen. „Aber derzeit ist es für viele meiner Art schon eine Zumutung, dass ein erklärter Expansionist wie ich zum Herrscher-auf-Zeit gewählt worden ist – und nicht ein Traditionalist, der einfach nur so weitermacht wie bisher...“
„Du meinst, die Bevölkerung würde da nicht mitmachen?“, fragte Girrrarrrn.
„Ganz genau. Im Moment würde eine solche Maßnahme die Stabilität unseres politischen Systems bis in seine Grundfesten erschüttern.“
*
„Gauss 1-6 auf Dauerfeuer!“, befahl Lieutenant Commander Robert Ukasi. „Plasma-Schirm hochfahren.“ Der Taktikoffizier hatte die Koordination der beweglichen Gauss-Geschütze übernommen. Der Reihe nach bekam er von den Waffenoffizieren im Rang eines Lieutenants die Meldung auf das Display, dass das Feuer öffnet war.
In der letzten Stunde hatten insgesamt vier Nostan-Schiffe den Zwischenraum verlassen, die offenbar von den Morrhm gekapert worden waren. Eine weitere Rückfrage bei dem etwas einsilbigen Befehlshaber der Nostan-Flotte hatte diese Einschätzung bestätigt.
„Treffer in Bandit 2“, meldete Lieutenant Delkey, der zuständige Waffenoffizier von Gauss 1.
Augenblicke später war auf dem Panorama-Schirm zu sehen, wie eines der herannahenden Kaperschiffe zerplatzte.
„Gratuliere! Ich sehe, du kannst noch treffen!“, kommentierte Lieutenant Retseb von Gauss 2 über Interkom.
„Nur kein Neid!“, mischte sich Lieutenant Stanley Asturias von Gauss 6 ein, der sein Geschütz maximal drehte, um das auf Ausweichkurs gehende Zielobjekt, das auf der Positionsübersicht die Bezeichnung Bandit 1 erhalten hatte. Asturias versuchte das vorbeiziehende Schiff noch zu treffen.
Vergeblich.
„Leichter Strahlentreffer in Sektion drei!“, meldete Van Doren.
„Schäden?“, fragte Sunfrost.
„Status des Plasma-Schirms liegt bei 80 Prozent. Abgesehen von der energetischen Überlastung eines Andruck-Absorber-Moduls gibt es keinerlei Schäden“, meldete Van Doren. Er stellte eine Interkom-Verbindung zu Lieutenant Simon E. Erixon, dem Leitenden Ingenieur der STERNENKRIEGER her, um sich nach eventuell auftretenden Resonanzphänomenen zu erkundigen, die bei Strahlentreffern in den Bugbereich immer wieder auftreten konnten, da es von hier aus besonders viele Leitungen gab, die direkt in den Maschinentrakt führten. Insbesondere galt dies für die Andruckabsorber, einige Antigravprojektoren, sowie die Projektoren für die künstliche Schwerkraft im vorderen Bereich der Vertikalsichel-Sektion des Sondereinsatzkreuzers.
„Schaden am Andruckabsorber kann durch Rekalibrierung behoben werden“, erklärte Erixon, dessen Gesicht durch die ausschließlich infrarotsichtigen die Facettenaugen sehr unmenschlich wirkte. Dabei waren die menschlichen Gene des Genetic nur in einem winzigen Bruchteil verändert worden – ursprünglich, um ihn durch die Fähigkeit zur Methanatmung besser für den Einsatz auf Extremwelten verwenden zu können.
Aber mit dem Bergbau auf Methanwelten hatte Erixon schon lange nichts mehr zu tun, wie er auch den inzwischen aus dem Bund der Humanen Welten von Sol ausgeschiedenen Drei Systemen der Genetics den Rücken gekehrt hatte. „Ich überbrücke die Störung mit einem Ersatzsystem, bis die Rekalibrierung durchgeführt ist.“
„In Ordnung, L.I.“, nickte Van Doren.
Bandit 1 zog an der STERNENKRIEGER vorbei. „Feindliches Objekt im Visier!“, meldete Lieutenant Paul Mandagor, der Waffenoffizier von dem nach hinten ausgerichteten Gauss-Geschütz Nummer 8.
„Kein Feuer!“, befahl Ukasi. „Wahrscheinlichkeit, dass wir unsere Verbündeten treffen, ist zu groß.“
„Bandit 2 fliegt auf die STOLZ DER GÖTTER zu“, meldete Lieutenant Riggs. „Strahlenschussdistanz in 10 Minuten.“
Die STOLZ DER GÖTTER war ein riesiges, 1,2 Kilometer großes Teller-Schiff, das im Auftrag der Reiches der K'aradan an der Expedition teilnahm. Das Kommando führte ein gewisser Noris Salot. Das Erbtriumvirat von Aradan drückte mit der Teilnahme dieser gewaltigen Einheit aus, welche hohe Priorität man der Expedition als solcher zumaß.
Im Vergleich zur STOLZ DER GÖTTER wirkten alle anderen Einheiten, die Teil der Forschungsflottille waren, wie Winzlinge.
Ganz besonders galt das natürlich für das Schiff der insektoiden Ontiden, das lediglich die Größe einer Raumyacht hatte. Es hielt sich derzeit in der Nähe des gigantischen Tellerschiffs auf. Das Größenverhältnis war etwas dasselbe wie bei der Ansicht des Jupiters und einer seiner kleineren Monde.
Das Qriid-Schiff SEDONGS RACHE und die Shani-Einheit WEITE REISE befanden sich in einer etwas zurückgezogenen Position.
„Bandit 1 wird in drei Minuten in die Reichweite der k'aradan’schen Ionenkanonen kommen“, meldete Lieutenant Riggs.
„Dann sollten wir sehen, dass unsere Verbündeten die Gelegenheit haben sich zu wehren, ohne darauf Rücksicht nehmen zu müssen, dass wir vielleicht auch in Mitleidenschaft gezogen werden“, schlug Van Doren an den Captain gerichtet vor.
Rena Sunfrost nickte.
„Lieutenant Taranos, treten Sie die Flucht nach vorn an. Geben Sie Maximalbeschleunigung!“
„Aye, aye, Ma’am!“, bestätigte der Rudergänger der STERNENKRIEGER II. Er ließ seine Finger über den Touchscreen gleiten. Wenige Sekunden später war das leichte Rumoren unter dem Fußboden der Brücke zu spüren, das sowohl bei Ionen- als auch bei den neueren Mesonentriebwerken charakteristisch für die Aufwärmphase war.
Die Aufwärmphase dauerte beim Mesonentriebwerk der STERNENKRIEGER jedoch bei weitem nicht so lange wie bei den althergebrachten Ionentriebwerken, die nach wie vor in den meisten Einheiten des Space Army Corps zu finden waren.
Das enorme Beschleunigungsvermögen des Sondereinsatzkreuzers kam nun zum Tragen.
„Provisorisch eingerichteter Andruckabsorber bis auf das Maximum belastet“, meldete Lieutenant Erixon. Der Genetic ließ sich über Interkom aus dem Maschinentrakt zuschalten.
Die STERNENKRIEGER vergrößerte die Distanz zwischen sich und dem K'aradan-Schiff. Die Ionenkanonen der K'aradan waren zwar recht präzise Waffen, aber Kollateral-Schäden konnten nicht ausgeschlossen werden. Und ein versehentlicher Ionen-Treffer während einer Gefechtssituation konnte verheerende Auswirkungen haben, denn die Hauptwaffe der K'aradan-Schiffe sorgte für Ausfälle der elektronischen Bordsysteme.
Die STERNENKRIEGER näherte sich auf diese Weise schneller als geplant einem dritten Beuteschiff der Morrhm sowie einem Pulk von Sturm-Shuttles und Jägern, die auf dem Weg nach Nostanor A waren.
Bandit 3 eröffnete bereits aus einer Distanz das Strahlenfeuer, aus der dies absolut sinnlos und mit reiner Energieverschwendung gleichzusetzen war.
Schon allein dies zeigte, dass an der Waffensteuerung des golden auf dem Panorama-Schirm schimmernden Schiffs Nostanischer Bauart jemand saß, der sich mit der Wirkungsweise der Waffensysteme nicht wirklich auskannte.
„Eine Transmission der STOLZ DER GÖTTER!“, meldete Lieutenant Jamalkerim.
„Auf den Schirm damit!“, befahl Sunfrost.
„Aye, aye, Ma’am. Der Funkkanal ist frei.“
Auf einem Teilfenster des Panorama-Schirms erschien das leicht rötliche, aber ansonsten völlig menschlich wirkende Gesicht von Noris Salot, dem Kommandanten des k'aradan’schen Giganten. Die Größenverhältnisse unserer Raumschiffe dürften in etwa der unserer Sternenreiche entsprechen, ging es Sunfrost durch den Kopf. Nur zu dumm, dass die Morrhm sich auch von großen Objekten grundsätzlich nicht einschüchtern lassen!
Schließlich hatten diese Weltraum-Barbaren auch keine Bedenken gehabt, plündernd durch die äußeren Randgebiete des gewaltigen, eine Raumkugel von mehr als tausend Lichtjahren durchmessenden Sternreichs der K'aradan zu ziehen, obwohl ihnen doch eigentlich hätte bewusst sein müssen, wann dieser Koloss zum Gegenschlag ausholte. Mochte man eine solche Macht auch für eine gewisse Zeit auf dem falschen Fuß erwischen und durch gezielte Schläge in arge Schwierigkeiten bringen können – auf längere Sicht hatte das Reich von Aradan durchaus die Möglichkeit, mit diese Problem fertig zu werden.
„Was gibt es, Kommandant Salot?“, fragte Sunfrost.
An einer Kennung im linken oberen Eck war zu sehen, dass diese Sendung im Konferenzmodus an alle beteiligten Einheiten der Forschungsflottille ging.
„Zunächst mal möchte ich mein Missfallen darüber ausdrücken, dass Sie mit Kampfhandlungen begonnen haben, ohne uns zu konsultieren, Captain Sunfrost“, sagte Salot.
„Wir wurden angegriffen und mussten uns verteidigen“, erwiderte Sunfrost. „Andernfalls hätten wir natürlich zunächst mit allen Beteiligten Rücksprache gehalten.“ Stumm setzte sie noch hinzu. Haben wir wirklich während eines Gefechts dafür Zeit, uns gegenseitig mit diplomatischen Empfindlichkeiten zu ärgern? Aber diese Bemerkung behielt Sunfrost natürlich für sich.
„Unseren Daten nach sind sie weit genug von uns entfernt, um durch einen Gebrauch unserer Ionen-Waffen nicht in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Ist Ihre Sicherheit in Gefahr, wenn wir jetzt unsererseits von unserem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen?“
„I.O.?“, fragte Sunfrost an Van Doren gewandt.
„Keine Gefahr“, bestätigt der Erste Offizier der STERNENKRIEGER.
„Sie können feuern, ohne uns zu gefährden, Kommandant Salot.“
„In Ordnung.“
Die Verbindung wurde unterbrochen.
„Ich würde sagen, da war jemand leicht beleidigt“, stellte Van Doren fest.
Ist das Ihre Art mir zu sagen, dass ich einen Fehler gemacht habe, I.O.?, überlegte Sunfrost. Vielleicht haben Sie sogar Recht...
*
Das gekaperte Schiff wurde mit den Ionenkanonen der STOLZ DER GÖTTER außer Gefecht gesetzt. Es dümpelte daraufhin durch das All. Mehrere gezielte Traser-Schüsse des Qriid-Schiffs SEDONGS RACHE sorgten dafür, dass sich das gekaperte Nostan-Schiff in einen Feuerball verwandelte.
Die STERNENKRIEGER näherte sich dem Pulk von Sturm-Shuttles und Jägern der Morrhm. Dieser Schwarm von relativ kleinen Raumschiffen hatte inzwischen den Kurs geändert. Sie strebten zurück zu einem ihrer Mutterschiffe.
Dasselbe galt für jene Morrhm, die sich im Orbit mit den gut formierten Nostan-Verteidigern ein erbittertes Raumgefecht geliefert hatten. Ein Gefecht, das im Übrigen für die Morrhm ziemlich desaströs geendet hatte. Mehrere Dutzend ihrer Sturm-Shuttles trieben als zerstörte Wracks im All. Auf den meisten waren keine Lebenszeichen mehr anmessbar. Einige andere, auf denen es offenbar noch Überlebende gab, wurden ins Schlepp genommen.
„Scheint, als würden sie tatsächlich aufgeben“, kommentierte Van Doren.
„Sieht den Morrhm gar nicht ähnlich“, meldete sich Ukasi zu Wort. „Ich wette, sie kommen mit Verstärkung zurück. So schnell geben die doch nicht auf.“
„Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Lieutenant Commander Ukasi“, sagte Captain Sunfrost.
Wie zur Bestätigung von Ukasis Ansicht meldete Lieutenant Riggs in diesem Augenblick eine Explosion im Orbitalbereich von Nostanor.
Bruder Guillermo stellte über Interkom von Kontrollraum C im Maschinentrakt aus eine Verbindung her und sagte: „Die Explosion hat einen Teil des Quader-Artefakts herausgesprengt!“
„Ursache?“, fragte Sunfrost.
„Bisher unbekannt“, erwiderte Bruder Guillermo.
Wiley Riggs ergänzte: „Die Ursache dürfte das Nostan-Raumschiff sein, das sich gerade mit hohem Beschleunigungsfaktor aus dem Orbitalbereich herausbewegt.“
„Vermutlich ein gekapertes Schiff“, sagte Van Doren.
„Ganz gewiss sogar“, glaubte John Taranos zu wissen. Der Rudergänger der STERNENKRIEGER II drehte sich kurz um und fuhr fort: „Zwischen den gekaperten Schiffen, die ja nach Angaben der Nostan aus Kolonialsystemen stammen und den Verteidiger-Schiffen bestehen ein paar signifikante technische Unterschiede. Die Signaturen sind leicht verschieden und mir scheint auch, dass die Manövrierfähigkeit Differenzen aufweist.“
„Renegat entfernt sich aus dem Orbitalbereich“, meldete Riggs.
„Ich empfange Funkbotschaften in Morrhm-Codierung“, rief Lieutenant Jamalkerim.
„Lassen Sie das Material übertragen, Jamalkerim“, verlangte Van Doren. „Vielleicht ist ja etwas Wichtiges dabei.“
Doch schon wenige Augenblicke später gab es eine weitere Explosion. Das gekaperte Schiff wurde von mehreren Nostan-Einheiten angegriffen und vernichtet. Die Strahlenschüsse fraßen sich durch die Außenhaut. Das gekaperte Schiff brach auseinander. Die glühenden Trümmerteile irrlichterten durch das All und glommen noch einmal kurz auf, bevor sie für immer in der Dunkelheit des Alls verloschen.
*
Die Morrhm-Beiboote - sowohl Sturm-Shuttles als auch Jäger – kehrten zu ihren Mutterschiffen zurück. Einige der Nostan-Schiffe machten sich an die Verfolgung. Dabei fiel auf, dass die großen Einheiten ihre Positionen im Orbitalbereich nicht verließen. Offenbar war die Flotte der Verteidiger zahlenmäßig zu schwach, um diese Positionen aufgeben zu können.
Möglicherweise rechnete man auf Nostanor A auch damit, dass jederzeit weitere gekaperte Schiffe aus dem Sandströmraum auftauchen konnten.
Die Mutterschiffe der Morrhm führten im Abstand mehrerer Stunden einen Raumsprung durch, wie man es von ihnen kannte.
„Sechsunddreißig Stunden haben wir jetzt auf jeden Fall Ruhe vor denen“, lautete Sunfrosts Kommentar – denn die mussten bei den Morrhm-Schiffe zwischen zwei Raumsprüngen vergehen. Vor Ablauf dieser Zeitspanne konnten sie also nicht zurückkehren.
Inzwischen gab es Klarheit über die Schäden an dem Transmitter-Artefakt, das sich im Orbit von Nostanor A befunden hatte.
„Energieniveau steigt bedenklich“, meldete Riggs.
„Glauben Sie, es besteht die Gefahr, dass sich ein Mini Black Hole bildet?“, erkundigte sich Sunfrost.
Riggs zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt, traue ich mich nicht, das einzuschätzen. Wir müssen damit rechnen.“
„Ich werde Kontakt mit meinen Kollegen von den Fulirr aufnehmen“, kündigte Bruder Guillermo an. „Schließlich haben die mehr Erfahrung mit Mini Black Holes.“
Die Auskunft von den Fulirr war schnell eingeholt.
Nach ihrer Ansicht deutete die Kombination einiger Strahlungskomponenten darauf hin, dass es zum Kollaps kam.
Weitere Stücke brachen aus dem angegriffenen Artefakt heraus.
Von der Transmitterstation wird wahrscheinlich nichts bleiben, was sich noch untersuchen lässt, überlegte Sunfrost. Es fragt sich, ob es noch sinnvoll ist, länger hier zu bleiben, zumal die Nostan von unserer Anwesenheit ja nicht so besonders begeistert waren. Aber das werde ich mit den Kommandanten der anderen Schiffe besprechen...
„Captain, da geht etwas sehr Eigenartiges vor sich“, meldete Riggs. Auf seiner Stirn erschien eine tiefe Furche. Er blickte angestrengt auf seine Anzeigen.
„Vielleicht könnten Sie etwas präziser werden, Lieutenant“, schlug Sunfrost vor.
„Natürlich Ma’am. Bruder Guillermo, messen Sie auch dieses Kraftfeld mit 5-D-Komponente?“
„Metz hat mich gerade darauf hingewiesen“, erklärte der Olvanorer. „So etwas habe ich noch nie auf dem Schirm gehabt...“
„Was glauben Sie, wozu dieses Feld dient?“, fragte Sunfrost.
Bruder Guillermo hob die Schultern. „Es könnte sich um ein Eindämmungsfeld handeln.“
„Um die Bildung eines Mini Black Hole zu verhindern?“, erkundigte sich Sunfrost.
„Ja“, bestätigte Bruder Guillermo.
Van Doren ließ sich die bisher vorhandenen Ortungsdaten zu diesem Phänomen ebenfalls auf seiner Konsole anzeigen.
„Ein Eindämmungsfeld für Mini Black Holes?“, fragte Ukasi zweifelnd. „Kann ich mir kaum vorstellen, wie das funktionieren soll...“
„Vielleicht ähnlich wie die Raketen, die gegen die Mini Black Hole wirken, die bei Antimaterieexplosionen entstehen“, vermutete Taranos.
Aber Ukasi schüttelte energisch den Kopf. „Nein, unmöglich. Diese Raketen bringen das entstehende Mini Black Hole vorzeitig zum Kollaps. In diesem Fall müsste es ja an der Entstehung gehindert werden. Die Position des Artefakts im Orbit ist so nahe an der Oberfläche, dass ein Mini Black Hole die halbe Atmosphäre von Nostanor A augenblicklich verdampfen lassen würde. Davon abgesehen würde die Siebenerkonstruktion der Monde durcheinander gewirbelt wie ein Haufen Kugeln beim Poole-Billard.“ Ukasi wandte sich in Van Dorens Richtung. „Wir haben das doch erlebt, wie es bei Triple Sun war.“
Van Doren hob die Augenbrauen. „Wenn die Erhabenen Technik zur Energieerzeugung verwendet haben, die dermaßen hohe Risiken birgt, dann werden sie vermutlich doch auch eine Möglichkeit gehabt haben, im Fall eines Unfalls oder der Zerstörung der Anlage vorsorgen zu können.“
„Meinen Sie mit Vorsorge das, was die Menschheit im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert mit der Kernenergie gemacht hat, als man noch nicht einmal wusste, wo man den entstehenden Müll endgültig lagern sollte?“, fragte Ukasi. „Es gibt schließlich ein paar Orte auf der Erde, die heute immer noch unbewohnbar sind, weil man einer Technik vertraute, die man letztlich nicht beherrschte.“
„Vielleicht sind die Erhabenen ja auch in dem Punkt der Menschheit überlegen gewesen“, mischte sich Sunfrost ein.
Innerhalb der nächsten Viertelstunde bildete sich um das so gut wie zerstörte Artefakt ein grünliches Eindämmungsfeld mit fünfdimensionalen Strahlungskomponenten. Vier Raumschiffe der Nostan, die sich um das Artefakt herumgruppierten, projizierten dieses Feld. Die Energiewerte aus dem inneren Bereich des Feldes waren nicht mehr anmessbar. Als schließlich das Feld deaktiviert wurde, war von dem Transmitter-Artefakt nichts mehr vorhanden.
„Ich nehme an, es hat wenig Sinn, den L.I. oder sonst wen an Bord zu fragen, wie die das gemacht haben!“, stieß Sunfrost hervor. Wahrscheinlich könnten nicht mal von Schlichten und Metz das auch nur ansatzweise beantworten!, fügte sie noch in Gedanken hinzu.
„Jedenfalls hat es funktioniert, Captain“, ließ sich Van Doren vernehmen. „Und das ist im Moment die Hauptsache.“
„Leider habe wir damit unseren Forschungsgegenstand verloren“, gab Sunfrost zurück.
„Aber möglicherweise haben wir einen neuen gefunden“, war jetzt die Stimme von Bruder Guillermo über Interkom zu hören.
Sunfrost wandte den Kopf in Richtung des Christophers, dessen Gesicht auf dem Nebenbildschirm zu sehen war.
„Entschuldigen Sie, Bruder Guillermo, aber ich habe im Moment nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.“
„Einen Moment. Ich schalte es Ihnen auf den Panorama-Schirm.“
*
Im nächsten Moment verschwand das Bild des nahen Weltraums, das zuvor auf dem Panorama-Schirm der STERNENKRIEGER in einer Pseudo-3-D-Qualität abgebildet worden war. Dasselbe galt für die Positionsübersicht, die etwa ein Drittel des Schirms eingenommen hatte und die gegenwärtige Gesamtlage veranschaulichte. Nach dem Rückzug der Morrhm und der Beseitigung der Gefahr durch das beinahe kollabierte Transmitter-Artefakt, war dieser Überblick im Moment wohl auch nicht ganz so wichtig.
Stattdessen erschien dort jetzt eine Vergrößerung eines der sieben Nostanor-Welten. Wie die Beschriftung deutlich machte, handelte es sich dabei um Nostanor C, die aus Schwermetallen und Trans-200-Elementen bestehende ultraschwere und ultradichte Welt von der fünffachen Masse der Erde. Allerdings erreichte das Volumen dieses Planeten gerade mal die Ausmaße des Mars. Fünffache Erdschwere herrschte an der Oberfläche, aber erstaunlicherweise gab es keine Atmosphäre.
„Einige interessante Details über Nostanor C sind uns ja bereits aufgefallen“, erklärt Bruder Guillermo. „Zum Beispiel fragt man sich, wo die radioaktiven Isotope geblieben sind, oder weshalb es überhaupt keine Gashülle auf Nostanor C gibt, obwohl dieser Planet eigentlich eine Atmosphäre haben müsste. Dieser Himmelskörper wirkt alles in allem wie chemisch gereinigt, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Sie wollen damit sagen, dass er künstlichen Ursprungs ist“, schloss Sunfrost.
„Es gibt nicht viele Punkte, in denen wir uns einig sind – Metz, von Schlichten, Nirat-Son und meine Wenigkeit. Aber dieser Punkt gehört tatsächlich dazu!“
„Gibt es unterirdische Anlagen?“, fragte Sunfrost.
„In den sieben Monden, die Nostanor C umkreisen, mit Sicherheit. Das können wir anmessen. Außerdem umkreisen mehrere Orbitalstationen den Planeten und es gibt dort offenbar auch mehrere Anlagen, die eine ähnliche Funktion erfüllen wie unsere Raumforts.“
„Wenn ich das richtig sehe, ist Planet C nichts anderes als eine Schwermetallwüste“, stellte Ukasi fest. „Ich wüsste nicht, weshalb man die besonders sichern sollte.“ Er blickte stirnrunzelnd auf sein Display, auf das er sich nun ebenfalls die Ortungsdaten geholt hatte, nachdem mit einem baldigen Gefechtseinsatz im Moment nicht zu rechnen war.
Bruder Guillermo schaltete noch einen höheren Zoomfaktor ein. Jetzt waren Strukturen an der Oberfläche zu sehen, die sich förmlich eingegraben hatten.
Sunfrost runzelte die Stirn.
Sie erhob sich von ihrem Kommandantensessel. Das sieht fast organisch aus, ging es ihr durch den Kopf. Die Strukturen erinnerten sie an Drei-D-Animationen, die einem dabei helfen sollten, sich die Funktionsweise des menschlichen Gehirns vorzustellen. Knotenartige Strukturen waren mit tentakelartigen Armen untereinander verbunden wie in einem neuronalen Netz. Oder unzählige Tintenfische, die sich an den Armen gegenseitig festhalten, überlegte Sunfrost, was gleich im nächsten Moment eine weitere Assoziation nach sich zog.
„Etnord“, murmelte sie und erschrak selbst darüber, dass sie es laut ausgesprochen hatte.
Aber sie schien nicht die Einzige zu sein, der dieser Gedanke gekommen war.
„Genau diese Assoziation ist mir auch gekommen“, erklärte Bruder Guillermo. „Vor allem, wenn man noch näher an die Oberfläche herangeht und eine Strukturanalyse durchführt, dann sieht man, wie stark das alles den Etnord ähnelt. Man hat den Eindruck die Abdrücke von Etnord zu sehen, die vor langer Zeit einen Verbund um den ganzen Planeten gebildet haben. Die Ähnlichkeiten gehen bis in die Feinheiten der Oberflächenstrukturen hinein.“
„Die Etnord waren ein Hilfsvolk der Erhabenen“, meinte Van Doren. „Und da wir ja davon ausgehen, dass sie es waren, die dieses System so manipuliert haben, überrascht es eigentlich nicht, dass wir auch Spuren der Etnord finden...“
„Das stimmt“, musste Sunfrost zugestehen. Wahrscheinlich bin ich, was die Etnord angeht, ein bisschen traumatisiert. So wie wohl die meisten Menschen. Die Vorstellung, von einem faustgroßen Parasiten, dessen Ganglien sich im ganzen Körper verbreiten, zu einer willenlosen Marionette gemacht zu werden, ist einfach eine menschliche Alptraumfantasie par excellence!
„Captain ich würde gerne die Fossilien auf Nostanor C untersuchen“, erklärte nun Bruder Guillermo. „Das dürfte vielleicht sogar fast aufschlussreicher sein, als es die Untersuchung dieses Transmitter-Artefakts sein würde, dessen Technologie wir vermutlich ohnehin nicht verstanden hätten.“
Sunfrost seufzte hörbar. „Ich werde sehen, was ich tun kann, Bruder Guillermo“, versprach sie. Anschließend wandte sie sich an Van Doren. „Sie übernehmen bis auf weiteres das Kommando. Geben Sie der Stammcrew der Brücke frei. Die Morrhm sehen wir frühestens in 36 Stunden wieder – aber bis dahin können andere zeigen, was sie können.“
„Ja, Ma’am“, nickte Van Doren.
Sunfrost wandte den Kopf in Ukasis Richtung. Der Lieutenant Commander und in der Hierarchie nach dem Captain und dem Ersten Offizier die Nummer drei an Bord der STERNENKRIEGER, gab sich redlich Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. „Das gilt auch für Sie, Mister Ukasi.“
„Ich fürchte, ich bin bei dieser angespannten Lage unabkömmlich.“
„Das sind Sie nicht. Lieutenant Mandagor kann Sie vertreten, während Gauss 8 von einem Fähnrich übernommen wird.“
Ukasi war anzusehen, dass ihm die Worte des Captains nicht gefielen. Was ist gegen eine Mütze voll Schlaf und etwas Entspannung eigentlich einzuwenden, Mister Ukasi?, fragte sich Sunfrost, als sie dem Blick des Taktikoffiziers begegnete. Lässt Sie irgendetwas nicht schlafen?
Ukasi hatte Ringe unter den Augen.
Das war Sunfrost schon seit einiger Zeit aufgefallen. Sie hatte das auf den in letzter Zeit mitunter extrem anstrengenden Dienst geschoben. Schlafmangel war da unvermeidlich – zumindest wenn man einer der drei wichtigsten Offiziere an Bord eines Space Army Corps Schiffs war und damit nicht so leicht die Möglichkeit hatte, die Verantwortung einfach an irgendeinen Gleichrangigen abzugeben, wie das in den unteren Mannschaftsrängen sehr viel eher der Fall war.
Jetzt fragte sich Sunfrost, ob vielleicht mehr dahinter steckte.
*
Sunfrost ging in den Raum des Captains, um eine Funkkonferenz mit den Kommandanten der anderen Schiffe abzuhalten. Bruder Guillermo wurde auch hinzugeschaltet, um die Verbündeten von der Wichtigkeit der Fossilien zu überzeugen, die es auf Nostanor C gab. Aber da rannte Sunfrost offene Türen ein.
Noris Salot bestand darauf, dass zuerst K'aradan-Wissenschaftler die Möglichkeit bekamen, den Boden dieser Schwerkrafthölle zu betreten und an den Fossilien – oder worum immer es sich sonst handeln mochte – Untersuchungen vorzunehmen.
„Ich nehme an, Sie möchten auch den diplomatischen Kontakt mit den Nostan in die Hand nehmen“, vermutete Sunfrost.
Aber in dieser Hinsicht irrte sie ganz gewaltig.
„Nein, ich denke, der ist bei Ihnen besser aufgehoben, Captain Sunfrost.“
Sunfrost glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Die K'aradan verzichteten freiwillig auf eine Führungsrolle?
Kaum zu glauben. Oder es steckt noch etwas dahinter, was ich bis jetzt nicht weiß, wurde es der Kommandantin der STERNENKRIEGER schlaglichtartig klar.
Noris Salot druckste etwas herum, ehe er dann schließlich zur Sache kam.
„Es ist nämlich so, dass es in der Vergangenheit bereits mehrere Kontaktversuche zwischen K'aradan und Nostan gab“, erklärte er dann.
„Um so mehr wären Sie dazu prädestiniert, mit ihnen zu sprechen“, fand Sunfrost und ihr Unverständnis für das bisherige Verhalten des K'aradan-Kommandanten wuchs.
Warum hatte er sich nicht von Anfang an in die Kontaktaufnahme eingeschaltet? Wieso hatte er seelenruhig zugesehen, wie Sunfrost in jeder Hinsicht vorgeprescht war?
Der Grund wurde bald offenbar.
„Die bisherigen Kontaktversuche fanden nicht offiziell zwischen dem Reich von Aradan und seinem Erbtriumvirat und den Nostan statt, sondern zwischen den Vertretern einiger Großkonzerne, die vor allem im Randbereich des Reiches tätig sind. Außerdem haben ein paar unabhängige K'aradan-Welten in diesem Gebiet immer wieder Schiffe zur Kontaktaufnahme geschickt. Das Ergebnis war jedes Mal dasselbe.“
„Ich bin gespannt“, erklärte nun der Kommandant des Qriid-Schiffs SEDONGS RACHE.
Seine beiden Schnabelhälften schabten gegeneinander.
Ist er wirklich ungeduldig oder interpretiere ich da nur in seine Gestik hinein, weil ich selbst so empfinde?, fragte sich Sunfrost. Wahrscheinlich letzteres. Es ist doch immer dasselbe... Man sieht nur das, was man sehen will.
„Nun“, fuhr Noris Salot fort. „Die Nostan pflegen extreme Vorurteile auf Grund der genetischen Herkunft. Sie wiesen alle Expeditionen, von denen es im Archiv des Reiches von Aradan Aufzeichnungen gibt, brüsk zurück und erklärten, dass sie keineswegs die Absicht hätten, mit unreinen Tieren Geschäfte zu machen.“
„Klingt nach extremen Rassismus“, stellte A'ahse, die Kommandantin des würfelförmigen Shani-Schiffs, fest.
Gegen die Nostan klingen ja selbst die Anhänger der irdischen Humanity First-Bewegung richtig nett, überlegte Sunfrost, behielt diese Anspielung auf die Innenpolitik der Humanen Welten allerdings für sich, da sie ohnehin, abgesehen von Bruder Guillermo, von keinem der Teilnehmer dieser Funkkonferenz verstanden worden wäre.
„Die Nostan halten uns K'aradan für genetisch minderwertig. Die Expeditionen, die vor uns mit ihnen in Kontakt zu treten versuchten, bekamen gesagt, dass man das Fleisch ihrer Körper nicht einmal als für den Verzehr geeignet erachte.“
A'ahse meldete sich zu Wort. „Vielleicht sollte eine Spezies, die so...“ Sie machte einige Laute und ihr Translator mit ihr. „So K'aradan ähnlich ist, jetzt nicht gerade die Verantwortung für den Kontakt bekommen.“
„Ich habe nichts dagegen, wenn dieses unangenehme Geschäft jemand anders erledigt“, erklärte Sunfrost. „Und du wärst sicher die Richtige dafür, A'ahse.“
Mit der Kommandantin des Shani-Schiffs verband Sunfrost eine Freundschaft. Sie vertraute der Shani.
*
A'ahse nahm im Namen aller offiziell Kontakt mit den Nostan auf. Dass die gemischte Flottille zu ihren Gunsten in die Kampfhandlungen eingegriffen hatte, schien dabei kaum eine Rolle zu spielen. Sunfrost, die über eine Konferenzschaltung das Gespräch zwischen der Shani und dem Befehlshaber der Nostan-Flotte, an den auch Sunfrost ja bereits geraten war, war regelrecht ein wenig erbost darüber, wie wenig die grünhäutigen Kammköpfe in der Lage waren, etwas Dankbarkeit zu zeigen.
Zunächst mal blieb die Kontaktanfrage scheinbar unbeantwortet. A'ahse versuchte es ein zweites Mal. Schließlich bat sie Rena Sunfrost, doch noch einmal Kontakt mit Befehlshaber Mentoraan aufzunehmen.
Doch auch dieser Kontaktversuch blieb zunächst unbeantwortet.
„Was ist da los?“, fragte Sunfrost. Während der Kontaktaufnahme saß sie zusammen mit Bruder Guillermo in dem Konferenzraum, der direkt an die Brücke angrenzte.
Schließlich hatte sie auf das diplomatische Geschick des Olvanorers nicht verzichten wollen.
„Im allgemeinen spricht so etwas für erhebliche Uneinigkeit hinter den Kulissen.“, vermutete er. „Die Nostan wissen offenbar einfach nicht, was sie mit uns anfangen sollen.“
Rena Sunfrost atmete tief durch. „Aber wir hatten doch sogar während der Kämpfe mit den Morrhm einen relativ stabilen Kontakt mit ihnen! Wieso stellen sie sich nun so an?“
„Ich habe eine erste Grob-Analyse des aufgezeichneten Funkverkehrs vorliegen. Die Übersetzung ist relativ aufwändig, weil die Aufzeichnungen immer durch sehr viele Nebentöne begleitet werden, die das Translatorsystem immer wieder verwirren. Die Nostan scheinen diese Töne mit Hilfe von Hohlräumen in ihren Knochenkämmen zu erzeugen – allerdings können wir nur darüber spekulieren, was diese Laute zu bedeuten haben.“
„Eine Art Begleitmusik, oder habe ich das jetzt falsch verstanden?“, gab Sunfrost zurück.
Sie hatte sich am Getränkeautomaten, von dem es auch im Konferenzraum der STERNENKRIEGER II ein Terminal gab, einen Kaffee gezogen und verzog das Gesicht, als sie den ersten Schluck des braunen Gebräus nahm. Da hast du dir mal wieder die Zunge verbrannt, kommentierte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Und zwar diesmal nicht einmal im übertragenen Sinn!
„Wie gesagt, die Bedeutung ist unklar – aber dass diese Laute nur einfach so ausgestoßen werden, kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Dazu wird zu viel Sorgfalt darauf gelegt, sie genau und vor allem in der Tonhöhe exakt zu modulieren.“
„Möglicherweise ist die Tonhöhe der Schlüssel“, erwiderte Sunfrost.
„Daran habe ich auch schon gedacht. Schließlich gibt es auch auf der Erde Sprachen wie das Chinesische oder das Malaiische und Thai, in denen Tonhöhen eine sehr wichtige Funktion haben und über die Bedeutung eines Wortes bestimmen können.“
*
Eine halbe Stunde später kam eine Konferenztransmission der Nostan. Diesmal gab sich nicht einmal der Oberbefehlshaber der Flotte die Ehre, sondern ein offenbar untergeordneter Beamter der Nostanischen Raumkontrolle.
„Die Nostanische Kultur ist für ihre Gastfreundschaft und Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden bekannt“, behauptete der Beamte, der es nicht einmal nötig fand, sich vorzustellen und seinen Namen und Rang zu nennen.
Sunfrost und Bruder Guillermo saßen noch immer in dem an den Raum des Captains angrenzenden Konferenzraum und wechselten einen vielsagenden Blick.
Rena vergewisserte sich, dass es sich um eine einseitige Transmission handelte und der Funkkanal der STERNENKRIEGER geschlossen war. Dann sagte sie an den Olvanorer gerichtet: „Das kann der Kerl doch nur ironisch gemeint haben.“
Der Nostan fuhr nach einer rhetorischen Pause, in der sich seine Körperhaltung straffte, fort: „Wir sind gerne bereit eine Delegation von Ihnen zu empfangen. Da wir annehmen, dass die Besatzungen Ihrer Schiffe unterschiedlichen Spezies angehören, möchten wir Sie bitten, uns von jeder dieser Spezies den vollständigen genetischen Code von mindestens drei Individuen zu übersenden, damit wir deren Erhabenheitsgrad bestimmen können. Da wir bei einer von Ihnen entsandten Delegation ohnehin noch zusätzliche genetische Scans durchführen, hat es keinen Sinn, in diesem Punkt irgendwelche Manipulationsversuche zu unternehmen. Das gerade Gesagte gilt für alle Spezies Ihres Raumschiffverbandes – mit Ausnahme jener Gattung, die das große Tellerschiff erbaute. Falls es sich, wie wir annehmen, bei der Besatzung um Angehörige eine Volkes handeln, die sich selbst K'aradan nennen, so steht deren genetische Minderwertigkeit bereits fest und wurde von uns zur genüge erforscht, sodass es uns möglich ist, hier ein abschließendes Urteil zu sprechen. An einem wie immer gearteten Kontakt mit dieser Spezies sind wir nicht interessiert.“
Grußlos wurde die Transmission beendet und wie bei den Nostan offenbar üblich erwartete man keinerlei Antwort.
„Der Besuch auf Nostanor A wird sicherlich ein Vergnügen der ganz besonderen Art“, meinte Bruder Guillermo.
„Jedenfalls dürfte es feststehen, dass Sie zum Außenteam gehören, Bruder Guillermo“, erwiderte Sunfrost mit einem freundlichen Lächeln. „Schließlich werden wir dort ohne einen Meisterdiplomaten wohl kaum auch nur einen einzigen Schritt vorwärts kommen!“
„Da möchte ich Ihnen nicht widersprechen.“
Sunfrost nahm anschließend erneut Kontakt zu den anderen Schiffen des Verbandes auf.
„Ich habe Ihnen ja von den Vorurteilen berichtet, die die Nostan uns K'aradan gegenüber empfinden“, erklärte Noris Salot.
„Da wir diese Mission als ein gemeinsames Unternehmen betrachten, dürfte es wohl keine Rolle spielen, welche der an unserer Expedition teilnehmenden Spezies die Delegationsmitglieder stellt“, meinte A'ahse.
Doch, das spielt sehr wohl eine Rolle, ging es Captain Sunfrost durch den Kopf. Und alles andere wäre Augenwischerei. Aber wen kann das wundern? Angesichts der kriegerischen Vergangenheit, die uns alle auf die eine oder andere Weise miteinander verbindet...
Sicherlich hatte die gemeinsame Gegnerschaft zu den Etnord einiges zum Fortschritt der Beziehungen zwischen Menschen und Qriid oder K'aradan und Fulirr beigetragen. Aber es war immer noch genug des alten Misstrauens vorhanden, um dieser Mission Schwierigkeiten zu bereiten, die bei einem homogenen Raumverband nicht aufgetreten wären.
Schließlich kam man aber doch überein, auf die Forderungen der Nostan einzugehen, auch wenn die Ontiden sie für völlig unwürdig hielten und auch Fulirr damit Schwierigkeiten hatten, sich der in ihren Augen völlig willkürlichen Beurteilung durch irgendwelche verblendete Ideologien zu unterwerfen, die das intelligente Leben im Universum offenbar in verschiedene Klassen einteilte.
*
Etwa zur gleichen Zeit tauchte Lieutenant Commander Robert Ukasi in der Krankenstation auf, wo Dr. Simone Nikolaidev gerade damit beschäftigt war, einen Abgleich der verbrauchten Medikamente mit den Beständen vorzunehmen.
Nikolaidev blickte auf.
„Was kann ich für Sie tun, Lieutenant Commander?“
Beide kannten sich seit jener Zeit, als Nikolaidev Krankenschwester auf dem Leichten Kreuzer STERNENKRIEGER I unter Commander Willard J. Reilly gedient hätte, während Robert Ukasi auf demselben Schiff nach Absolvierung der Space Army Corps Akademie als Fähnrich angefangen hatte.
„Ich brauche etwas“, sagte er.
Nikolaidev schien zu wissen, was er meinte. Er brauchte es ihr gegenüber nicht weiter zu erklären.
Ihr Blick verriet Sorge.
„Schon wieder?“, fragte sie.
„Ich musste die Dosis erhöhen.“
„So etwas sollten Sie nicht ohne Rücksprache mit einem Arzt tun, Lieutenant Commander Ukasi.“
Ukasi lächelte mild. „Ich kann am besten beurteilen, wie viel ich brauche. Die Sache ist unter Kontrolle. Es besteht also kein Grund, sich Sorgen zu machen.“
Dr. Nikolaidev atmete tief durch und strich sich eine verirrte Strähne aus den Augen. „Wenn Sie mich fragen, dann schleppen Sie das schon viel zu lange mit sich herum...“
„Ich nehme an, dass ich austherapiert bin“, erwiderte Ukasi. Nikolaidev ging an den Medikamentenschrank, nahm einen Blister mit Dragees heraus. „Ich war es schon so gut wie los, aber es hat wieder angefangen“, fuhr Ukasi fort. Er wollte Nikolaidev die Dragees aus der Hand nehmen, aber die Ärztin zog ihre Hand zurück.
„Seit wann ist es wieder schlimmer geworden?“, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern.
„Ich glaube, der erste Anfall seit langer Zeit war nach dem Ende des Etnord Krieges. Davon habe ich Ihnen ja erzählt. Danach ist es beständig schlimmer geworden. Wie gesagt, ich komme jetzt mit der Dosis, die Sie mir bisher gegeben haben nicht mehr aus.“
„Sie werden da etwas unternehmen müssen, Mister Ukasi. Und wie ich mich erinnere haben wir auch schon einmal darüber gesprochen.“
Ukasis Lächeln wirkte flüchtig. „Es ist alles im Griff, Doktor.“ Er streckte die Hand aus. Nikolaidev gab ihm zögernd die Dragees. „Ich kann mich doch auf Ihre Diskretion verlassen, Doktor?“
„Die ärztliche Schweigepflicht gilt auch für Schiffsärzte“, gab Nikolaidev eine allgemeine Antwort, wie sie in der Handbuchdatei des Space Army Corps zu finden war. Allerdings nur, so fern die Diensttauglichkeit nicht beeinträchtigt ist...
*
Zyrolaan erzeugte mit den internen Röhrchen seines Kopfkamms einen vollen, satten und sehr dissonanten Akkord, den nun auch mit größtem Wohlwollen niemand mit dem Begriff Harmonie in Verbindung bringen konnte.
Aber da der Herrscher-auf-Zeit gerade im Begriff war, sich in seine Privaträumlichkeiten zurückzuziehen dachte er, das Recht dazu zu haben, sein Inneres ganz zu entäußern, wie man diesen Vorgang unter Nostan nannte.
Dass Girrrarrrn bei ihm war, störte ihn dabei nicht. Ein Wsssarrr stand in gewisser Weise außerhalb der durch die Fünfgeschlechtlichkeit der Nostan recht komplizierten nostanischen Sozialstruktur. Deshalb durfte man ihm eine solche Entäußerung durchaus zumuten. Unter Nostan war die wechselseitige Akzeptanz einer unangekündigten Entäußerung mit sehr starker Emotionalität sehr gering. Bei Gleichaltrigen des gleichen Geschlechts ging das unter Umständen und mit etwas Glück ohne größere Komplikationen durch, aber ein Angehöriger des Geschlechts Nummer 5 war besser beraten, sich gegenüber den Geschlechtern 2 und 3 in dieser Hinsicht zu beherrschen, weil er sonst leicht missverstanden werden konnte.
Da es ihm innerlich so gut getan hatte, ließ der Herrscher zeitgleich noch einen weiteren Entäußerungsakkord die Knochenhöhlen seines Kamms verlassen. Noch wilder, noch dissonanter, noch tiefer – und mit ein paar noch schrilleren, schon fast den Rahmen des Hörbaren sprengenden Obertönen.
„Ich nehme an, du bist jetzt emotional sehr erleichtert“, sagte Girrrarrrn.
„Ehrlich gesagt schätze ich es nicht, meine Entäußerung von meinem Haus-Wsssarrr kommentiert zu bekommen“, erwiderte der Herrscher-auf-Zeit.
„Entschuldigung. Aber obwohl ich nun schon mein ganzes Leben unter euresgleichen verbracht habe und du mich von Anbeginn meiner Existenz an kennst, gibt es doch gewisse Dinge, über die wir nie gesprochen haben und die wohl ewig ein Geheimnis zwischen uns bleiben werden.“
Ein paar Nebentöne der Heiterkeit entfuhren Zyrolaan jetzt.
„Manche Dinge bleiben auch besser ein Geheimnis“, erwiderte der Herrscher-auf-Zeit.
„Auch zwischen Geschöpfen, die in Symbiose leben?“, fragte der Wsssarrr.
„Gerade zwischen Wesen, die in Symbiose leben, würde ich sagen“, gab Zyrolaan zurück.
„Und wenn sie darüber hinaus noch etwa denselben Grad an genetischer Erhabenheit haben?“
„Der genetische Erhabenheitsfaktor hat damit nichts zu tun“, behauptete Zyrolaan. „Die akustisch-emotionale Entäußerung eines Nostan ist mit Diskretion zu behandeln. Ich hoffe, ich kann mich da auf dich verlassen.“
„Du solltest mich wirklich kennen!“
Zyrolaan ging den Korridor entlang. Seine Gen-Struktur wurde dabei unmerklich von einem Scanner registriert und damit sichergestellt, dass niemand Unbefugtes diese Räumlichkeiten betrat. Mit dem Haus-Wsssarrr des Herrschers-auf-Zeit geschah dasselbe. Die Wände verwandelten sich von kahlen, grauen Flächen in Landschaften, wie man sie an der Oberfläche von Nostanor A finden konnte. In der Regel waren das trockene Savannen, unterbrochen von Kolonien von Riesenstauden, die dreißig Meter hoch werden konnten. Diese kamen allerdings nur in den Küstenstreifen der Binnenmeere vor. Weiter im Landesinneren war es trockener.
Die Gebirge, die auf den Projektionsflächen der Korridorwände zu sehen waren, vermittelten die Drei-D-Illusion eines Küstengebietes am Meer-der-sieben-Winde, das eigentlich auf der entgegengesetzten Seite von Nostanor A lag. Zyrolaan war dort aufgewachsen. Seine Elternfünfheit hatte in einem Ort gelebt, der sich Stadt-des-Schlafenden-Weisen nannte. Ein Name, der sicherlich zwei Dutzend Mal auf Nostanor A vorkam und auf das größte Heiligtum Bezug nahm.
Auf den Schlafenden Weisen – so lautete der Nostan-Name für die Schwermetall-Welt Nostanor C. ein anderer Name für diese Welt lautete schlicht und ergreifend ‚Das Heiligtum’, was die die Einzigartigkeit unterstrich, die es für die Kultur der Nostan hatte.
Immer dann, wenn der Schlafende Weise hinter dem grüngelben Oval der Nachbarwelt Nostanor B hervorkam, war auf der Hauptwelt Feiertag.
In der Stadt des Schlafenden-Weisen am Meer-der-sieben-Winde gab es einst einen großen Tempel. Zyrolaans Elternteil vom ersten Geschlecht arbeitete hier als Tempelreiniger und verdiente damit den größten Teil des Einkommens der Familie. Die Berufe der anderen waren zwar höher qualifiziert, besaßen aber nicht dasselbe Ansehen. Jeder Dienst in einem der vielen Tempel des Schlafenden Weisen wurde höher bewertet, als selbst die höchsten Positionen in der freien Wirtschaft oder in Militär und Verwaltung.
Zyrolaan erinnerte sich gerne an diese Zeit und das war auch der Grund dafür, dass er diese Bilder an die Wände seiner unterirdischen, wohl geschützten Residenz projizieren ließ. Leider war die Idylle nicht von langer Dauer gewesen. Es hatte Spannungen unter seiner Elternfünfheit gegeben, die schließlich in einem langwierigen zwei zu drei Scheidungsprozess gipfelten. Zyrolaan wurde der Dreiheit zugesprochen, doch auch deren Verbindung kriselte und zerbrach.
Details
- Seiten
- Erscheinungsjahr
- 2017
- ISBN (ePUB)
- 9783738908862
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2017 (März)
- Schlagworte
- großband chronik sternenkrieger folge buch