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Arkanum - Das siebte Tor #1: Gestrandet

©2017 350 Seiten

Zusammenfassung

Band 1: Gestrandet
von Jo Zybell

Der Umfang dieses Buchs entspricht 314 Taschenbuchseiten.

London, 2015: Louise Stone, eine selbstbewusste junge Historikerin, die an ihrer Doktorarbeit über das viktorianische England sitzt, schneidert ihre Kleider gern selbst. Natürlich glaubt sie weder an Magie, noch an Magier. Bis sie im Flugzeug nach New York einem gegenüber steht – Elias von Doxa. Samt ihrem viktorianischen Kleid, mit dem sie an einem Mode-Wettbewerb in Manhattan teilnehmen will, entführt er Louise in eine andere Zeit.
London, 1838: Frederick Percival ist ein Meister seines Faches – als Taschendieb bestreitet er den harten Überlebenskampf in einem Slum. Eines Tages stielt er versehentlich ein merkwürdiges Röhrchen, das magische Kräfte entfaltet – und schon sind dessen Besitzer hinter ihm her: kleine, weißhaarige Leute mit rötlichen Augen und entsetzlichen Fähigkeiten.
Für sie, die Magier von Doxa, sind Welten wie die Erde nur Spielplätze, die sie für ihre blutigen Spiele nach Belieben umgestalten. Sechs Mal gelingt ihnen das, vor dem siebten Mal – vor Arkanum Sieben – rebellieren einige Magier gegen das grausame Projekt. Frederick und Louise werden in die ausbrechenden Kämpfe hinein gezogen. Beiden bleibt keine Wahl: Sie nehmen den Kampf an, oder sie werden untergehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Arkanum – Das siebte Tor

Band 1: Gestrandet

von Jo Zybell


Der Umfang dieses Buchs entspricht 314 Taschenbuchseiten.


Im London verschiedener Zeitepochen geraten eine junge Frau und ein Straßenjunge zwischen die Fronten zweier Magierfraktionen, die aus einer Parallelwelt heraus agieren. Die Mehrheit der Magier will die Erde durch magische Brandrodung und globale Umgestaltung in eine Art Kolosseum und ihre Bewohner durch Magie und Manipulation in Gladiatoren verwandeln, um ihrem obsessiven Spieltrieb zu frönen. Weil eine kleine Rebellenfraktion genau das zu verhindern sucht, kommt es zu Kämpfen, in deren Verlauf die junge Frau und der Straßenjunge eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Können die beiden das Blatt noch wenden?


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.

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Nichts ist wirklich so, wie es scheint auf der Welt.

Platon, 427 – 347 v. Chr.



Prolog

Irgendwo, irgendwann


Gegen Abend erreichten sie den Pass. Tief unter ihnen im Tal erhob sich das neue Hypertor aus einem Meer von Mammutbirken und Felsnadeln: eine mächtige, kobaltblaue Kuppel. Elias ließ absitzen, befahl, die Elche abzuzäumen und in den Bergwald zu treiben. Jedem Befreiten teilte er einen Magier von Doxa zu. Alles geschah lautlos, niemand redete. Doch die bleichen und angespannten Gesichter sprachen Bände; die Angst war mit Händen zu greifen.

Auf dem Plateau am Ausgang des Passes kauerten sie zwischen Felsbrocken und mannshohem Brombeergestrüpp. Unten im Tal leuchteten die Birkenwipfel und die Felsspitzen im düsteren Blau der Torkuppel. Elias nickte dem hünenhaften Trouban und dem einäugigen Tenjas zu, neben ihm die erfahrensten Magier unter seinen Gefährten. Beide erhoben sich. Zusammen mit vier Doxanern ihrer magischen Kohorte huschten sie hangabwärts ins Dickicht.

Ihre Aufgabe: So viele Wächter des neuen Tores überwältigen wie irgend möglich, und dann das Kuppelportal für die Flüchtlinge öffnen.

Elias deutete hinüber zum Kamm auf der anderen Talseite und wandte sich nach den Doxanern und Niedermenschlichen um. „Achtet auf den Himmel über der Bergkuppe. Wenn ihr dort das Feuerzeichen sehen werdet, könnten wir es schaffen.“

In den stolzen Zügen der Doxaner las er Anspannung und Entschlossenheit, in den Mienen der befreiten Niederwesen weiter nichts als nackte Angst. Manche kauten an ihren Fingernägeln, andere hatten die Augen geschlossen und bewegten stumm die Lippen. Ein zerlumpter Greis mit langem weißem Bart zitterte und stützte sich auf einen ebenso zerlumpten Halbwüchsigen; dem bebte der Unterkiefer. Eine rothaarige Frau in edlem blauem Kleid verhüllte ihr Gesicht mit einem dunkelroten Schleier und öffnete die Arme einem wimmernden Mädchen.

„Erschreckt nicht, wenn ihr gleich den Himmel brennen seht!“, rief Elias. „Nehmt es als gutes Zeichen. Grund zum Schrecken habt ihr nur, falls dieses Zeichen ausbleibt. Dann flieht in die Wälder und rettet euch, wenn ihr könnt. Denn dann ist alles verloren.“

Halb verkrochen in den Armen und am Busen der Frau wandte das Mädchen sich nach ihm um. Aus großen furchtsamen Augen schaute es ihn an. Eigenartiges Kind. Der jüngste Niedermenschliche unter den befreiten Gefangenen. War die Frau seine Mutter? Beide steckten in ähnlich schönen Kleidern. Die Frau trug eine weiße Blume aus sichtbar edlem Stoff über ihrem Herzen. Dass dieser Schmuck all die Strapazen der vergangenen Wochen überstanden hatte ...

Elias riss sich los vom Anblick der beiden. In seinen Träumen hatte das Mädchen ihm das Leben gerettet. Dreimal schon. Lächerlich im Grunde. Warum aber vergaß er dann diese Träume nicht einfach?

Gleichgültig. Jetzt gab es Dringenderes als nächtliche Illusionen. Erst einmal jedoch hieß es: warten. Der nächste Schritt – der vorletzte in einer langen Reihe unumkehrbarer Schritte – der nächste Schritt hing ganz von Zarah und Batseba ab: Gelang es den Magisterinnen und ihren magischen Kohorten, den zweiten Schlüssel zum neuen Hypertor zu zerstören, würde er den Befehl geben, ins Tal hinab zu steigen und die Kuppel zu stürmen. Schafften sie es nicht, war es ganz und gar sinnlos, durch das neue Tor gehen zu wollen. Die Kohorten des Erzmagisters würden ihnen einfach folgen; und sie dann auf Arkanum Sieben vernichten, statt schon hier, auf Doxa.

Elias spähte hinüber zum Bergkamm auf der anderen Talseite. In einer Höhle irgendwo dort oben bereiteten Zarah und Batseba und ihre magische Kohorte in diesen Minuten die Attacke auf den Zweitschlüssel vor. Falls man sie nicht aufgespürt hatte.

Das fahle Blau des Abendhimmels erschreckte ihn. Wie ein alter Bluterguss, dachte er. Und die zerklüftete Silhouette der Bergkuppe erinnerte ihn an das Gebiss jener gefräßigen Fische, deren Schwärme jedes Lebewesen in Sekundenschnelle in ein Skelett verwandeln konnten. Wie fremdartig und bedrohlich ihm der Himmel seiner Heimat heute Abend erschien! Jetzt, wo er sie für immer verlassen wollte. Ob es den anderen auch so ging?

Elias blickte sich um: An die fünfzig Magier hatten beschlossen, das Gesetz von Doxa zu brechen und ihm durch das neue Tor zu folgen. Zwei Dutzend von ihnen knieten oder hockten hinter ihm zwischen Felsen und Brombeerhecken. Lauter Rebellen, lauter Todgeweihte. Ihre kantigen Gesichter schienen aus weißem Marmor gemeißelt zu sein. Manchen bebten die Wangenmuskeln, manche hatten feuchte Augen, einige wirkten ungeduldig; sie wollten es endlich hinter sich bringen. Keinem Magister und keiner Magisterin war nach Scherzen zumute. Oder gar nach Wetten. Die Zeit des Spielens war vorüber. Schon lange. Ob einer von ihnen seine Entscheidung bereute? Er jedenfalls bereute sie nicht. Gar nichts bereute Elias.

Zwischen den Gefährten kauerten etwa zwanzig Niedermenschliche beiderlei Geschlechts, jeden Lebensalters und jeder Schicht aus der Ankerraumzeit auf Arkanum Sieben. Wenige nur waren ähnlich edel angezogen und frisiert wie die Rothaarige in dem meerblauen Kleid oder wie das Kind.

Manche Frauen trugen unansehnliche Kleider, grau und lang, die Männer einfache Gehröcke über farbigen Westen oder taillierte bunte Mäntel, halblang und mit flügelartigen Schößen. Einer steckte in einer Art Uniform; allerdings hing ihm nur eine leere Klingenscheide am Brustgurt. Und zwei hatten sich seltsame Hüte auf den Kopf gestülpt: schwarz, steif, konusförmig und mit schmaler Krempe.

Der weißbärtige Greis und sein Enkel sahen schmutziger aus als alle anderen. Als einzige liefen sie barfuß. Fleckige Jacken, fadenscheinige Hemden und löchrige Hosen hingen ihnen in Fetzen von den dürren Leibern. Aus leeren Augen stierten sie vor sich hin.

Der Erzmagister hatte all diese Menschlichen verschleppen lassen, um sie zu studieren. Nichts Außergewöhnliches: Vor jedem neuen Großsprung wurden Ureinwohner herübergeholt, um ihre Eigenarten kennenzulernen; das gehörte nun einmal zur Routinevorbereitung eines neuen Arkanum-Projektes. Doch diesmal entwickelte sich alles anders als sonst. Ganz anders. Elias ballte die Fäuste. Diesmal lehnten fast fünfzig Magister das neue Arkanum-Projekt ab. Fünfzig Magister hatten beschlossen, das neue Hypertor zu zerstören! In den Annalen von Doxa las man von keinem vergleichbaren Vorgang.

Elias spähte wieder über das Tal hinweg zum nächsten Bergkamm. Hatte Zarahs und Batsebas Kohorte es unentdeckt bis hinauf zur Höhle geschafft? Von dort aus konnte man ins nächste Tal sehen – und bis zu der Festung, wo der Erzmagister den zweiten Schlüssel bewachen ließ. Der Abendhimmel war dunkler inzwischen. Grau und von violetten Schlieren durchzogen. Im Südosten schimmerte ein rötlicher Lichtfleck über den Gipfeln – der Mond ging auf.

Elias schloss die Augen, atmete tief. Noch spürte er seine Kraft. Noch fühlte er sich stark genug, auch die letzten beiden Schritte zu tun. Unter seinem weißblonden Langhaar tastete er nach der warmen weichen Wölbung in der Kuhle hinter dem rechten Ohr. Dort schlief sein Symbiont – sein engster Verbündeter, seine magische Rüstung.

Mehr als die Hälfte der Magier mussten die Flucht durchs neue Tor mit fremdem Symbionten wagen. Einige mussten ganz ohne ihr zweites Gehirn leben seit dem Streit mit dem Erzmagier. Der Uralte hatte allen, die er der Rebellion verdächtigte, den Symbionten rauben lassen. Manche darbten in Erdlöchern und unterirdischen Höhlen seitdem. Sie waren verloren.

Elias aber gehörte zu jenen mächtigen Magistern, die dem Uralten über jeden Verdacht erhaben zu sein schienen. Er war der Sohn des Erzmagisters. Bis zum Aufstand war er auch sein designierter Nachfolger gewesen.

Die Erde bebte, ein Raunen ging hinter ihm durch die Reihen der Gefährten. Er öffnete die Augen – und schloss sie sofort wieder, weil gleißendes, blaues Licht jenseits der Bergkuppe ihn blendete.

„Sie haben es geschafft!“ Jemand klopfte ihm auf die Schulter. „Zarah und Batseba haben es geschafft!“

Elias hielt die Hände schützend vor die Augen, blinzelte durch die Finger ins grellblaue Flammenmeer über dem Bergkamm – dort schien der Abendhimmel zu brennen. Weiße Blitze zuckten durch loderndes Licht, ein Feuerball in ständig wechselnden Blautönen blähte sich auf. Von fern grollte Donner, die Erde bebte heftiger.

„Ja“, murmelte er, „sie haben es geschafft.“ Kaum konnte er fassen, dass es tatsächlich geschehen war; das Herz schlug ihm in der Kehle, das Blut rauschte ihm in den Schläfen. Jetzt erst gestand er sich ein, dass er insgeheim gezweifelt hatte am Erfolg der beiden Magierinnen. Er blinzelte nach rechts, von wo der junge Hioban ihm noch immer auf die Schulter klopfte. „Sie haben es tatsächlich geschafft.“

Elias’ Rechte fuhr zu seinem Gurt hinab, wo in einer Schatulle der Originalschlüssel steckte, der erste Stringformer. Er selbst hatte ihn seinem Vater geraubt. Nun zog er ihn heraus und sprang auf. „Jetzt gibt es keinen Weg zurück mehr!“ Er deutete zur Torkuppel hinunter. „Jetzt geht es nur noch in dieses Tal hinab und dann durch das Tor. Ihr erreicht die Kuppel oder ihr sterbt! Der Erzmagister kennt keine Gnade.“ Elias reckte den Stringformer in die Höhe und wandte sich an die Niedermenschlichen. „Damit führe ich euch in die Freiheit und zurück in eure Heimat.“

Wie eine halbringförmig angeordnete Multiflöte sah der Stringformer aus. Er bestand aus acht blau schimmernden Hypergoldröhren unterschiedlicher Länge und Dicke, die größte zwei Finger lang und daumendick. Alle mündeten in ein breites, schnabelartiges Mundstück. Wer die Funktion des magischen Instrumentes nicht kannte, vermochte seinen Wert nicht einmal zu erahnen.

Elias wandte sich an die Doxaner. „Und uns, meine Gefährten, ist dies hier der Schlüssel zu einem ganz neuen Leben!“ Obwohl er genau wusste, dass niemals alle überleben konnten, blieb seine Stimme kraftvoll und fest. „Vergesst, was hinter euch liegt! Folgt mir ins Tal hinunter! Folgt mir durchs siebte Tor!“

Er lief los, erreichte bald den Steilhang. Am Beginn des Serpentinenpfads blieb er stehen, sah zurück, winkte. In einer langen Kolonne folgten Doxaner und Niedermenschliche. Sie stiegen in den Pfad ein, tasteten sich Schritt für Schritt durchs Geröll, ließen Kehre um Kehre hinter sich. Eine Stunde würden sie brauchen bis zur neuen Torkuppel, mindestens; Zarahs und Batsebas Kohorte hatten einen kürzeren Weg ins Tal hinunter. Und Trouban und der einäugige Tenjas öffneten hoffentlich bald das Portal zum neuen Hypertor, zum siebten.

Ungeduld befiel Elias, denn sie kamen langsamer voran als erhofft. Der Greis stolperte, vertrat sich den Fuß. Der junge Hioban musste ihn Huckepack nehmen. Das Mädchen weinte, fürchtete sich vor dem blauen Leuchten der Torkuppel; der einsetzenden Dämmerung wegen sah man das flirrende Licht immer deutlicher. Elias setzte sich das Kind auf die Schulter. Es weinte lauter, sträubte sich, doch er kümmerte sich nicht darum.

Das Gelände wurde flacher, sie drangen in den Birkenwald ein, endlich ging es schneller der Kuppel entgegen. Das Weiß der Birkenstämme schimmerte gespenstisch, denn je näher sie dem neuen Tor kamen, desto dunkler wurde die Nacht und desto intensiver reflektierten Bäume und Felsen das bläuliche Licht. Das Kind jammerte und wand sich auf Elias’ Schultern. Er herrschte es an und gebot ihm, Ruhe zu geben. Keine tausend Schritte trennten sie mehr von der Kuppel.

Plötzlich rauschte es über ihnen in den Mammutbirken. Das Mädchen hörte auf zu weinen. Elias blieb stehen, spähte ins Laubdach; alle blieben stehen und sahen hinauf. Vogelschwärme erhoben sich aus den Baumkronen, flatterten in den dunklen Himmel. Zu allen Seiten sprangen auf einmal wilde Tiere aus dem Unterholz. Schreckensrufe wurden laut. Elias sah eine große Birkenkatze die Flucht ergreifen, sah eine Schweineherde durchs Vorjahrslaub pflügen, sah Bären, Elche, Hasen, sogar Waldechsen. Das Wild stieb nach allen Seiten davon. Der ganze Birkenwald schien in Aufruhr. Und dann schwebte ein mächtiger Schatten über die Mammutkronen heran. Zweige splitterten, Äste brachen, Laub segelte herab und etwas landete zwischen den Mammutbirken auf einer Felssäule.

„Ein Greif!“, schrie hinter ihm eine Magierin, „Die Kohorte des Erzmagisters!“, eine andere, und plötzlich riefen alle durcheinander: „Isabelle! Flieht! Isabelles Echsengreif!“

Einen Atemzug lang stand Elias wie betäubt, hörte kaum das gellende Geschrei des Mädchens über sich, starrte nur zum Felsturm hinauf – tatsächlich: Isabelle! Seine Halbschwester. Er weckte seinen Symbionten.

„Ruhe!“, donnerte er. „Keiner flieht auf eigene Faust!“ Er atmete tief, schüttelte die Betäubung ab. „Alle bleiben bei mir! Keiner geht allein!“ Herrisch klang seine tiefe Stimme, hart war sein Gesicht. Nach allen Seiten blitzte sein strenger Blick. „Keiner, sag ich!“

Er war der Erste, er war ein Primarmagister – zeigte er Angst, würden alle scheitern; strahlte er Ruhe und Entschlossenheit aus, würde einigen die Flucht gelingen. Wenigstens einigen.

„Hioban! Salome!“ Bewusst sprach er die Magier mit Namen an. „Ihr sorgt für Ruhe! Keiner geht allein!“ Er nahm das schreiende Mädchen von seiner Schulter, drückte es irgendjemandem gegen die Brust, zog seinen Umhang über das weißblonde Haar. Darunter breitete sein Symbiont sich über seinem Scheitel aus. Bereit zum Kampf ging Elias ein paar Schritte auf den Felsturm zu. Sein Mund war trocken, er achtete nicht darauf. Ein Kloß schwoll in seiner Kehle, er wollte nichts davon wissen. Seine Miene sah aus wie aus Eisen geschmiedet, Kälte strömte ihm durch Brust und Hirn.

Er blieb stehen, sah hinauf zu seiner Halbschwester. Sie stand im Sattel ihrer schwarzen Greifenechse und spähte auf ihn herab. Ihr schwarzes Gewand und ihr weißblondes Langhaar wehten im einsetzenden Nachtwind. Ein roter Helm bedeckte Kopf und Symbionten. Elias glaubte, den Hass in ihren Augen funkeln zu sehen.

„Was willst du?“, rief er. Dunkel und hart hallte seine Stimme aus dem Birkenwald zurück.

„Gib auf, Elias!“ Auch ihre Stimme klang feindselig und rau. „Der Erzmagister schickt mich, das Gesetz der Welten! Höre seine Botschaft: ‚Auch du mein Sohn?’“ Sie rief lauter. „‚Auch du unter den Verrätern des Gesetzes von Doxa? Hat denn dieses Niederweib dich derart bezaubert, dass du die Überlieferung mit Füßen treten musst?’“ Ihre Stimme gellte über die Birkenwipfel. „‚Hat diese Wilde dir denn den Liebeswahnsinn so tief ins Hirn gefickt, dass du sogar das Reich und meine Nachfolge aufs Spiel setzt?’“ Elias zuckte zusammen, und oben auf dem Felsturm streckte Isabelle die Rechte aus. „Vater wartet auf deine Antwort, Elias! Und auf den geraubten Stringformer – her damit!“

Heiß schoss ihm der Zorn durch Glieder und Schädel. „Lundis!“ Elias brüllte den Namen heraus, den der Erzmagister zu nennen verboten hatte. Nur einen Atemzug lang drohte er die Fassung zu verlieren, dann beherrschte er sich wieder. „Lundis hat mir die Augen geöffnet, jawohl! Allen hier hat sie die Augen geöffnet! Für uns ist das Spiel zuende, wir steigen aus. Arkanum Sieben wird es nicht geben, das siebte Tor wird erlöschen!“

„Das ist deine Antwort?!“ Isabelles kreischende Stimme hallte über die Wipfel und überschlug sich schier. „Das soll ich dem Erzmagister sagen, dem Gesetz der Welten? Das glaube ich nicht, Elias, mein Bruder!“

„Das ist meine Antwort!“ Elias fasste Isabelles Greifenechse ins Auge, jagte einen mentalen Schock hinauf in ihr Nervensystem. „Glaube es oder lasse es bleiben!“ Das riesige Tier riss den Rachen auf, blökte gellend, schlug mit den mächtigen Schwingen. Seine Halbschwester ließ sich in den Sattel fallen, um nicht abzustürzen.

Im gleichen Moment schrien einige Befreite auf, und alle drängten sich plötzlich um Elias und die anderen Magier zusammen. Flammen züngelten aus dem Unterholz, ein magischer Brand loderte auf. Der Feuerring erfasste Birkenstämme und Gestrüpp und kesselte Elias, seine Gefährten und die Befreiten ein. Einige gingen zu Boden, weil Pythons sich um ihre Beine wanden und sie umrissen. Selbst Magier stürzten unter dem Angriff der großen Schlangen. Die noch aufrecht standen, schlugen zurück und griffen die Pythons an, ließen ihre Köpfe platzen oder ihre Augen und ihr Blut sieden.

Im nächsten Moment erfüllte Tschilpen und Zwitschern den Abendhimmel. Ein riesiger Vogelschwarm hüllte Isabelle und ihre blökende und kreischende Greifenechse ein.

„Zarah!“ Die Erleichterung weitete Elias die Brust. Diese Art zu kämpfen trug eindeutig Zahras Handschrift. Er winkte den jungen Hioban zu sich. „Zarah und Batseba greifen ein!“, zischte er. „Noch können wir es schaffen!“ Er deutete auf die näherrückende Feuerwalze. „Schlagt dort eine Bresche in den Flammenring! Salome und du! Führt die Hälfte der Magister und Befreiten von Osten her zur Torkuppel! Ich breche nach Westen hin durch! Dann müssen auch Isabelles Magier sich teilen!“ Hioban wollte protestieren, Elias verbot es ihm mit strenger Geste und schickte ihn zur schönen Salome.

In den Kronen der brennenden Mammutbirken krachte und rauschte es. Äste stürzten zu Boden, schlugen im Unterholz und in der Feuerwalze ein. Die Greifenechse eines Magisters aus Isabelles magischer Kohorte stürzte samt ihrem Reiter mitten in den Brand. Batseba sprang über den Sterbenden und die Flammen hinweg in den Kessel herein, rollte sich ab, stand gleich wieder auf den Beinen. „Hierher!“

Die Befreiten schrien ihre Angst heraus. Elias fuhr sie an, sammelte die Hälfte von ihnen hinter sich und verdichtete die Luft über den Mammutbirken. Ein Orkan schüttelte die mächtigen Bäume, glühendes Geäst stürzte herab. Ein Luftwirbel fauchte hinter Batseba in den Feuerring, erstickte die Flammen über einem Korridor von mindestens zehn Schritten.

„Mir nach!“ Elias packte das schreiende Kind bei der Rechten und die rothaarige Frau bei der Linken. „Dort hindurch!“, befahl er und stürmte Batseba entgegen. Die stand schon in der Lücke des Feuerrings inmitten von rauchendem und verkohltem Gehölz und wehrte eine angreifende Herde wilder Schweine ab.

Isabelles Wutschreie gellten durch den finsteren Wald. Sie gingen Elias durch und durch. Sammelte sie ihre Kohorte zum nächsten Angriff? Über den brennenden und sich im magischen Orkan schüttelnden Birkenwipfeln stand blutrot der Mond. Hinter sich hörte Elias den Greis nach seiner Mutter rufen.



Erstes Buch

Der Wal


1

Island, Spätsommer 1838


Der Südwind jagte Regenwolken ins Innere der Insel. Immer, wenn sein Heulen und Brausen sich für kurze Zeit legte, hörte Ragnar das Schaf blöken. Er lauschte – ein Mutterschaf, irgendwo jenseits des Hügelkamms. Ragnar winkte seine Söhne heran, lenkte sein Pferd herum, trieb es hangaufwärts, pfiff den Hunden. Kläffend hetzten sie an ihm vorbei den Hügel hinauf.

Hinter dem Kamm, nach einem sanft abfallenden Hang, weitete sich das Meer. Und unten, wo kurz vor den Klippen das Grasland jäh abbrach, stand das Schaf – das Tier, das sie seit gestern vermissten. Es blökte jämmerlich.

Ragnar hätte jedes seiner Schafe unter tausend fremden erkannt. Das Mutterschaf da unten sogar unter zehntausend, denn das Lamm, das es beklagte, war unverwechselbar mit seiner schwarzen Fellfärbung auf der linken Schädelseite. Es lag unter seiner Mutter im Gras und rührte sich nicht.

Ragnar trieb sein Pferd den Hang hinunter. Ihm schwante Böses. Die Hunde liefen voraus, beschnüffelten den Kadaver und den Boden in seiner Umgebung. Als er zwischen ihnen im Gras niederkniete und das tote Lamm betrachtete, galoppierten auch schon seine Söhne über den Kamm.

„Die gleiche Eisbärenscheiße wie am Sonntag?“, rief Sigur von weitem. Ragnar fuhr mit dem Zeigefinger über die nackte Hautstelle am Hals des Lammes und nickte.

Hufschlag donnerte heran, die Jungens rissen an den Zügeln, sprangen aus den Sätteln. Sigur war größer als Ragnar und ähnlich stämmig und bärtig. Dagur, der jüngere, reichte seinem Vater kaum bis zur Nasenspitze, war auch erheblich hagerer; blonder Flaum wucherte ihm um das Kinn.

Sigur verscheuchte die Hunde, Dagur stieß das Mutterschaf zur Seite, dann knieten sie neben ihrem Vater und beugten sich über den Kadaver.

„Ausrasiert.“ Sigur deutete auf die nackte Hautstelle inmitten des Halsfells. „Genau über der Schlagader ausrasiert. Wie das Lamm vom Sonntag. Der gleiche Schnitt und um ihn herum der gleiche Bluterguss.“ Ekel verzerrte sein breites Gesicht. „Ausgesaugt!“ Er hob den struppigen Schädel und stierte nach links und rechts. „Gebissen und ausgesaugt. Widerliche Scheißkerle!“

„Das war der Deubel selbst!“ Dagur sprang auf und schluckte. „Oder ein Vampir!“ Aschfahl wurde er unter seinem blonden Bartflaum.

„Teufel gibt’s jede Menge auf unserer schönen Insel, seit die Dänen gelandet sind“, brummte Ragnar. „Vampire nur in Ammenmärchen.“ Fröstelnd zog er die Schultern hoch.

„Solche, die rasieren, bevor sie zubeißen, gibt’s nicht einmal in Ammenmärchen.“ Sigur lachte schallend. Ragnar kannte seinen Ältesten: Je mehr Angst er hatte, desto lauter lachte er. „Gottverdammte Dänen waren das!“, tönte Sigur. „Die Drecksäcke sind zu allem fähig!“

Zwei Schiffe mit Soldaten hatte der König von Dänemark geschickt. Angeblich, um beim Wiederaufbau der Siedlungen zu helfen, die der Vulkan und das anschließende Seebeben im letzten Jahr zerstört hatten. Die dänischen Truppen hatten sich drei Tagesritte weiter nördlich im Dorf Reykjavik einquartiert und machten die Gegend dort unsicher.

„Schon möglich“, sagte Ragnar mit heiserer Stimme. „Vielleicht ist es aber auch irgendein türkischer Bastard von den Westmännerinseln, der so etwas tut.“ Er sagte das nur, um vor sich selbst zu verbergen, wie erschrocken er war. Natürlich wusste er, dass kein Mensch auf Island Lämmern das Blut aussaugte, auch kein Nachfahre türkischer Piraten. Das war ja der Grund seines Schreckens.

Er stand auf und ging zu den Hunden. Die pflügten ein paar Schritte abseits mit den Schnauzen durchs Gras, hatten wohl eine Witterung aufgenommen. Der Boden war noch weich vom nächtlichen Regen, und Ragnars Hoffnung, nichts zu finden, wurde schnell enttäuscht: Die Fußspuren waren nicht zu übersehen.

„Ein einzelner Kerl“, sagte Dagur. Gemeinsam untersuchten sie die Abdrücke der Stiefelsohlen. „Weder besonders schwer noch besonders groß. Und seht nur dieses kreuzförmige Profil!“ Er schluckte schon wieder und wurde noch bleicher. „Ein Troll?“

Sigur feixte. „Ein gestiefelter Troll – ich scheiß mir gleich in die Hosen vor Angst.“ Er warf den Kopf in den Nacken und lachte wiehernd.

„Aber ja!“ Dagur war längst überzeugt von seinem Verdacht. „Bestimmt ist ein Troll vom Hofsjökull zurückgekehrt und hat unsere lieben Elfen vertrieben. Und jetzt macht er sich über unsere ...“

„Halt’s Maul!“ Ragnar blitzte seinen Jüngsten an. Er stand auf, ging zu seinem Pferd, zog seine Flinte aus dem Sattelhalfter und lud sie durch. „Lade lieber dein Gewehr. Du reitest mit mir.“ Und dann an die Adresse seines Ältesten: „Und du machst, dass du zurück zur Herde kommst!“

„Warum darf Dagur dich begleiten?“ Sofort brauste Sigur auf. „Ich will mit dir reiten!“

„Du tust, was ich sage. Du bist der Ältere, du wirst mich bei den Knechten, Hunden und Schafen vertreten.“ Er hütete sich, den wahren Grund seiner Wahl nennen: Dagur war der bessere Schütze. „Nimm das Mutterschaf und den Kadaver mit. Schick ihn mit einem Knecht zu den anderen Herden im Hinterland. Sieht so aus, als bräuchten wir Hilfe.“

Sigur murrte ein bisschen herum, gehorchte aber. Dagur blieb stumm und bleich und stieg in den Sattel. Ihm wäre es lieber gewesen, sein älterer Bruder hätte den Alten begleitet. Ragnar jedoch kümmerten die Vorlieben seiner Söhne nicht. Er trieb sein Pferd an und ritt seinen Hunden hinterher.

Zuverlässige Hütehunde waren das, beide mit langem Pelz, der größere mit grauem, der kleinere mit rotem. Sie scheuten auch vor Seeadlern und Polarfüchsen nicht zurück, und der graue war sogar schon einmal auf einen Eisbären losgegangen.

Die Hunde verloren die Witterung nicht und verfolgten die Fährte entlang des Klippenweges und eine Stunde später den Serpentinenpfad zur Robbenbucht hinab. Manche Seefahrer und die wenigen Fischer der Gegend hatten die kleine Bucht früher als natürlichen Hafen benutzt – bis zum Seebeben im vergangenen Sommer. Seitdem versperrten Geröll und das Wrack eines dänischen Kriegsschiffes die Zufahrt.

„Ein Wal!“, rief Dagur, als sie knapp die Hälfte des Steilhanges hinter sich hatten. „Ein pechschwarzer Finnwal!“ Aufgeregt deutete er nach unten.

Weil er schlechtere Augen hatte als sein Sohn, entdeckte Ragnar den Wal erst auf den zweiten Blick. Der Koloss lag etwa dreißig Schritte von der Küste entfernt vor dem Wrack im Wasser. Die Wellen der abziehenden Flut überrollten seinen wuchtigen Schädel bis zum Ansatz der Rückenflosse.

„Hast du je von einem Finnwal mit einem dermaßen großen Kopf gehört?“, rief Ragnar über die Schulter hinweg. „Kommt mir eher vor wie ein Grönlandwal. Doch so nahe an der Küste?“ Das Tier war mindestens sechzig Fuß lang. Seine untypisch große Rückenflosse ragte etwa fünf Fuß hoch aus dem Wasser.

„Viel zu groß“, sagte Dagur. „Und hast du jemals von einem Grönlandwal mit Rückenflosse gehört?“

Nein, hatte Ragnar nicht. Er brummte sich einen Fluch in den Bart und stierte grimmig hinunter zu dem schwarzen Biest. „Warum rührt der Bursche sich denn gar nicht?“ Es kam schon hin und wieder vor, dass Wale an der Küste strandeten, doch eher oben an der Nordwestküste, und dann waren sie meistens kleiner als der da unten. „Sieht aus, als würde er das Wrack belauern.“ Der alte Hirte richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Serpentinenpfad. Der rote Hund wartete zwei Kehren weiter unter ihnen im Steilhang, den grauen sah Ragnar schon nicht mehr.

„Gütiger Gott!“ Aus feuchten Augen stierte Dagur auf die Bucht hinunter. „Sieh doch, Vater!“ Er deutete zum Wrack.

Ragnar blinzelte wieder in die Tiefe. Die große Galeone lag auf der Backbordseite. Die Gezeiten wechselten gerade, und die zurückweichende Flut warf Wellen gegen ihren in Richtung Bucht gerichteten Kiel. Der abgeknickte Hauptmast ragte zwischen von Wogen umtosten Felsbrocken schräg in den Himmel wie der Finger eines toten Riesen. Gischtwolken sprühten über dem Schiffsrumpf auf.

„Was zum Deubel gibt es da zu sehen?“ Ragnar platzte der Kragen, denn der Wal machte ihn nervös. Er drehte sich nach seinem Sohn um. „Ich sehe das Wrack eines verdammten dänischen Kriegsschiffes! Und mein freies isländisches Herz freut sich an diesem herrlichen Anblick. Was also gibt es da zu glotzen, als würde der Leibhaftige selbst dort unten aus der Hölle kriechen!?“

„Das Wrack brennt“, sagte Dagur kleinlaut.

Rangar fuhr herum, spähte wieder zur blockierten Buchteinfahrt hinunter. Er sah das Wrack zwischen Felsbrocken eingeklemmt, er sah schäumende Wellen sich an Reling und Kiel brechen, er sah Gischt über dem Wrack aufspritzen und wassergeschwängerte Luft hochsteigen. Sonst sah er nichts. Außer dem verdammten Wal.

„Schwachkopf!“ Im Sattel drehte er sich wieder zu seinem Sohn um. „Wie kann ein mit Wasser vollgelaufenes Wrack brennen! Wie kann ein Schiffsrumpf brennen, den die Flut eben erst freigibt? Wenn ich heute noch einmal einen derartigen Schwachsinn von dir höre ...!“ Obwohl Dagur eine Pferdelänge hinter ihm auf seinem Tier hockte, holte Ragnar mit dem Handrücken aus, als wollte er ihm ins Gesicht schlagen. „Halt jetzt endlich das Maul! Verstanden?“

Dagur nickte, sie ritten weiter. Kein Wort wechselten sie mehr während der halben Stunde, die sie brauchten, bis sie den Serpentinenpfad hinter sich und das Ufer der Robbenbucht erreicht hatten.

Die Hunde liefen weit voraus. Kurz bevor beide außer Sichtweite zu geraten drohten, blieb jedes Mal einer stehen – meistens der rote –, wedelte mit dem buschigen Schwanz und wartete, bis seine Herren zu ihm aufgeschlossen hatten.

„Das ist kein Wal“, sagte Dagur kurz nach der letzten Kehre, und seine Stimme klang so heiser, dass Ragnar sich erschrocken nach ihm umdrehte – sein Sohn war so bleich wie einer, der zuviel Branntwein getrunken hatte und jeden Moment kotzte. „Kein Wal treibt so reglos im Meer“, krächzte Dagur, „und ein gestrandeter Wal liegt viel näher am Ufer. Und sieh nur, das riesige Auge!“

Ragnar sah es, und das Herz schlug ihm plötzlich in der Kehle. Er hielt sein Pferd an, und nun war er es, der zu dem vermeintlichen Wal hinüber stierte, als würde er den Leibhaftigen selbst dort über das Wasser schreiten sehen.

„Bei der Seele meiner Mutter ...!“ Das Tier oder Ding oder Wesen sah aus wie aus schwarzem Eisen geschmiedet. Große Zeichen prangten in roter Farbe an der Seite des schwarzen Kolosses, und hatte man jemals einen Wal gesehen, dem einer Zeichen auf die Haut gemalt hatte?

Ragnar musste an jene gusseisernen Wagen denken, die der Kapitän der Myrdal im vorletzten Winter geschildert hatte. Dieser weitgereiste Seefahrer segelte alle paar Jahre mit einer Ladung Waltran nach England hinüber und hatte dort einen Wagen gesehen, der sich ohne Zugpferde über einen eisernen Weg bewegte; wie eine unendlich lange Leiter habe der Weg ausgesehen. Angeblich reichten ein Kohlefeuer, ein Kessel voller Wasser und ein bisschen Dampf aus, um solche Wagen aus Eisen anzutreiben; und angeblich fuhren sie schneller, als ein junges isländisches Pferd galoppieren konnte.

Schwindelerregende Geschichten waren das, und Ragnar glaubte sie nur, weil der Kapitän der Myrdal ein vertrauenswürdiger Mann war, den selbst er noch nie unter den Tisch getrunken hatte; und das wollte schon etwas heißen.

Ragnar blinzelte zu dem schwarzen Ding hinüber, das da einen Steinwurf weit entfernt aus den Wogen ragte, betrachtete die roten Zeichen – vom Lesen verstand er immerhin genug, um die Zeichen als Buchstaben zu erkennen –, betrachtete das riesige Glotzauge, das wie ein rundes Fenster aussah, und zweifelte erst an seinen Sinnen und dann an seinem Verstand.

„Verflucht noch mal!“ Ragnar spuckte aus und trieb sein Pferd näher ans Ufer der Bucht heran. Dort angekommen überfiel ihn der nächste Schrecken, denn er musste einsehen, dass sein Sohn recht gehabt hatte: Rauchwolken stiegen aus dem Ankerloch und den zertrümmerten Decksaufbauten der gekenterten Galeone und sammelten sich über dem Wrack zu dünnen, von Gischt durchsprühten Schwaden. Im Inneren des Wracks schien es tatsächlich zu brennen! Und als ob das nicht schon des Ungeheuren genug gewesen wäre, brodelte auf der Buchtseite entlang seines Kiels auch noch das dampfende Meerwasser, als würde es kochen.

Ragnars Zunge und Gaumen fühlten sich auf einmal an wie getrocknete Robbenhaut. Seine Kehle war wie zugeschnürt, seine Augen tränten und auf seinen Armen und seinem Rücken richteten die Härchen sich auf.

„Ich muss pissen“, krächzte er und glitt aus dem Sattel. Sein Sohn hockte wie festgefroren auf seinem Pferd, hatte wohl die Sprache verloren, stierte einfach nur zum Wrack und zum schwarzen Finnwal, der nie im Leben ein Finnwal war. Weder Vater noch Sohn achteten auf die Hunde: Entlang der Felsböschung jagten sie in die Bucht hinein.

Der alte Hirte wankte ein paar Schritte weg von seinem Pferd, seine Knie fühlten sich an wie mit heißem Waltran gefüllt. Was um alles in der Welt geschah hier eigentlich? Wieder und wieder blinzelte er zum rauchenden Wrack an der Buchteinfahrt und in das siedende Meerwasser. War er denn besoffen? Unablässig schüttelte er den Kopf, während er sich an einem Felsbrocken entleerte. Plötzlich schlugen die Hunde an.

„Da!“, rief Dagur. „Da sitzt er!“

„Wer sitzt da?“ Ragnar packte sein Gemächte ein, band die Hose zu und schluckte den Kloß im Hals hinunter. „Wer da sitzt, hab ich dich gefragt!“ Er stolperte zurück zu seinem Pferd und riss seine Flinte aus dem Sattelhalfter. Hätte Dagur jetzt auch nur ein Wort von einem Vampir, einem Kobold oder gar vom Teufel selbst geschwafelt – Ragnar hätte ihm ohne zu zögern den Kolben über den Rücken gezogen. Doch sein Jüngster blieb stumm – unheimlich stumm geradezu –, glotzte nur weiß Gott wohin.

Das Hundegebell verstummte jäh. Ragnar stolperte an Dagur und seinem Pferd vorbei und äugte in die Bucht hinein. „Wer zum Deubel sitzt wo?“ Und dann sah er den Mann – ein schmächtiges Kerlchen in langem Offiziersrock und mit einer Art dunkelblauem Turban auf dem langen, weißen Haar. Das Kerlchen trug etwas wie eine Brille. Oder war das eine Augenmaske?

„Verflucht ...“ Ragnar spuckte aus und legte die Flinte an. Das Kerlchen winkte und rief irgendwas.

Ein Brite? Die Offiziersabzeichen auf dem Uniformrock sahen von weitem danach aus. Der Turban allerdings sprach dagegen. Ein Schiffbrüchiger? Dafür wirkte der Mann zu entspannt. Spähte er womöglich im Auftrag seiner neuen Königin die Insel aus?

Ganz gleichgültig, wer da saß – er hatte hier nichts verloren, oder? Und wenn er Lämmer klaute und aussaugte, zweimal nicht. Und vor allem: Einer, der in einem verdammten schwarzen Eisenschiff unterwegs war, der konnte doch nur gefährlich sein, oder? Ragnar zielte, sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzugsbügel. Warum zum Deubel zitterten seine Hände?

Und schon wieder rief der Fremde irgendetwas. Seine Stimme tönte verblüffend tief und rau für so ein schmächtiges Kerlchen; sie ging Ragnar durch und durch. Er nahm den Finger vom Abzug und ließ die Waffe sinken. Aus irgendeinem Grund kam es ihm plötzlich doch vernünftiger vor, erst einmal ein paar Worte zu reden mit dem Offiziersrock.

Und dann fiel Ragnars Blick auf die beiden Hunde, und der Atem stockte ihm: Mit angelegten Ohren und eingeklemmten Schwänzen hetzten sie zurück zu ihnen. Ihr Rückenfell war gesträubt; winselnd versteckten sie sich hinter ihm.



2

London, Frühsommer 2015


Der Postmann! Seine Schritte, sein Pfeifen, das tägliche Klappern der Briefschlitze im Treppenhaus – Louise weiß, dass nur er so pfeift. Sie lässt den Guardian sinken, hat augenblicklich die Schlagzeile vergessen – Ausländisches U-Boot in der Themse? –, hebt den Kopf: Die Schritte des Postmanns entfernen sich. In ihrem Bauch ballt schon die Enttäuschung die Faust, und dann ertönt doch noch die Türglocke.

Sie springt auf, hält den Atem an, lauscht.

Einmal lang, einmal kurz, Pause, einmal lang, einmal kurz, zweimal lang: N und Y.

New York! Der Brief ist da!

Raus aus der Küche, her mit dem Schlüssel, das Treppenhaus hinunter zu den Briefkästen.

Das hat sie mit dem Postmann so abgesprochen (Angelo ist bei der Royal Navy gewesen, netter alter Kerl, er hat Louise das Morsealphabet beigebracht; als Gegenleistung hat sie ihm eine Beschwerdemail an seinen Internetanbieter geschrieben). Ein Brief aus New York wird kommen, hat sie gesagt, vier Wochen her. Wenn du ihn bringst, klingle New York. Angelo hat’s versprochen. Und Angelo hat’s gemacht.

Barfüßig nimmt sie die letzten vier Stufen mit einem einzigen Sprung – schwarz flattert es hinter ihr her: das Spitzenkleid, der Schleierschal, das Langhaar. Louise ist ein schwarzer Vogel, eine Amsel, ein Kolkrabe, ein Kondor, gleich wird sie abheben.

Sie reißt ihren roten Postkasten auf (das Bild eines nackten Mannes mit Fledermausmaske klebt auf der Tür), nur ein einziger Brief liegt drin, her damit! Und schon hält sie ihn in der Hand. Absender: New School of Fashion Design, New York City. Sie ballt die Faust, will einen Siegesschrei ausstoßen, verkneift ihn sich – nicht dass am Ende doch eine Absage im Kuvert steckt.

Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns nicht entschließen konnten, Ihren Entwurf für die Endauswahl zu nominieren. Damit fällen wir selbstverständlich keinerlei Urteil über die Qualität ihrer Arbeit ...

Ein Bleiklumpen statt eines Frauenherzens schlägt plötzlich in ihrer Brust. In ihrem Bauch verknoten sich ihre Darmschlingen, schnüren ihren Magen ein, wollen ihn erwürgen. Ihr ist schlecht auf einmal.

Vorsichtshalber ein Blick aufs Adressfenster – Miss Eva-Louise Stone, Artillery Row, Spitalfields, London, E1 6EW –, als wollte sie sich vergewissern: Dieser Brief ist wirklich für dich! Für dich und sonst niemanden!

Sie reißt das Kuvert auf, versucht es wenigstens. Ihre Finger zittern. Als sie den zusammengefalteten Briefbogen endlich in der Hand hält, segeln die Fetzen des Kuverts auf die Mosaikfliesen des Treppenhauses. Louise presst die Lider zusammen, holt tief Luft, öffnet die Augen. Ein Strahl der Mittagsonne fällt durch das Jugendstilfenster hinter ihr – buntes Geflecht aus Blattgrün und Rosen –, ein Schleier aus rotem und grünem Licht bedeckt ihre zitternden Hände und den immer noch zusammengefalteten Brief.

Noch einmal tief durchgeatmet, noch einmal Mut eingesaugt – jetzt! Louise entfaltet das Blatt. Sie überfliegt die Zeilen, ihre Augen weiten sich; sie liest noch einmal, nun langsamer und Wort für Wort; sie reißt den Mund auf, kein Ton kommt über ihre schwarzrot geschminkten Lippen. Sie hat gewusst, was sie ihr schreiben würden, hat aber versucht, nicht daran zu denken. Sie hat gewusst, dass sie es schaffen würde, sich aber verboten, es zu glauben.

„Ich hab’s geschafft“, flüstert sie, und ist nicht sicher, ob sie träumt.

Mr. Bakerfield öffnet seine Tür, der Nachbar, der unter Louise wohnt – grauhaarig, Hundemiene, breit wie ein Schrank, tonnenartiger Bauch, Jeremias mit Vornamen. Er grüßt – mürrisch wie immer –, und Louise springt ihn an, prallt gegen seinen Bauch und fällt ihm um den Hals. „Ich hab’s geschafft! Ich bin dabei! Ich flieg’ nach New York!“

Mr. Bakerfield – er arbeitet in der Bibliothek des britischen Museums – Mr. Bakerfield sagt gar nichts, steht nur wie vom Donner gerührt. Noch nie hat Louise ihn umarmt, nicht einmal die Hände haben sie sich jemals geschüttelt.

Sie gibt Jeremias Bakerfield frei, springt die Treppe hinauf, wedelt mit dem Brief. „Ich hab’s geschafft!“ Sie schmeißt die Wohnungstür hinter sich zu, ballt die Faust. „Yeah! Yeah! Yeah!“ Sie küsst den Brief, reckt ihn über den Kopf, dreht ein paar Pirouetten. „Ich hab’s geschafft!“ Sie reißt die Tür zum Garderobenzimmer auf. „Wir haben es geschafft, Vicky! Wir fliegen nach New York!”

Sie macht kehrt, rennt zum Telefon, nimmt es mit in ihre große Wohnküche. Wen soll ich zuerst anrufen. Herbie natürlich. Oder Betty ...? Sie lässt das Telefon sinken. Nein, erst einmal genießen, erst einmal wieder ’runterkommen. Louise sackt auf den Küchenhocker neben dem hohen Kühlschrank, schließt die Augen, lächelt. Ich hab’s geschafft, ich hab’s tatsächlich geschafft.

Ein Plan muss her: Wann wird gefeiert? Wen soll sie einladen?

Sie öffnet die Augen, lehnt gegen den Kühlschrank, drückt den Brief an ihre Brust und schluchzt; Freudentränen rinnen ihr über die Wangen.

Nominiert heißt natürlich noch lange nicht gewonnen. Doch wenn sie ihre Kollektion erst einmal vorstellen kann – in Louises Fantasie schreitet jetzt ein hochgewachsenes, schlankes Model mit offenem, schwarzem Haar, weiß geschminktem Teint und schwarz geschminkten Lippen über den Laufsteg (sie selbst) –, wenn sie also mitmachen darf bei der Show, dann hat sie alle Chancen, wenigstens unter die ersten drei zu kommen ...

„Sagen wir: unter die ersten fünf, dann habe ich schon das Stipendium sicher und werde auf jeden Fall in New York studieren, an der New School of Fashion Design. Also gut, sagen wir ruhig unter die ersten drei. Dann gibt’s auch noch ein Preisgeld ...“

Sie wechselt auf einen Stuhl am Esstisch, kramt einen Zettel aus dem Chaos, legt ihn auf den Guardian – Ausländisches U-Boot in der Themse? Besatzung eines Containerschiffs alarmiert nach Kollision die Polizei –, findet auf Anhieb einen Stift, notiert, wem sie schreiben, was sie einkaufen muss für heute Abend: Champagner, schottischen Whisky, Käse, geräucherten Aal, persisches Weißbrot ...

Danach steht sie auf, geht ins Garderobenzimmer, reißt einen der beiden Kleiderschränke auf. „Hast du es gehört, Vicky? Wir haben es geschafft, wir fliegen nach New York!“

Vicky ist nicht irgendjemand. Vicky ist ein Kleid. Genauer: ein blaues Kleid. Noch genauer: ein meerblaues Kleid mit weißem Hut, nachtblauem Hutschleier und tiefroter Stola. Zwei Jahre lang hat Louise daran gearbeitet. Neben ihrer Doktorarbeit. Vor zwei Monaten ist sie fertig geworden. In einem Monat wird sie Vicky in New York präsentieren. Glaubt sie.

Sie greift in den Schrank, holt Vicky heraus und trägt Kleid, Stola und Hut in ihr Arbeitszimmer. Im Garderobenzimmer schneidet sie zu, näht, quartiert Gäste ein. Im Arbeitszimmer liest sie, schreibt sie, schläft sie. Auf dem Poster über ihrem Bett demonstriert ein junger Kung-Fu-Kämpfer Waschbrettbauch und Kampfbereitschaft, über ihrem Schreibtisch hängen alte Stadtpläne von London (19. Jahrhundert). Louise setzt den großen Hut auf – ein tiefrotes Band schmückt ihn –, tritt vor den Spiegel, wirft sich die Stola über die Schultern, drückt das Kleid an ihren Körper. „Wir haben es geschafft, wir fliegen nach New York, wir sind fantastisch!“

Sie greift zur Fernbedienung, schaltet den CD-Player ein, Trommeln, Chorstimmen, irische Bouzouki – sakrale Klänge von Dead Can Dance füllen den Raum. Louise tanzt hin und her, dreht sich, beobachtet die Tanzende im Spiegel in ihrem fantastischen Kleid: eine hochgewachsene Frau (23 Jahre alt) von schmaler, etwas knabenhafter Gestalt; eine Frau mit großen Augen, mit zwar kantigem Gesicht, aber dennoch weichen Zügen. Ihr Haar ist tiefschwarz (naturschwarz) und reicht ihr bis zur Hüfte.

Sie hängt Kleid, Hut und Stola an die gusseiserne Garderobe – ein Stück, dass sie auf einem Flohmark in Londons Süden aufgespürt hat (7 ₤): vier ringförmig angeordnete Löwenfüße, der Träger ein Weinstockstamm, nur gerade, und die Haken: vier ringförmig angeordnete Weinreben mit jeweils zwei Trauben daran. Auf einer Traube ist das Schmiedejahr eingraviert (1892).

Louise betrachtet Vicky, strahlt die blauen und roten Stoffe an, faltet die Hände vor der Brust als würde sie beten, wiegt sich zur überirdischen Musik von Dead Can Dance. Dann zieht sie den roten Kinderkoffer aus dem Regal über ihrem Bett – einer großen schwarzen, mit bunten Kissen bedeckten Spielwiese der Liebe – und öffnet ihn: Kinderkleider, Kinderschuhe (beides uralt), vollgeschriebene Tagebücher, bunte Kinderzeichnungen, Schmuck, Zeitungsausschnitte, eine große Blumenblüte aus weißer Seide. Alles, was ihr besonders wertvoll ist, ruht in diesem Koffer. Sie legt den Brief von der New School of Fashion Design, New York City, hinein, schließt den Koffer.

Loch Ness steht in schwarzen Buchstaben auf dem roten Kofferdeckel. Allem, was Louise besonders wertvoll ist, gibt sie einen Namen. Ihr alter Kinderkoffer heißt Loch Ness.

„Ich bin so krass aufgeregt, Vicky. Du auch?“ Sie hastet in die Küche, sucht ihr Zigarettenetui, findet es unter dem Guardian. Ihr Blick fällt auf die Schlagzeile, während sie sich einen Joint aus dem Etui angelt: Ausländisches U-Boot in der Themse? Besatzung eines Containerschiffs alarmiert nach Kollision die Polizei. Louise zündet den Joint an, saugt tief den Rauch ein, überfliegt beim Ausblasen den Bericht. Der Kapitän des Containerschiffs hält es auch für möglich, einen Wal gerammt zu haben ...

„Ein Brief aus New York in meinem Postkasten, ein Wal in der Themse!“ Louise lacht, nimmt den nächsten Zug. „Das passt doch!“ Sie fühlt sich ruhiger, schwebt zurück ins Arbeitszimmer, dreht die Musik lauter. Dad Can Dance beschwört irgendein Mysterium – vierstimmig, mit Orgel und Pauken. Und jetzt die Einladung für heute Abend.

Louises Laptop heißt William (Shakespeare). Sie setzt sich an ihren Schreibtisch, klappt ihn auf und schreibt eine Mail an ihre Freunde: Wollt ihr heute Abend mit mir feiern? Ich habe es nämlich geschafft, mein Traum geht in Erfüllung: Vicky und ich, wir fliegen nach New York ...

Knapp acht Stunden Flugzeit über den Atlantik. Daran denkt sie noch nicht in diesen Minuten; denk bloß nicht an deine Flugangst, Louise! Eine abscheuliche Flugangst hat sie, ach was: Flugpanik! (Ihre Gegenmittel: Diazepam oder Gras.) So vieles, an das Louise in diesen Minuten des Glücksrausches nicht denkt. Sie stellt sich auch nicht die Frage, ob sie jemals in New York ankommen wird. Warum auch?

Alles, was geschehen wird – alles –, ist viel zu absurd, viel zu abseitig von allem, was Menschen sich vorzustellen imstande sind. Nichts von dem, was bald geschehen wird – nichts –, was eigentlich schon geschieht, könnte irgendjemand sich vorstellen, geschweige denn voraussagen.

Nicht einmal Louise, und sie besitzt immerhin eine blühende Fantasie; eine Fantasie, die unter ihren Freunden und in ihrer Familie als legendär gilt. Wenn du weiterredest, überzeugst du mich noch heute, dass Father Claus existiert, hat Ronny (Louises Adoptivvater) gesagt, als sie ihm Schloss, Werkstatt und Garderobe des Weihnachtsmannes in allen Einzelheiten aufgezeichnet und von ihrem Besuch bei ihm berichtet hat. Damals ist sie noch keine sieben Jahre alt gewesen.

Sie überfliegt noch einmal die Mail, ergänzt zwei Adressen (die des Meisters und die des persischen Schneiders), unterschreibt: Wenn ihr nicht kommt und mit mir feiert, soll euch der Teufel holen! Valou. Sie schlägt auf die Enter-Taste.



3

London, Frühsommer 1838


Ein fetter Tag ging zuende. An Fredericks linker Seite schlief Guinness, zu seiner Rechten ließ sich das lachende Mädchen wie aus Versehen gegen ihn fallen, und Frederick tat, als hörte er dem besoffenen Alten auf der anderen Seite des Feuers zu. Schwätzer! Wohl zum hundertsten Mal griff Frederick in seine Hosentasche, um sich zu vergewissern, dass die Uhr noch an Ort und Stelle war. Seine Fingerbeeren tasteten das wertvolle Stück, und er hielt den Atem an – die bloße Berührung der feinen Kette und des kühlen Uhrenglases trieb ihm einen wohligen Schauder durch die Brust und bis hinauf in die Haarwurzeln. Wie viel würde so eine Uhr einbringen? Zehn Pfund? Zwölf? Vielleicht sogar noch mehr. Was für ein Tag!

Über die Flammen im steinernen Futtertrog hinweg nickte er dem gelbgesichtigen Schwätzer zu, den alle hier „Frenchman“ nannten, und griff in die linke Jackentasche. Er musste unbedingt noch einmal nach der Brosche und den seidenen Schnupftüchern tasten, und danach musste er unbedingt noch einmal auf seine rechte Jackentasche klopfen: Münzen klimperten – Pennys, Sixpence und Schillinge im Wert von mindestens einem halben Pfund.

Frederick lächelte in sich hinein, als würde ihm jemand den Bauch kraulen. Ein richtig fetter Tag war das gewesen!

Und dann noch das Mädchen. Nach der Uhr die schönste Beute. Er schielte nach rechts, wo das blonde Geschöpf neben ihm saß und mit allen Leuten am Feuer gleichzeitig plapperte. Rachel – hübscher Name. Guinness hatte sie um den Finger gewickelt, und sie hatte sich aus dem Stand in Guinness verliebt.

Jetzt musste sie sich nur noch in ihn verlieben.

„Tausend verflixte Russen!“ Auf der anderen Seite des Feuers wurde Frenchman langsam die Zunge schwer. „Ich schwör’s dir: Tausend verflixte Russen hab’ ich erschossen! Tausend! Frag Big Jack, wenn er kommt.“

Frederick nickte und äugte nach Rachels Stupsnase, nach ihrem sommersprossigen, mit Rouge maskiertem Kindergesicht, nach den Konturen ihres Knies unter dem Kleiderstoff, nach ihrer schmalen Gestalt. Hübsches Mädchen. Höchstens vierzehn und dennoch in den viel zu großen und viel zu eleganten Fummel einer zwanzigjährigen Lady gehüllt. Rachel roch nicht mehr ganz frisch und von allen Mädchen hier am Feuer hatte sie eindeutig die schmutzigsten Fingernägel – aber süß war sie.

Zu seiner Linken erhob sich jetzt Guiness. Er riss das Maul auf, gähnte und schüttelte seinen gedrungenen, kurzbeinigen Leib. Frederick strich ihm über den breiten Schädel. Guinness genoss es eine Weile, dann schüttelte er sich noch einmal und trottete schließlich weg vom Feuer und quer über den Hof. Die Leute machten ihm Platz. Niemand hier kannte ihn, und wer Guinness nicht kannte, hielt ihn leicht für gefährlich, obwohl er wirklich nicht besonders groß war. Doch wenn er wollte, konnte Guinness so gucken, als wäre er eine reißende Bestie. Wenn er wollte, konnte er allerdings auch so gucken, dass man sich in ihn verliebte. Schaukelnd verschwand der schwarze Pug in einem der ehemaligen Ställe.

Abenddämmerung fiel inzwischen über Dächer, Fassaden und Hof. Auf den Firsten und Mauerkronen sammelten sich Krähen. Frederick spürte, wie das plappernde Mädchen zu seiner Rechten sich schon wieder gegen ihn lehnte. Sein Herz schlug schneller und er beglückwünschte sich, die Kleine hierher in ihr Viertel begleitet zu haben. Er legte den Arm um sie. Ob er ihr die silberne Brosche mit dem Mondstein schenken sollte? Oder lieber ein paar Schilling? Oder, falls sie weiterhin so zutraulich blieb, gleich seine gesamte Beute? Außer der goldenen Taschenuhr natürlich – von der würde er locker ein halbes Jahr lang leben können.

Jemand zündete die Gaslaternen im Torbogen und über den beiden Hauseingängen an, jemand blies in die Glut. Mit höflicher Geste wies Frederick die Flasche zurück, die Frenchman ihm durch den Rauch hindurch reichte. Dafür langte das Mädchen nach ihr und nahm einen kräftigen Schluck Gin.

„Ich wette, niemand von euch war jemals in Moskau!“, rief Frenchman in die Runde am Feuer. „Wollt ihr wissen, wer dort gewesen ist?“ Niemand wollte es wissen, doch Frenchman klopfte sich mit der Faust gegen die Knopfleiste seines löchrigen Armeemantels. „Ich! Ich, Patrick Kennedy, war mit dem Kaiser von Frankreich in Moskau gewesen! Jawoll!“ Frenchman sah aus, als wäre er hundert Jahre alt und außerdem ziemlich krank. „Du glaubst’s nicht? Frag doch Big Jack! Sein Vater hat an meiner Seite gekämpft damals! Gegen das Russenpack!“

Der Hof füllte sich zusehends mit Menschen. Die meisten waren jünger als Frederick, deutlich jünger; und zerlumpter und schmutziger als er waren die meisten auch. Frederick wusch sich fast jeden zweiten Tag und achtete auf saubere und geflickte Kleider. In dieser Hinsicht verstanden Mr. und Mrs. Higgins keinen Spaß. Ein anständiges Erscheinungsbild erleichtere die Arbeit, sagten sie immer.

Die Neuankömmlinge verschwanden in den Häusern und Baracken oder mischten sich unter das bunte Volk auf dem Hof. Ein Greis fiel Frederick auf, der einzige hier mit schlohweißem Haar. Sein weißer Bart reichte ihm bis zum Hosenbund. Auf einen jungen Burschen gestützt, hinkte er unter dem Torbogen hindurch und in den Hof hinein.

„Spinn’ ich oder sind das die beiden McMillans?“ Rachel machte große Augen und richtete sich auf. „Das sind sie wahrhaftig, ich glaub’s ja nicht!“

Auch andere verdrehten die Hälse, glotzten und tuschelten. Der Greis und der Halbwüchsige liefen barfuß und sahen mächtig zerlumpt aus. Henry und John McMillan, erfuhr Frederick von Rachel, Großvater und Enkelsohn; beide waren seit Monaten nicht mehr gesehen worden. „Ich dachte, die hätten sie längst aufgehängt oder nach Australien verschifft.“

Weil das Feuer, an dem sie saßen, dem Torbogen am nächsten war, hinkten der Alte und sein Enkel darauf zu. Beide wirkten erschöpft. Frederick rückte ein Stück, die Männer ließen sich neben ihn sinken. Heilige Mutter Gottes, wie sie stanken!

Er tastete schon wieder nach der schönen Uhr. Am liebsten hätte er sie herausgeholt und angeschaut. Er ließ es bleiben, viel zu gefährlich. Am liebsten würde er sie für sich selbst behalten – Frederick Percival zieht eine goldene Taschenuhr heraus und verrät einer schönen Lady die Uhrzeit. Fantastisch! Aber lebensgefährlich. Ein Polizist erwischte ihn, und schon wäre er ein Kandidat für den Galgen oder für Australien. Das eine führte direkt in die Hölle, das andere erst nach einer Verzögerung von ein paar Wochen oder Monaten. Davon abgesehen konnte man so eine Uhr nicht essen. Es würde ihm also gar nichts anderes übrig bleiben, als sie zu verkaufen.

An die fünfzig Leute hielten sich bereits auf dem verwahrlosten und mittlerweile düsteren Anwesen auf; vor drei Jahren wurden hier noch Kutschen gebaut. Überall palaverten, lachten, schimpften, kicherten und fluchten sie – an den Fenstern, auf den Treppen, an den Feuern, zwischen den Baracken, in der dunklen Werkstatt.

Frenchmans grölende Stimme überlagerte alles. „Das Russenpack hat Moskau selbst angezündet, wisst ihr das überhaupt? Zünden ihre eigene Hauptstadt an, das muss man sich mal vorstellen! Und wer war der erste, der die Flammen gesehen hat?“ Frenchman schlug sich an die Brust. „Ich! Jawoll! Ich, Patrick Kennedy, der Major des Kaisers Napoleon! Frag doch Big Jack.“ Er setzte die Ginflasche an die Lippen und trank.

Der alte Patrick sei der größte Säufer in St. Gile’s, hatte das Mädchen erzählt. In Dublin geboren habe er, wollte man seinem Geschwätz glauben, ein halbes Leben am Hof und in der berühmten Armee Napoleon Bonapartes verbracht. Daher sein Rufname: Frenchman.

Big Jack hieß der Mann, auf den die meisten hier warteten. Frederick kannte ihn nicht persönlich, wusste nur, dass er in vielen Gassen und Hinterhöfen von St. Gile’s das Sagen hatte. Frederick selbst schlief gewöhnlich in Saffron Hill, im Asyl neben dem alten Schlachthof oder in einem Schaustellerwagen der Higgins am Gray’s Inn. Heute würde er ausnahmsweise mal hier in St. Gile’s übernachten, wenn die Dinge sich weiter so günstig entwickelten. Er legte den Arm um Rachel; hoffentlich hatte sie ein eigenes Bett.

Saffron Hill? Ein Rookery – ein Elendsviertel – wie St. Gile’s auch, gewiss, doch viel älter und nicht ganz so verkommen. Sagen wir so: St. Gile’s war das schlimmste aller Rookeries in London, dann kam lange nichts und dann folgte an zweiter Stelle Saffron Hill.

Ein glattrasierter Mann in hellen Hosen, kurzer grüner Jacke und mit modernem braunem Filzhut trat aus der überdachten Hofeinfahrt, stellte sich breitbeinig mitten auf den Hof. Dort stemmte er die Fäuste in die Hüften und ließ seinen Blick über die Leute wandern. Rachel sah er deutlich länger an als alle anderen, und einem wie Frederick konnte es natürlich nicht entgehen, wie ihre Gestalt sich plötzlich straffte und ein maskenhaftes Lächeln alles Kindliche aus ihren Zügen vertrieb.

Der Blick des Filzhutes löste sich wieder von ihr, blieb schließlich an einem Mädchen am Nachbarfeuer hängen und bedeutete diesem mit knapper Geste, was sie zu tun hatte. Das Mädchen, höchstens zwölf Jahre alt, stand vom Feuer auf, huschte über den Hof und die Vortreppe hinauf ins kleinere der beiden Häuser. Jetzt löste sich eine Männergestalt aus dem Halbdunkeln des Torbogens. Ein graubärtiger Finsterling in dunklem Frack und mit tief in die Stirn gezogenem Zylinder hastete zum selben Haus und durch denselben Eingang.

„... und dann kamen wir an diesen verflixten Fluss, an die Beresina. War jemals einer von euch an der Beresina gewesen?“ Über das Feuer hinweg reichte Frenchman dem alten Henry McMillan die Ginflasche und klopfte sich an die Brust. „Ich stand am Ufer der Beresina! Jawoll, ich, Patrick Kennedy, der Major des Kaisers Napoleon! Frag Big Jack!“

Frederick gähnte. Frenchman langweilte ihn. „Und ich habe neulich einen Drachen zum Teufel gejagt“, sagte er schleppend, „unten in Richmond.“

Der Filzhut in der karierten Hose näherte sich dem Feuer. Fünf Burschen in Fredericks Alter folgten ihm; einer trug eine brennende Öllampe. Jeder, den sie ansprachen, gab ihnen ein Seidentuch oder eine Münze oder sonst irgend einen Teil seiner Tagesbeute.

„Hinter uns das Russenpack und vor uns die Beresina!“ Frenchman sprach jetzt lauter und machte eine verzweifelte Miene, geradeso als stünde er am Ufer eines reißenden Stroms und müsste gleich hineinspringen. „Kein Schiff, keine Brücke, nicht mal ein Floß! Und wer springt als erster in die verflixte Beresina?“ Frenchman klopfte sich mit der Faust gegen die Brust.

„Der Drache steigt also aus der Themse!“, sagte Frederick etwas lauter. „Was ein Riesenvieh, denk ich! Der Drache faucht Flammen nach rechts, faucht Flammen nach links, stampft durch den brennenden Uferwald hindurch direkt auf mich zu!“

„... ich, Patrick Kennedy, der Major des Kaisers Napoleon! Frag Big Jack!“ Frenchman schüttelte die Fäuste, nahm dem jungen McMillan die Flasche ab, schwankte bedenklich und sein gelbliches Gesicht nahm die Farbe eines Kürbis an. „Rechts ersoffen sie, links ersoffen sie, und am Ufer legt das Russenpack hunderttausend Gewehre auf mich an ...!“

„‚Was bist du für eine ulkige Kröte ’, ruf ich, zieh den Rotz hoch und spuck ihm ein Maul voll entgegen, ‚ein Drache willst du sein? Dann bin ich Saint George, des British Empires größter Drachenvernichter!’“ Die Leute am Feuer lachten, das Mädchen kicherte und lehnte sich gegen ihn. Sehr gut.

„... ein Kugelhagel um den anderen pflügt die Beresina um!“ Frenchmans Stimme überschlug sich vor Anstrengung. „Rechts und links von mir sterben sie wie die Fliegen, blutroter Schaum bedeckt den Strom, ich klammere mich an einer Eisscholle fest, zieh mich hinauf ...!“

„Der Drache steht nur rum, guckt irgendwie komisch und dann fängt er an zu schrumpfen. ‚Wieso Saint George?’, nuschelt er, grinst ganz verlegen und wird immer kleiner. ‚Ich dachte, Saint George ist längst tot?’“

„Und wir beide, wir waren in einer Stadt im Himmel, Johnny und ich!“, ergriff plötzlich der alte McMillan das Wort, der Greis, von dem Rachel gedacht hatte, man habe ihn längst aufgehängt oder auf eine Sträflingsinsel geschafft. Alle Köpfe fuhren herum. „Engel haben wir da gesehen und blaues Feuer. Johnny spricht kein Wort mehr seitdem.“

„... und was glaubt ihr, wer als einziges das rettende Ufer erreichte?“ Frenchman klopfte sich an die Brust. Die Frau neben ihm nahm ihm die Ginflasche aus den Händen, steckte ihm den Flaschenhals in den Mund und äugte zum alten McMillan herüber. „Weiter, Henry.“ Einige legten die Zeigefinger auf die Lippen, irgendjemand machte psst und nun guckten fast alle den alten Henry McMillan an. Die Flammen ließen Schatten über sein hohlwangiges Gesicht tanzen.

„Weiß nur noch, wie Johnny welche angebettelt hat unten beim Theater, einen Mann und eine Frau, so dünne, kleine Leute.“ McMillan stierte aus feuchten Augen in die Glut. „Johnny ist auf den Händen neben ihnen hergelaufen, damit sie ein paar Sixpence locker machen. Das waren Engel, ich schwör’s euch, vielleicht waren’s auch Dämonen.“

Verrücktes Zeug, was der Alte da redete. Doch der beinahe feierliche Ernst in seinen verwitterten Zügen und die lodernde Angst in seinem Blick verliehen seinen Sätze einen unheimlichen Klang – Frederick konnte gar nicht anders, als zuzuhören. Alle mussten sie zuhören, irgendwann sogar Frenchman. Das Mädchen hatte sich über Fredericks Knie gelegt, den hübschen Kinderkopf in die Fäuste gestützt und lauschte gebannt.

„Hatten sie Flügel und Heiligenscheine?“, wollte Rachel wissen.

„Nein, aber so weiße Haare und rötliche Augen. Die nahmen uns einfach mit, weit hinein ins East End, bis zu den Docks und zu der abgebrannten Fabrik dort, ihr wisst doch. Und plötzlich nur noch Flammen – blaue, grüne, lila Flammen. Und dann waren wir im Himmel.“ Henry McMillan hob den Blick, blinzelte zu seinem Enkel. Der starrte in irgendeine Ferne und blieb ganz und gar stumm. „Das waren Engel, ich schwör’s euch.“ Der alte McMillan nickte in die Runde. „Vielleicht waren’s auch Dämonen.“

„Und hast du auch Gott, den Herrn, gesehen dort oben?“, erkundigte sich Frenchman mit schwerer Zunge. „Und hat er zufällig meinen Namen erwähnt? Hat er Patrick Kennedy erwähnt, den Major des Kaisers Napoleon?“

„Weiß ich’s?“ Der alte McMillan schüttelte seine weiße Mähne. „Was weiß denn ich, wen ich alles gesehen habe! Da waren noch andere Leute aus der Stadt, glaub ich.“ McMillan zuckte mit den Schultern. „An einen riesigen Mond erinnere ich mich, an einen roten Mond, ja. Johnny spricht nichts mehr seitdem.“ Traurig blinzelte der Alte zu seinem Enkel; und dann wieder in die Runde ums Feuer. „Kein Wort hat er gesagt seitdem.“

„Das sind ja tolle Geschichten!“ Der Filzhut in den hellen Hosen stand breitbeinig hinter Frenchman. „Habt ihr auch alle aufmerksam zugehört?“, rief er. „Ihr kommt alle in den Himmel! Einzige Bedingung: Ihr müsst mindestens so viel saufen wie Henry und Johnny McMillan!“ Die Leute am Feuer brachen in schallendes Gelächter aus.

Der Filzhut feixte. Er war von stämmiger Gestalt, und ein kantiger, vorspringender Unterkiefer beherrschte sein breites Gesicht. Seine Hose war fleckig, die Ärmel und Säume seiner Jacke abgestoßen. „Und jetzt zahlt dem Captain die Tagessteuer.“ Er winkte einen seiner Burschen heran, einen schielenden flaumbärtigen Hünen mit langem, verfilztem Haar.

Die Frau neben Frenchman griff unter ihren Mantel und zog einen Apfel und ein halbes Brot heraus. Der mit der Öllampe hielt sein Licht darüber, der Hüne nickte zufrieden, steckte beides ein, und das ohne ein Wort des Dankes. Andere standen auf, rückten Pennys, Sixpence, sogar Schillinge heraus. Einer reichte dem großen Burschen eine Tabakspfeife. Die schnappte der Filzhut sich und begutachtete sie mit vergnügter Miene.

Ein dürrer Junge von vielleicht zehn Jahren beteuerte, nichts erbettelt und nichts erbeutet zu haben. Er sei den lieben langen Tag krank im Haus gelegen. Der Hüne zerrte ihn weg vom Feuer, stieß ihn zu den anderen Burschen; die durchsuchten den Hänfling.

„Spinn’ ich?“, flüsterte Frederick. Er beugte sich dicht an Rachels Ohr. „Was soll das denn?“

„Big Jack kassiert seinen Anteil.“ Seelenruhig zählte Rachel ihre Münzen. „Ganz normal, mach bloß keinen Aufstand.“ Erschrocken hob sie den Blick. „Du hast doch hoffentlich was zusammengekriegt heute?“

Frederick nickte, schluckte und biss die Zähne zusammen. Einer der Burschen rammte dem Hänfling die Faust in die Magengrube, ein anderer trat nach ihm. Sie hatten eine Münze bei ihm gefunden. Heulend floh das Bürschlein durch den dunklen Torbogen. Kaum einer beachtete ihn.

„Lass dich nie wieder hier blicken, du Bastard!“, brüllte der schielende Hüne ihm hinterher, den der Filzhut „Captain“ genannt hatte.

Frederick begriff schlagartig: Hier konnte er nur verlieren. Er langte in seine Hosentasche und zog die Ballonmütze ab. Darunter trug er einen verdammt klugen Kopf durch die Weltgeschichte, und diesem Kopf war längst klar, wie jetzt die einzig richtige Frage zu lauten hatte: Wie viel willst du verlieren, Sir Frederick, und wie viel willst du behalten?

Mit zur Faust geballter Rechter schabte er sich die Kopfhaut, versenkte dabei die Taschenuhr in seinem drahtigen blonden Lockengestrüpp und stülpte die Schildmütze darüber. Wenn er nur sein Kleinod aus diesem dreckigen Hof retten konnte! Dann würde er dem Mädchen, seiner zweitteuersten Beute, halt morgen etwas schenken.

Big Jack, sein Captain und sein Fußvolk kassierten rund um das Feuer ab, standen schließlich vor Frederick und dem Mädchen. Rachel streckte dem Captain einen Sixpence hoch; der mit der Lampe beleuchtete die Münze.

„Behalt dein Geld, Schätzchen.“ Big Jack drängte sich zwischen Rachel und den Hünen und seinen Lampenträger. „Du zahlst heute wieder in Naturalien.“ Das Mädchen senkte den Blick und wirkte seltsam starr auf einmal.

Big Jack wandte sich an Frederick. „Wen haben wir denn da? Noch nie gesehen, den Gentleman, hier in St. Giles.“ Frederick nannte seinen Namen und den seines Rookeries. „Aus Saffron Hill also, sieh einer an.“ Big Jack feixte, griff nach Fredericks linker Hand, zog sie zu sich und betrachtete den blauen Siegelring am Ringfinger. „Treiben sich in Saffron Hill also auch heruntergekommene Galgenvögel aus ehemals gutem Haus herum, wie ich sehe.“ Der Captain und sein Fußvolk lachten höhnisch.

Frederick entzog Big Jack die Hand und schwieg. Der musterte ihn halb feindselig, halb verächtlich. „Folgendes, Gentleman aus Saffron Hill, bei uns läuft das so: Wer sich zum ersten Mal unter unseren Schutz begibt, zahlt die Hälfte seiner Tageseinnahmen. Danach nur noch den zehnten Teil. Ungefähr.“ Er lauerte in die Runde am Feuer. „So ist es doch, nicht wahr?“ Alle nickten.

Der Hüne und zwei seiner Burschen durchsuchten Frederick und räumten ihm die Taschen leer. „Schön habt ihr’s hier“, sagte Frederick, dachte an den armen Jungen und ließ alles über sich ergehen. „Da kommt man gern wieder.“ In Gedanken verfluchte er Big Jack und seine Bande.

„Nicht wahr, Mr. Percival?“ Big Jack nahm seinem Captain die Brosche mit dem Mondstein ab und betrachtete sie. „Scheinst ja ein geschickter Dieb zu sein.“

Etwas weniger als die Hälfte seiner Münzen gaben sie Frederick zurück. Immer schön grinsen, Sir Frederick, ermahnte der sich, denke an die Uhr unter deinem Hut und grinse recht freundlich. Er grinste also tapfer, biss die Zähne zusammen und verkniff es sich, das Geld zu zählen, das jetzt noch übrig war; er versenkte es lieber in der Jackentasche, ganz schnell und ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Der Gedanke an den Schatz unter seiner Kappe half ihm, sein Grinsen halbwegs aufrechtzuerhalten.

Big Jack aber ging vor dem Mädchen in die Hocke und heftete ihm die Brosche an das Seidenkleid. „Und das ist für dich, Schätzchen.“ Er griff nach Rachels Handgelenk, zog sie hoch und hinter sich her ins Halbdunkle des Hofes hinein.

Jetzt fiel Frederick das Grinsen doch aus dem Gesicht. Ihm war auf einmal, als hätte ein Gaul ihn gegen die Stirn getreten – wie betäubt starrte er dem Filzhut und dem Mädchen hinterher. Die verschwanden im finsteren Eingang des größeren der beiden Häuser. Hinter Fredericks Brustbein loderte ein Feuer auf, so heiß, dass er hätte schreien mögen. Er blieb aber stumm, stand völlig reglos, starrte nur auf den düsteren Hauseingang, in den Rachel und Big Jack verschwunden waren.

Auf der anderen Seite des Hofes, neben der Werkstatt, erhoben sich spitze Schreie. Eine Frau sprang dort zur Seite, deutete auf die Umrisse eines kurzbeinigen schwarzen Hundes. Guinness. Etwas hing ihm zwischen den Fängen, eine Ratte vermutlich. Und vermutlich verstand er den Frauenschrei als Ausdruck von Futterneid, denn er machte sofort kehrt und trug sein Nachtmahl hinter den Stall.

Frederick nahm seinen Pug nur beiläufig wahr. Immer noch reglos stand er neben dem alten McMillan am Feuer, immer noch wie halb betäubt. Brennender Hass fraß sich aus seiner Brust herauf in seinen Schädel. Er dachte an die Messer in seinen rotbraunen Schnürstiefeln.

„Engel oder Dämonen“, murmelte neben ihm der Greis. „Was weiß denn ich?“ Er nahm den Gin entgegen, den Frenchman ihm durch den Rauch hindurch reichte.

Eine Frau legte einen Spieß mit geschlachteten Tauben auf die Glut am anderen Ende des Futtertroges. Fredericks Blick blieb an ihren schmalen, schon ein wenig welken Händen hängen. Genauso hatten die Hände seiner Mutter ausgesehen. Tränen traten ihm plötzlich in die Augen. Er ließ sich wieder auf seinen Platz am Feuertrog sinken.

Ein langgezogener Schrei tönte aus einem offenen Fenster im oberen Stockwerk des Hauses, in dem das süße, semmelblonde, sommersprossige Geschöpf verschwunden war, das sich eben noch gegen ihn gelehnt hatte. Frederick zuckte zusammen. Und gleich noch ein Schrei, diesmal eher wie ein Stöhnen oder Seufzen. Frederick hob den entsetzten Blick: Kerzenlicht flackerte hinter dem Fenster.

„Big Jack nimmt sie ganz schön hart ran, was?“, feixte die Frau mit den Händen seiner Mutter. Sie warf Holztrümmer und eine Handvoll trockener Pferdeäpfel ins Feuer. Frederick hasste sie. Er tastete erst nach dem Amulett an seiner Halskette und dann hinunter zu seinem rechten Stiefelschaft.

Die Flammen aus dem steinernen Futtertrog schlugen höher. Am Nachbarfeuer blies ein alter Kerl eine irische Melodie auf einer Sackpfeife. Ein klapperdürrer Bursche zupfte auf einer Laute, ein paar Frauen und Mädchen sangen dazu, und auf der anderen Seite des Feuers fragte Frenchman sich laut, ob Gott der Herr, falls er Patrick Kennedy auch einmal die Gelegenheit geben würde, im Himmel vorbeizuschauen, ob Gott der Herr sich dann wohl noch daran erinnern würde, wer dem Kaiser Napoleon das Leben gerettet hatte.

Frederick griff in den rechten Schnürstiefelschaft, zog den flachen Griff eines der beiden Messer halb heraus, ließ das Hosenbein wieder darüber fallen. Dann stand er auf. Es kam ihm vor, als würde er am ganzen Leib zittern, doch jeder Schritt glückte ihm, ohne dass er auch nur ein einziges Mal ins Straucheln geriet. Den Blick starr auf den dunklen Hauseingang gerichtet, marschierte er durch das Halbdunkel des großen Hofes.

Zwischen Feuer und Vortreppe standen der Captain und seine Fußsoldaten herum und plauderten mit ein paar Mädchen. Sie verstummten, als sie Frederick kommen sahen. Der Lampenträger hob sein Licht.

„Was ist denn mit dem los?“, sagte der schielende Hüne und trat zur Seite. Auch die anderen wichen Frederick aus; jeder, der ihm ins Gesicht sah, wich ihm aus.

Irgendwo links von Frederick krächzte es; ein Rabe flatterte aus dem Halbdunkel des Torbogens, landete auf der Laterne dort. Frederick nahm es kaum wahr, achtete nur auf Rachels Schreie, die ihm noch immer durchs Hirn gellten, dachte nur an die Messer in seinen Stiefeln, sah nur den Schatten im Hauseingang.

Dort erschien jetzt Big Jack. Er pfiff, während er die Vortreppe herunter stieg, stülpte sich den Hut aufs dunkle Haar und schnippte ein paar Flusen von seiner grünen Jacke. Frederick blieb stehen, belauerte ihn. Ihre Blicke begegneten sich.

„Is’ was?“, feixte Big Jack. „Was glotzt du, Saffron-Hill-Ratte?“ Rouge klebte ihm an Lippen und Nase. Und Blut.

„Polizei“, raunte plötzlich jemand aus der Menge im Hof, das Stimmengewirr senkte sich. Fredericks Blick flog zum Torbogen. Dort gab es einen Tumult: Kinder rannten in alle Richtungen davon, Männer in blauen Röcken und roten Westen knieten auf jungen Burschen, Männer in blauen Röcken und roten Westen stürmten in den Hof. Keine offiziellen Polizisten vom Scotland Yard waren das, sondern Privatpolizisten aus der Bow Street! Die verstanden noch weniger Spaß.

Fredericks Blick blieb an zwei Rotwesten hängen, die in diesem Augenblick im dunklen Durchgang zum Hof auftauchten. Sie führten einen älteren Gentleman in großkarierten, weißen Hosen, violettem Leibrock und mit schwarzem Zylinder durch den Lichtkegel unter dem Torbogen – den Mann, dem er am Vormittag die goldene Taschenuhr gestohlen hatte! Heißer Schrecken fuhr ihm in alle Knochen.



4

Island, Spätsommer 1838


Wie mühsam, auch nur den Arm zu heben. Wie mühsam, sich aufzurichten, zu winken, zu rufen. „Frieden!“ Wenigstens fielen ihm ein paar Brocken der Eingeborenensprache ein. „Ich komme in Frieden!“ Doch bei allen guten Mächten des Universums – wie viel Kraft kostete ihn das!

Er zog sich das Bikular von den Augen – was er sehen wollte, hatte er gesehen. Er schob den Lichtschwinger zusammen und steckte ihn zurück in die Beintasche – er würde ihn nicht einsetzen müssen; der Finger des Alten lag schon nicht mehr am Abzugsbügel. Wieder zwang er sich, die Rechte zu heben und zu winken. „Ich bin unbewaffnet!“ Seine Stimme gehorchte ihm kaum. „Ich komme in Frieden!“

Der vergebliche Versuch, einen wirksamen Brand im Inneren des Wracks zu verursachen, hatte ihn maßlos erschöpft. Irgendwo in einer Kiste auf der Steuerbordseite des Laderaums war sein Geist auf Material gestoßen, das er dazu bringen konnte, mit Sauerstoff zu reagieren. Doch zu einem Feuer, das dieses lästige Wrack ein für alle Mal aus dem Weg hätte räumen können, dazu hatte es nicht gereicht. Magische Brände waren einfach nicht seine Stärke.

Und dann diese Wolfsartigen. Lärmendes, stinkendes Viehzeug! Er hasste es. Ihnen einen mentalen Schock ins zentrale Nervensystem zu stoßen, hatte ebenfalls Kraft gekostet; obwohl doch genau diese Fähigkeit zu seinen stärksten Begabungen zählte.

Jetzt reichte es, und unter dem blauen Seidentuch, das er sich um den Kopf gewickelt hatte – aus praktischen Gründen trug er im Boot keinen Hut –, verkroch sich der Symbiont wieder in die Kuhle hinter seinem Ohr.

Wenigstens waren endlich die Hirten gekommen. Der Blonde hockte im Sattel und rührte sich noch immer nicht. Der Alte vor dem Pferd ließ die Flinte sinken. Gut so. Die Wolfsartigen tänzelten hinter dem Pferd hin und her; sie winselten, hatten wohl ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Aufgabe nicht erfüllt hatten. Manchmal blieben sie stehen und kläfften in seine Richtung; es klang erbärmlich.

„Frieden!“ Hoch mit dem Arm, weg mit der Müdigkeit, noch einmal winken! „Her zu mir mit euch!“

Er hatte gewettet – mit sich selbst, sonst gab es ja niemanden, der einen Einsatz bieten konnte –, er hatte also mit sich selbst gewettet, dass die ersten Hirten vor Ablauf der zwanzigsten Stunde nach dem Tod des zweiten Lammes hier auftauchen würden. Damit immerhin lag er richtig: Vor knapp 18 Stunden hatte er das sterbende Lamm bei seinem Muttertier oben zwischen den Hügeln vor den Klippen zurückgelassen. Wenn alles andere ähnlich gut und nach seinen Vorstellungen lief, müsste er das Boot in zwei Tagen um diese Zeit durch die Bucht steuern und in die Höhle an ihrer Westseite manövrieren können. Er schloss eine Wette ab. Mit sich selbst. Manche Gewohnheiten legt man nicht einfach so ab.

„Kommt doch her!“ Er versuchte, gerade zu sitzen. Er versuchte, sich den Anschein eines ausgeruhten Lebewesens zu geben. Sogar zu lächeln, versuchte er. Bloß keine Schwäche zeigen. Viel zu gefährlich, wenn man es mit Niedermenschlichen zu tun hatte. „Ich biete euch Frieden, Schafsmänner! Und mehr als das!“

Sie sollten schon ein wenig näher herankommen, wenn er sie endgültig unter seine Herrschaft zwingen wollte. Es musste ja sein, er brauchte sie nun einmal. „Kommt doch zu mir!“ Die Späher der Erkundungsexpedition hatten auch einen Insulaner aus der Umgebung des Wilden Tores verschleppt und seine Sprache entschlüsselt. „Fürchtet euch nicht!“

Die Bezeichnung „Wildes Tor“ hatte sich unter den Magiern von Doxa durchgesetzt, um eine natürliche Raumzeitfuge von einer magisch verstärkten und stabilisierten, also von einem Hypertor, zu unterscheiden.

„Keine Angst, ich komme in Frieden!“ Das laute Rufen fiel ihm so schwer, die vielen fremden Worte. Er bereute es, dermaßen viel Kraft verschwendet zu haben, um das Schiffswrack zu entzünden. Hätte er doch früher aufgegeben, hätte er doch gar nicht erst den Versuch gemacht!

Endlich setzte sich der bärtige Alte in Bewegung; das Gewehr hielt er mit beiden Händen fest. Er blaffte irgendeinen Befehl, winkte mit der Waffe, und der andere trieb sein Pferd an, um ihm zu folgen. Die Wolfsartigen blieben, wo sie waren. Zum Glück.

„Ich brauche Hilfe!“, rief er, als der Alte nur vier Schritte vor ihm stehenblieb. Unter dem Seidentuch auf seinem Schädel breitete der Symbiont sich wieder aus. Es musste ja sein. „Wie heißt du?“ Er tastete sich in den Geist des Hirten hinein – Zweifel, Verwirrung und Angst schlugen ihm entgegen.

„Ragnar.“ Der Alte ließ das Gewehr sinken und deutete hinter sich. „Das ist mein Sohn Dagur. Bist du ein Admiral?“ Der Offiziersrock schien ihn zu beeindrucken; offenbar kannte er sich auch mit Rangabzeichen der britischen Flotte aus.

„So etwas ähnliches.“ Er drang in den Geist des Sohnes ein – und traf kaum auf Widerstand. „Wie viele solcher Pferde könnt ihr herbeischaffen?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Reittier des Jüngeren.

„Wie heißt du?“, wollte der Hirte mit dem Gewehr wissen.

„Elias.“ Er griff energischer zu, denn der Alte besaß einen starken Willen.

„Warum hast du so rote Augen?“

„Liegt in der Familie.“

Der Hirte namens Ragnar zögerte. Endlich schluckte er die Antwort. „Du bist ein Brite, stimmt’s?“

„Ich komme von weit her, das ist wahr. Und vor mir liegt noch ein weiter Weg. So weit, dass du dir die Entfernung nicht einmal vorstellen kannst, Ragnar. Wie viele Pferde ...?“

„Da hinten, der Eisenwal.“ Der Alte deutete mit dem Daumen hinter sich. „Gehört der dir?“

„Das ist mein Boot. Es muss in die Bucht.“

„Wer zum Henker baut solche komischen Schiffe?“

„Ein Mann namens Hippolyt, er ist lange tot. Er hat das Boot nach meinen Plänen gebaut; es muss in die Bucht.“ Elias deutete auf das Reittier des Blonden. „Wie viele solcher Pferde könnt ihr bis zum nächsten Sonnenaufgang hierher schaffen?“

Der Alte druckste herum, zuckte mit den Schultern. „Mindestens vierzig“, sagte sein Sohn.

„Vierzig ...“ Elias überlegte. Vierzig solcher Tiere würden das Wrack womöglich bewegen können. Doch sein Boot? „Ich brauche sechzig, besser noch achtzig.“ Aus dem Symbionten strömte neue Kraft durch seinen Geist. Weil er spürte, dass nun auch der Alte soweit war, kletterte er von seinem Felsbrocken, ging zu ihm und sah ihm in die wässrig blauen Augen. Der massige Hirte war einen halben Kopf größer als er selbst und fast doppelt so breit. „Hast du mich verstanden, Ragnar?“

„Ja, ich habe den Herrn Admiral verstanden.“ Der Alte wich seinem Blick aus. „Das Boot des Herrn Admirals muss in die Bucht. Unbedingt.“ Der Hirte nickte eifrig. „Achtzig Pferde. Mindestens sechzig.“

„Sehr gut.“ Elias deutete zum Eingang der Bucht, wo der Serpentinenpfad in die Felsböschung mündete. „Dann geht jetzt. Und bringt genügend Männer mit.“ Er zog ein kleines Ledersäckchen aus dem Offiziersrock, griff hinein und holte zwei Münzen heraus, je ein halbes Pfund Sterling in Gold. „Zeigt ihnen diese Anzahlung hier.“ Er drückte dem Alten zwei Münzen in die Hand. „Eine für dich, eine für Dagur.“

Dem Alten sank die Kinnlade auf die Brust, während er die beiden halben Sovereigns wendete. „Zu gütig, der Herr Admiral ...“ Er betrachtete den Drachentöter auf der einen und das Bildnis der neuen englischen Königin auf der anderen Seite, schluckte ein paar Mal, wollte wohl noch mehr sagen, doch kein weiteres Wort kam ihm über die bleichen Lippen.

„Los, los!“ Mit herrischer Geste scheuchte Elias sie zurück zum Pfad. „Beeilt euch. Es gibt viel Arbeit, und meine Zeit wird knapp.“



5

London, Frühsommer 2015


Im Aschenbecher in der Küche drückt Louise den Joint aus. „Und jetzt wird eingekauft.“ Auf dem Weg zur Wohnungstür fischt sie das tiefrote, lederne Geldtäschchen von der Kommode unter dem schwarzen Jugendstilspiegel. Sie öffnet es – noch mehr als 25 Pfund in Scheinen, knapp vier Pfund in Münzen, sehr gut –, sein Verschluss besteht aus zwei goldfarbenen Engeln (fingernagelgroß), die sich umarmen, wenn man ihn zudrückt.

Von der Wandgarderobe reißt sie ein schwarzes Netz und den schwarzen Samtmantel mit den dunkelroten Ledersäumen. Sie zieht die Tür auf – Mr. Bakerfield versperrt ihr den Weg zur Treppe.

„Ich will Ihnen gratulieren, Miss Stone. Ich weiß zwar nicht, was Sie geschafft haben, doch herzlichen Glückwunsch.“ Der alte Gentleman sieht niedlich aus, wenn er grinst. Und so viele Worte am Stück hat Louise ihn noch nie sprechen hören.

„Danke, Sir!“ Sie ergreift seine ausgestreckte Rechte – eine erschreckend kleine und zerbrechliche Hand für so einen großen und schweren Mann – und drückt sie vorsichtig. „Ich werde eine weltberühmte Modeschöpferin, wissen Sie? Ich werde meinen Entwurf in New York präsentieren, an der besten Schule für Modedesign, die es gibt. Und das feiern wir heute Abend. Kommen Sie doch hoch zu mir, Mr. Bakerfield, Sie werden sowieso nicht schlafen können!“

„Ich weiß nicht recht, Miss Stone.“ Seite an Seite steigen sie die Treppe hinunter. „Was soll ein alter Kerl wie ich bei so einer Party? Da feiern doch sicher lauter junge Leute ...“

„Na und?“ Mr. Bakerfields Wohnungstür steht weit offen, eine laute Männerstimme hallt heraus. Klingt ganz so, als laufe eine Nachrichtensendung im Radio. Oder im Fernsehen? „Und was heißt hier ‚alter Kerl’? Sie sind doch noch keine Hundert, oder? Und selbst wenn: Kommen Sie doch, bitte!“ Louise hakt sich bei ihm unter. „Dann werde ich Ihnen Vicky vorstellen, mein Kleid für New York. Bitte! Sie sind schließlich der erste, der es erfahren hat. Ich freue mich, und meine Freunde werden sich auch freuen.“

„Meinen Sie wirklich?“ Vor seiner offenen Tür bleiben sie stehen. Irgendwo in Mr. Bakerfields Wohnung erzählt ein Nachrichtensprecher etwas von einem rätselhaften Schiff und einem Großeinsatz der Polizei.

„Außerdem wird nicht nur Jungvolk da sein. Ich habe auch meinen Meister eingeladen, und den Postmann.“ Angelo ist zwar erheblich jünger als Mr. Bakerfield, hat aber immerhin schon graues Haar. „Und Betty kommt sowieso.“

„Ihre Mutter?“ Jeremias Bakerfield seufzt. „Also gut.“ Aus seiner Wohnung schwirren Stimmen von Reportern und ihrer Interviewpartner. Von einem Kampf ist die Rede, von einem Hund, von einem Wal. „Dann bedanke ich mich.“

„Toll!“ Louise klatscht in die Hände. „Ich freue mich!“

Mr. Bakerfield tritt einen Schritt zurück, betrachtet ihre Gestalt. „Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie Ihre Kleider selber schneidern, Miss Stone. Niemand läuft so herum wie Sie, in ganz Spitalfield nicht, ich meine ...“ Er lächelt verlegen, als er merkt, wie missverständlich er sich ausgedrückt hat. „Ich meine natürlich – kaum jemand hat so einen, nun ja, so einen originellen Stil.“

Sein Blick gleitet von ihren Stiefelspitzen über ihren Samtmantel und ihr schwarzes Netz bis hinauf zu ihrem schwarzen Haar und den schwarz geschminkten Lippen. Louise lächelt die ganze Zeit – sie genießt es, angeschaut zu werden; sie schaut selbst gern schöne Menschen und Dinge an.

„Darf ich Sie fragen, wann Sie geboren sind?“, fragt Mr. Bakerfield unerwartet. So unerwartet, dass Louise es ihm sofort verrät; nur, als er auch noch die genaue Uhrzeit wissen will, muss sie passen. Aus seiner Wohnung dringen immer neue Stimmen, und eine aufgeregter als die andere.

„Hören Sie das?“ Mr. Bakerfield deutet in seine offene Tür. „Die Russen haben ein Spionageschiff die Themse heraufgeschickt, ein U-Boot.“

„Glaub ich nicht.“ Louise lacht; doch nur kurz, denn die Schlagzeile des Guardians fällt ihr ein. „Die brauchen doch kein Schiff, um uns auszuspionieren!“

„Doch, doch! Ein schwarzes U-Boot, komisches Ding. Chinesische Seeleute wollen es von ihrem Containerkahn aus gesehen haben.“ Gemeinsam lauschen sie der Stimme des Nachrichtensprechers. Und tatsächlich: Von einem exotischen U-Boot ist die Rede, von seiner rätselhaften Besatzung und von einer Menge Polizei, die mit Hundestaffeln den Uferwald von Woolwich durchkämmt.

„Da hören Sie es doch ...“ Mr. Bakerfield schlurft in seine Wohnung, winkt Louise hinter sich her. Neugierig geworden folgt sie ihm über eine ähnlich lange Diele wie ihre. Durch eine offene Tür sieht sie einen von zahllosen Büchern und Blättern bedeckten Schreibtisch. Darauf einen Globus und einen riesigen, alten Monitor. Auf dem Monitor flimmert ein Sternennebel, der Globus ist nachtblau und von Sternsymbolen bedeckt. Hinter dem Schreibtisch, an der Wand, hängt eine Sternkarte; im Vorübergehen glaubt Louise, Sternbilder zu erkennen.

In seinem Wohnzimmer lässt Mr. Bakerfield sich in seinen Fernsehsessel fallen; mit der Rechten weist er auf die Ledercouch. Louise bleibt lieber neben seinem Sessel stehen und äugt von dort auf den großen Flachbildschirm: Ein Helikopter fliegt über die nächtliche Themse, sein Scheinwerferkegel gleitet über den schwarzen Rumpf eines Unterseebootes. Uniformierte klettern darauf herum.

„Komisches Ding, was?“ Mr. Jeremias Bakerfield schüttelt den Kopf.

„Krass“, sagt Louise.

Der Scheinwerferkegel erfasst einen verbogenen Metallkeil, der aus einem schwarzen Rumpf ragt. Wie die Rückenflosse eines riesigen Hais sieht der aus.

„Man könnte meinen, das sei ein Wal, oder?“, sagt Mr. Bakerfield.

Louise nickt.

„... sein Schiff sei mit dem unbekannten U-Boot kollidiert, so der Kapitän eines chinesischen Containerschiffs“, hört sie den Kommentator der BBC sagen. Auf dem Bildschirm wandert der Lichtkegel nun über eine offene Ausstiegsluke, gleitet über einen roten Schriftzug auf dem Rumpf des Schiffes, dann über ein Bullauge, das an ein riesiges Fischauge erinnert, und dann wieder über den Schriftzug.

„Kyrillische Buchstaben sind das aber nicht“, sagt Louise wie zu sich selbst.

„Stimmt schon“, murmelt Mr. Bakerfield. „Aber wer sollte uns denn sonst ein Spionageboot schicken, wenn nicht der Russe?“

„Die Russen schicken Trojaner und Diplomaten, aber keine Schiffe.“ Bevor Louise den Schriftzug entziffern kann, wechselt das Bild, es ist Tag auf einmal, und das Konterfei des BBC-Kommentators erscheint auf dem Schirm. Er steht zwischen Baumstämmen im morgendlichen Flusswald.

„Von der Besatzung des fremden U-Bootes fehlt bis zur Stunde jede Spur“, verkündet er. Hinter ihm kann man zwischen den Baumstämmen ein Absperrband erkennen, und hinter dem Band sieht man Leute in weißer Schutzkleidung. „Hier sehen Sie die Spurensicherung von Scotland Yard bei der Arbeit“, erklärt der Kommentator und deutet mit dem Daumen über die Schulter.

Wieder Schnitt, und ein paar Sekunden lang sieht Louise aufgewühltes Vorjahrslaub, abgeknickte Äste und dunkle Erde, die aussieht wie umgepflügt. Einen Augenblick verharrt die Kamera über Stiefelabdrücken mit seltsam gekreuztem Stollenprofil.

„Wie ein Polizeisprecher heute Morgen verlauten ließ, fand hinter der Absperrung ein heftiger Kampf statt.“ Der Kommentator erscheint wieder im Bild. „Zwei tote Polizeihunde habe man im Wald gefunden und drei verletzte Beamte, angeblich nicht vernehmungsfähig. Und seit gestern Abend vermisst man bei Scotland Yard einen Hundeführer samt seinem Spürhund, einem scharfen Deerhound. Auch ein Einsatzfahrzeug gilt als abgängig ...“

„Sie lassen sich Autos und Hunde stehlen!“ Mr. Bakerfield wirft die Arme in die Luft. „Das muss man sich mal vorstellen!“

„Krass“, Louise fragt sich, ob sie wirklich BBC-Nachrichten guckt oder ob Mr. Bakerfield eine Spielfilm-DVD eingelegt hat. „Echt krass.“

„... die Bevölkerung wird um höchste Vorsicht gebeten, denn die Besatzung des fremdartigen U-Bootes ist mit hoher Wahrscheinlichkeit bewaffnet und muss als gefährlich gelten ...“



6

Island, Spätsommer 1838


Sigur und den Schafsknechten quollen schier die Augen aus dem Kopf, als sie die beiden Goldmünzen sahen. „Als Anzahlung? Für noch gar nichts?“ Sigurs misstrauischer Blick wanderte zwischen Vater und Bruder hin und her. Beide nickten. „Und er hat noch mehr davon, sagt ihr? Ganz sicher?“

„So ein Lederbeutelchen voll.“ Mit hohlen Händen deutete Dagur die Größe des Münzsäckels an, das er bei dem Fremden in der Robbenbucht gesehen hatte. „Mindestens fünfzig Goldstücke, würde ich schätzen. Elias ist ein großer Herr und ein sehr reicher. Bringen wir ihm also die Pferde.“

„‚Bringen wir ihm also die Pferde’!“, höhnte Sigur und drehte sich nach den Knechten um. „Hört ihr das? Dagur redet, als wäre er der Elfenkönigin in die Arme gelaufen.“ Die Männer feixten. Wieder an seinen Bruder gewandt, rief Sigur: „Bring ihm also die Pferde und küss ihm den Arsch!“ Fragend sah er seinen Vater an.

„Hör schon auf, Sigur.“ Ragnar brummte in seinen Bart hinein. „Admiral Elias ist wirklich ein edler und mächtiger Herr. Es sollte uns eine Ehre sein, ihm helfen zu dürfen. Hast du nach den Hirten geschickt? Wir brauchen jeden Mann und mindestens sechzig Pferde.“

„Was ist denn mit euch los?“ Sigur wich zwei Schritte zurück. „Ihr guckt ja, als hättet ihr mit diesem Kerl gesoffen!“ Seine Miene schwankte zwischen Verblüffung und Zorn. „Ihr redet wie verliebte Weiber!“ Er fuhr herum, stapfte zu seinem Pferd und schwang sich in den Sattel. „Dieser Elias ist ein dänischer Spion, wenn ihr mich fragt! Und es sollte uns eine Ehre sein, ihn zu erschießen!“ Er klopfte auf den Kolben seiner Flinte. „Und das sollten wir tun, bevor die anderen Hirten hier sind, sonst müssen wir sein Gold nämlich mit ihnen teilen!“ Er hieb seinem Tier die Sporen in die Flanken und winkte den Männern. „Hinter mir her, wer einen dänischen Spion töten will! Hinter mir her, wer sich ein paar Pfund Sterling in Gold verdienen will!“

Fünf von insgesamt sieben Knechten kletterten auf ihre Pferde. Ragnar schimpfte mit ihnen und fluchte auf seinen Sohn, doch nur halbherzig. Die Knechte beachteten ihn kaum und jagten hinter Sigur her.

„Wir brauchen Ankerseile, Pferdegeschirr, feste Taue, Zaumzeug und jedes Pferd, das wir auftreiben können!“ Der Wunsch, dem Herrn Admiral Elias zu helfen, beschlagnahmte sein Gemüt und seinen Willen so vollständig, dass Ragnar schon kurze Zeit später keinen Gedanken mehr an Sigur und die ungehorsamen Knechte verschwendete. Obwohl er wusste, dass sein Ältester keinem Kampf aus dem Wege ging, machte er sich nicht die geringsten Sorgen um den Herrn Admiral.

Seinen jüngeren Sohn Dagur schickte er mit zwei Knechten ins Dorf, um Pferde zu besorgen und all die Dinge, die der Herr Admiral Elias brauchte oder brauchen könnte. „Zeigt den Männern den Sovereign!“, rief er den Reitern hinterher. „Zeigt allen den Sovereign!“ Ragnar selbst ritt den Hirten aus den beiden Nachbardörfern entgegen.

Eine knappe Stunde später traf er zwei von ihnen auf der anderen Seite des Fjords. Zusammen mit vier Knechten waren sie bereits auf dem Weg zu ihm. Alle sechs Männer waren mit Flinten bewaffnet, die beiden Hirten trugen zusätzlich noch Degen.

Ragnar erzählte ihnen von dem friedliebenden und großzügigen Herrn Admiral Elias und von seinem eigenartigen Schiff, das auf den ersten Blick an einen Finnwal, auf den zweiten jedoch an eine dieser modernen Dampfmaschinen erinnerte, von denen die Seeleute erzählten, wenn sie aus England zurückkehrten. Die Hirten und ihre Knechte kraulten sich die Bärte oder rieben ihre Glatzen und machten misstrauische Mienen. Als Ragnar ihnen allerdings die beiden Goldmünzen zeigte, ging ein Leuchten durch ihre Züge.

„Einen halben Sovereign für mich und einen halben Sovereign für Dagur“, erklärte der alte Hirte. „Als Anzahlung, begreift ihr? Als Anzahlung, ohne dass wir überhaupt einen Finger krumm gemacht haben! Jetzt könnt ihr euch selbst ausrechnen, was euch erwartet, wenn ihr das Boot des Herrn Admiral Elias in die Bucht schleppt.“

„Hat er was mit den toten Lämmern zu schaffen?“, wollte der ältere der beiden Hirten wissen.

„Tote Lämmer?“ Ragnar erinnerte sich dunkel, zuckte mit den Schultern. „Der Herr Elias doch nicht!“

„Und was will er in der Bucht?“

„Ich habe ihn nicht gefragt.“

„Kann uns auch egal sein“, sagte der jüngere der beiden Hirten. „Wenn er so gut bezahlt, kann uns das scheißegal sein.“

„Und wenn er verrückt ist?“ Der andere hatte noch immer Bedenken.

„Natürlich ist er verrückt“, antwortete der jüngere, „sonst würde er ja nicht mit Gold um sich schmeißen wollen. Doch mit Verrückten dieser Sorte habe ich kein Problem.“ Er wandte sich an die Knechte. „Ihr?“ Die Männer feixten und schüttelten die struppigen Schädel.

„Der Herr Admiral Elias ist nicht verrückt“, beteuerte Ragnar, „er ist einfach nur großzügig und edel.“

„Schon gut, Alter.“ Der jüngere der beiden anderen Hirten klopfte ihm auf die Schultern. „Beruhig dich halt wieder.“ Er holte eine Lederflasche aus der Satteltasche und drückte sie Ragnar gegen die Brust. „Nimm mal einen Schluck Rum, du bist ja ganz aufgekratzt.“

Sie arbeiteten bis tief in die Nacht hinein: ritten in die beiden Dörfer, um Männer zu werben, ritten zu den Fischern an die Küste, ritten über die Weiden und sammelten so viele Pferde ein, wie sie kriegen konnten. Als sie am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang den Steilhang an der Robbenbucht erreichten, trieben sie beinahe siebzig Pferde den Serpentinenhang hinab.

Ragnar ritt an der Spitze der Kolonne aus Männern und Pferden und kam als erster unten in der Bucht an. Drei von Sigurs Knechten standen auf dem Wrack oder – bis zur Brust im Wasser – zwischen den Felsen dahinter. Mit Äxten hieben sie auf den Hauptmast ein. Der Anblick wunderte Ragnar nicht im Geringsten. Sie mussten hinüber geschwommen sein, denn er sah kein Boot. Auch darüber wunderte der alte Hirte sich nicht. Im Gegenteil: Er fand das selbstverständlich. Zwei Pferdelängen vor dem Ufer der Bucht stieg er aus dem Sattel.

Sigur und die anderen beiden Knechte knieten im Ufergeröll und bearbeiteten einen Mast, den sie offenbar bereits vom Wrack herüber geholt hatten, mit Messern und Steinen.

„Endlich!“ Sigur lief zu seinem Vater. Er tat sehr emsig und sein Gesicht glühte vor Eifer; doch nicht einmal darüber wunderte sich Ragnar. „Habt ihr an Sägen und Äxte gedacht?“

Ragnar nickte.

„Sehr gut.“ Sigur betrachtete die wachsende Pferdeherde, die sich am Fuß des Steilhangs sammelte. Klitschnass klebten ihm die Kleider am Leib, und es war weiß Gott nicht warm an diesem Morgen. Dennoch sah Sigur nicht aus, als würde er frieren. Im Gegenteil: Seine Haut war rot, und tiefe Freude leuchtete aus seinen Augen, leuchtete aus jeder Falte seines Gesichts.

Er ließ Ragnar stehen und rannte zum Ufer der versperrten Buchteinfahrt. Aus dem Geröll dort klaubte er Steine und schleuderte sie auf den schwarzen Eisenwal. Der erste traf ein rotes Kleinboot, das neben dem Koloss im Wasser schaukelte und an dessen Rückenflosse befestigt war.

„Was tust du da, Sigur?“, rief Ragnar.

„Der Herr Admiral Elias ruht sich seit gestern Abend ein wenig aus!“ Sigur bückte sich nach dem nächsten Stein und holte aus. „Er hat mir befohlen, ihn zu wecken, sobald ihr mit den Pferden kommt!“ Ein faustgroßer Stein traf die Eisenhaut des schwarzen Wales, und sein Rumpf dröhnte wie eine Glocke.

Später öffnete sich eine Luke auf dem Rücken des Eisenwals, und der Herr Admiral Elias schob eine Leiter heraus, machte sein Beiboot los und kletterte hinein. Etwa zwanzig Hirten und Knechte sammelten sich am Ufer, während der schmächtige Edelmann herüber paddelte. Die Männer rätselten laut, aus was für einem Werkstoff wohl sein kleines, rotes Boot gebaut sein mochte; aus Holz war es nicht, das sah jeder.

Ragnar kümmerte sich nicht um die anderen Hirten und ihre bedeutungslosen Fragen. Er stand längst bis zu den Hüften in der Brandung der Uferböschung und half Sigur, den zweiten Mast des Wracks an Land zu ziehen. Aus dem Augenwinkel äugte er manchmal zum Herrn Admiral Elias hinüber. Der guckte sehr streng und redete mit den Männern.

Wieder beeindruckte Ragnar die tiefe und raue Stimme des eher kleinen und dünnen Mannes, der jetzt sein Münzsäckel auspackte, jedem der Männer einen halben Sovereign in die Hand drückte und dabei jedem tief in die Augen sah. Danach ließ sich der Herr Admiral Elias ihre Gewehre aushändigen und schickte Hirten und Knechte zu Ragnars Ältestem. Sigur nämlich wusste ganz genau, was zu tun war; er leitete die Arbeiten.

Sie schufteten bis nach Sonnenuntergang – schafften auch den dritten, vierten und fünften Mast vom Wrack des dänischen Kriegsschiffes ans Ufer, zersägten oder zerhackten jeden in drei Teile und bauten daraus eine Art Bahn aus Rundhölzern. Danach spannten sie die Pferde in zehn Reihen zu je sieben Tieren zusammen.

Sie schliefen im Kies des Strandes oder auf nacktem Fels, viele in nassen Kleidern. Im ersten Morgengrauen knüpften sie sämtliche Seile, Taue und Gurte zu vier armdicken Zugseilen zusammen und befestigten sie an den Jochen der Pferde. Viele Männer husteten. Als gegen Mittag Ebbe herrschte, schwamm Sigur mit zehn Hirten zum Eisenwal hinaus. Dort brachten sie die Zugseile an seiner Rückflosse und seinem Kiel an. Dazu mussten sie unter Wasser arbeiten, und nicht alle tauchten wieder auf.

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783738908732
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
arkanum gestrandet
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Titel: Arkanum - Das siebte Tor #1: Gestrandet