Zusammenfassung
Ich gebe zu, ich bin feige. Eigentlich wurde ich mit dem Vornamen Mohammed geboren, aber den zu tragen, ist in den Vereinigten Staaten von Amerika - immerhin meinem Heimatland - derzeit eine gute Methode, um sich schnell unbeliebt zu machen. Aber hat nicht selbst der große und mutige Barack Obama es zeitweise vorgezogen, sich Barry zu nennen?
Allerdings hat er seinen Mut irgendwann wiedergefunden. Ich hingegen habe mich an 'Murray' gewöhnt. Nur meine Eltern nennen mich noch beim Namen des Propheten.
Aber vielleicht ist das mit der Gewöhnung auch nur eine Ausrede meinerseits. Es ist einfach so: Wenn jemand Mohammed Abdul heißt, dann vermutet jeder einen arabischen Terroristen, einen fanatischen Gotteskrieger mit der Kalaschnikow in der Hand oder zumindest einen fiesen Black Muslim Aktivisten, der gegen die weiße Rasse wettert und in ihr Gottes Fluch für die Welt sieht. Niemand erwartet jemanden wie mich.
Jemanden, der so weiß ist wie seine irischstämmige Großmutter, die damals den Mut hatte, einen syrischen Einwanderer zu heiraten. Jemanden, der sogar Sommersprossen hat und es an Blässe mit jedem hautkrebsgefährdeten Angelsachsen aufnehmen kann. Ich bin kein Irrer mit einem Sprengstoffgürtel, sondern ein Agent des SPECIAL CASE FIELD OFFICE, einer Spezialabteilung des FBI.
Cover: STEVE MAYER
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
KILLER ANGEL
Thriller von Alfred Bekker
Ein CassiopeiaPress E-Book
© by Author
© der Digitalausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Der Umfang dieses E-Book entspricht 186 Taschenbuchseiten.
1
Mein Name ist Murray Abdul.
Ich gebe zu, ich bin feige. Eigentlich wurde ich mit dem Vornamen Mohammed geboren, aber den zu tragen, ist in den Vereinigten Staaten von Amerika – immerhin meinem Heimatland – derzeit eine gute Methode, um sich schnell unbeliebt zu machen. Aber hat nicht selbst der große und mutige Barack Obama es zeitweise vorgezogen, sich Barry zu nennen?
Allerdings hat er seinen Mut irgendwann wiedergefunden. Ich hingegen habe mich an 'Murray' gewöhnt. Nur meine Eltern nennen mich noch beim Namen des Propheten.
Aber vielleicht ist das mit der Gewöhnung auch nur eine Ausrede meinerseits. Es ist einfach so: Wenn jemand Mohammed Abdul heißt, dann vermutet jeder einen arabischen Terroristen, einen fanatischen Gotteskrieger mit der Kalaschnikow in der Hand oder zumindest einen fiesen Black Muslim Aktivisten, der gegen die weiße Rasse wettert und in ihr Gottes Fluch für die Welt sieht. Niemand erwartet jemanden wie mich.
Jemanden, der so weiß ist wie seine irischstämmige Großmutter, die damals den Mut hatte, einen syrischen Einwanderer zu heiraten. Jemanden, der sogar Sommersprossen hat und es an Blässe mit jedem hautkrebsgefährdeten Angelsachsen aufnehmen kann. Ich bin kein Irrer mit einem Sprengstoffgürtel, sondern ein Agent des SPECIAL CASE FIELD OFFICE, einer Spezialabteilung des FBI.
Manchmal passen Klischees eben nicht so richtig.
Das hat meinen Chef, den ehrenwerten und schlitzäugigen Mr. Jay Chang Lee, nicht davon abgehalten, mir sozusagen als obligatorischen Toleranztest für Araber und Islamisten einen Partner zuzuteilen, der schwul und Jude ist.
Eine doppelte Provokation für jeden Muslim, so scheint er zu denken.
Macht aber nichts.
Lew Parker ist ein prima Kerl.
Wir verstehen uns blendend.
2
Cal Slater sah das Licht am Ende des Lincoln-Tunnels, der Union City in New Jersey mit Manhattan verband. Der Tunnel führte tief unter dem Hudson hindurch und tauchte in Manhattan hinter der Eleventh Avenue wieder an die Oberfläche.
Slater kniff die Augen zusammen, als er aus dem Tunnel herausfuhr.
Das gleißende Tageslicht blendete ihn etwas.
Er wusste nicht, dass sein Gesicht im selben Moment im Zielfernrohr einer Präzisionswaffe sichtbar wurde. Das Fadenkreuz genau auf seiner Stirn...
Slater atmete tief durch, dachte an den Termin in einer Anwaltskanzlei in Midtown Manhattan, den er vor sich hatte. Er kannte die Strecke wie im Schlaf.
Nur gut hundertfünfzig Meter führte die Straße durch das Freie, um dann erneut durch einen Tunnel zu führen. Slater hob den Blick.
Oberhalb der Tunneleinfahrt war die 39.Straße West. Gegen das grelle Sonnenlicht, dieses kalten klaren Tages konnte er den Kerl mit dem Gewehr nicht sehen, der dort oben stand und ihn im Visier hatte.
Nur Sekunden waren vergangen, seit sein BMW den Ausgang des Lincoln Tunnel passiert hatte.
Ein Geschoss ließ die Frontscheibe zerbersten und drang ihm mitten in die Stirn. Ein kleines, rundes Loch bildete sich etwas oberhalb der Augen. Ein roter Punkt, der rasch größer wurde.
Die Wucht des Projektils ließ Slaters Schädel mit einem Ruck gegen die Nackenstütze schlagen, die nicht richtig eingestellt war. Sein Hals war bereits seltsam verrenkt, als der zweite Schuss den Kiefer durchschlug und im Sitzpolster der Hinterbank steckenblieb, nachdem er die Nackenstütze zerfetzt hatte.
Der BMW brach aus seiner Bahn.
Die Hände des Toten verkrampften sich um das Lenkrad. Und der Fuß drückte noch immer auf das Gas.
Der Wagen schrammte gegen einen Lieferwagen, der zu bremsen versuchte und ins Schleudern geriet.
Ein Sportcoupe jagte diesem von der Seite in den Laderaum. Das Blech knickte ein wie Pappe. Reifen quietschten. Mit einem Knall fuhren weitere Fahrzeuge auf. Ein Sattelschlepper konnte gerade noch ausweichen, drängte dadurch eine Limousine von der Fahrbahn, so dass beide einen Augenblick später in den Leitplanken hängenblieben.
Der BMW jagte indessen mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.
Wie ein Geschoss.
Am Steuer eine Leiche.
Die Kurve, mit der die Fahrbahn unter der 39.Straße herführte, konnte er natürlich nicht mehr nehmen. Frontal knallte der Wagen gegen eine Betonbarriere. Der Motorbereich des BMW faltete sich in Sekunden zusammen, als bestünde er aus Zeitungspapier. Mit einem ungeheuren Knall wurde der Wagen gestoppt.
Oben, auf der 39. Straße stand eine Gestalt und beobachtete in aller Seelenruhe das Geschehen. Der Mörder verzog das Gesicht.
Das Präzisionsgewehr verstaute er in einem Futteral. Dann griff er in die Innentasche seiner abgewetzten Lederjacke und holte eine Sprühdose mit schwarzer Farbe hervor.
Mit schnellen, sicheren Bewegungen sprühte er gekonnt einen Schriftzug auf den Asphalt.
KILLER ANGELS stand dort im nächsten Moment in großen, zackigen Lettern.
Und etwas kleiner darunter:
WIR SIND ÜBERALL!
Ein Chevy hielt am Fahrbahnrand.
Der Mörder lief mit ein paar schnellen Schritten auf den Wagen zu und stieg ein. Mit quietschenden Reifen fuhr der Chevy davon und war Augenblicke später im Verkehrsgewühl verschwunden.
"Alles okay?", fragte der Fahrer.
Der Mörder atmete tief durch.
"Ich glaube schon", sagte er.
"Wir machen jetzt einen Bogen und fahren dann zurück zum Theater District..."
"Warum?"
"Weil ich den Wagen von dort habe. Ich stelle ihn wieder genau an die Stelle, wo er stand!"
"Der Besitzer wird sich freuen!"
"Wenn jemand den Wagen gerade beobachtet hat und die Polizei bei dem Kerl auftaucht, wohl nicht mehr!" Ein irres Kichern folgte. Den Fahrer schien diese Vorstellung sehr zu amüsieren.
Der Mörder zuckte hingegen nur die breiten Schultern.
3
Am Ausgang des Lincoln Tunnels war der Teufel los, als Lew und ich dort eintrafen. Mein Freund und Kollege Lew Parker saß am Steuer eines Mercedes, den wir von der Fahrbereitschaft des FBI-Districts New York zur Verfügung gestellt bekommen hatten. Es war eine große Limousine. Lew stellte sie am Straßenrand ab. Der Ausgang des Lincoln-Tunnels war in beide Richtungen gesperrt worden. Und das würde sicherlich noch ein paar Stunden so bleiben. Wir stiegen aus.
Ich schlug mir den Mantelkragen hoch.
Ein verdammt kalter Wind wehte vom Hudson River herüber und ließ einem die Nase innerhalb weniger Augenblicke krebsrot frieren.
Zahlreiche Einsatzwagen von City Police, Highway Patrol und Feuerwehr drängten sich auf dem Asphalt. Dazu kamen noch etliche medizinische Rettungsteams und Beamten der Scientific Research Division, dem zentralen Erkennungsdienst der verschiedenen Polizeiabteilungen der Stadt New York, der auch vom FBI-District häufig in Anspruch genommen wurde.
"Das sieht ja furchtbar aus", murmelte Lew mit gerunzelter Stirn.
Ich nickte nur.
Gegenüber einem uniformierten Cop zeigten wir unsere FBI-Dienstausweise.
Der Officer nickte knapp.
"Schlimme Sache, Sir", meinte er.
"Wieder ein Anschlag dieser Gang, die sich die KILLER ANGELS nennt?", fragte ich. Viel hatte man uns nicht gesagt. Die Nachricht hatte uns erreicht, nachdem wir gerade unser Büro im FBI-Gebäude an der Federal Plaza betreten hatten. Wir waren sofort losgefahren.
"Wird Zeit, dass mit dieser Terror-Bande endlich aufgeräumt wird, wenn Sie mich fragen", meinte der Officer. "Sehen Sie sich doch an, was die hier angerichtet haben!" Er deutete hinauf zur 39. Straße. "Dort oben hat der Kerl gestanden und abgedrückt. Wahllos - irgendein Auto. Nur um seinen Mut zu beweisen oder weil er BMWs nicht leiden konnte..." Der Officer atmete tief durch.
Als Streifenpolizist war er sicher einiges gewohnt. Das war kein Job für zartbesaitete Gemüter.
Aber das hier nahm ihn sichtlich mit.
"Ich kann verstehen, wenn jemand reich sein möchte und einen Geldtransport überfällt, weil er das für seine große Chance hält. Ich kann auch verstehen, wenn jemand im Streit jemanden erschlägt, weil ihm einfach eine Sicherung durchbrennt. Mein Gott, aber das hier..." Er schüttelte den Kopf. "Es ist so völlig sinnlos."
Da konnte ich ihm nur zustimmen.
Ich nickte.
Er sagte: "Ich hoffe, der Kerl kriegt, was er verdient!"
"Das hoffe ich auch", erwiderte ich.
Ich blickte zu einem Lieferwagen, der aussah wie ein zerdrückter Blechsarg.
Einige Männer waren gerade damit beschäftigt, jemanden aus dem Schrotthaufen herauszuschneiden.
Eine Blutlache war auf dem kalten Asphalt zu sehen. Sie war schon angetrocknet.
Eine Tragödie, dachte ich. Die Wut des Officers konnte ich nur zu gut verstehen.
"Fünf Tote", raunte er mir zu. "Und es ist noch nicht klar, ob von den Verletzten alle überleben werden..."
4
Captain Logan Jakes, Leiter der Mordkommission Midtown Manhattan II, trat auf uns zu. Das Walkie-Talkie ragte ihm aus der Manteltasche. Das Haar war ungekämmt, und er hatte garantiert noch nicht gefrühstückt. Sein Gesicht wirkte grau.
"Hallo, Murray", begrüßte er mich knapp. Ich kannte ihn von verschiedenen Einsätzen her. Lew begrüßte er mit einem Kopfnicken. "Die Spurensicherer werden noch eine ganze Weile zu tun haben, aber es sieht ganz nach einer dieser verfluchten Mutproben aus, mit denen die KILLER ANGELS ihre neuen Mitglieder aufnehmen." Er deutete auf den Blechhaufen, der vor diesem Attentat einmal ein BMW gewesen war. Einige Mitarbeiter der Spurensicherung machten sich dann an dem Wagen zu schaffen.
"Weiß man schon, wer das Opfer war?", fragte ich.
"Nein. Wir müssen die Leiche erst mühsam aus dem BMW herausschneiden. Ich glaube auch nicht, dass Sie das weiterbringen würde. Das Opfer ist völlig willkürlich ausgesucht worden. Der Kerl stand da oben auf der 39.Straße und hat sich irgendeines der Fahrzeuge herausgepickt, die gerade aus dem Lincoln Tunnel herausgeschossen kamen."
Ich nickte.
Näheres würde sich wohl in den Berichten finden. Sowohl in jenem des Gerichtsmediziners als auch in dem, was die Ballistiker herausfinden würden.
Wir folgten Captain Jakes bis zu dem BMW.
Ein furchtbarer Anblick.
Ich notierte mir die Nummer. Mochte der Teufel wissen, wozu ich die mal brauchen würde.
Jakes atmete tief durch und meinte dann düster: "Vor zwei Wochen stand ich das letzte Mal hier. Fast genau an derselben Stelle und aus demselben Anlass..."
"Ich weiß", sagte ich.
"Es ist kaum zu fassen! Diese Brüder sind wirklich dreist geworden! Zweimal hintereinander an derselben Stelle!" Er zuckte die breiten Schultern. "Vielleicht war das ja eine Tat, durch die ganz besonderer Mut bewiesen werden sollte", meinte er dann mit ätzendem Unterton.
"Wir tun, was wir können, um die Täter zu fassen", erklärte Lew. "Aber schließlich können wir nicht einfach in die Bronx fahren und alle Leute verhaften, die seltsame Lederjacken tragen..."
"Das sollte auch kein Vorwurf sein", erwiderte Captain Jakes. "Aber wenn man so etwas sieht, dann kann man schon die Wut bekommen..." Er deutete hinauf zur 39. Straße. "Ich nehme an, Sie wollen noch die Stelle sehen, von der aus geschossen wurde..."
"Ja", nickte ich.
"Der Täter kann kein schlechter Schütze gewesen sein", stellte Jakes dann fest.
"Wie kommen Sie darauf?", meinte Lew. "So ein BMW ist doch kein kleines Ziel!"
"Nein, aber beweglich. Der Schütze hatte nur wenige Sekunden Zeit, den Wagen zu erwischen, bevor er in der Unterführung der Neunundreißigsten verschwunden gewesen wäre. Wo er den BMW getroffen hat, ist schon beinahe unwichtig. Selbst wenn es nur ein Reifen ist, ist eine Katastrophe vorprogrammiert. Mehr oder weniger jedenfalls."
"Nehmen wir unseren Wagen?", fragte Lew. Captain Jakes nickte. "Mit meinem ist mein Lieutenant gerade unterwegs."
Wir stiegen in den Mercedes.
Diesmal saß ich am Steuer. Wir passierten die Unterführung und mussten dann einen Bogen fahren, um schließlich auf die 39. Straße zu gelangen, eine Einbahnstraße in Richtung Hudson. Die Stelle, an der der Killer auf sein Opfer gelauert hatte, war schwerlich zu verfehlen, denn auch dort befanden sich jede Menge Einsatzfahrzeuge der City Police. Eine Fahrbahn war gesperrt.
Der Verkehr wurde um die Stelle herumgeleitet.
Wir hielten am Straßenrand und stiegen aus.
Wenig später standen wir drei dann genau an jener Stelle, von der aus der Täter seinen wunderbaren Ausblick gehabt hatte. Genau auf den Ausgang des Lincoln Tunnels. Jakes sagte: "Es sieht so aus, als hätte der Mörder den BMW-Fahrer getroffen. Das bedeutet, dass er ihn ziemlich bald erwischt haben muss, nachdem der Wagen aus dem Tunnel herauskam. Sonst wäre der Winkel zu ungünstig geworden..." Ich blickte auf die Schrift, die mit einer Sprühdose auf den Boden gebracht worden war.
"Der Schriftzug der KILLER ANGELS ist gut getroffen", meinte Lew.
"Ich möchte so schnell wie möglich Abzüge von den Fotos haben, die die Spurensicherung hoffentlich davon gemacht hat."
"Schmiererei!", meinte Logan Jakes leichthin.
"Abwarten", erwiderte ich. Jede Kleinigkeit konnte am Ende den entscheidenden Hinweis bedeuten.
Einer der Police Officers trat jetzt zu uns und wandte sich an Jakes.
"Captain, ich habe hier den Polizeichef in der Leitung." Jakes nickte.
"Ich komme schon", sagte er und folgte dem Officer bis zu dessen Einsatzwagen.
Lew sah ihm kurz nach.
"Scheint, als würde man auch in den höheren Etagen nervös, Murray."
"Wundert dich das?"
"Nicht wirklich", erwiderte Lew. "Schließlich breiten sich diese KILLER ANGELS in der Bronx wie eine Seuche aus, Häuserblock für Häuserblock, Straßenzug für Straßenzug. Es erinnert an einen Guerilla-Krieg."
Wir wechselten einen kurzen Blick.
Ja, es war ein Krieg, den die KILLER ANGELS führten. Ein Krieg gegen die Polizei, die Bürger, verfeindete Gangs und jeden Crack-Dealer zwischen 150er und 180er Straße, der die Frechheit besaß, ihnen nicht mindestens die Hälfte seines Gewinns abzugeben.
Die South Bronx, Harlem und Teile von Brooklyn waren die Orte in New York, in denen Drogen und Armut offen regierten. Jugend-Gangs, die ein paar Straßenzüge regierten waren nichts ungewöhnliches. Und dass solche Gangs die Finger nach dem ausstreckten, was ihnen Profit versprach, war leider auch an der Tagesordnung.
Als Drogenhändler konnte man in der Bronx immer noch mehr verdienen als in jedem der spärlich gesäten Jobs, die es hier gab. Sehr viel mehr.
Aber die KILLER ANGELS waren nicht irgendeine Gang. Nicht eine der vielen Banden, von denen manche ganz offen agierten und dafür sorgten, dass sich in gewissen Straßenzügen die City Police nur in Mannschaftsstärke und mit der Pump Gun im Anschlag aus dem Wagen traute.
Aber die KILLER ANGELS waren in jeder Hinsicht etwas besonderes. Besser ausgerüstet, besser bewaffnet und besser organisiert als alle anderen, die sie Straße für Straße vor sich hertrieben.
Natürlich hatten wir unsere Informanten vor Ort. Und so wussten wir zumindest in ganz groben Umrissen, was vor sich ging. Alle Erkenntnisse deuteten in eine ganz bestimmte Richtung...
Die KILLER ANGELS arbeiteten vermutlich für jemanden, der den Crack-Handel unter seine Kontrolle bringen wollte, indem er einen äußerst blutigen Feldzug gegen die Konkurrenz führte.
Jemand mit viel Geld.
Sehr viel Geld.
Um wen es sich dabei handelte, davon hatten wir keine Ahnung. Vermutlich auch der Großteil der Crackhandler und die niederen Chargen der KILLER ANGELS nicht. Vielleicht kannten sogar die Anführer nur irgendwelche Mittelsmänner. Dieser Unbekannte im Hintergrund hielt sich auf diese Weise völlig aus der Schusslinie. Und die ANGELS machten nicht nur die Drecksarbeit für ihn, sondern trugen auch das volle Risiko.
Ich sah noch einmal hinunter zum Eingang des
Lincoln-Tunnels, der für den bislang unbekannten BMW-Fahrer zur Todesfalle geworden war.
So tragisch dieses Ereignis war, im Grunde war es nichts weiter als eine Fußnote in einem grausamen Drogenkrieg, mit dem der Mann am Steuer des BMW mit Sicherheit nicht das Geringste zu tun gehabt hatte.
Lew trat neben mich.
"Was denkst du?", fragte er. "Irgendwas schwirrt dir doch im Kopf herum."
Ich lächelte matt.
"Bist du Telepath?"
"Nein, aber ich kenne dich eine Weile, Alter."
"Leicht untertrieben, was?"
"Vielleicht ein bisschen..."
Eine Pause entstand. In Gedanken ging ich nochmal alles durch. Lew hatte das ganz richtig erkannt. Da war in der Tat etwas, was mich beschäftigte.
"Dies ist nicht der erste derartige Anschlag der KILLER ANGELS", meinte ich vorsichtig. "Aber bislang haben sie nie zweimal hintereinander am selben Ort zugeschlagen..." Lew hob die Augenbrauen.
"Und? Was folgerst du daraus, Murray?" Ich zuckte die Achseln.
"Nichts", sagte ich. "Es ist mir eben nur aufgefallen und ich frage mich, ob es dafür vielleicht irgendeinen vernünftigen Grund geben könnte."
Lew machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Ein vernünftiger Grund?", zitierte er mich. Er schüttelte energisch den Kopf. "Entschuldige, Murray, aber in diesem Zusammenhang klingt das etwas merkwürdig..."
5
Pat Borinsky stand am Fenster des ziemlich heruntergekommenen Brownstone-Hauses und schob die Gardine zur Seite. Er überprüfte kurz den Sitz des riesigen Magnum-Revolvers, den er auf dem Rücken im Hosenbund trug.
Sein Bruder Cyrus flegelte sich derweil in einem der ziemlich durchgesessenen Ledersessel und versuchte gerade verzweifelt, eine Dose Budweiser zu öffnen, nachdem er so ungeschickt gewesen war, den Henkel abzubrechen. Cyrus fluchte unflätig, als er sich die Jeans besudelte. Er hielt die Dose über den niedrigen Glastisch, auf dem Spuren eines weißen Pulvers zu sehen waren.
Backpulver.
Zusammen mit Kokain konnte man es aufkochen und bekam dann Crack. Ein gutes Geschäft, denn die Konsumenten hatten keine Möglichkeit, hernach zu kontrollieren, wie hoch der Anteil des Backpulvers war.
Und oft war bereits das Kokain gepanscht gewesen. Crack war ein Teufelszeug. Viel billiger als Heroin und Kokain, aber genauso suchterzeugend. Die Droge der kleinen Leute, die sich reines Koks nicht leisten konnten.
"Was gibt's da zu sehen?", fragte Cyrus an seinen Bruder gewandt, nachdem er die halbe Budweiser-Büchse leergetrunken hatte.
Pat kniff die Augen zusammen.
"Unser Kunde", sagte er.
"Na fein. Das Geschäft war heute ja auch ziemlich mau!" Pat beobachtete einen Ford, der am Straßenrand hielt. Ein Mann stieg aus. Mittlerer Jahrgang, Bauchansatz, kaum noch Haare auf dem Kopf. Er zog sich den Mantelkragen hoch und blickte sich nervös um.
"Was ist das für einer?", fragte Cyrus.
"War noch nie hier", erwiderte Pat. "Wenn du mich fragst: Kleiner Angestellter, der dem Stress nicht gewachsen ist. Wohnt in Queens! Seiner Telefonstimme nach ein Feigling." Cyrus lachte schallend.
"Hartes Urteil", meinte er.
"Ich täusche mich selten."
"Bild dir nur nichts drauf ein!"
Pat beobachtete jetzt, wie der Kunde auf die Haustür zukam. Das kleine verwilderte Rasenstück, das eigentlich mal ein Vorgarten gewesen war, durchschritt er mit langen, ausholenden Schritten. Wieder sah er sich um. Die Nervosität war ihm ins Gesicht geschrieben. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Umschlag heraus.
Dann bückte er sich und steckte den Umschlag in den Briefschlitz.
"Ich gehe mal an die Tür und zähle nach", sagte Cyrus. Pat beobachtete derweil den Kunden.
Er ging zurück in Richtung Wagen. Nachdem er sich abermals umgedreht hatte, wandte er sich an eine der überquellenden Mülltonnen. Er öffnete sie und nahm eine Zeitung heraus. Ein Exemplar der New York Daily News. Er öffnete es, holte etwas heraus, das er sogleich in der Manteltasche verschwinden ließ und stieg dann in seinen Wagen ein.
Cyrus rief indessen aus dem Flur, der zur Tür hinführte: "Das Geld stimmt!"
"Okay..."
Im anderen Fall hätte Pat den Kunden mit einem gezielten Schuss in den Reifen stoppen können.
Aber so etwas kam eigentlich nie vor. Das Risiko, von den Kunden geprellt zu werden war gering, weil die wussten, was ihnen dann blühen konnte, sofern der Dealer sie in die Finger bekam.
Aber das Risiko, verurteilt zu werden wurde auf diese Weise minimiert. Ab und zu wurden solche Crack-Häuser zwar von der DEA oder den entsprechenden Abteilungen der City Police gestürmt und die Dealer festgenommen. Aber wenn die Polizei nicht sehr sorgfältig war, kam nichts Gerichtsverwertbares dabei heraus. Schließlich konnte ja jeder das Rauschgift in die Mülltonne gelegt haben. Und zur Haustür war der Kunde vielleicht nur gegangen, um zu sehen, ob er an der richtigen Adresse war.
Man brauchte geschickte Anwälte, aber mit etwas Kleingeld war das kein Problem.
Cyrus kehrte in das Wohnzimmer zurück. Er legte den Umschlag auf den Tisch.
Pat atmete tief durch.
Es klang beinahe erleichtert.
"Was ist los?", fragte Cyrus.
"Ich hatte ein schlechtes Gefühl", sagte Pat.
"Wieso?"
"Bei Neukunden muss man immer aufpassen. Kann immer ein Cop sein..."
"Wir sind vorsichtig", sagte Cyrus. Und das bedeutete insbesondere, dass sich im ganzen Haus nicht ein einziges Gramm Crack oder Kokain befand.
Nicht jetzt.
"Vor den Cops habe ich keine besondere Angst", sagte Pat. "Die sind an die Gesetze gebunden... Ich mache mir mehr Sorgen um die, die sich ihr eigenes Gesetz machen..."
''Scheiße!'
''Ein wahres Wort!''
''Naja...''
''Ist doch wahr!'
Ein Motorengeräusch ließ Pat aufhorchen.
''Verdammt, was ist das?“
„Bin ich Hellseher?“
„Idiot.“
Pat sah aus dem Fenster, konnte aber noch nichts sehen. Dann sah er einige Motorräder die Straße entlangrasen. Sie achteten auf niemanden, sondern gingen einfach davon aus, dass sie Vorfahrt hatten. Schwarz lackierte Motorräder, auf die in Airbrush-Technik martialische Embleme aufgebracht waren. Hier und da war in zackigen Großbuchstaben der Schriftzug KILLER ANGELS zu lesen.
Die Helme waren ebenfalls schwarz, die Visiere heruntergelassen und mit getönter Sichtscheibe ausgestattet, so dass von den Gesichtern der Fahrer nicht das Geringste zu sehen war.
Auf der Stirn trugen diese Helme ein weißes Kreuz.
"Ich hoffe nicht, dass die zu uns wollen", meinte Pat. Sein Bruder war bereits durch eine Tür in einen Nebenraum verschwunden und kehrte mit einem Pump Action Gewehr zurück. Cyrus hatte die Situation sofort erfasst.
"Natürlich wollen diese Bastarde zu uns", zischte er zwischen den Lippen hindurch. "Sie wollen Krieg, darauf kannst du Gift nehmen! Sollen sie ihn bekommen..." Pat hatte den Magnum-Revolver nicht gezogen. Stattdessen machte er eine Handbewegung, mit der er seinen Bruder dazu brachte, auf der Stelle stehenzubleiben.
"Ganz ruhig, Cy. Wenn wir jetzt nicht aufpassen, dann hängen unsere Skalps als Trophäen an diesen Feuerstühlen..."
"Scheiß Latinos!", zischte Cyrus zwischen den dünnen Lippen hindurch. Er lud die Pumpgun mit einer energischen Bewegung durch.
Pat blieb am Fenster und blickte hinaus. Er beobachtete die Motorradfahrer. Mindestens ein Dutzend zählte er. Und sie fuhren wie eine Eskorte!
Drei, vier Limousinen rauschten dann heran. Alles Wagen der Luxusklasse. Mercedes oder BMW.
Kein Toyota oder Honda und schon gar kein koreanischer Wagen. Die KILLER ANGELS mochten keine Asiaten, das war allgemein bekannt. Daher verabscheuten sie auch entsprechende Autofabrikate. Für die Besitzer war das natürlich nur ein Vorteil, denn natürlich waren all diese Fahrzeuge nie käuflich erworben worden.
Wenn sie einen schönen Schlitten brauchten, dann fuhr einer von ihnen einfach Midtown Manhattan oder in den Financial District und holte sich einen.
Kostenfreie Lieferung für Selbstabholer, so pflegten sie das zynisch zu nennen.
Pat begann zu schwitzen.
Die Tatsache, dass die Gang mit einer ganzen Armee angerückt war, konnte nichts Gutes bedeuten. Eine Augenblick lang kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, die Gegend zu verlassen, als diese Gestalten im schwarzen Lederdress hier auftauchten.
Die Motorradfahrer bezogen Stellung.
Sie zogen ihre Waffen.
Automatik-Pistolen, Uzi-Maschinengewehre und vor allem Pumpguns, die sie Patrouillen der City Police abgenommen hatten. Es war ein buntes Gemisch. Eine furchteinflößende Truppe, die bestens ausgerüstet zu sein schien.
Einige nahmen ihre Helme ab.
Und jetzt konnte man sehen, wie jung sie waren. Das Durchschnittsalter konnte kaum über zwanzig liegen. Nur die Anführer, die waren deutlich älter. Vielleicht bis dreißig Jahre alt. Die Türen der Limousinen gingen auf. Überall gingen Bewaffnete in Stellung.
"Wir haben keine Chance", meinte Pat Borinsky. "Wir können nicht einmal flüchten..."
"Ich frage mich, wer die schickt", knurrte Cyrus.
"Kann uns egal sein. Wir können es so oder so nicht mit ihnen aufnehmen."
"Ich werde ein paar Leute zusammentrommeln!", meinte Cyrus. Der Angstschweiß stand ihm bereits auf der Stirn. Seine Augen glänzten.
Er griff zum Telefon. Dann knallte er den Hörer wieder auf die Gabel.
"Tot", sagte er tonlos.
Im nächsten Augenblick brach das Inferno los.
Aus Dutzenden von Waffen wurde unaufhörlich gefeuert. Scheiben gingen zu Bruch. Pat warf sich in Deckung. Cyrus machte einen Satz zum Fenster hin. Er wollte zurückschießen, aber mehr als eine ungezielte Bleiladung konnte er nicht loswerden. Dann musste er schleunigst den Kopf einziehen. Schritte waren zu hören.
Von allen Seiten kamen Sie.
Etwas flog durch die Scheibe.
Eine Handgranate.
Es war das Letzte, was Pat sah. Dann gab es eine gewaltige Detonation. Pat wurde völlig zerrissen. Selbst Spezialisten würden später Schwierigkeiten haben, ihn noch zu identifizieren.
Cyrus hechtete sich kurz bevor die Granate explodierte seitwärts. Er krümmte sich zusammen, während der ohrenbetäubende Lärm der Explosion den Raum erfüllte. Im nächsten Moment spürte er einen höllischen Schmerz im Rücken. Irgendein Splitter musste ihn dort erwischt haben. Der Schmerz breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Seine Hände hielten noch immer die Pumpgun umklammert. In seinem Mund schmeckte er Blut. Er versuchte, sich auf dem Boden herumzudrehen. Es tat höllisch weh.
Ein röchelnder Laut entrang sich seinen Lippen. Er hörte ein Krachen, so als wenn Holz barst.
Jemand brach die Haustür auf.
Dann Schritte auf dem Flur.
Cyrus Borinsky blickte auf und sah über sich eine schlanke, hochaufragende und in schwarzes Leder gekleidete Gestalt. Das Gesicht war blass, die Augen dunkelbraun. Das Kinn sprang etwas hervor. Ein zynisches Lächeln spielte um die dünnen Lippen. In der Rechten hielt er eine Automatik.
Dieser Mann war etwa dreißig. Er wurde flankiert von zwei jüngeren Männern, von denen einer mit einem Sturmgewehr und der andere mit einer Automatik bewaffnet war.
Cyrus erkannte den blassgesichtigen Mann mit den dunklen Haaren, der auf ihn in diesem Moment wie eine Verkörperung des Todes selbst wirkte.
Einmal war er ihm kurz begegnet.
Das war Killer-Joe.
Unter diesem Namen war er in der Bronx bekannt. Wie er wirklich hieß, wusste niemand hier. Er war skrupellos und eiskalt. Und seine jugendlichen Anhänger blickten ehrfurchtsvoll zu ihm auf. Er war ihr Vorbild. Und eines Tages würde vielleicht einer dieser jungen Kerle ihm hinterrücks eine Kugel in den Schädel jagen, um sich selbst an die Spitze zu setzen.
Aber soweit waren die noch nicht.
Killer-Joe beugte sich herab. Im Gegensatz zu seinen Leuten trug er keine Handschuhe. Die martialischen Symbole, die er sich auf die Handrücken hatte tätowieren lassen, waren deutlich zu sehen.
In seinen Augen blitzte es.
"Ihr hättet auf mich hören sollen, Borinsky!" Cyrus Borinsky antwortete mit einem Röcheln.
Er wollte die Pumpgun hochreißen und eine volle Bleiladung in das zynische Gesicht dieses blassen Todesengels jagen. Aber Hände und Arme gehorchten dem Crack-Dealer nicht mehr. Ausgespielt, dachte er.
Aus und vorbei.
Joe lachte rau.
"Ich hoffe, dass möglichst viele Leute in der Gegend davon hören, auf welch erbärmliche Weise du verreckt bist, Borinsky! Und vielleicht werden sie dann endlich begreifen, wie es jedem ergeht, der nicht kapiert, wer hier in der Gegend mit Crack dealen darf und wer nicht! Vielleicht rettest du auf diese Weise noch ein paar Leben, Borinsky! Gefällt dir der Gedanke?"
Killer-Joe nahm seine Automatik und setzte sie an Cyrus Broninskys Schädel. Cyrus schloss die Augen.
Aber dann entschied Joe sich anders.
Er wandte sich an den links von ihm stehenden jungen Mann.
"Mach du das, Alberto!"
"Ich?"
"Hast du es mit den Ohren?"
"Aber..."
"Das am Lincoln-Tunnel war doch nur Spielerei! Jetzt kannst du zeigen, dass du einer von uns bist, Al! Na, los! Leg ihn um und sieh ihm dabei in die Augen..."
Alberto schluckte.
Killer-Joe trat zur Seite.
Alberto hob seine Automatik, zielte und drückte ab. Er verschoss beinahe die Hälfte des Magazininhalts.
6
Es war früher Nachmittag, als Lew und ich auf dem Weg waren, um uns mit Paul Morales zu treffen. Morales war einer unserer Informanten. Er war einer der wenigen Geschäftsleute, die es in der South Bronx bis heute ausgehalten hatten. Er besaß einen Drugstore und einen Coffee Shop. Außerdem einen Zeitungskiosk. Jahrzehntelang hatte er Schutzgelder an die jeweils dominierende Gang gezahlt. Jetzt zahlte er immer noch, aber seit seine Frau bei einer Schießerei zwischen verfeindeten Jugendbanden durch einen Querschläger ums Leben gekommen war, war ihm alles egal.
Die Täter waren nie gefasst worden.
Und vermutlich würde man sie auch nie vor Gericht stellen. Möglicherweise lebten sie sogar schon gar nicht mehr, sondern hatten bei irgendeiner bewaffneten Auseinandersetzung ihr Leben ausgehaucht, ohne je einen normalen Job gehabt zu haben.
Jedenfalls war Morales bereit, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen.
Denn wenn herauskam, dass er mit dem FBI kooperierte, dann war er ein toter Mann.
Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche.
Unser Treffpunkt war ein Café in der Mott Street in Little Italy. Weit ab von der Bronx. Und ein Ort, an dem es extrem unwahrscheinlich war, ein Mitglied der KILLER ANGELS anzutreffen.
"Wenn Morales das Risiko aufnimmt, sich mit uns zu treffen, muss er etwas anzubieten haben", war Lew überzeugt. Ich zuckte die Achseln.
"Es ist doch immer dasselbe. Die großen Tiere schirmen sich derart ab, dass man nur schwer an sie herankommt..."
"Wir kriegen sie, Murray!"
"Optimist!"
Wir parkten den Wagen am Straßenrand. Die letzten Meter bis zu Antonio's Café, wo wir uns mit Morales verabredet hatten, gingen wir zu Fuß.
Es war ein kleiner, gemütlicher Laden. So, wie man sich Little Italy im Bilderbuch oder im Reiseführer vorstellte. Wir gingen hinein.
Paul Morales saß zusammengekauert in einer Ecke und trank einen Espresso. Ein kleiner, schmächtiger Mittfünfziger mit braunen Hundeaugen und herabhängenden Wangen. Er war hager und seine faltige, aschgraue Haut ließ ihn älter erscheinen als er war.
"Mr. Morales?", sagte ich.
Morales blickte auf.
Wir zeigten ihm unsere Ausweise.
Er prüfte sie eingehend. Dann atmete er tief durch.
"Ich dachte Ihr Kollege Agent Schlesinger würde..."
"Der ist zur Zeit auf einem Lehrgang", sagte ich. "Aber Sie können davon ausgehen, dass wir über alle Informationen verfügen, über die auch Agent Schlesinger verfügt."
"Gut", sagte er etwas gedehnt. "Wenn Sie es sagen, Mr. Abdul." Er beugte sich etwas vor. "Ich bin immer ganz gut informiert. Viele in unserer Gegend würden niemals mit der Polizei reden, weil sie viel zu viel Angst haben. Aber mit mir reden sie..."
Sein Tonfall bekam etwas Verschwörerisches.
"Was haben Sie anzubieten?", fragte ich.
"Ein Foto", raunte er leise.
"Zeigen Sie mal her!"
Er griff in die Innentasche seines kleinkarierten Jacketts und holte ein Polaroid-Foto heraus. Die Qualität war nicht besonders. Ein paar in schwarzes Leder gekleidete Männer waren darauf zu sehen. Im Hintergrund eine himmelblaue Corvette, die aussah, als wäre sie gerade einem Zuhälter aus Harlem gestohlen worden.
Das geschmackvoll auf der Kühlerhaube angebrachte Imitat eines Rinderhorns würde vermutlich als Trophäe an einer Harley enden.
Lew und ich sahen uns das Bild nacheinander an. Die Brisanz, die darin offenbar lag, war auf Anhieb weder ihm noch mir richtig klar.
"Sehen Sie den Mann mit den dunklen Haaren? Sieht etwas älter aus als die anderen..."
"Ja", nickte ich.
"Das soll angeblich dieser mysteriöse Joe sein - der Anführer der KILLER ANGELS."
"Killer-Joe!", entfuhr es Lew.
"Genau", bestätigte Morales.
Es kursierten einige Gerüchte, um wen es sich bei diesem Joe handelte. Aber Tatsache war, dass er sich bisher hervorragend abgeschirmt hatte. Es gab kein Foto von ihm, nur ein paar vage Beschreibungen, die außerdem noch widersprüchlich waren.
Ich blickte nochmal auf das Foto.
Die Qualität des Bildes war schlecht. Aber vielleicht konnten unsere Innendienstler etwas Vernünftiges daraus machen. Rastern, vergrößern, elektronisch bearbeiten. Und wenn man es dann mit den unzähligen Bildern unserer Datenbanken und Archive verglich, stieß man vielleicht auf einen Bekannten.
Wenn wir Glück hatten.
"Erinnert mich irgendwie an den jungen Alain Delon", murmelte ich nachdenklich. "Wer hat das Bild geschossen?"
"Keine Ahnung. Es wurde mir zugespielt von jemandem, der entsprechende Kontakte hat und bisher immer sehr vertrauenswürdig war."
"Und sonst?", hakte Lew nach. "Was wird so geredet?" Morales zuckte die Achseln.
"Nicht viel. Alle sind sehr schweigsam und wenn Sie mich fragen, dann bedeute das nichts Gutes..."
"Scheint im Augenblick 'ne richtige Eintrittswelle bei den KILLER ANGELS zu geben", stellte ich fest. "Zumindest, wenn man nach der Zahl dieser sogenannten Mutproben geht." Morales hielt mir seinen dürren Zeigefinger entgegen, als wäre es die Klinge eines Klappmessers.
"Mr. Abdul, wenn Sie dort aufgewachsen wären und mitbekommen würden, dass Ihre Altersgenossen tolle Wagen fahren, coole Klamotten tragen und die Taschen voller Geld haben, ohne je dafür gearbeitet zu haben, dann würden Sie auch dazugehören wollen... Die bieten den Kids doch genau das, was sie wollen und was die meisten von ihnen vermutlich auf anderem Weg nie bekommen würden - ohne abgeschlossene Schulausbildung."
Ich erwiderte nichts.
Antonio, der Inhaber des Cafés trat heran. Morales' Blick flackerte nervös. Lew bestellte einen Kaffee, ich einen Espresso. Antonio musterte uns einen Augenblick lang, ehe er ging.
Als er weg war, beugte ich mich etwas vor.
"Wir glauben, dass die KILLER ANGELS von jemandem benutzt werden. Jemand, der im Hintergrund bleibt und die Fäden zieht."
"Das wäre schon möglich."
"Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?"
"Sollte ich etwas erfahren, werde ich es Sie wissen lassen, Mr. Abdul!"
"Tun Sie das!"
Er sah auf die Uhr.
Dann meinte er plötzlich: "Ich sitze schon viel zu lange hier herum. Ich nehme an, der Staat bezahlt meine Rechnung hier..."
Ich nickte. "Das geht in Ordnung."
Er erhob sich. Ich wechselte einen kurzen Blick mit ihm, ehe er nach seinem Mantel griff und mit einer zwischen den Lippen hindurchgepressten Verabschiedung den Raum verließ.
"Was hältst du von ihm?", erkundigte sich Lew. Antonio kam und servierte uns, was wir bestellt hatten.
Ich zuckte die Achseln.
"Ich weiß nicht..."
"Keine Ahnung, wieso, Murray, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich ziemlich wichtig zu machen versucht..."
Ich steckte wortlos das Polaroid in die Innentasche. Mein Espresso war noch zu heiß, um ihn zu trinken. Da klingelte es in meiner Manteltasche. Mein Handy. Ich nahm den Apparat heraus, klappte ihn auf und hielt ihn ans Ohr. Es war die Zentrale.
Es hatte eine regelrechte Hinrichtung in der Bronx gegeben. Die KILLER ANGELS hatten kurzen Prozess mit zwei Crack-Dealern gemacht, die offenbar nicht nach ihrer Pfeife hatten tanzen wollen.
Es konnte nicht schaden, dort vorbeizuschauen.
7
Schwer zu sagen, wie die korrekte Adresse lautete, in der das Crack-Haus lag. Irgendein besonders schlauer Witzbold hatte vor kurzem sämtliche Straßenschilder in der Gegend abmontiert und in anderer Reihenfolge wieder angebracht. Lustig war das für niemanden. Aber andererseits kannte man sich in dieser Gegend entweder aus, oder man machte einen weiten Bogen um die South Bronx.
Wir machten keinen Bogen.
Es war ein Tatort wie viele andere. Vielleicht war das Aufgebot an uniformierten Beamten etwas größer und ihre Bewaffnung etwas schwerer. Beamten mit kugelsicheren Westen bezogen Stellung und sicherten die Umgebung ab. Man konnte nie wissen.
Ein Lieutenant erläuterte uns den Stand der Ermittlungen. Die Opfer hießen Pat und Cyrus Borinsky. Sie waren Crack-Dealer gewesen und hatten es offenbar abgelehnt nach der Pfeife der KILLER ANGELS zu pfeifen.
Jedenfalls sprach einiges dafür, dass sie hinter dieser Hinrichtung standen. Schließlich befanden wir uns hier mitten in ihrem Gebiet, wie sie es bezeichneten.
"Das ganze wird ausgehen wie das Hornberger Schießen", sagte der Lieutenant nicht ohne Ärger in der Stimme. "Meine Leute gehen gerade von Haus zu Haus und befragen Zeugen. Aber glauben Sie, von denen wird irgendeiner den Mund aufmachen?"
"Trotzdem müssen wir mit größter Sorgfalt vorgehen", meinte ich. "Selbst wenn es erst scheint, als würde nichts dabei herauskommen... Jede Kleinigkeit kann uns am Ende weiterbringen..."
Einige Trauben von Schaulustigen aus der Umgebung hielten sich in sicherem Abstand und beobachteten die Aktivitäten der Polizei.
Ein junger Mann fiel mir auf.
Er hatte dunkles Haar und einen Oberlippenbart. Im rechten Ohr hing ein Ring, der in der kalte Wintersonne blitzte. Sein Gesicht wirkte nachdenklich.
Er starrte wie gebannt auf die beiden Metallsärge, mit denen die Leichen weggeschafft wurden.
"Heh, was ist los, Murray?", hörte ich Lews Stimme. Ich antwortete nicht.
Im selben Moment drehte der junge Mann sich ruckartig um und lief davon. Er setzte zu einem Spurt an, ehe er nach ein paar Dutzend Metern anhielt. Er atmete tief durch und wischte sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht.
Ich fragte mich, was mit dem Jungen los war.
Was hatte der Anblick der Metallsärge in ihm ausgelöst?
Ich hörte auf meinen Instinkt und folgte dem Mann.
"Wo willst du hin, Murray?"
"Einen Moment."
Ich hätte es nicht erklären können. Nicht einmal Lew. Den jungen Mann hatte ich bald eingeholt. Ich fühlte die Blicke der Schaulustigen auf mir. Misstrauische Blicke. Der junge Mann stand in Gedanken versunken da. Eine tiefe Furche hatte sich mitten auf seiner Stirn gebildet. Dann drehte er mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf in meine Richtung.
Wir wechselten einen Blick.
Ich sah den Gedanken an Flucht deutlich in seinen Augen.
"Was wollen Sie?", fragte er.
Ich holte meinen Ausweis und betete meinen Spruch herunter.
"Agent Abdul, FBI!"
Ein Muskel zuckte unruhig in seinem Gesicht.
Er hielt mir die ausgestreckten Hände hin. "Ich weiß, ich habe das Recht zu schweigen..."
"Hören Sie auf mit dem Quatsch!", erwiderte ich. Er verzog das Gesicht.
"Habt ihr Cops etwa euren Spruch geändert? Komisch - die, mit denen ich zuletzt zu tun hatte, waren wohl noch nicht auf dem neuesten Stand..."
"Ich habe nur ein paar Fragen", sagte ich. Er grinste.
"Ah, jetzt kommt ihr auf die schleimige Tour und tut so, als wärt ihr Sozialarbeiter! Und dabei habt ihr die Handschellen schon griffbereit am Gürtel hängen..."
"Du glaubst wohl, dass du dich auskennst", erwiderte ich.
"Natürlich!"
Lew war mir indessen gefolgt.
Er stand neben mir.
Dem jungen Mann mit dem Ohrring schien das nicht zu behagen. Das unruhige Flackern in seinen Augen gefiel mir nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass beinahe die gesamte Muskulatur seines Körpers angespannt war.
"Wie heißt du?", fragte ich.
Er wirkte wie erstarrt.
Und dann machte er eine Dummheit.
Er griff plötzlich unter seine Lederjacke. Blitzartig riss er etwas heraus. Im gleichen Moment hatten Lew und ich unsere Pistolen gezogen.
Der junge Mann grinste.
Er hatte keine Waffe in der Hand, sondern einen Führerschein. Den warf zu uns herüber.
Ich hob ihn auf.
"Das war lebensgefährlich, was Sie da gemacht haben", stellte Lew fest.
"Ohne ein gewisses Risiko hat man nicht das Gefühl, dass man wirklich lebt", erwiderte der junge Mann. Ich sah in den Führerschein. Er hieß Alberto Marias. Es war eine Adresse in East Harlem angegeben, die vermutlich nicht mehr stimmte. Marias öffnete die Lederjacke.
"Ich bin unbewaffnet", erklärte er.
"Warum machst du so etwas?", fragte ich.
"Ich wollte sehen, wie schnell du bist, G-man!"
"Red' nicht so einen Unfug!"
"Gefällt dir die Antwort nicht? Dann gib dir selber eine bessere!"
Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Meine Pistole steckte ich wieder ins Gürtelholster zurück.
Ich gab ihm den Führerschein zurück.
"Zufrieden?", fragte er.
Ich ließ mich durch seinen aggressiven Tonfall nicht irritieren.
"Dort in dem Haus sind zwei Männer erschossen worden..."
"Na und?"
"Dafür, dass dich das gar nicht interessiert, stehst du schon eine ziemliche Weile hier herum. Hast du die Opfer gekannt?"
"Ich kenne viele Leute."
"Auch Patrick und Cyrus Borinsky?"
Er zuckte die Achseln. Er wich meinem Blick aus. Sein abweisender Unterton wurde schwächer. Etwas gedämpfter sagte er dann: "Das waren Crack-Dealer. Sieht so aus, als hätte jemand euch Cops die Arbeit abgenommen..."
"So sieht das keiner von uns."
"Ach, nein?", brauste er auf.
"Jedenfalls keiner, der seinen Job ernstnimmt - und das sind die allermeisten."
"Du musst es ja wissen!"
"Hast du eine Ahnung, wer die auf dem Gewissen hat?" Er sah mich an. Und dabei schwieg er einen ziemlich langen Moment lang. Er atmete tief durch. Sein Gesicht bekam einen düsteren Ausdruck.
"Liegt irgendetwas gegen mich vor?", fragte er dann.
"Nicht, dass ich wüsste."
"Bin ich verhaftet?"
"Nein."
"Dann gehe ich jetzt." Er grinste. "Adios, G-man!"
8
"Was wolltest du eigentlich von ihm?", fragte Lew mich einen Augenblick später, nachdem der junge Mann mit schnellen Schritten die Straße entlanglief.
Ich zuckte die Achseln.
"Keine Ahnung. Ich hatte das Gefühl, dass er vielleicht etwas weiß."
"Die wissen hier alle was, Murray! Das Problem ist, dass dir keiner was sagt. Und schon gar nicht, wenn die ganze Nachbarschaft zuschaut."
Ich schaute ihn an.
"Wo du Recht hast, hast du Recht", murmelte ich.
9
Der Porsche hielt vor dem fünfstöckigen Brownstone-Haus, einer Mietskaserne, die noch aus dem letzten Jahrhundert stammte. Die Adresse lag in East Harlem, wie man das Manhattan nördlich der 96. Straße nannte. Es hieß allerdings bei seinen Bewohnern eher El Barrio - das Viertel. Anderthalb Millionen Puertoricaner lebten hier, während es auf der Insel selbst gerade mal dreieinhalb Millionen waren. El Barrio war Latino-Land, unterbrochen nur von einer anglo-weißen Insel, der Columbia-University. Neben den Puertoricanern hatten sich hier auch andere Einwanderergruppen aus der Karibik und Mittelamerika angesiedelt.
Und Alberto Marias kam ursprünglich auch hier her. Obwohl er es immer als einen Makel empfunden hatte. Eine Zeitlang hatte er sich daher auch stets als Al Marias vorgestellt.
Aber seine Herkunft war nicht zu verschleiern. Sie klebte an ihm wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle. So sehr man sich auch Mühe gab, ihn loszuwerden - ein bisschen blieb immer zurück.
Jetzt lebte Alberto weiter nördlich, in der Bronx. Und er hatte das Gefühl, es endlich geschafft zu haben.
Jedenfalls sagte er sich das. Jemand, der mitten an einem Werktag nur so zum Spaß mit einem Porsche durch die Gegend fuhr, der musste es geschafft haben.
Alberto hupte. Zweimal kurz hintereinander.
Er blickte auf die Uhr.
Eigentlich war er ein bisschen spät dran.
Aber Teresa würde schon auf ihn warten.
Es dauerte nicht lange, bis sich der Eingang des Brownstone-Gebäudes öffnete. Teresa war bildhübsch, hatte langes, leichtgelocktes Haar, das ihr lang über die Schulter fiel. Den Mantel trug sie offen. Das knappe, fast hautenge rote Kleid, das ihre kurvenreiche Figur gut zur Geltung brachte, saß ihr wie angegossen. Alberto hatte es ihr gekauft. Sie stand eigentlich nicht darauf, so aufgedonnert herumzulaufen. Aber Alberto mochte es. Und darum trug sie es. Alberto stieg aus und machte ihr die Beifahrertür des Porsche auf.
Sie konnte gar nicht den Blick von dem edlen Fahrzeug abwenden.
Alberto grinste.
"Da staunst du, was?"
"Woher hast du den?"
"Spielt das eine Rolle?"
"Für mich schon."
"Quatsch nicht und setz dich rein." Er zwinkerte ihr zu. "Du musst nicht alles wissen, okay?"
Sie sah ihn nachdenklich an.
Wenig später saßen sie gemeinsam im Wagen. Die Wagenheizung sorgte für angenehme Wärme.
"Ich weiß nicht", murmelte sie.
"Was weißt du nicht? Komm, nimm erstmal eine Prise Schnee, dann wirst du etwas lockerer."
"Nein!" Ihr Tonfall hatte jetzt einen sehr bestimmten Unterton.
Alberto war überrascht.
Und etwas ärgerlich.
"Was ist plötzlich los mit dir?", knurrte er. Er griff über ihre Beine, tätschelte sie kurz und öffnete das Handschuhfach. Er fingerte ein kleines Briefchen mit weißem Pulver heraus. Etwas davon rieselte auf ihre Knie. Alberto machte sich eine Prise des Kokains auf den Handrücken und schnupfte sie dann. Er schloss die Augen anschließend für ein paar Augenblicke.
Dann sah er sie an.
"Jetzt du!"
"Nein!"
"Zier dich nicht so! Du fühlst dich easy hinterher!"
"Nein!"
Er wollte ihr das offene Plastikbriefchen an die Nase halten. Sie wandte den Kopf. "Lass das, verdammt noch mal!" Sie hob abwehrend die Hand und etwas von dem kostbaren weißen Pulver rieselte in der Gegend herum.
"Verflucht!", schimpfte er. "Meinst du, das Zeug gibt es umsonst!"
"Mein Gott, was bist du mies drauf heute, Al!", stellte Teresa fest. Sie atmete tief durch und zog sich dabei den Mantel vorne zu. Alberto wusste, was das bedeutete. Wenn sie ihm diesen Blick verwehrte, hieß das, dass sie wirklich sauer auf ihn war.
Er zuckte die Schultern.
Dann ließ er den Motor an und fuhr los. "Ich weiß auch nicht", sagte er.
"Ist irgendetwas passiert?"
"Was soll passiert sein?"
Natürlich war etwas passiert. Alberto hatte ständig das Bild des Crack-Dealers vor Augen, den er erschossen hatte. Mit dem Schnee in der Nase ließ sich das etwas besser ertragen, so hatte er gedacht. Es war nicht besser geworden.
"Vielleicht setzt du mich besser gleich wieder ab", sagte sie.
"Wieso das?"
"Mir scheint, du bist heute nicht in der richtigen Stimmung..."
"Ich dachte, wir fahren nach Midtown. Ein paar Klamotten für dich kaufen..."
"Ich habe genug Klamotten."
"Ich hätte nie gedacht, dass 'ne Braut das mal zu mir sagen würde!"
"Und ich hätte nie gedacht, mal in einem gestohlenen Porsche nach Midtown Manhattan zu fahren."
Alberto lachte heiser.
"Cool, was?"
"Dreist, würde ich sagen. Und risikoreich."
"Was wäre das Leben schon ohne Risiko, Teresa?" Alberto jagte mit dem Porsche in halsbrecherischer Manier die Straße entlang. Ein Ford musste im letzten Moment ausweichen. Alberto grinste auf eine Weise, die Teresa nicht gefiel. Seine Pupillen wurden groß.
"Lass mich raus", sagte sie unmissverständlich.
"Red' keinen Quatsch, Baby!"
"Al!"
An der nächsten Ecke riss Alberto das Lenkrad herum. Die Reifen quietschten. Das Hinterteil des Porsche schleuderte herum. Und dann trat Alberto das Gas wieder voll durch.
"Das war eine Einbahnstraße, Al!"
"Eine Abkürzung, Teresa!"
Sie verwünschte sich dafür, je in diesen Wagen gestiegen zu sein. Gleich bei der nächsten Ecke, nur ein paar hundert Meter weiter, bog Alberto erneut ein. Immerhin stimmte die Fahrtrichtung jetzt mit dem überein, was die Verkehrsplaner von New York City sich für dieses Stück Asphalt überlegt hatten.
Teresa atmete tief durch.
Das schlimmste war überstanden, dachte sie.
"Du bist unmöglich", sagte sie und wischte sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht.
"Vielleicht", sagte er. Er hatte das Gefühl, dass ihm der Adrenalinstoß gutgetan hatte, den ihm die Höllenfahrt bereitet hatte. Er hatte das vergessen können, was geschehen war. Wenigstens für ein paar Augenblicke. Und jetzt... Jetzt war er wieder vor seinem inneren Auge.
Der zuckende Leichnam.
Alles rot...
Er schloss die Augen viel länger, als man das im Straßenverkehr tun sollte. Er kniff sie förmlich zusammen und schüttelte dann den Kopf.
Du sitzt ganz schön in der Scheiße, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Und er ahnte, dass das voll und ganz der Wahrheit entsprach. Daran konnte man selbst mit reinstem Kokain nichts schön schnupfen.
"Wir machen uns jetzt einen tollen Nachmittag", sagte er.
"Al..."
"Heute Abend kann ich nämlich leider nicht."
"Warum nicht?"
Er schwieg.
Sie wusste, worum es ging. Immer, wenn er auf diese Weise schwieg, ging es darum.
"Du triffst dich mit ihnen - nicht wahr?"
"Na, und? Allein bist du nichts, Teresa. Ein Stück Dreck, ein Fußabtreter... Aber wenn du zu ihnen gehörst, dann..." Er sprach nicht weiter.
In Gedanken vollendete er seinen Satz. Dann musst du bereit dazu sein, ein Killer zu werden...
Er schluckte.
"Hat es was mit der Sache von heute Morgen zu tun? Am Lincoln Tunnel? Vielleicht sind euch die Cops auf den Fersen und nun wird euer allgewaltiger Joe nervös..." Er sah sie an, bis er die Ampel erreichte. Dann stoppte er den Porsche ziemlich abrupt.
"Wovon redest du?"
"Hörst du denn nie Nachrichten oder siehst Lokalfernsehen?"
"Sehe ich so aus, als hätte ich für sowas Zeit?"
"Vielleicht solltest du das mal! Außerdem glaube ich nicht, dass du nichts von dieser verdammten Mutprobe wusstest, die ihr da veranstaltet habt..."
Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
"Warst du der Kerl, der auf den BMW geschossen hat? Al, es hat fünf Tote gegeben!"
Alberto kniff die Lippen zusammen. Sie bildeten jetzt einen dünnen Strich.
"Hör zu, ich will von dem Mist nichts mehr hören! Nimm Schnee, wenn du die Klappe nicht einfach so halten kannst und sei glücklich! Wir haben einen tollen Wagen und viel Geld! Also freu dich, verdammt nochmal und frag mir keine Löcher in den Bauch. Sonst hat es dich auch nur am Rande interessiert, woher das Geld kam, mit dem deine Klamotten gekauft wurden." Sie öffnete die Tür.
"Du kannst dir diesen Fummel sonstwohin stecken!", fauchte sie und stieg aus.
"Teresa!", rief er ihr etwas verwirrt hinterher. Sie sah ihm in die Augen. Die großen Pupillen sprachen für sich. Die Ampel sprang auf grün. Und irgendwo hinter ihnen hupte ein ungeduldiger Fahrer.
"Hasta la vista, Al!", sagte sie und schlug die Tür zu. Sie tänzelte zwischen den Autos hindurch bis zum Bürgersteig. Alberto war so perplex, dass er vergaß, seinen Mund zu schließen.
Dies ist eindeutig nicht mein Tag, ging es ihm durch den Kopf.
10
Mit Hilfe unserer Innendienstspezialisten und einiger Computerabfragen hatten wir bis zum Abend herausgefunden, wer der Mann auf dem Foto war, das Paul Morales uns gegeben hatte. Es handelte sich um Jose Donato, der sich selber Joe Donato nannte. Er hatte ein Dutzend kleinerer Vorstrafen, war in East Harlem großgeworden, hatte sich angeblich als Söldner bei der Contra-Guerilla in Nicaragua verdingt, ehe sich seine Spur im Nichts verlor.
Und jetzt war er offenbar back in town - vorausgesetzt, das Foto war nicht schon uralt.
Im Moment lag nichts gegen ihn vor.
Neben dem amerikanischen Pass besaß er auch einen Kolumbianischen.
"Fragt sich nur, ob dieser Kerl identisch ist mit dem Mann, der in der South Bronx Killer-Joe genannt wird", meinte Lew skeptisch. "Sichergehen können wir da nämlich keineswegs..."
"Das wird sich herausfinden lassen", meinte ich. Es waren eine Menge Gerüchte dort im Umlauf. Und es war gut möglich, dass jemand dieses Foto über Morales lanciert hatte, um mit Joe Donato eine ganz andere Rechnung zu begleichen, die mit unserem Fall nicht das Geringste zu tun hatte. Von unserem Kollegen Walter Stein von der Fahndungsabteilung bekamen wir dann einen wertvollen Hinweis. In der 150. Straße wohnte ein gewisser Greg Rooney, mit dem zusammen Joe Donato eine Zelle geteilt hatte, als man ihn wegen Drogenvergehens und Verstoßes gegen das Meldegesetz für Waffen eine Weile aus dem Verkehr gezogen hatte. Rooney und Donato waren unzertrennlich gewesen, wie ein Anruf beim Direktor der Strafvollzugsanstalt ergab.
"Wenn Donato in der Bronx ist, hat er sich garantiert bei Rooney gemeldet", war der Direktor überzeugt. "Rooney war eine Art Vaterfigur für Donato. All die Gemeinheiten, die Donato bis dahin noch nicht drauf hatte - und das kann nicht viel gewesen sein! - hat Rooney ihm beigebracht." Lew und ich ließen uns von der Fahrbereitschaft einen möglichst unauffälligen Wagen geben. Ein Chevy, der sogar ein paar Roststellen besaß. Wie ein richtiger Gebrauchtwagen.
"Stell dir mal vor, du würdest deinen Sportwagen dort oben in der South Bronx parken", meinte Lew, während wir uns auf dem Weg zur 150. Straße befanden.
Ich grinste.
"Das gäbe einen mittleren Menschenauflauf!"
"Und vermutlich wäre er auch dann weg, wenn wir ihn mit einer langen Kette am nächsten Laternenpfahl anschließen würden!"
Ich fuhr ziemlich schnell. Gerade noch an der oberen Grenze des Erlaubten.
Rooneys Adresse war nicht mehr aktuell. Wir verbrachten einige Zeit damit, uns in der Gegend nach ihm zu erkundigen und zeigten dabei auch Donatos Bild herum. Keinen von beiden wollte irgendjemand kennen.
Rooney fanden wir schließlich doch.
Ein ehemaliger Hausmeister verriet uns, dass er ein paar Blocks weitergezogen war. Vor einem halben Jahr.
Rooneys neue Wohnung lag in einem heruntergekommenen Block, der bestimmt schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Die Fassade blätterte von den Wänden.
In der unteren Etage waren früher einmal Geschäftsräume gewesen. Das war deutlich zu sehen.
Jetzt war das Erdgeschoss mit Brettern vernagelt. Die kleinen Geschäftsleute waren aus der Gegend geflohen. Sie hatten einfach die Nase voll davon, dauernd überfallen zu werden oder das Fell von Schutzgelderpressern über die Ohren gezogen zu bekommen, die dafür oft noch nicht einmal den versprochenen Schutz gewährleisten konnten.
Für viele war das einfach auch finanziell nicht durchzuhalten gewesen. Wenn sich die Schadensfälle häuften, kündigten die Diebstahlversicherungen ihre Verträge. Und dann wurde es eng. Jeder weitere Vorfall konnte dann den Ruin bedeuten.
"Trostlos, zu sehen, wie so ein Straßenzug vor sich hinstirbt", meinte Lew.
Es war wirklich deprimierend.
Wir stiegen aus.
Ich blickte mich um. An der nächsten Ecke lungerten ein paar Kids herum und beobachteten uns mit Gesichtern, die voller Misstrauen waren.
Ein paar hundert Meter weiter befand sich ein Grundstück, das von einem großen Trümmerhaufen gekennzeichnet wurde. Große Betonbrocken lagen auf einem riesigen Haufen, der wie eine bizarre Skulptur der Zerstörung wirkte. Offenbar war hier einer der Blocks vor kurzem abgerissen worden. Mit welchem Hintergedanken auch immer.
Jetzt brannte dort ein Feuer.
Ein paar Obdachlose saßen auf rostigen Fässern um das Feuer herum und wärmten sich die Finger.
Auch ihre Blicke waren auf uns gerichtet.
Wir gehörten nicht hier her und darüber konnten auch noch so viele Rostbeulen in unserem Dienstwagen nicht hinwegtäuschen.
Hier waren wir Outsider, denen man mit einer Mauer des Schweigens begegnete. Für gewöhnlich jedenfalls.
Der Eingang war offen. Das Türschloss herausgebrochen. Lew und ich betraten das Treppenhaus. Der Aufzug war defekt. Auf dem dritten Absatz lag eine benutzte Spritze auf dem Boden. Rooney wohnte im 5. Stock.
Jedenfalls war das die letzte Adresse, die wir von ihm hatten.
Ich klopfte an seiner Tür. Das Türschild war kaum zu lesen, die Klingel defekt.
"Mr. Rooney! Bitte machen Sie auf."
Es kam keine Antwort.
"Mr. Greg Rooney! Hier spricht das FBI! Machen Sie die Tür auf! Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen stellen..." Jetzt waren Geräusche von der anderen Seite der Tür zu hören.
Das Schloss wurde geöffnet.
Dann rief einen Augenblick später eine brüchige, heisere Stimme: "Drücken Sie die Klinke herunter. Sie können hereinkommen..."
Ich öffnete die Tür.
Der Raum, den wir betraten, war mit ziemlich heruntergekommenem Mobiliar ausgestattet. Abgewetzte Polstermöbel, eine klobige Couch und Schränke aus Spanplatte. Die Tapete hatte noch ein poppiges Blumenmuster, wie es vielleicht in den Siebzigern populär gewesen war. Schimmelpilz fraß sich an einigen Stellen die Wände empor. Und es war lausig kalt.
In der Tür zum Nebenraum stand ein Mann in den Sechzigern mit einer abgesägten Schrotflinte in der Hand.
Aus den Augenwinkeln heraus hatte ich ihn hervorspringen sehen und eine Sekunde zu langsam reagiert. Meine Hand war zur Hüfte gegangen, um die Pistole vom Typ Sig Sauer P226 aus dem Gürtelholster herauszureißen.
Lew war schneller gewesen.
Er hatte seine Waffe in Anschlag gebracht und auf den Kerl in der Tür gerichtet.
Es war Greg Rooney.
Ich erkannte ihn sofort von den Fotos wieder, die ich auf dem Computerbildschirm von ihm gesehen hatte. Allerdings musste man schon genau hinsehen. In der letzten Zeit hatte er sich nicht gerade zum Positiven verändert. Er wirkte ungepflegt und ziemlich vernachlässigt. Graue Bartstoppel standen ihm im Gesicht. In der ganzen Wohnung hing ein penetranter Geruch nach Bier und Erbrochenem.
Rooney zitterte.
"Die Waffe weg", sagte Lew. "Es liegt nichts gegen Sie vor. Außer ein paar Fragen, wollen wir nichts von Ihnen!"
"FBI?" Er lachte heiser. In seinen Augen flackerte es unruhig. Er machte einen nervösen Eindruck. Und angesichts der Tatsache, dass er mit seiner abgesägten Schrotflinte vermutlich alle, die sich im Raum befanden einschließlich seiner eigenen Person schwer verletzten konnte, sobald er den Abzug betätigte, war es das beste, ihn nicht unnötig zu reizen.
Lews Waffe und die Schrotflinte. Das war eine Pattsituation.
Keiner der Läufe senkte sich.
"Na, los!", schrie Rooney. "Runter damit!"
"Haben Sie nicht verstanden?", erwiderte ich. "Wir sind..." Er lachte heiser. "Was glauben Sie, mit welchen Tricks schon versucht wurde, hier einzubrechen. Ist aber keinem gut bekommen."
"Ich hole meinen Ausweis, Mr. Rooney..."
"Glauben Sie, dass Sie mich damit beeindrucken können?" Ich griff in die Tasche. Vorsichtig und langsam genug, dass er alles mitverfolgen konnte.
Und dann hielt ich ihm das Ding so hin, dass er es deutlich sehen konnte.
"Bis jetzt ist nichts passiert", gab ich zu bedenken. "Aber falls sie hier Theater machen, könnte man das als Angriff auf zwei Bundesbeamten werten. Und das würde bedeuten, dass Sie den Rest Ihrer Tage hinter Gittern verbringen würden." Er zögerte noch.